Goraksha Paddhati: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Yogawiki
Zeile 7.522: Zeile 7.522:
=== Shataka 2 Vers 97: Brahman ===
=== Shataka 2 Vers 97: Brahman ===


'''Im höchsten Zustand geht ein Yogi in die Identität (mit dem Höchsten) ein, so wie Milch, die in Milch gegossen wird, oder wie Butterschmalz, das in Butterschmalz gegossen wird, oder wie Feuer, das dem Feuer übergeben wird.'''
'''Ein Yogi, (dessen Bewusstsein) im höchsten Zustand aufgelöst ist, geht in die Identität (mit dem Höchsten) ein, so wie Milch, die in Milch gegossen wird, oder wie Butterschmalz, das in Butterschmalz gegossen wird, oder wie Feuer, das dem Feuer übergeben wird.'''





Version vom 26. September 2022, 17:16 Uhr

Pranayama praktizierender Yogi

Goraksha Paddhati (Sanskrit: गोरक्षपद्धति gorakṣa-paddhati f.) der Leitfaden ("Weg" Paddhati) des Goraksha; Titel eines Werkes zum Hatha Yoga, das eine Zusammenstellung (Samhita) von Versen darstellt, die dem Yogameister Goraksha Natha zugeschrieben werden. Das Werk ist auch unter den Namen Goraksha Samhita und Mukti Sopana bekannt. Auszüge der Goraksha Paddhati, die im Wesentlichen aus zwei Teilen zu je 100 Versen (Shataka) besteht, sind wiederum unter verschiedenen Namen bekannt, darunter als Goraksha Shataka, Yoga Martanda, Viveka Martanda und Yogachudamani Upanishad.

Spenden-Logo Yoga-Wiki.jpg

Einführende Bemerkungen zur Goraksha Paddhati

Bedeutung des Textes

Die Goraksha Paddhati bzw. Goraksha Samhita ist für die Erforschung der Hatha Yoga-Texte, die im engeren Zusammenhang der Tradition der Natha-Yogis stehen, von außerordentlichem Interesse. Nach bisherigem Erkenntnisstand gehört sie zur ältesten Schicht (ca. 10.-12. Jh.) von in enger Beziehung zu Goraksha Natha stehenden Yogatexten, in denen die verschiedenen Glieder des Hatha Yoga gelehrt werden. Selbst der bekannteste Hatha-Yoga-Text, die Hatha Yoga Pradipika (ca. 15. Jh.), zitiert bzw. übernimmt viele Verse, teilweise wortwörtlich oder abgewandelt, aus der Goraksha Paddhati.

Der Name Goraksha (Natha) wird bereits zu Beginn der HYP zweimal erwähnt (vgl. Hatha Yoga Pradipika 1.4-5). Auch im Zusammenhang mit der im vierten Kapitel gelehrten Meditation über den als Anahata Nada bekannten inneren Klang (Nadopasana) stellt sich Svatmarama einmal mehr ausdrücklich in die Traditionslinie Goraksha Nathas (Hatha Yoga Pradipika 4.65):

aśakya-tattva-bodhānāṃ mūḍhānām api saṃmatam |
proktaṃ gorakṣa-nāthena nādopāsanam ucyate || 4.65 ||

"Nun wird die von Goraksha Natha gelehrte (Prokta) Methode der Konzentration auf den inneren Klang (Nadopasana) erklärt, die selbst von den Unerfahrenen (Mudha), denen die Erkenntnis (Bodha) der (höchsten) Wahrheit (Tattva) noch unmöglich (Ashakya) ist, geschätzt (Sammata) wird." (HYP 4.65)

Nahezu alle Teile der Version 1 bzw. 2 des Goraksha Shataka und der größte Teil der Yogachudamani Upanishad sind der Goraksha Paddhati entnommen, teilweise in derselben, teilweise in geänderter Versfolge. Dabei bieten diese Versionen häufig interessante Lesarten und Varianten, die für das Gesamtverständnis dieser Textgruppe sehr hilfreich sind. Für ein besseres Textverständnis sind im Rahmen der Übersetzung daher einige textkritische Anmerkungen und Bezüge zum Goraksha Shataka, zur Yogachudamani Upanishad sowie zur Hatha Yoga Pradipika unerlässlich.

Sämtliche Verse der Goraksha Paddhati werden in dem Yoga Tarangini (Tika) genannten Kommentar eines unbekannten Verfassers überliefert und ausführlich kommentiert.

Goraksha Natha und Matsyendra Natha

Goraksha Natha (Gorakhnath) gilt als der Begründer der Tradition der Nath Yogis, die auch als Kanphata Yogis bekannt sind. Obwohl an seiner Historizität nicht gezweifelt werden kann, so ist doch wenig Gesichertes von ihm bekannt, und seine Gestalt wird von einer Unmenge von Mythen und Legenden umwoben. Seine Lebenszeit wird in verschiedenen Quellen zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert angegeben, wobei das 10. Jahrhundert, nicht zuletzt aus den weiter unten zu erörternden Gründen, als ziemlich wahrscheinlich angesehen werden kann. Sein Wirkungsbereich erstreckte sich auf das nördliche Indien, möglicherweise auch auf das heutige Nepal und Tibet, wo er als Schutzgottheit bzw. buddhistischer Magier verehrt wurde. Sein Lehrer war Matsyendra Natha bzw. Mina Natha, der seinerseits ein mythenumwobener Yogi war, der von Shiva persönlich die Yogalehren erhalten haben soll.

Häufig wird davon ausgegangen, dass Minanatha und Matsyendranatha sich auf ein und denselben Yogameister beziehen, da beide Namen "Herr der Fische" bedeuten, der im 7. oder 10. Jahrhundert n. Chr. gelebt haben soll. Dagegen weist die in der Hatha Yoga Pradipika (HYP 1.5-9) gegebene Liste der Schülernachfolge darauf hin, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Meister der sogenannten Natha-Tradition handelt, die bis auf Adinatha, den "uranfänglichen Herrn" (ein Name Shivas), zurückgeht.

Als zweiter Meister nach Adinatha wird der legendäre Matsyendra ("Herr der Fische") genannt, der auch Matsyendranatha heißt, da an jeden Namen dieser Liste die Bezeichnung Natha "Herr, Meister" gehängt werden kann. Dieser habe als Fisch (oder im Bauch eines Fisches) Shivas Yogaunterweisung belauscht und sei dann von diesem als Yogameister initiiert worden. Dann folgen drei weitere Meister mit den Namen Shabara (Natha), Anandabhairava (Natha) und Chaurangin (Natha). Danach wird Mina ("Fisch"), d.h. Minanatha genannt, gefolgt von Goraksha ("Kuhhirt") bzw. Gorakshanatha, dem Verfasser der Verse des Goraksha Shataka und somit der vorliegenden Goraksha Paddhati:


śrī-ādinātha-matsyendra-śābarānanda-bhairavāḥ |
cauraṅgī-mīna-gorakṣa-virūpākṣa-bileśayāḥ || 1.5 ||
...
ity ādayo mahā-siddhā haṭha-yoga-prabhāvataḥ |
khaṇḍayitvā kāla-daṇḍaṃ brahmāṇḍe vicaranti te || 1.9 ||


"Adinatha (Shiva), Matsyendra, Shabara, Anandabhairava, Chaurangin, Mina, Goraksha, Virupaksha, Bileshaya, ... - diese und weitere vollendete Meister (Mahasiddha), die durch die Macht (Prabhava) des Hatha Yoga den Stab (Danda) des Todes ("der Zeit", Kala) zerbrochen haben, wandeln in der Welt (Brahmanda) umher." (HYP 1.5-9 )

Mina bzw. Minanatha wird nun im zweiten Vers der Version 2 des Goraksha Shataka als der Meister des Goraksha (der im darauffolgenden Vers 3 genannt wird) gepriesen (śrī-mīna-nāthaṃ bhaje), was durch die unmittelbare Aufeinanderfolge dieser beiden Meister in der Liste der HYP (1.5) gestützt wird. Somit wären Matsyendra bzw. Matsyendranatha dem 7. Jahrhundert, und Mina bzw. Minanatha sowie dessen Schüler Goraksha Natha dem 10. Jahrhundert n. Chr. zuzuordnen.

Goraksha Paddhati Übersetzung, Sanskrit Text Devanagari und Umschrift, Wort-für-Wort-Übersetzung

Shataka 1 Vers 1: Verehrung des Meisters

Ich verehre den ehrwürdigen Lehrer, der die höchste Glückseligkeit ist, dessen Natur die Wonne im Selbst ist, und in dessen bloßer Anwesenheit der Körper zu Bewusstsein und Wonne wird.


श्रीगुरुं परमानन्दं वन्दे स्वानन्दविग्रहम् |
यस्य सान्निध्यमात्रेण चिदानन्दायते तनुः || १ ||
śrī-guruṃ paramānandaṃ vande svānanda-vigraham |
yasya sānnidhya-mātreṇa cid-ānandāyate tanuḥ || 1.1 ||
shri-gurum paramanandam vande svananda-vigraham |
yasya sannidhya-matrena cid-anandayate tanuh || 1.1 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śrī-gurum : den ehrwürdigen (Shri) Lehrer, Meister (Guru)
paramānandam : die höchste Glückseligkeit, Wonne (Paramananda)
vande : ich verehre (vand)
svānanda-vigraham : dessen Natur ("Gestalt", Vigraha) die Wonne im Selbst (Svananda) ist
yasya : (in) dessen (Yad)
sānnidhya-mātreṇa : bloßer (Matra) Anwesenheit, in der Nähe Sein (Sannidhya)
cid-ānandāyate : zu Bewusstsein und Wonne wird (Chidananday)
tanuḥ : der Körper (Tanu)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 1 der Version 2 des Goraksha Shataka, die im Wesentlichen dem ersten Shataka der Goraksha Paddhati entspricht. In einem diesem vorgeschalteten, vermutlich auf einen Kommentator der Goraksha Paddhati zurückgehenden Vers heißt es, sie sei ein Kommentar eines Mahidhara zur (Yoga-)Lehre des Goraksha (vgl. auch Hatha Yoga Pradipika 1.1, die ebenfalls mit einer Verneigung vor Adinatha/Shiva als Begründer des Hatha Yoga beginnt):

śrī-ādināthaṃ sva-guraṃ hariṃ muniṃ
gorakṣa-śāstrasya praṇamya yoginam |
bhāṣā-vivṛttiṃ kurute mahī-dharo
yoge su-bodhaḥ khalu jāyate yayā || GP 1.0 ||

"Nachdem er sich vor Adinatha, (und) seinem eigenen Meister (Sva-Guru) Hari, dem Weisen (Muni) und Yogin verbeugt hat, verfasst Mahidhara den Bhashavivritti (genannten Kommentar) zur Lehre (Shastra) des Goraksha, durch den ein richtiges Verständnis (Subodha) in Bezug auf den (Hatha-)Yoga entsteht."

Shataka 1 Vers 2: Verehrung des Meisters

Nachdem er hingebungsvoll (seinen) Meister verehrt hat, verkündet Goraksha das höchste Wissen, das von den Yogis ersehnt wird, das die höchste Glückseligkeit bewirkt.


नमस्कृत्य गुरुं भक्त्या गोरक्षो ज्ञानमुत्तमम् |
अभीष्टं योगिनां ब्रूते परमानन्दकारकम् || २ ||
namas-kṛtya guruṃ bhaktyā gorakṣo jñānam uttamam |
abhīṣṭaṃ yogināṃ brūte paramānanda-kārakam || 1.2 ||
namas-kritya gurum bhaktya goraksho jnanam uttamam |
abhishtam yoginam brute paramananda-karakam || 1.2 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

namas-kṛtya : nachdem er verehrt hat (Namas-Kritya)
gurum : den Lehrer, Meister (Guru)
bhaktyā : hingebungsvoll, mit Hingabe (Bhakti)
gorakṣaḥ : Goraksha
jñānam : Wissen (Jnana)
uttamam : das höchste (Uttama)
abhīṣṭam : das ersehnt wird ("gewünscht", Abhishta)
yoginām : von den Yogis (Yogin)
brūte : verkündet, lehrt (brū)
paramānanda-kārakam : das die höchste Glückseligkeit (Paramananda) bewirkt (Karaka)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 3 der Version 2 des Goraksha Shataka. Der Meister Gorakshas war Minanatha (Matsyendranatha). Dieser wird in Vers 2 der Version 2 des Goraksha Shataka als eine Verkörperung Shivas (Adinatha) gepriesen:

antar-niścalitātma-dīpa-kalikāsv ādhāra-bandhādibhir
yo yogī yuga-kalpa-kāla-kalanāt tattvena jegīyate |
jñānāmoda-mahodadhiḥ samabhavad yatrādi-nāthaḥ svayaṃ
vyaktāvyakta-guṇādhikaṃ tam aniśaṃ śrī-mīna-nāthaṃ bhaje || 2, 2 ||

"Ich verehre ohne Unterlass den ehrwürdigen Minanatha, den Yogi im Glanz des inneren unbewegten Lichtes (Dipa) des Selbst (Atman), (das er) durch (die Praxis von) Wurzelverschluss (Adharabandha) usw. (erlangt hat), ihn, in dem sich der ursprüngliche Herr (Adinatha) selbst verkörpert hat, der infolge (seiner) Erschaffung (Kalana) der Zeit (Kala in Form) der Weltzeitalter (Yuga) und Weltschöpfungszyklen (Kalpa) als das Grundprinzip (Tattva) gepriesen wird, diesen Ozean (Mahodadhi) der Wonne (Amoda) der Erkenntnis (Jnana), der gegenüber den Eigenschaften (Guna) des Manifesten (Vyakta) und Unmanifesten (Avyakta) erhaben ist." (GŚ 2, 2)

Shataka 1 Vers 3: Einleitung

Er lehrt (nun) mit dem Wunsch den Yogis zu nützen die (Vers-)Sammlung des Goraksha, durch deren Verständnis der höchste Zustand (des Yoga) gewiss entsteht.


गोरक्षसंहितां वक्ति योगिनां हितकाम्यया |
ध्रुवं यस्यावबोधेन जायते परमं पदम् || ३ ||
gorakṣa-saṃhitāṃ vakti yogināṃ hita-kāmyayā |
dhruvaṃ yasyāvabodhena jāyate paramaṃ padam || 1.3 ||
goraksha-samhitam vakti yoginam hita-kamyaya |
dhruvam yasyavabodhena jayate paramam padam || 1.3 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

gorakṣa-saṃhitām : die (Vers-)Sammlung des Goraksha (Goraksha Samhita)
vakti : er lehrt, verkündet (vac)
yoginām : der Yogis (Yogin)
hita-kāmyayā : mit dem Wunsch für den Nutzen (Hitakamya)
dhruvam : gewiss, sicherlich (Dhruva)
yasya : dessen (Yad)
avabodhena : durch das Verständnis (Avabodha)
jāyate : entsteht (jan)
paramam : der höchste (Parama)
padam : Zustand, Bewusstseinszustand ("Ort", Pada)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint mit einer interessanten Lesart als Vers 4 der Version 2 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im ersten Pada gorakṣaḥ śatakaṃ vakti "Goraksha lehrt (eine Sammlung von) einhundert (Versen, Shataka)" statt gorakṣa-saṃhitāṃ vakti. Obwohl der Text hier als Goraksha Samhita bezeichnet wird, ist er genauso als Goraksha Paddhati bekannt. Aus dem vorangehenden Vers 2 ergibt es sich, dass der Verfasser der Verse dieser "Sammlung" (Samhita) Goraksha ist: gorakṣo jñānam uttamam ... brūte.

Der "höchste Zustand" (paramaṃ padam) ist laut Hatha Yoga Pradipika (4.3-4) identisch mit dem Rajayoga, Samadhi oder Jivanmukti genannten Bewusstseinszustand und somit gleichbedeutend mit der Erfahrung der Nichtdualität (Advayatva), der immerwährenden Identität von "Selbst" (Atman) und Brahman, dem "Absoluten".

Shataka 1 Vers 4: Einleitung

Dies ist eine Leiter zur Befreiung. Es bedeutet das Überlisten des Todes. Denn, wenn der Geist von der Sinneserfahrung abgewandt ist, richtet er sich auf das höchste Selbst.


एतद्विमुक्तिसोपानमेतत्कालस्य वञ्चनम् |
यद्व्यावृत्तं मनो भोगादासक्तं परमात्मनि || ४ ||
etad vimukti-sopānam etat kālasya vañcanam |
yad vyāvṛttaṃ mano bhogād āsaktaṃ paramātmani || 1.4 ||
etad vimukti-sopanam etat kalasya vanchanam |
yad vyavrittam mano bhogad asaktam paramatmani || 1.4 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

etat : dies (Etad)
vimukti-sopānam : ist eine Leiter (Sopana) für die Befreiung (Vimukti)
etat : dies
kālasya : des Todes ("der Zeit", Kala)
vañcanam : ist das Täuschen ("Hintergehen, Entrinnen", Vanchana)
yat : weil (Yad)
vyāvṛttam : abgewandt (Vyavritta)
manas : der Geist, das Denken (Manas)
bhogāt : von der Sinneserfahrung, vom Genuss (der Sinnesobjekte, Bhoga)
āsaktam : gerichtet ist ("hängend an", Asakta)
paramātmani : auf das höchste Selbst (Paramatman)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 5 der Version 2 des Goraksha Shataka. In Vers 2 der Version 1 des Goraksha Shataka heißt es im 4. Pada mohāt "von der Täuschung" statt bhogāt. Der Geist, der sich in der Meditation von der äußerlichen Erfahrung (Bhoga) abwendet, erreicht den Zustand des Yoga, die Erfahrung der Identität mit dem höchste Selbst.

Die Wissenschaft des Hatha Yoga wird - vielleicht als Referenz an den vorliegenden Vers der Goraksha Paddhati - im ersten Vers der Hatha Yoga Pradipika (1.1) ebenfalls als eine Leiter bezeichnet:

śrī-ādi-nāthāya namo’stu tasmai yenopadiṣṭā haṭha-yoga-vidyā |
vibhrājate pronnata-rāja-yogam āroḍhum icchor adhirohiṇīva || 1.1 ||

"Verehrung (Namas) sei dem verehrungswürdigen (Shri) uranfänglichen Herrn (Adinatha), von dem die Wissenschaft (Vidya) des Hatha Yoga gelehrt wurde (Upadishta), die wie eine Leiter (Adhirohini) für denjenigen erstrahlt, der den äußerst erhabenen (Pronnata) königlichen Yoga (Rajayoga) zu erklimmen wünscht (Ichchhu)." (HYP 1.1)

Shataka 1 Vers 5: Einleitung

Ihr Besten (der Menschen), praktiziert Yoga! - den Vernichter des Leidens der weltlichen Existenz, der die Frucht des Wunschbaums der heiligen Überlieferung ist, dessen Zweige von den Vögeln, den Zweimalgeborenen, besucht werden.


द्विजसेवितशाखस्य श्रुतिकल्पतरोः फलम् |
शमनं भवतापस्य योगं भजत सत्तमाः || ५ ||
dvija-sevita-śākhasya śruti-kalpa-taroḥ phalam |
śamanaṃ bhava-tāpasya yogaṃ bhajata sattamāḥ || 1.5 ||
dvija-sevita-shakhasya shruti-kalpa-taroh phalam |
shamanam bhava-tapasya yogam bhajata sattamah || 1.5 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvija-sevita-śākhasya : dessen Zweige (Shakha) von Vögeln, Zweimalgeborenen (Dvija) besucht (Sevita) werden
śruti-kalpa-taroḥ : des Wunschbaums (Kalpataru) der heiligen Überlieferung (Shruti)
phalam : die Frucht (Phala)
śamanam : den Vernichter ("Beruhiger", Shamana)
bhava-tāpasya : des Leidens (Tapa) der weltlichen Existenz (Bhava)
yogam : Yoga
bhajata : betreibt (bhaj)
sattamāḥ : ihr Besten (der Menschen, Sattama)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 6 der Version 2 des Goraksha Shataka. In Vers 3 der Version 1 des Goraksha Shataka heißt es im 4. Pada bhajati saj-janaḥ "ein guter Mensch praktiziert" statt bhajata sattamāḥ.

Dvija (dvi-ja) "zweimal geboren" bedeutet sowohl "Vogel" als auch die Mitglieder der drei oberen Kasten bzw. Stände (Varna). Shakha (śākhā) bedeutet auch einen "Zweig" im Sinne einer Schule bzw. Überlieferungstradition (Rezension) des Veda.

Shataka 1 Vers 6: Die sechs Glieder des Hatha Yoga

Körperstellung, Atemkontrolle, das Zurückziehen (der Sinne bzw. das Zurückhalten des inneren Nektars), Konzentration, Meditation und Versenkung - diese nennt man die sechs Glieder des Yoga.


आसनं प्राणसंरोधः प्रत्याहारश्च धारणा |
ध्यानं समाधिरेतानि योगाङ्गानि वदन्ति षट् || ६ ||
āsanaṃ prāṇa-saṃrodhaḥ pratyāhāraś ca dhāraṇā |
dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni vadanti ṣaṭ || 1.6 ||
asanam prana-samrodhah pratyaharash cha dharana |
dhyanam samadhir etani yogangani vadanti shat || 1.6 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanam : Körperstellung, Sitzhaltung (Asana)
prāṇa-saṃrodhaḥ : Atemkontrolle (Pranasamrodha)
pratyāhāraḥ : das Zurückhalten (der Sinne bzw. des inneren Nektars, Pratyahara)
ca : und (Cha)
dhāraṇā : Konzentration (Dharana)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
etāni : diese (Etad)
yogāṅgāni : Bestandteile, Glieder des Yoga (Yoganga)
vadanti : nennt man (vad)
ṣaṭ : die sechs (Shash)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 7 der Version 2 des Goraksha Shataka. In Vers 4 der Version 1 des Goraksha Shataka heißt es im 1. Pada prāṇa-saṃyāmaḥ statt prāṇa-saṃrodhaḥ, und im 4. Pada bhavanti "sind" statt vadanti. Auch in der Yogachudamani Upanishad (Vers 2) erscheint dieser programmatische Vers mit der Variante bhavanti.

Pranasamrodha (prāṇa-saṃrodhaḥ) ist ein Synonym für Pranayama. Es bedeutet soviel wie "Kontrolle über den Atem bzw. die Lebensenergie Prana", wörtlich jedoch das "Anhalten (Samrodha) des Atems (Prana)", und bezieht sich folglich insbesondere auf die Atemverhaltungen (Kumbhaka).

Der Begriff Pratyahara wird in der Goraksha Paddhati in zweifacher Weise gebraucht: Einmal wird es im Vers 2.22 im traditionellen Sinne des "Zurückziehens der Sinne von ihren äußeren Sinnesobjekten (Vishaya)" definiert (vgl. auch Yogasutra 2, 54). Im Vers 2.30 erfolgt dann eine Definition als "Zurückhalten des inneren Mondnektars (Chandramrita)", welches in Zusammenhang mit der Praxis von Viparita Karani steht (2.34).

In der Hatha Yoga Pradipika (1.58) werden vier Glieder bzw. Bestandteile der Hatha Yoga-Praxis genannt:

āsanaṃ kumbhakaṃ citraṃ mudrākhyaṃ karaṇaṃ tathā |
atha nādānusandhānam abhyāsānukramo haṭhe || 1.58 ||

"Körperstellungen (Asana), die verschiedenen Atemverhaltungen (Kumbhaka), ebenso die Mudra genannten Stellungen (Karana), sowie die Konzentration auf den (unangeschlagenen) Klang (Nada Anusandhana) - so lautet die Abfolge (Anukrama) der Übungspraxis (Abhyasa) im Hatha (Yoga)." (HYP 1.58)

In dieser Aufzählung erscheint Kumbhaka im Sinne von Pranayama bzw. Pranasamrodha, und die Bezeichnungen Mudra und Karana beziehen sich in der Goraksha Paddhati auf die Praxis von Pratyahara (Vers 2.30 ff.). Die hier mit Nada Anusandhana erwähnte Meditationspraxis schließt die Schritte Dharana, Dhyana und Samadhi ein, so dass die in der GP aufgezählten sechs Glieder des Yoga (Yoganga) sich auch in der HYP wiederfinden.

Die im achtgliedrigen (Ashtanga) Yoga des Yogasutra gelehrten beiden Glieder Yama und Niyama werden somit in der Goraksha Paddhati nicht ausdrücklich erwähnt. In der Hatha Yoga Pradipika (1.17-18) werden wiederum zehn Yamas und zehn Niyamas gelehrt (bei Patanjali sind es jeweils nur fünf). Diese müssen allerdings textgeschichtlich als spätere Einschübe betrachtet werden (Hatha Yoga Pradipika 1.17).

Shataka 1 Vers 7: Anzahl der Asanas

Es gibt soviele Körperstellungen, wie es (Arten von) Lebewesen gibt. Maheshvara kennt all deren Unterscheidungen.


आसनानि च तावन्ति यावन्तो जीवजन्तवः |
एतेषामखिलान्भेदान्विजानाति महेश्वरः || ७ ||
āsanāni ca tāvanti yāvanto jīva-jantavaḥ |
eteṣām akhilān bhedān vijānāti maheśvaraḥ || 1.7 ||
asanani cha tavanti yavanto jiva-jantavah |
etesham akhilan bhedan vijanati maheshvarah || 1.7 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanāni : Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
ca : und (Cha)
tāvanti : (gibt es) soviele (Tavat)
yāvantaḥ : wie (Yavat)
jīva-jantavaḥ : lebendige (Jiva) Wesen (Jantu), Lebewesen
eteṣām : davon, von diesen (Etad)
akhilān : alle (Akhila)
bhedān : Arten, Unterscheidungen (Bheda)
vijānāti : kennt (vi + jñā)
maheśvaraḥ : Maheshvara, der große Herr (Shiva)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint nahezu wortwörtlich als Vers 8 der Version 2 des sowie als Vers 5 der Version 1 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im 2. Pada jīva-jātayaḥ "Arten (Jati) von Lebewesen (Jiva)" statt jīva-jantavaḥ, das wörtlich "lebendige (Jiva adj.) Wesen (Jantu)", also "Lebewesen" bedeutet.

Wieviele Arten von Lebewesen (und folglich Körperstellungen) es nach der traditionellen indischen Anschauung gibt, wird im nächsten Vers ausgeführt.

Shataka 1 Vers 8: Anzahl der Asanas

Aus diesen 8,4 Millionen Körperstellungen wurde von Shiva jeweils eine (stellvertretend für jeweils 100 000) ausgewählt, und somit 84 Körperstellungen zusammengestellt.


चतुराशीतिलक्षाणामेकैकं समुदाहृतम् |
ततः शिवेन पीठानां षोडशोनं शतं कृतम् || ८ ||
catur-āśīti-lakṣāṇām ekaikaṃ samudāhṛtam |
tataḥ śivena pīṭhānāṃ ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam || 1.8 ||
catur-ashiti-lakshanam ekaikam samudahritam |
tatah shivena pithānām shodashonam shatam kritam || 1.8 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

catur-āśīti-lakṣāṇām : aus 8,4 Millionen ("84 x 100 000", Chaturashiti-Laksha)
ekaikam : jeweils ein (100 000, Eka)
samudāhṛtam : wurde als Beispiel ausgewählt ("genannt", Samudahrita)
tataḥ : daraus, davon (Tatas)
śivena : von Shiva
pīṭhānām : der Körperstellungen, Sitzhaltungen (Pitha)
ṣoḍaśonam : um 16 (Shodasha) vermindert (Una)
śatam : ein Hundert (Shata)
kṛtam : wurde zusammengestellt ("gemacht", Krita)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 9 der Version 2 sowie mit einer Lesart als Vers 6 der Version 1 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im 2. Pada ekam ekam udāhṛtam statt ekaikam samudāhṛtam.

Die Zahl 84 heißt im Sanskrit catur-aśīti. Man kann sie aber auch indirekt ausdrücken, indem man von 100 (Shata) 16 (Shodasha) subtrahiert, was hier der Fall ist: ṣoḍaśonaṃ śatam, "ein um 16 vermindertes Hundert".

In der Gheranda Samhita (2.1-2) wird sinngemäß dasselbe gesagt, wobei GhS 2.1 abc und 2.2 b mehr oder weniger wortwörtliche Übernahmen aus GP 1.7 ab bzw. GP 1.8 a,d sind. Von den besagten 84 Stellungen werden in der Gheranda Samhita lediglich 32 gelehrt:

āsanāni samastāni yāvanto jīva-jantavaḥ |
catur-aśīti lakṣāṇi śivena kathitaṃ purā || 2.1 ||
teṣāṃ madhye viśiṣṭāni ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam |
teṣāṃ madhye martya-loke dvā-triṃśad āsanaṃ śubham || 2.2 ||

"Sämtliche Körperstellungen (Asana) zusammengenommen sind soviele wie es (Arten von) lebenden (Jiva) Wesen (Jantu) gibt. 8,4 Millionen Körperstellungen wurden einst von Shiva gelehrt. Aus deren Mitte (Madhya) wurden die 84 hervorragendsten (Vishishta) Körperstellungen zusammengestellt. Von diesen sind in der Welt der Sterblichen (Martyaloka) 32 Körperstellungen von Nutzen (Shubha)." (GhS 2.1-2)

Shataka 1 Vers 9: Siddhasana und Kamalasana

Von allen Körperstellungen werden zwei (besonders) genannt: die eine wird perfekter Sitz (Siddhasana) genannt, die andere Lotussitz (Kamalasana).


आसनेभ्यः समस्तेभ्यो द्वयमेतदुदाहृतम् |
एकं सिद्धासनं प्रोक्तं द्वितीयं कमलासनम् || ९ ||
āsanebhyaḥ samastebhyo dvayam etad udāhṛtam |
ekaṃ siddhāsanaṃ proktaṃ dvitīyaṃ kamalāsanam || 1.9 ||
asanebhyah samastebhyo dvayam etad udahritam |
ekam siddhasanam proktam dvitiyam kamalasanam || 1.9 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanebhyaḥ : Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
samastebhyaḥ : von allen (Samasta)
dvayam : zwei ("eine Zweiheit", Dvaya)
etad : diese (Eva)
udāhṛtam : werden genannt (Udahrita)
ekam : die eine (Eka)
siddhāsanam : perfekter Sitz (Siddhasana)
proktam : wird genannt (Prokta)
dvitīyam : die andere ("zweite", Dvitiya)
kamalāsanam : Lotussitz (Kamalasana)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint mit einigen Lesarten als Vers 10 der Version 2 sowie als Vers 7 der Version 1 des Goraksha Shataka. In beiden Versionen heißt es im 2. Pada dvayam eva viśiṣyate "zeichnen sich zwei besonders aus (vi + śiṣ)" statt dvayam etad udāhṛtam.

Kamalasana (kamalāsana) ist ein Synonym für Padmasana (padmāsana).

Shataka 1 Vers 10: Siddhasana (perfekter Sitz)

Man lege eine Ferse fest an den Beckenboden und den anderen Fuß fest oberhalb des Genitals, und presse (mit Jalandhara Bandha) das Kinn ganz fest gegen die Brust. Dann schaue man, unbeweglich und mit gesammelten Sinnen, mit unverwandtem Blick auf die Mitte zwischen beiden Augenbrauen. Diese Sitzhaltung, die das Öffnen der Tür zur Befreiung bewirkt, wird perfekter Sitz (Siddhasana) genannt.


योनिस्थानकमङ्घ्रिमूलघटितं कृत्वा दृढं विन्यसे-
न्मेढ्रे पादमथैकमेव नियतं कृत्वा हनुं सुस्थिरम् |
स्थाणुः संयमितेन्द्रियोऽचलदृशा पश्येद्भ्रुवोरन्तरं
ह्येतन्मोक्षकपाटभेदजनकं सिद्धासनं प्रोच्यते || १० ||
yoni-sthānakam aṅghri-mūla-ghaṭitaṃ kṛtvā dṛḍhaṃ vinyasen
meḍhre pādam athaikam eva hṛdaye kṛtvā hanuṃ su-sthiram |
sthāṇuḥ saṃyamitendriyo'cala-dṛśā paśyed bhruvor antaraṃ
hy etan mokṣa-kapāṭa-bheda-janakaṃ siddhāsanaṃ procyate || 1.10 ||
yoni-sthanakam anghri-mula-ghatitaṃ kritva dridham vinyasen
medhre padam athaikam eva hridaye kritva hanum su-sthiram |
sthanuh samyamitendriyo'chala-drisha pashyed bhruvor antaram
hy etan moksha-kapata-bheda-janakam siddhasanam prochyate || 1.10 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yoni-sthānakam : den Ort, die Stelle (Sthanaka) des Dammes, Beckenbodens ("des Ursprungs", Yoni)
aṅghri-mūla-ghaṭitam : an die Ferse ("Fuß-Wurzel, Ursprung des Fußes", Anghrimula) angelegt, verbunden (Ghatita)
kṛtvā : habend ("machend", kṛ)
dṛḍham : fest (Dridha)
vinyaset : man lege (vi + ni + as)
meḍhre : oberhalb des Gliedes, über das Glied (Medhra)
pādam : Fuß (Pada)
atha : und, nun, dann (Atha)
ekam : einen (Eka)
eva : wahrlich, nur (Eva)
hṛdaye : auf die Herz(gegend, Brust, Hridaya)
kṛtvā : machend
hanum : das Kinn (Hanu)
su-sthiram : ganz fest (Susthira)
sthāṇuḥ : aufrecht, unbeweglich (Sthanu)
saṃyamitendriyaḥ : mit gesammelten, kontrollierten ("bezwungenen", Samyamita) Sinnen (Indriya)
acala-dṛśā : mit unverwandtem, unbeweglichem (Achala) Blick ("Auge", Drish)
paśyet : man schaue (paś)
bhruvoḥ : beide Brauen (Bhru)
antaram : zwischen (Antara)
hi : gewiss (Hi)
etat : diese (Sitzhaltung, Etad)
mokṣa-kapāṭa-bheda-janakam : die das Aufbrechen, Öffnen (Bheda) der) Tür (Kapata) zur Befreiung (Moksha) bewirkt, verursacht (Janaka)
siddhāsanam : Sitzhaltung der Vollkommenen, perfekter Sitz (Siddhasana)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (1.37) und mit einigen Lesarten als Vers 11 der Version 2 sowie als Vers 8 der Version 1 des Goraksha Shataka. Auch in der Gheranda Samhita (2.7) wird er - mit einigen größeren Abweichungen im ersten Halbvers - überliefert.

In der Variante des Goraksha Shataka steht im 2. Pada niyataṃ kṛtvā samaṃ vigraham "nachdem man den Körper (Vigraha) aufgerichtetet hat" statt hṛdaye kṛtvā hanuṃ su-sthiram, welches auf das Setzen von Jalandhara Bandha verweist.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, ergänzt zur Ausführung von Siddhasana, dass die linke Ferse an den Beckenboden und der rechte Fuß über das Genital, wörtlich "über das Glied" (meḍhre), gelegt wird.

Das Kompositum mokṣa-kapāṭa-bheda-janakam versteht Brahmananda in dem Sinne, dass Siddhasana die Zerstörung (Nasha) der Hindernisse (Pratibandhaka) der Erlösung (Moksha) bewirkt (janayati): mokṣasya yat kapāṭaṃ pratibandhakaṃ tasya bhedaṃ nāśaṃ janayati. Man könnte unter der Tür zur Befreiung (Moksha-Kavata) auch die Sushumna verstehen, deren Öffnung durch die schlafende Kundalini versperrt wird.

Shataka 1 Vers 11: Padmasana (Lotussitz)

Man lege den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel und den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel. Dann ergreife man mit beiden Händen, indem man diese hinter dem Rücken über Kreuz hält, fest die beiden großen Zehen. Dann schaue man, das Kinn auf die Brust drückend, auf die Nasenspitze. Diese Sitzhaltung, die körperliche Krankheiten und geistige Störungen vernichtet, wird Lotussitz (Padmasana) genannt.


वामोरूपरि दक्षिणं च चरणं संस्थाप्य वामं तथा
दक्षोरूपरि पश्चिमेन विधिना धृत्वा कराभ्यां दृढम् |
अङ्गुष्ठौ हृदये निधाय चिबुकं नासाग्रमालोकये-
देतद्व्याधिविकारनाशनकरं पद्मासनं प्रोच्यते || ११ ||
vāmorūpari dakṣiṇaṃ ca caraṇaṃ saṃsthāpya vāmaṃ tathā
dakṣorūpari paścimena vidhinā dhṛtvā karābhyāṃ dṛḍham |
aṅguṣṭhau hṛdaye nidhāya cibukaṃ nāsāgram ālokayed
etad vyādhi-vikāra-nāśana-karaṃ padmāsanaṃ procyate || 1.11 ||
vamorupari dakshinam cha charanam samsthapya vamam tatha
dakshorupari pashchimena vidhina dhritva karabhyam dridham |
angushthau hridaye nidhaya chibukam nasagram alokayed
etad vyadhi-vikara-nashana-karam padmasanam prochyate || 1.11 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vāmorūpari : auf (Upari) den linken (Vama) Oberschenkel (Uru)
dakṣiṇam : den rechten (Dakshina)
ca : und, aber (Cha)
caraṇam : Fuß (Charana)
saṃsthāpya : legend ("gelegt habend", sam + sthā)
vāmam : den linken (Fuß, Vama)
tathā : und, ebenso (Tatha)
dakṣorūpari : auf (Upari) den rechten (Daksha) Oberschenkel (Uru)
paścimena : auf die hintere (hinter dem Rücken, Pashchima)
vidhinā : Art und Weise (Vidhi)
dhṛtvā : haltend, ergreifend (dhṛ)
karābhyām : mit beiden Händen (über Kreuz, Kara)
dṛḍham : fest (Dridha)
aṅguṣṭhau : beide großen Zehen (Angushtha)
hṛdaye : an die Brust (die "Herzgegend", Hridaya)
nidhāya : legend ("gelegt habend", ni + dhā)
cibukam : das Kinn (Chibuka)
nāsāgram : auf die Nasenspitze (Nasagra)
ālokayet : schaue man (ā + lok)
etat : das, diese (Sitzhaltung, (Etad)
vyādhi-vikāra-nāśana-karam : die (körperliche) Krankheiten (Vyadhi) und (geistige) Störungen (Vikara) vernichtet ("zunichte macht", Nashanakara)
padmāsanam : Lotussitz (Padmasana)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 12 der Version 2 sowie mit einigen Lesarten als Vers 9 der Version 1 des Goraksha Shataka. Auch in der Gheranda Samhita (2.8) ist dieser Vers mit wenigen Abweichungen überliefert, ebenso in Hatha Yoga Pradipika (1.46), deren Wortlaut im letzten Versviertel etwas stärker abweicht. Dort heißt es etad vyādhi-vināśa-kāri yaminām "diese (Sitzhaltung) bewirkt (Karin) bei den sich selbst beherrschenden (Yamin) die Vertreibung (Vinasha) von Krankheiten (Vyadhi)" statt etad vyādhi-vikāra-nāśana-karam, was sinngemäß auf dasselbe hinausläuft.

Die hier gelehrte Variante des Lotussitzes entspricht bereits dem "gebundenen Lotussitz" (Baddha Padmasana), bei dem die hinter dem Rücken gekreuzten Arme bzw. Hände die großen Zehen festhalten.

Der Ausdruck "das Kinn auf die Brust drückend" (hṛdaye nidhāya cibukam) verweist - wie schon im vorangegangenen Vers 10 - auf das Setzen von Jalandhara Bandha und damit auf die Praxis der Atemverhaltung (Kumbhaka). Das Fixieren (Dharana) des Blickes (Dhrishti), dass der Sammlung des Geistes und damit der Einstimmung auf die Meditationspraxis dient, ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil der Beschreibung dieser beiden Sitzhaltungen. Während jedoch in Siddhasana der Blick auf die Mitte zwischen den Augenbrauen (Bhrumadhya) gerichtet wird, soll er in Padmasana auf die Nasenspitze gerichtet werden.

Shataka 1 Vers 12: Kenntnis des feinstofflichen Körpers

Wie können diejenigen Yogis, die die sechs Energiezentren, die sechzehn Stützen, die zwei Arten von Meditationsobjekten, und die fünf Räume in ihrem Körper nicht kennen, ans Ziel gelangen?


षट्चक्रं षोडशाधारं द्विलक्ष्यं व्योमपञ्चकम् |
स्वदेहे ये न जानन्ति कथं सिध्यन्ति योगिनः || १२ ||
ṣaṭ-cakraṃ ṣoḍaśādhāraṃ dvi-lakṣyaṃ vyoma-pañcakam |
sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 1.12 ||
shat-chakram shodashadharam dvi-lakshyam vyoma-panchakam |
sva-dehe ye na jananti katham sidhyanti yoginah || 1.12 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ṣaṭ-cakram : die sechs (Shash) Energiezentren ("Räder", Chakra)
ṣoḍaśādhāram : die sechzehn (Shodasha) Stützen, Konzentrationspunkte Adhara)
dvi-lakṣyam : die zwei Arten von Meditationsobjekten (Dvilakshya)
vyoma-pañcakam : die fünf Räume (Vyoma Panchaka)
sva-dehe : im eigenen (Sva) Körper (Deha)
ye : die (Yad)
na : nicht (Na)
jānanti : kennen (jñā)
katham : wie (Katham)
sidhyanti : sind erfolgreich, gelangen ans Ziel (sidh)
yoginaḥ : (diejenigen) Yogis (Yogin)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint beinahe wortwörtlich als Vers 13 der Version 2 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im 2. Pada tri-lakṣam "die drei (Tri) Zielpunkte (der Visualisierung, Laksha)" statt dvi-lakṣyam. Auch die Yogachudamani Upanishad (3 cd / 4 ab) liest tri-lakṣyam "die drei Arten von Meditationsobjekten (Trilakshya)".

Ein ganz ähnlicher Vers wird in der ebenfalls dem Goraksha zugeschriebenen Siddha Siddhanta Paddhati (2.31) überliefert, wo allerdings von neun statt sechs Chakras die Rede ist:

nava-cakraṃ kalādhāraṃ tri-lakṣyaṃ vyoma-pañcakam |
samyag etan na jānāti sa yogī nāma-dhārakaḥ ||

"Einer, der die neun (Nava) Energiezentren (Chakra), die sechzehn (Kala) Stützen (Adhara), die drei Arten von Meditationsobjekten (Trilakshya), und die fünf Räume (Vyoma Panchaka) nicht vollständig kennt, der ist nur dem Namen nach (Namadharaka) ein Yogi."

Die neun Chakras, sechzehn Adharas, drei Arten von Meditationsobjekten (Trilakshya) und fünf Räume (Vyoma Panchaka) werden im Artikel Siddha Siddhanta Paddhati ausführlicher beschrieben.

Bei den sechs Chakras der Goraksha Paddhati dürfte es sich um die bekannten sechs unteren feinstofflichen Energiezentren Muladhara Chakra, Svadhisthana Chakra, Manipura Chakra, Anahata Chakra, Vishuddhi Chakra und Ajna Chakra handeln.

Im Falle von tri-lakṣyam (statt GP dvi-lakṣyam) handelt sich um drei Arten von Meditationsobjekten bzw. Visualisierungsweisen: "innerlich", innerhalb des Körpers (antar-lakṣyam Antarlakshya), "äußerlich", außerhalb des Körpers (bahir-lakṣyam Bahirlakshya) und "neutral, mittel" (madhyamaṃ lakṣyam Madhyama Lakshya), d.h. weder innerlich noch äußerlich: man visualisiere im Geiste eine bestimmte Farbe bzw. Form, ohne sie im Körper oder außerhalb desselben zu verorten.

Sollte es sich im vorliegenden Vers der Goraksha Paddhati tatsächlich nicht um einen Überlieferungsfehler handeln (in dem dvi- für tri- verlesen wurde), so liegt die Vermutung nahe, dass mit dvi-lakṣyam die ersten beiden der in der SSP beschriebenen Visualisierungsweisen gemeint sind, nämlich Antarlakshya und Bahirlakshya. Dies bestätigt auch der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers, wobei sich die inneren (Abhyantara) Konzentrationspunkte (Lakshya) auf die Chakras wie Muladhara und Anahata Chakra (Hritpadma) beziehen. Mit den äußeren (Bahya) Konzentrationspunkten sind solche wie die Nasenspitze (Nasagra) und die Mitte zwischen den Augenbrauen (Bhrumadhya) gemeint.

Die "fünf Räume" (Vyoma Panchaka) werden in der SSP wie folgt benannt: ākāśa (Akasha), parākāśa (Parakasha), mahākāśa (Mahakasha), tattvākāśa (Tattvakasha) und suryākāśa (Suryakasha). Es handelt sich dabei nicht um die im Advaita Vedanta bekannten "fünf Hüllen" (Pancha Kosha), sondern um bestimmte Weisen der Visualisierung des Raumes, der sowohl das Innere als auch das Äußere umfasst.

Shataka 1 Vers 13: Kenntnis des feinstofflichen Körpers

Wie können diejenigen Yogis, die ihren eigenen Körper nicht als ein auf einem Pfeiler ruhendes Haus kennen, mit neun Türen und fünf Schutzgottheiten, ans Ziel gelangen?


एकस्तम्भं नवद्वारं गृहं पञ्चाधिदैवतम् |
स्वदेहे ये न जानन्ति कथं सिध्यन्ति योगिनः || १३ ||
eka-stambhaṃ nava-dvāraṃ gṛhaṃ pañcādhidaivatam |
sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 1.13 ||
eka-stambham nava-dvaram griham panchadhidaivatam |
sva-dehe ye na jananti katham sidhyanti yoginah || 1.13 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

eka-stambham : ein auf einem Pfeiler ruhendes (Ekastambha)
nava-dvāram : mit neun (Nava) Türen (Dvara)
gṛham : Haus (Griha)
pañcādhidaivatam : mit fünf (Pancha) Schutzgottheiten (Adhidaivata)
sva-dehe : in Bezug auf ihren eigenen (Sva) Körper (Deha)
ye : die (Yad)
na : nicht (Na)
jānanti : kennen (jñā)
katham : wie (Katham)
sidhyanti : sind erfolgreich, gelangen ans Ziel (sidh)
yoginaḥ : (diejenigen) Yogis (Yogin)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint bis auf eine abweichende grammatische Form wortwörtlich als Vers 14 der Version 2 des Goraksha Shataka. Dort heißt es im 3. Pada sva-deham (Akk.) "den eigenen Körper" "" statt sva-dehe (Lok.) "im eigenen Körper". Der Akkusativ sva-deham ist in diesem Satz syntaktisch als logisches Objekt des Verbs jānanti etwas schlüssiger, der Lokativ ist eine Übernahme aus dem gleichlautenden zweiten Halbvers des vorangehenden Verses 12.

Der Körper wird gern mit einem Haus mit neun "Türen" bzw. Öffnungen verglichen, womit die beiden Augen, die beiden Ohren, die beiden Nasenlöcher, der Mund, der Anus und die Geschlechtsöffnung bzw. Harnröhre gemeint sind. Der "eine Pfeiler", auf dem das Haus ruht, könnte sich auf die Wirbelsäule beziehen und die fünf "Schutzgottheiten" auf die fünf Sinne bzw. Wahrnehmungsorgane (Jnanendriya) Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers gibt allerdings eine andere Erklärung: Der "eine Pfeiler" ist der Geist bzw. das Denken (Manas), der Ort aller Wünsche und latenten Prägungen (Vasana). Die fünf "Schutzgottheiten" sind den (grobstofflichen) Elementen (Mahabhuta) zugeordnet: Brahma (Erde), Vishnu (Wasser), Rudra (Feuer), Ishvara (Luft) und Sadashiva (Äther/Raum). Der Kommentator zitiert in diesem Zusammenhang die folgenden Verse aus einem Werk namens Yoga Sara, wobei sich die zitierte Passage nahezu wortwörtlich auch in der Yoga Shikha Upanishad (1, 176-78) findet:

catur-asra[ṃ] dharaṇy-ādau brahmā tatrādhidevatā |
ardha-candrākṛtir jalaṃ viṣṇus tatrādhidevatā ||
tri-koṇa-maṇḍalaṃ vahnī rudras tatrādhidevatā |
vāyor bījaṃ tu ṣaṭ-koṇam īśas tatrādhidevatā |
ākāśa-maṇḍalaṃ vṛttaṃ devatāsya sadā-śivaḥ ||

"Beim ersten (Element) - Erde (Dharani - repräsentiert durch) ein Viereck (Chaturasra), ist Brahma die Schutzgottheit (Adhidevata).

Das (Element) Wasser (Jala wird repräsentiert durch) die Form (Akriti) eines Halbmonds (Ardhachandra) - dort ist Vishnu die Schutzgottheit.

Das (Element) Feuer (Vahni wird repräsentiert durch) das Symbol (Mandala) des Dreiecks (Trikona) - dort ist Rudra die Schutzgottheit.

Die Keimsilbe (Bija) des Windes (Vayu wird repräsentiert durch) ein Sechseck (Shatkona aus zwei ineinander verschränkten Dreiecken) - dort ist Isha die Schutzgottheit.

Das Symbol (Mandala) des Äthers/Raumes (Akasha) ist ein Kreis (Vritta) - dessen Gottheit (Devata) ist Sadashiva." (YS ~ YŚU 1, 176-178 ab)

Die genannten geometrischen Figuren Viereck, Halbmond, Dreieck, Sechseck und Kreis finden sich auch in den symbolischen Darstellungen der Elemente in den unteren fünf Chakras, beginnend mit dem Muladhara Chakra bis hinauf zum Vishuddha Chakra, wieder.

Shataka 1 Vers 14: Die Chakras - Anzahl der Blütenblätter

Adhara, "die Grundlage", hat vier Blütenblätter, und Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", hat sechs Blütenblätter. In der Nabelgegend ist ein Lotus mit zehn Blütenblättern, und in der Herzgegend ein Lotus mit einer Anzahl von zwölf Blütenblättern.


चतुर्दलं स्यादाधारं स्वाधिष्ठानं च षड्दलम् |
नाभौ दशदलं पद्मं सूर्यसङ्ख्यादलं हृदि || १४ ||
catur-dalaṃ syād ādhāraṃ svādhiṣṭhānaṃ ca ṣaḍ-dalam |
nābhau daśa-dalaṃ padmaṃ sūrya-saṅkhyā-dalaṃ hṛdi || 1.14 ||
chatur-dalam syad adharam svadhishthanam cha shad-dalam |
nabhau dasha-dalam padmam surya-sankhya-dalam hridi || 1.14 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

catur-dalam : vierblättrig (Chaturdala)
syāt : ist ("sei", as)
ādhāram : die Grundlage, Stütze (Adhara)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (Svadhishthana)
ca : und (Cha)
ṣaḍ-dalam : sechsblättrig (Shaddala)
nābhau : in der Nabelgegend ("am Nabel", Nabhi)
daśa-dalam : zehnblättriger (Dashadala)
padmam : (ist ein) Lotus (Padma)
sūrya-saṅkhyā-dalam : mit einer Anzahl von zwölf ("Sonnen-Zahl", Surya-Sankhya) Blütenblättern (Dala)
hṛdi : in der Herzgegend ("im Herzen", Hrid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird bis auf eine abweichende grammatische Form wortwörtlich als Vers 15 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einigen Lesarten im vierten Pada als Vers 4cd-5ab der Yogachudamani Upanishad überliefert. Dort heißt es hṛdaye dvā-daśārakam "in der Herzgegend (Hridaya) ist ein (Rad mit) zwölf (Dvadasha) Speichen (Araka)" statt sūrya-saṅkhyā-dalaṃ hṛdi.

Es handelt sich der Reihe nach um das Muladhara Chakra, Svadhishthana Chakra, Manipura Chakra und Anahata Chakra. Die Sonne (Surya) steht symbolisch für die Zahl zwölf, weil das Sonnenjahr zwölf Monate (Masa) bzw. zwölf Tierkreiszeichen (Rashi) hat.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers zitiert im Zusammenhang mit dem hier Adhara genannten Muladhara Chakra die folgenden beiden Verse aus dem Yoga Sara, wobei sich die zitierte Passage sinngemäß auch in der Yoga Shikha Upanishad (1, 170-71) findet:

yasmād utpadyate vāyur yasmād utpadyate manaḥ |
yasmād utpadyate haṃso yasmād vahniḥ prajāyate ||
yasmād utpadyate bindur yasmān nādaḥ pravartate |
tad eva kāmarūpākhyaṃ pīṭhaṃ kāmaphalapradam ||


"Woraus der Wind (Vayu) geboren wird, woraus das Denken (Manas) geborend wird, woraus der Atem (Hamsa) geborend wird, woraus das Feuer (Vahni) geborend wird, woraus der Same (Bindu) geborend wird, woraus der Klang (Nada) hervorgeht - dies ist das Kamarupa genannte Zentrum (Pitha), das die Früchte (Phala) des Verlangens (Kama) verleiht." (YS ~ YŚU 1, 170-171)

Der Ausdruck Kamarupa (wörtl.: "die Natur des Verlangens" oder: "jede beliebige Gestalt annehmend") erscheint im Vers 16 im Zusammenhang mit Yonisthana, was einerseits den Beckenboden bezeichnen kann, andererseits als ein die Yoni symbolisierendes Dreieck im Adhara selbst verortet wird (Vers 17).

Shataka 1 Vers 15: Die Chakras - Anzahl der Blütenblätter

Im Kehlbereich (ist ein Lotus) mit sechzehn Blütenblättern, und in der Mitte der Augenbrauen ein zweiblättriger (Lotus). An der Öffnung zum Absoluten (Brahmarandhra), am großen Weg (d.h. an Sushumna gelegen), wird ein tausendblättriger (Lotus) gelehrt.


कण्ठे स्यात्षोडशदलं भ्रूमध्ये द्विदलं तथा |
सहस्रदलमाख्यातं ब्रह्मरन्ध्रे महापथे || १५ ||
kaṇṭhe syāt ṣoḍaśa-dalaṃ bhrū-madhye dvi-dalaṃ tathā |
sahasra-dalam ākhyātaṃ brahma-randhre mahā-pathe || 1.15 ||
kanthe syat shodasha-dalam bhru-madhye dvi-dalam tatha |
sahasra-dalam akhyatam brahma-randhre maha-pathe || 1.15 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kaṇṭhe : im Kehlbereich ("in der Kehle", Kantha)
syāt : ist ("sei", as)
ṣoḍaśa-dalam : (ein) sechzehnblättriger (Lotus, Shodashadala)
bhrū-madhye : in der Mitte der Augenbrauen (Bhrumadhya)
dvi-dalam : (ein) zweiblättriger (Lotus, (Dvidala)
tathā : und (Tatha)
sahasra-dalam : (ein) tausendblättriger (Lotus, Sahasradala)
ākhyātam : wird gelehrt ("angegeben", Akhyata)
brahma-randhre : an der Öffnung zum Absoluten, an der Fontanelle (Brahmarandhra)
mahā-pathe : am großen Weg (Mahapatha); oder: an bzw. entlang der Sushumna

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 16 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einigen Lesarten im 1., 3. und 4. Pada als Vers 5cd-6ab der Yogachudamani Upanishad überliefert. Dort heißt es im 1. Pada ṣoḍaśāraṃ viśuddhākhyam "(im Kehlbereich ist ein Rad mit) sechzehn (Shodasha) Speichen (Ara) mit der Bezeichnung (Akhya) das Reine (Vishuddha)" statt kaṇṭhe syāt ṣoḍaśa-dalam.

Das Wort padmam "Lotus" (Padma) wird im Einklang mit der syntaktischen Konstruktion (Anvaya) des vorangehenden Verses (14) mitverstanden.

Es handelt sich um das Vishuddha Chakra, Ajna Chakra und Sahasrara Chakra. Damit wurden in diesem und dem vorangehenden Vers die sieben Haupt-Chakras genannt. Interessanterweise hieß es in Vers 12 "Wer die sechs Energiezentren ... in seinem Körper nicht kennt ...", was möglicherweise ein Hinweis darauf ist, dass das Sahasrara Chakra genannte siebte Chakra sich außerhalb bzw. oberhalb des physischen Körpers befindet.

Mahapatha ist hier möglicherweise nur ein Synonym für Brahmarandhra. In der Hatha Yoga Pradipika (3.4) werden brahma-randhra und mahā-patha allerdings auch als zwei Synonyme für die Sushumna erwähnt (vgl. die Anm. zu Vers 56 der 1. Version des Goraksha Shataka). Man könnte daher mahā-pathe auch als "am großen Weg" im Sinne von "entlang der Sushumna" verstehen und auf beide Verse 14 und 15 beziehen. Dies wäre ein Hinweis darauf, dass sich alle Chakras entlang der Sushumna befinden, die am Brahmarandhra endet.

Shataka 1 Vers 16: Adhara, Svadhishthana und Yonisthana

Adhara, "die Grundlage", ist das erste Energiezentrum (Chakra), Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", das zweite. Zwischen diesen beiden befindet sich Yonisthana, "der Ort des Ursprungs", der Kamarupa, "die Natur des Verlangens" (oder: "jede beliebige Gestalt annehmend"), genannt wird.


आधारं प्रथमं चक्रं स्वाधिष्ठानं द्वितीयकम् |
योनिस्थानं द्वयोर्मध्ये कामरूपं निगद्यते || १६ ||
ādhāraṃ prathamaṃ cakraṃ svādhiṣṭhānaṃ dvitīyakam |
yoni-sthānaṃ dvayor madhye kāma-rūpaṃ nigadyate || 1.16 ||
adharam prathamam chakram svadhishthanam dvitiyakam |
yoni-sthanam dvayor madhye kama-rupam nigadyate || 1.16 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

ādhāram : die Grundlage, Stütze (Adhara)
prathamam : (ist) das erste (Prathama)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (Svadhishthana)
dvitīyakam : (ist) das zweite (Dvitiyaka)
yoni-sthānam : (ist) der Ort des Ursprungs (Yonisthana), die Stelle (Sthana) des Dammes, Beckenbodens ("des Ursprungs", Yoni)
dvayoḥ : dieser beiden (Dva)
madhye : in der Mitte (Madhya)
kāma-rūpam : die Natur ("Form") des Verlangens, jede beliebige Gestalt (Kamarupa)
nigadyate : der genannt wird (ni + gad)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 10 der Version 1 und als Vers 17 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie als Vers 6cd-7ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Adhara ist ein Synonym für Muladhara, das Wurzelzentrum. Yonisthana bedeutet die Region des Beckenbodens, das Perineum. Kamarupa ist auch der Name einer Region im indischen Bundesstaat Assam, in der sich ein bedeutender Tempelkomplex der Shakti-Verehrung befindet.

Shataka 1 Vers 17: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

In der Gegend des Anus, die die Grundlage (Adhara) genannt wird, ist ein vierblättriger Lotus. In dessen Mitte - so wird es gelehrt - befindet sich ein Dreieck (Yoni), das von den Vollkommenen als "Name des Verlangens" (Kamakhya) gepriesen wird.


आधाराख्ये गुदस्थाने पङ्कजं च चतुर्दलम् |
तन्मध्ये प्रोच्यते योनिः कामाख्या सिद्धवन्दिता || १७ ||
ādhārākhye guda-sthāne paṅkajaṃ ca catur-dalam |
tan-madhye procyate yoniḥ kāmākhyā siddha-vanditā || 1.17 ||
adharakhye guda-sthane pankajam cha chatur-dalam |
tan-madhye prochyate yonih kamakhya siddha-vandita || 1.17 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ādhārākhye : die die Bezeichnung (Akhya) Grundlage, Stütze (Adhara) hat
guda-sthāne : an der Stelle (Sthana) des Anus (Guda)
paṅkajam : Lotus (Pankaja)
ca : und, aber (Cha)
catur-dalam : (ist ein) vierblättriger (Chaturdala)
tan-madhye : in dessen (Tad) Mitte (Madhya)
procyate : wird erwähnt, gelehrt (pra + vac)
yoniḥ : ein (als Dreieck dargestelltes) weibliches Genital (Yoni)
kāmākhyā : das den Namen Verlangen hat, Name des Verlangens (Kamakhya)
siddha-vanditā : das von den Vollkommenen (Siddha) gepriesen, verehrt (Vandita) wird

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Lesarten als Vers 11 der Version 1 und als Vers 18 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie als Vers 7cd-8ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Dieser Vers verweist auf die symbolische Darstellung des Wurzelchakras mit einem vierblättrigen Lotus, in dessen viereckiger Grundstruktur (vgl. die Anm. zu Vers 13) ein die Yoni darstellendes, nach unten zeigendes Dreick erscheint. Ganz ähnlich heißt es in der Shiva Samhita (2.22) tasminn ādhāra-padme ca karṇikāyāṃ suśobhanā । trikoṇā vartate yoniḥ ...: "In diesem Basis-Lotus (Adhara-Padma), in der Samenkapsel (Karnika), befindet sich eine prächtige, dreieckige (Trikona) Yoni". Diese symbolisiert die als Schlangenkraft Kundalini verehrte Göttin Shakti.

Wertvolle Hinweise zu Symbolik und Bedeutung der Bezeichnung kāmākhyā (Kamakhya) finden sich in George Weston Briggs Gorakhnath and the Kanphata Yogis (1938, S. 166 ff.). Kamakhya ist ein lokaler Name der Göttin Durga, die in einem Tempel gleichen namens in der Kamarupa (vgl. Vers 16) genannten Region im indischen Bundesstaat Assam verehrt wird. Der Tempel steht auf auf einem Hügel namens Nilachal Hill ("Blauer Berg") im westlichen Teil der Stadt Guwahati (Gauhati) am Fluss Brahmaputra und ist das Zentrum der Shakti-Verehrung dieser Gegend. Im Innern des Tempels gibt es eine besondere Felsspalte, die als Yoni der Shakti gilt. Hügel und Tempel zählen zu den 51 heiligen Orten (Pitha), an denen der Legende nach die einzelnen Körperteile der von Gott Vishnu zerstückelten Göttin Parvati bzw. Sati herabgefallen sind. Am Kamakhya genannten Ort soll ihr Geschlechtsorgan (Yoni) herabgefallen sein.

In der Verortung von heiligen Plätzen (Pitha) der äußeren Welt im Körper des Yogis (die unteren fünf Chakras werden auch Pitha genannt) spiegelt sich die tantrische Vorstellung der Entsprechung von Makrokosmos (Brahmanda "Ei des Brahma") und Mikrokosmos (Pinda "Körper") wider. In diesem Sinne ist auch die Gleichsetzung der Ida und Pingala genannten Nadis mit den Flüssen Ganga und Yamuna zu verstehen (vgl. Hatha Yoga Pradipika 3.109-110).

Shataka 1 Vers 18: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

In der Mitte dieses Dreiecks (Yoni) befindet sich ein großes Linga, das nach Westen (d.h. in Richtung der Sushumna) ausgerichtet ist. Wer den Lichtkreis an dessen Kopf, (leuchtend) wie ein Edelstein, kennt, der ist ein Kenner des Yoga.


योनिमध्ये महालिङ्गं पश्चिमाभिमुखस्थितम् |
मस्तके मणिवद्बिम्बं यो जानाति स योगवित् || १८ ||
yoni-madhye mahā-liṅgaṃ paścimābhimukha-sthitam |
mastake maṇi-vad bimbaṃ yo jānāti sa yoga-vit || 1.18 ||
yoni-madhye maha-lingam pashchimabhimukha-sthitam |
mastake mani-vad bimbam yo janati sa yoga-vit || 1.18 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yoni-madhye : in der Mitte (Madhya) des (als Dreieck dargestellten) weiblichen Genitals (Yoni)
mahā-liṅgam : großes Linga ("männliches Glied", Mahalinga)
paścimābhimukha-sthitam : befindet sich (Sthita) ein nach hinten ("Westen", Pashchima) ausgerichtetes (Abhimukha)
mastake : am Kopf, am oberen Teil (Mastaka)
maṇi-vat : wie (Vat) ein (leuchtender) Edelstein (Mani)
bimbam : den Lichtkreis ("Mondscheibe", Bimba)
yaḥ : wer (Yad)
jānāti : kennt (jñā)
saḥ : der (Tad)
yoga-vit : (ist) ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Lesarten als Vers 12 der Version 1 und als Vers 19 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie als Vers 8cd-9ab der Yogachudamani Upanishad überliefert. GŚ 1, 12 liest bhinnaṃ "durchbohrt" statt bimbaṃ im 3. Pada. YCU liest nābhau tu "im (Bereich des) Nabels" statt mastake.

Der Ausdruck paścimābhimukha-, wörtl. "nach Westen (Pashchima) ausgerichtet", könnte auch im Sinne von "in Richtung der Sushumna ausgerichtet" interpretiert werden. Diese Bedeutung legt Brahmananda, der Kommentator der HYP, in seinem Kommentar zur Hatha Yoga Pradipika (1.31) nahe, wo er pavanaṃ paścima-vāhinam karoti "(Pashchimatana) lässt die Lebensenergie (pavanam = Prana) hinten entlang fließen" mit paścima-mārgeṇa = suṣumnā-mārgeṇa vahatīti erklärt, d.h. "(die Lebensenergie) fließt entlang der Sushumna" (Hatha Yoga Pradipika 1.31).

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt die dortige Lesung paścimābhimukhaṃ mit suṣumṇā-vadanābhimukhaṃ "auf den Mund (Vadana) der Sushumna gerichtet". Der Name des großes Linga (mahā-liṅgam) ist laut YTT Svayambhu: svayaṃbhūr nāmakaṃ.

In der tantrischen Symbolik, die den klassischen Hatha Yoga-Texten zugrundeliegt, steht die Yoni, die häufig durch ein nach unten weisendes Dreieck dargestellt wird, für Shakti (Energie), und das Linga, das häufig durch ein nach oben weisendes Dreieck dargestellt wird, für Shiva (Bewusstsein).

Die Yoga Tarangini Tika zitiert in diesem Zusammenhang den folgenden Vers aus dem Yoga Sara, wobei sich der erste Halbvers der zitierten Passage sinngemäß auch in der Yoga Shikha Upanishad (2, 3) findet:

yā mūlādhāragā śaktiḥ kuṇḍalī bindu-rūpiṇī |
mastake maṇi-vad bimbaṃ yo jānāti sa yoga-vit ||


"Die im Muladhara befindliche Energie (Shakti) ist die Kundalini in Form (Rupin) eines (Licht-)Punktes (Bindu). Wer den Lichtkreis am Kopf (des Linga ?, leuchtend) wie ein Edelstein, kennt, der ist ein Kenner des Yoga." (YS ~ YŚU 2, 3 cd)

Shataka 1 Vers 19: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

Unterhalb des Linga befindet sich ein Dreieck, die Stätte des Feuers, die wie ein Blitzstrahl aufleuchtet und die Farbe glühenden Goldes hat.


तप्तचामीकराभासं तडिल्लेखेव विस्फुरत् |
त्रिकोणं तत्पुरं वह्नेरधो मेढ्रात्प्रतिष्ठितम् || १९ ||
tapta-cāmīkarābhāsaṃ taḍil-lekheva visphurat |
tri-koṇaṃ tat puraṃ vahner adho meḍhrāt pratiṣṭhitam || 1.19 ||
tapta-chamikarabhasam tadil-lekheva visphurat |
tri-konam tat puram vahner adho medhrat pratishthitam || 1.19 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

tapta-cāmīkarābhāsam : von der Farbe (Abhasa) glühenden (Tapta) Goldes (Chamikara)
taḍil-lekhā : ein Blitzstrahl (Tadillekha)
iva : wie (Iva)
visphurat : aufscheinend, leuchtend (vi + sphur)
tri-konam : ein Dreieck (Trikona)
tat : das (Tad)
puram : (ist) die Stätte ("Stadt", Pura)
vahneḥ : des Feuers (Vahni)
adhaḥ  : unterhalb (Adhas)
meḍhrāt : vom männlichen Glied (Medhra)
pratiṣṭhitam : befindet sich (Pratishthita)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 20 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie als Vers 9cd-10ab der Yogachudamani Upanishad überliefert. GŚ 1, 13 liest catur-asraṃ "die viereckige (Stätte des Feuers)" statt tri-koṇaṃ tat im 3. Pada.

Die Verse 17-19 zusammengenommen beschreiben die häufig dargestellten Bestandteile der Symbolik des Wurzelchakras: vierblättriger Lotus, (Viereck Chaturasra in GŚ 1, 13), Dreieck (Yoni) und Linga. In der vorliegenden Version ist allerdings von einem (weiteren) Dreieck (Trikona) die Rede, das sich (statt des Vierecks) unterhalb des Linga (Medhra) befindet, was von der üblichen Symbolik des Wurzelchakras abweicht.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt die "Stätte des Feuers" (puraṃ vahneḥ) als den "Ort (Sthana) des Todesfeuers (Kalagni) bzw. des Feuers der Zeit" (kālāgneḥ ... sthānam) und zitiert hierzu den folgenden Vers aus dem Yoga Sara, der sich sinngemäß auch in der Yoga Shikha Upanishad (5, 29 cd - 30 ab) findet:

pātālānām adho-bhāge kālāgnir yaḥ pratiṣṭhitaḥ |
sa mūlāgniḥ śarīre 'smin yasmān nādaḥ pravartate ||


"Das Feuer des Todes (Kalagni), das sich im unteren Teil (Adhobhaga) der niederen Welten (Patala) befindet, das ist in diesem Körper (Sharira) das Wurzelfeuer (Mula-Agni), aus welchem der Klang (Nada) hervorgeht." (5, 29 cd - 30 ab).

Das "Wurzelfeuer" (mūlāgniḥ) bzw. die "Stätte des Feuers" (puraṃ vahneḥ) ist das im Muladhara Chakra befindliche, durch ein nach unten weisendes Dreieck (Trikona) symbolisierte Feuer, und die "niederen Welten" im Körper des Yogis sind die drei unteren Chakras.

Shataka 1 Vers 20: Das höchste Licht

Wenn dieses höchste, unendliche, nach allen Richtungen strahlende Licht (im Zustand) der Versenkung erblickt wird, dann gibt es (für den Yogi) in der (endgültigen) großen Vereinigung keinen (erneuten) Daseinswandel mehr.


यत्समाधौ परं ज्योतिरनन्तं विश्वतोमुखम् |
तस्मिन्दृष्टे महायोगे यातायातं न विन्दते || २० ||
yat samādhau paraṃ jyotir anantaṃ viśvato-mukham |
tasmin dṛṣṭe mahā-yoge yātāyātaṃ na vindate || 1.20 ||
yat samadhau param jyotir anantam vishvato-mukham |
tasmin drishte maha-yoge yatayatam na vindate || 1.20 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yat : dieses ("welches", Yad)
samādhau : in der Versenkung (Samadhi)
param : (erscheinende) höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
anantam : unendliche, grenzenlose (Ananta)
viśvato-mukham : das überallhin strahlt ("nach allen Seiten gewandt ist", Vishvatomukha)
tasmin : (wenn) es (Tad)
dṛṣṭe : gesehen, wahrgenommen wird (Drishta)
mahā-yoge : in der großen Vereinigung (Mahayoga)
yātāyātam : Entstehen und Vergehen, Daseinswandel ("Kommen und Gehen", Yatayata)
na : nicht (Na)
vindate : es gibt ("er findet, besitzt, empfindet", vid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 21 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit kleineren Varianten als Vers 10cd-11ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Das Kompositum mahā-yoge "im großen Yoga" (Mahayoga), könnte hier ein Synonym für Mahasamadhi sein, d.h. das willentliche endgültige Verlassen des Körpers und Eingehens ins Absolute. Für einen solchen Yogi gibt es keine Wiedergeburt mehr.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt mahā-yoge einerseits als "in (der Praxis) der drei (Traya) Glieder (Anga) Konzentration (Dharana) usw." (dhāraṇādy-aṅga-traye), wobei mit "usw." (Adi) die beiden Glieder Dhyana "Meditation" und Samadhi "Versenkung" gemeint sind. In diesem Sinne entspräche Mahayoga hier dem Terminus Samyama des Yogasutra (vgl. YS 3.4: trayam ekatra saṃyamaḥ). Die zweite Deutung der YTṬ von mahā-yoge lautet śakti-cālana-dvārā sādhane vā: "oder in der Praxis (Sadhana) des in Bewegung Setzens der (göttlichen) Energie (Shakti Chalana)".

Das "höchste Licht" (paraṃ jyotiḥ) bezieht sich laut YTṬ "in Form (Rupa) des Todesfeuers (Kalagni, kālāgni-rūpam") auf das im vorangehenden Vers (GP 1.19) erwähnte, in der "Stätte des Feuers" (puraṃ vahneḥ) im Muladhara Chakra befindliche Feuer.

Dieser Vers erscheint mit zwei Lesarten noch einmal als Vers 15 des 2. Shataka der Goraksha Paddhati im Kontext von Samadhi.

Shataka 1 Vers 21: Svadhishthana Chakra

Mit dem Wort Selbst (Sva) wird die Lebensenergie (Prana) bezeichnet, und Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", hat diese zur Basis (d.h. ist deren Sitz). Weil die Stätte des Selbst (bzw. des Prana) die Grundlage (des männlichen Gliedes) ist, wird (dieses Energiezentrum) auch nach dem männlichen Glied benannt.


स्वशब्देन भवेत्प्राणः स्वाधिष्ठानं तदाश्रयः |
स्वाधिष्ठानाश्रयादस्मान्मेढ्रमेवाभिधीयते || २१ ||
sva-śabdena bhavet prāṇaḥ svādhiṣṭhānaṃ tad-āśrayaḥ |
svādhiṣṭhānāśrayād asmān meḍhram evābhidhīyate || 1.21 ||
sva-shabdena bhavet pranah svadhishthanam tad-ashrayah |
svadhishthanashrayad asman medhram evabhidhiyate || 1.21 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sva-śabdena : mit dem Wort (Shabda) Selbst (Sva)
bhavet : sei (bezeichnet, bhū)
prāṇaḥ : der Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (das zweite Energiezentrum bzw. Chakra, Svadhishthana)
tad-āśrayaḥ : (ist) dessen/deren (Tad) Sitz (Ashraya)
svādhiṣṭhānāśrayāt : weil die Stätte des Selbst/der Lebensenergie (Svadhishthana) die Grundlage (Ashraya, des männlichen Gliedes) ist
asmāt : deshalb (Idam)
meḍhram : (als) männliches Glied, Penis (Medhra)
eva : ebenso (Eva)
abhidhīyate : wird bezeichnet (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 11cd-12ab der Yogachudamani Upanishad überliefert sowie mit kleineren Varianten im 3. Pada als Vers 14 der Version 1 und Vers 22 der Version 2 des Goraksha Shataka.

Aus der ebenfalls dem Goraksha zugeschriebenen Siddha Siddhanta Paddhati (2.13) geht hervor, dass Medhradhara (meḍhra + ādhāra, "Penis-Stütze", "Grundlage des Penis") eine andere Bezeichnung für das Svadhishthana Chakra ist.

Im Widerspruch zur hier getroffenen Aussage, dass der (durch das Wort Sva bezeichnete) Prana seinen Sitz im Svadhishthana Chakra hat, heißt es in GP 1.34, er sitze im Herzen (Hrid), was der allgemein verbreiteten Ansicht entspricht: hṛdi prāṇo vasen nityam "Prana befindet sich stets in der Brust".

Shataka 1 Vers 22: Manipuraka Chakra

Dort, wo der Kanda von Sushumna wie eine Perle von einem Faden durchzogen wird - dieses in der Nabelgegend befindliche Energiezentrum wird "Edelsteinflut" (Manipuraka) genannt.


तन्तुना मणिवत्प्रोतो यत्र कन्दः सुषुम्णया |
तन्नाभिमण्डलं चक्रं प्रोच्यते मणिपूरकम् || २२ ||
tantunā maṇi-vat proto yatra kandaḥ suṣumṇayā |
tan nābhi-maṇḍalaṃ cakraṃ procyate maṇi-pūrakam || 1.22 ||
tantuna mani-vat proto yatra kandah sushumnayā |
tan nabhi-mandalam chakram prochyate mani-purakam || 1.22 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

tantunā : von einem Faden (Tantu)
maṇi-vat : wie (Vat) eine Perle, ein Edelstein (Mani)
protaḥ : durchzogen wird (Prota)
yatra : wo (Yatra)
kandaḥ : der Kanda ("die Knolle, Zwiebel")
suṣumṇayā : von Sushumna
tat : dieses (Tad)
nābhi-maṇḍalam : (am) Nabelkreis (befindliche, Nabhi-Mandala)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
procyate : wird genannt (pra + vac)
maṇi-pūrakam : Nabelzentrum ("Edelsteinflut", Manipuraka)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 15 der Version 1 und Vers 23 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einer Lesart als Vers 12cd-13ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Die Aussage, dass das Nabelzentrum, innerhalb dessen sich der Kanda befindet, von Sushumna durchzogen wird, verweist darauf, dass alle Energiezentren bzw. Chakras innerhalb der Wirbelsäule, durch die Sushumna verläuft, verortet sind. Bezeichnungen wie "Penis" (GP 1.21) oder "Nabelkreis" geben somit in etwa die Höhe an, auf der sich ein Chakra innerhalb der Wirbelsäule befindet. In der Yogachudamani Upanishad lautet es in Vers 13 ganz in diesem Sinne tan nābhi-maṇḍale cakram "dieses Energiezentrum in der Nabelgegend ..." (nābhi-maṇḍale ist Lokativ).

Shataka 1 Vers 23: Anahata Chakra

Die Individualseele wandert solange (im Daseinswandel) umher, wie sie in dem zwölfspeichigen großen Energiezentrum, das frei von Verdienst und Schuld ist, die (eigene) Wirklichkeit nicht findet.


द्वादशारे महाचक्रे पुण्यपापविवर्जिते |
तावज्जीवो भ्रमत्येव यावत्तत्त्वं न विन्दति || २३ ||
dvādaśāre mahā-cakre puṇya-pāpa-vivarjite |
tāvaj jīvo bhramaty eva yāvat tattvaṃ na vindati || 1.23 ||
dvadashare maha-cakre punya-papa-vivarjite |
tavaj jivo bhramaty eva yavat tattvam na vindati || 1.23 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvādaśāre : in dem zwölfspeichigen (Dvadashara)
mahā-cakre : großen Energiewirbel, Energiezentrum ("großem Rad", Mahachakra)
puṇya-pāpa-vivarjite : frei (Vivarjita) von Verdienst (Punya) und Schuld (Papa)
tāvat : solange (Tavat)
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
bhramati : wandert, irrt umher (bhram)
eva : nur (Eva)
yāvat : wie (Yavat)
tattvam : das Selbst, die Wirklichkeit ("Sosein", Tattva)
na : nicht (Na)
vindati : sie findet (vid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 24 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einer minimalen Lesart als Vers 13cd-14ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Die Anzahl 12 der "Speichen" des "großen Rades" sowie die Stellung dieses Verses im Text zeigen, dass hier vom Herzzentrum bzw. Anahata Chakra die Rede ist. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar bestätigt dies: anāhatākhye mahā-cakre. Das Wort tattvam wird als ātma-tattvam "die Wirklichkeit des Selbst (Atman)" erklärt. Die Verwendung des Begriffs Tattva im Sinne der höchsten Wirklichkeit in der Goraksha Paddhati wird insbesondere in den Versen 92-96 des 2. Shataka deutlich.

Shataka 1 Vers 24: Kanda, der Ursprung der Nadis

Oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels befindet sich der Kanda, der Ursprung (der Nadis), der wie ein Vogelei (geformt ist). Dort entspringen 72 000 feinstoffliche Energiekanäle (Nadi).


ऊर्ध्वं मेढ्रादधो नाभेः कन्दो योनिः खगाण्डवत् |
तत्र नाड्यः समुत्पन्नाः सहस्राणां द्विसप्ततिः || २४ ||
ūrdhvaṃ meḍhrād adho nābheḥ kando yoniḥ khagāṇḍa-vat |
tatra nāḍyaḥ samutpannāḥ sahasrāṇāṃ dvi-saptatiḥ || 1.24 ||
urdhvam medhrad adho nabheh kando yonih khaganda-vat |
tatra nadyah samutpannah sahasranam dvi-saptatih || 1.24 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhvam : oberhalb (Urdhva)
meḍhrāt : vom männlichen Glied (Medhra)
adhaḥ : unterhalb (Adhas)
nābheḥ : des Nabels (Nabhi)
kandaḥ : der Kanda (Kanda)
yoniḥ : der Ursprung (der Nadis, Yoni)
khagāṇḍa-vat : wie (Vat) ein Vogelei (geformt, Khaga-Anda)
tatra : dort (Tatra)
nāḍyaḥ : feinstoffliche Energiekanäle, Nerven (Nadi)
samutpannāḥ : entspringen ("werden geboren", Samutpanna)
sahasrāṇāṃ dvi-saptatiḥ : 72 000 (Dvisaptati Sahasra)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 25 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit zwei minimalen Lesarten als Vers 14cd-15ab der Yogachudamani Upanishad überliefert. In allen anderen Versionen dieses Verses (einschließlich der Yoga Tarangini Tika) wird statt kando yoniḥ (GP) das Kompositum kanda-yoniḥ gelesen.

In der Hatha Yoga Pradipika (3.113-114) wird die Lage des Kanda mit 12 Finger oberhalb des Muladhara Chakra angegeben, was in etwa der Mitte zwischen Penis und Nabel entspricht:

ūrdhvaṃ vitasti-mātraṃ tu vistāraṃ catur-aṅgulam |
mṛdulaṃ dhavalaṃ proktaṃ veṣṭitāmbara-lakṣaṇam || 3.113 ||

"(Der Yogi presse den Kanda, der sich) 12 Finger (Vitasti) oberhalb (des Muladhara Chakra befindet), vier Finger (Angula) breit (Vistara), weich (Mridula), weiß (Dhavala), wie in Baumwolle (Ambara) gewickelt." (HYP 3.113-114)

Brahmananda, der Kommentator der HYP, zitiert hierzu den vorliegenden Vers der Goraksha Paddhati, sowie drei weitere Verse aus dem Yoga Yajnavalkya (4.14, 16-17), die Lage, Größe und Aussehen des Kanda beschreiben:

gudāt tu dvy-aṅgulād ūrdhvaṃ meḍhrāt tu dvy-aṅgulād adhaḥ
deha-madhyaṃ tayor madhyaṃ manujānām itīritam || 4.14 ||

"Zwei fingerbreit (Angula) oberhalb des Anus (Guda) und zwei fingerbreit unterhalb des männlichen Glieds (Medhra), in deren Mitte (Madhya), wird die Leibesmitte (Dehamadhya) der Menschen (Manuja) angegeben." (YY 4.14)

kanda-sthānaṃ manuṣyāṇāṃ deha-madhyān navāṅgulam |
catur-aṅgula-vistāram āyāmaṃ ca tathā-vidham || 4.16 ||

"Neun fingerbreit (oberhalb) der Leibesmitte befindet sich der Sitz des Kanda (Kandasthana) der Menschen (Manushya), vier fingerbreit hoch und ebenso lang." (YY 4.16)

Shataka 1 Vers 25: Die wichtigsten Nadis

Unter diesen Tausenden von feinstoffliche Energiekanälen (Nadi), die die Lebensenergie (Prana) transportieren, werden 72 als bedeutsam erwähnt. Von diesen werden (wiederum) die zehn wichtigsten am häufigsten gelehrt.


तेषु नाडीसहस्रेषु द्विसप्ततिरुदाहृताः |
प्रधानाः प्राणवाहिन्यो भूयस्तासु दश स्मृताः || २५ ||
teṣu nāḍī-sahasreṣu dvi-saptatir udāhṛtāḥ |
pradhānāḥ prāṇa-vāhinyo bhūyas tāsu daśa smṛtāḥ || 1.25 ||
teshu nadi-sahasreshu dvi-saptatir udahritah |
pradhanah prana-vahinyo bhuyas tasu dasha smritaḥ || 1.25 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

teṣu : unter diesen (Tad)
nāḍī-sahasreṣu : Tausenden (Sahasra) von feinstoffliche Energiekanälen, Nerven (Nadi)
dvi-saptatiḥ : 72 (Dvisaptati)
udāhṛtāḥ : werden erwähnt (Udahrita)
pradhānāḥ : die wichtigsten (Pradhana)
prāṇa-vāhinyaḥ : die die Lebensenergie ("den Lebensatem", Prana) mit sich führen, transportieren (Vahin)
bhūyaḥ : am häufigsten ("am meisten", Bhuyas)
tāsu : unter diesen (Tad)
daśa : zehn (Dasha)
smṛtāḥ : werden gelehrt ("erinnert", Smrita)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 17 der Version 1 und als Vers 26 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie als Vers 15cd-16ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Das Wort nāḍī (auch nāḍi) bedeutet wörtlich "Röhre, hohler Stengel, röhrenartiges Gefäß". Innerhalb des physischen bzw. "grobstofflichen" Körpers (Annamaya Kosha) bedeutet Nadi auch Ader, Nerv. Innerhalb des "feinstofflichen" bzw. Energiekörpers (Pranamaya Kosha) bedeutet es die feinstofflichen Energiekanäle, die dem chinesischen Konzept der Meridiane vergleichbar sind.

Die Nadis werden hier als Träger der Lebensenergie (prāṇa-vāhinyaḥ) bezeichnet. Ganz ähnlich heißt es in der Shiva Samhita (2.31), die Nadis seien fähig (Daksha), die Körperwinde bzw. -Energien (Vayu, vgl. Vers 32) und Empfindungen (Bhoga) zu leiten (Vaha). Letzteres verweist deutlich auf die Funktion von Nerven: etā bhoga-vahā nāḍyo vāyu-sañcāra-dakṣakāḥ.

Shataka 1 Vers 26: Die zehn wichtigsten Nadis

(Diese zehn wichtigsten Nadis sind:) Ida, Pingala, und als dritte Sushumna, Gandhari, Hastijihva, Pusha und Yashasvini ...


इडा च पिङ्गला चैव सुषुम्णा च तृतीयका |
गान्धारी हस्तिजिह्वा च पूषा चैव यशस्विनी || २६ ||
iḍā ca piṅgalā caiva suṣumṇā ca tṛtīyakā |
gāndhārī hasti-jihvā ca pūṣā caiva yaśasvinī || 1.26 ||
ida cha pingala chaiva sushumna ca tritiyaka |
gandhari hasti-jihva cha pusha chaiva yashasvini || 1.26 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iḍā : Ida
ca : und (Cha)
piṅgalā : Pingala
ca : und
eva : ebenso ("so", Eva)
suṣumṇā : Sushumna
ca : und
tṛtīyakā : als dritte (Tritiyaka)
gāndhārī : Gandhari
hasti-jihvā : Hastijihva
ca : und
pūṣā : Pusha
ca : und
eva : ebenso
yaśasvinī : Yashasvini

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 18 der Version 1 und als Vers 27 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einer minimalen Lesart als Vers 16cd-17ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Shataka 1 Vers 27: Die zehn wichtigsten Nadis

... Alambusha, Kuhu, und als zehnte wird Yashasvini gelehrt. Dieses aus den feinstofflichen Energiekanälen (Nadi) bestehende Netzwerk sollte den Yogis immer bekannt sein.


अलम्बुषा कुहूश्चैव शङ्खिनी दशमी स्मृता |
एतन्नाडीमयं चक्रं ज्ञातव्यं योगिभिः सदा || २७ ||
alambuṣā kuhūś caiva śaṅkhinī daśamī smṛtā |
etan nāḍī-mayaṃ cakraṃ jñātavyaṃ yogibhiḥ sadā || 1.27 ||
alambusha kuhush chaiva shankhini dashami smrita |
etan nadi-mayam chakram jnatavyam yogibhih sada || 1.27 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

alambuṣā : Alambusha
kuhūś : (Kuhu)
ca : und (Cha)
eva : ebenso ("so", Eva)
śaṅkhinī : Shankhini
daśamī : als zehnte (Dashama)
smṛtā : wird gelehrt ("erinnert", Smrita)
etat : dieses (Etad)
nāḍī-mayam : aus feinstofflichen Energiekanälen, Nerven (Nadi) bestehende ("gemachte", Maya)
cakram : Netzwerk ("Menge", Chakra)
jñātavyam : ist zu kennen, zu verstehen (Jnatavya)
yogibhiḥ : von den Yogis (Yogin)
sadā : jederzeit, immer (Sada)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 19 der Version 1 und als Vers 28 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einer Lesart als Vers 17cd-18ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Shataka 1 Vers 28: Ida, Pingala, Sushumna und Gandhari

Ida befindet sich auf der linken Seite, und Pingala auf der rechten. Sushumna wiederum befindet sich in der Mitte, und Gandhari endet im linken Auge.


इडा वामे स्थिता भागे पिङ्गला दक्षिणे स्थिता |
सुषुम्णा मध्यदेशे तु गान्धारी वामचक्षुषि || २८ ||
iḍā vāme sthitā bhāge piṅgalā dakṣiṇe sthitā |
suṣumṇā madhya-deśe tu gāndhārī vāma-cakṣuṣi || 1.28 ||
ida vame sthita bhage pingala dakshine sthita |
sushumna madhya-deshe tu gandhari vama-cakshushi || 1.28 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iḍā : Ida
vāme : auf der linken (Vama)
sthitā : befindet sich (Sthita)
bhāge : Seite ("Teil", Bhaga)
piṅgalā : Pingala
dakṣiṇe : auf der rechten (Dakshina)
sthitā : befindet sich
suṣumṇā : Sushumna
madhya-deśe : im mittleren Raum, in der Leibesmitte (Madhyadesha)
tu : aber, wiederum (Tu)
gāndhārī : Gandhari
vāma-cakṣuṣi : (endet) im linken (Vama) Auge (Chakshus)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 29 der Version 2 und mit einer Lesart als Vers 20 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie mit einer veränderten Wortstellung im 2. Pada als Vers 18cd-19ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers ergänzt, dass die drei erstgenannten Nadis, also Ida, Pingala und Sushumna, aus den drei (Traya) Ecken (Kona) der im Muladhara Chakra befindlichen (dreieckigen) Yoni entspringen (vgl. Vers 1.17): etan nāḍī-trayaṃ mūlādhāra-gata-yonyāḥ koṇa-trayāt samudbhūtam. Die übrigen der zehn Haupt-Nadis (Gandhari usw.) entspringen (Udbhuta) dem Kanda des Nabelzentrums (Nabhi Chakra), d.h. dem Manipura Chakra (vgl. Vers 1.22): anyās tu nābhi-cakra-kandād udbhūtāḥ.

Shataka 1 Vers 29: Hastijihva, Pusha, Yashasvini und Alambusha

Hastijihva endet im rechten Auge, und Pusha im rechten Ohr. Yashasvini endet im linken Ohr, und Alambusha im Mund.


दक्षिणे हस्तिजिह्वा च पूषा कर्णे च दक्षिणे |
यशस्विनी वामकर्णे ह्यानने चाप्यलम्बुषा || २९ ||
dakṣiṇe hasti-jihvā ca pūṣā karṇe ca dakṣiṇe |
yaśasvinī vāma-karṇe hy ānane cāpy alambuṣā || 1.29 ||
dakshine hasti-jihva cha pusha karne cha dakshine |
yashasvini vama-karne hy anane chapy alambusha || 1.29 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dakṣiṇe : (endet) im rechten (Auge, Dakshina)
hasti-jihvā : Hastijihva
ca : und (Cha)
pūṣā : Pusha
karṇe : Ohr (Karna)
ca : und
dakṣiṇe : im rechten
yaśasvinī : Yashasvini
vāma-karṇe : im linken (Vama) Ohr
hi : gewiss (Hi)
ānane : im Mund (Anana)
ca : und
api : auch (Api)
alambuṣā : Alambusha

Anmerkung: Dieser Vers wird mit mit ein paar die Partikeln betreffende Lesarten als Vers 21 der Version 1 und als Vers 30 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie als Vers 19cd-20ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Shataka 1 Vers 30: Kuhu und Shankhini

Kuhu endet im Bereich des männlichen Gliedes, und Shankhini im Bereich des Wurzelzentrums (Anus). Auf diese Weise führen die zehn feinstofflichen Energiekanäle (Nadi) zu ihren jeweiligen Körperöffnungen.


कुहूश्च लिङ्गदेशे तु मूलस्थाने च शङ्खिनी |
एवं द्वारं समाश्रित्य तिष्ठन्ति दश नाडयः || ३० ||
kuhūś ca liṅga-deśe tu mūla-sthāne ca śaṅkhinī |
evaṃ dvāraṃ samāśritya tiṣṭhanti daśa nāḍayaḥ || 1.30 ||
kuhush cha linga-deshe tu mula-sthane cha shankhini |
evam dvaram samashritya tishthanti dasha nadayah || 1.30 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kuhūḥ : Kuhu
ca : und (Cha)
liṅga-deśe : (endet) im Bereich (Desha) des männlichen Gliedes (Linga)
tu : aber, wiederum (Tu)
mūla-sthāne : (endet) im Bereich des Wurzelzentrums (Mulasthana)
ca : und
śaṅkhinī : Shankhini
evam : so, auf diese Weise (Evam)
dvāram : zu der (jeweiligen) Körperöffnung ("Tür", Dvara)
samāśritya : indem sie hinführen ("sich hinbegeben habend", sam + ā + śri)
tiṣṭhanti : existieren (sthā)
daśa : die zehn (Dasha)
nāḍayaḥ : die feinstofflichen Energiekanäle, Nerven (Nadi)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit mit kleineren Lesarten als Vers 22 der Version 1 und als Vers 31 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie als Vers 20cd-21ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers ergänzt, dass die beiden Kuhu und Shankhini genannten Nadis dem Kanda des Nabelzentrums (Nabhi Chakra), d.h. dem Manipura Chakra entspringen und von dort aus abwärts (Adhomukha) führen (vgl. die Anm. zu Vers 1.28): ime dve nāḍyau nābhi-cakrīya-kandād adho-mukhatayā gate.

Shataka 1 Vers 31: Ida, Pingala und Sushumna

Ida, Pingala und Sushumna, die fortwährend die Lebensenergie (Prana) transportieren, münden in (ihre zugehörige) Körperöffnung. Ihre jeweiligen Gottheiten sind der Mond, die Sonne und das Feuer.


इडापिङ्गलासुषुम्णाः प्राणमार्गे समाश्रिताः |
सततं प्राणवाहिन्यः सोमसूर्याग्निदेवताः || ३१ ||
iḍā-piṅgalā-suṣumṇāḥ prāṇa-mārge samāśritāḥ |
satataṃ prāṇa-vāhinyaḥ soma-sūryāgni-devatāḥ || 1.31 ||
ida-pingala-sushumnah prana-marge samashritah |
satatam prana-vahinyah soma-suryagni-devatah || 1.31 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iḍā-piṅgalā-suṣumṇāḥ : Ida, Pingala und Sushumna
prāṇa-mārge : in (ihre zugehörige) Körperöffnung ("Pfad der Lebensenergie" Prana-Marga)
samāśritāḥ : enden, münden, führen ("stehen an, fließen in" Samashrita)
satatam : fortwährend, stets (Satata)
prāṇa-vāhinyaḥ : die die Lebensenergie ("den Lebensatem", Prana) mit sich führen, transportieren (Vahin)
soma-sūryāgni-devatāḥ : (deren) Gottheiten (Devata) der Mond (Soma), die Sonne (Surya) und das Feuer (Agni) sind

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 32 der Version 2 und in einer stärker abweichenden Version als Vers 23 in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert, wobei die Abfolge beider Halbverse vertauscht ist. In der Yogachudamani Upanishad (Vers 21cd-22ab) erscheint er mit der Lesart prāṇa-marge ca saṃsthitāḥ im 2. Pada.

Das Kompositum prāṇa-mārga findet sich nicht in den Wörterbüchern, es bedeutet wörtlich soviel wie "Pfad (Marga) der Lebensenergie (Prana)", "Weg des Atems", oder auch "Lebensweg". Es gibt eine vergleichbare Bildung mit der Bedeutung "Sinnesorgan": prāṇāyana (Pranayana), wörtl. "Pfad (Ayana) der Lebensenergie (Prana)". Da im vorangehenden Vers 30 eine ähnliche Aussage gemacht wird, nämlich dass die zehn feinstofflichen Energiekanäle zu ihren jeweiligen Körperöffnungen (dvāram) bzw. Sinnesorganen führen (samāśritya), könnte man prāṇa-mārge samāśritāḥ auch in diesem Sinne interpretieren: Ida führt zum linken Nasenloch, Pingala führt zum rechten Nasenloch, und Sushumna führt zum Brahmarandhra, der Fontanelle am Scheitelpunkt des Kopfes.

Shataka 1 Vers 32: Die zehn Haupt- bzw. Neben-Vayus

Prana, Apana, Samana, Udana und Vyana, sowie Naga, Kurma, Krikara, Devadatta und Dhananjaya (sind die Haupt- bzw. Neben-)Vayus ("Winde").


प्राणोऽपानः समानश्चोदानव्यानौ च वायवः |
नागः कूर्मोऽथ कृकरो देवदत्तो धनञ्जयः || ३२ ||
prāṇo'pānaḥ samānaś codāna-vyānau ca vāyavaḥ |
nāgaḥ kūrmo'tha kṛkaro deva-datto dhanañ-jayaḥ || 1.32 ||
prano'panah samanash chodana-vyanau cha vayavah |
nagah kurmo'tha krikaro deva-datto dhanan-jayaḥ || 1.32 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇaḥ : Prana ("Atem, Lebenshauch, Leben")
apānaḥ : Apana
samānaḥ : Samana
ca : und (Cha)
udāna-vyānau : Udana und Vyana
ca : und
vāyavaḥ : die Lebensenergien ("Winde", Vayu)
nāgaḥ : Naga ("Schlange, Schlangendämon")
kūrmaḥ : Kurma ("Schildkröte")
atha : und
kṛkaraḥ : Krikara ("Rebhuhn")
deva-dattaḥ : Devadatta ("der Gottgegebene")
dhanañ-jayaḥ : Dhananjaya ("der Reichtümer gewinnt")

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 33 der Version 2 und mit kleineren Lesarten als Vers 24 in der Version 1 des Goraksha Shataka sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 22cd-23ab) überliefert.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers gibt die folgenden Funktionen der fünf Haupt-Vayus an:

  • Prana: Einatmen, Ausatmen, Husten, Verdauung der Nahrung (usw.)
  • Apana: Ausscheidung von Kot und Urin (usw.)
  • Samana: Annehmen und Loslassen (usw.)
  • Udana: körperliches Wachstum (usw.)
  • Vyana: Nähren des Körpers (usw.)

Shataka 1 Vers 33: Sitz der fünf Haupt-Vayus

Prana befindet sich stets in der Brust, Apana in der Region des Anus, Samana ist in der Nabelgegend, und Udana befindet sich in der Kehle.


हृदि प्राणो वसेन्नित्यमपानो गुदमण्डले |
समानो नाभिदेशे तु उदानः कण्ठमध्यगः || ३३ ||
hṛdi prāṇo vasen nityam apāno guda-maṇḍale |
samāno nābhi-deśe tu udānaḥ kaṇṭha-madhyagaḥ || 1.33 ||
hridi prano vasen nityam apano guda-mandale |
samano nabhi-deshe tu udanah kantha-madhyagaḥ || 1.33 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

hṛdi : in der Brust, in der Herzgegend ("im Herzen", Hrid)
prāṇaḥ : Prana
vaset : befindet sich ("wohnt", vas)
nityam : stets, immer (Nitya)
apānaḥ : Apana
guda-maṇḍale : in der Region ("Umkreis", Mandala) des Anus (Guda)
samānaḥ : Samana
nābhi-deśe : in der Gegend (Desha) des Nabels (Nabhi)
tu : aber, dagegen (Tu)
udānaḥ : Udana
kaṇṭha-madhyagaḥ : befindet sich in ("geht inmitten", Madhyaga) der Kehle (Kantha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit der Lesart syāt "ist, sei" statt tu im 3. Pada als Vers 34 der Version 2 des Goraksha Shataka und der Lesart sthito "befindet sich" statt vaset im 1. Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 23cd-24ab) überliefert.

In der vorliegenden Lesung tu udānaḥ ergibt sich an der Grenze vom 3. zum 4. Pada ein Hiatus, d.h. das Aufeinandertreffen zweier Vokale zwischen zwei Silben. Das abgesetzte Sprechen der u-Laute beider Wörter wird hier zur Erhaltung des Versmaßes gefordert und ist in yogischen und tantrischen Texten recht häufig. Nach den allgemein üblichen Gesetzen des Sandhi würden sonst beide u-s an der Wortgrenze zu einem langen ū verschmelzen, was die Lesung tūdānaḥ und eine fehlende Silbe im 4. Pada zur Folge hätte.

Shataka 1 Vers 34: Sitz der fünf Haupt-Vayus

Vyana durchdringt die Körper. Prana usw. werden die fünf Haupt-Vayus genannt. Naga usw. sind die fünf (Neben-)Vayus (Lebenswinde).


व्यानो व्यापी शरीरेषु प्रधानाः पञ्च वायवः |
प्राणाद्याः पञ्च विख्याता नागाद्याः पञ्च वायवः || ३४ ||
vyāno vyāpī śarīreṣu pradhānāḥ pañca vāyavaḥ |
prāṇādyāḥ pañca vikhyātā nāgādyāḥ pañca vāyavaḥ || 1.34 ||
vyano vyapi sharireshu pradhanah pancha vayavah |
pranadyash pancha vikhyata nagadyah pancha vayavah || 1.34 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vyāno : Vyana
vyāpī : durchdringt (Vyapin)
śarīreṣu : die Körper (Sharira)
pradhānāḥ : als Wichtigste ("als Hauptsache", Pradhana)
pañca : (die) fünf (Pancha)
vāyavaḥ : Körperwinde, Lebenswinde ("Winde", Vayu)
prāṇādyāḥ : Prana usw.
pañca : (die) fünf
vikhyātāḥ : werden genannt, sind bekannt (Vikhyata)
nāgādyāḥ : Naga usw. (Adya)
pañca : (sind die) fünf
vāyavaḥ : (Neben-)Körperwinde

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit der Lesart :śarīre tu "den Körper (Lok. Sg.) wiederum" statt śarīreṣu (Lok. Pl.) im 1. Pada als Vers 35 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert. In der Yogachudamani Upanishad (Vers 24cd) erscheint nur der erste Halbvers mit einer weiteren Lesart: sarva-śarīre tu "im ganzen (Sarva) Körper" statt vyāpī śarīreṣu. Der zweite Halbvers entspricht mit einer Umstellung von prāṇādyāḥ und nāgādyāḥ dem 1. und 2. Pada von Vers 25 der Version 1 des Goraksha Shataka, die noch einen zusätzlichen Halbvers (vgl. GP 1.36 cd) anfügt:

nāgādyāḥ pañca vikhyātāḥ prāṇādyāḥ pañca vāyavaḥ |
ete nāḍi-sahasreṣu vartante jīva-rūpiṇaḥ || 1.25 ||

"Diese fünf Naga usw. genannten und fünf Prana usw. genannten Neben- bzw. Haupt-Vayus zirkulieren in Form (Rupin) der Lebens(kräfte Jiva) in den Tausenden (Sahasra) von feinstoffliche Energiekanälen (Nadi)." (GŚ 1.25)

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu den Versen 1.33-34 differenziert den Sitz der fünf Haupt-Vayus wie folgt:

  • Prana: zwischen Mund und Nase, im Herzen, in der Nabelgegend, um (den Sitz der) Kundali herum, in den großen Zehen
  • Apana: im Bereich von Anus, Genitalien, Oberschenkel, Knien, Bauch, Augen, Hüften und Nabel
  • Samana: im gesamten Körper
  • Udana: in allen Gelenken, in Händen und Füßen
  • Vyana: im Bereich von Ohren, Augen, Hüften, Fußgelenken, Nase und Kehle

Shataka 1 Vers 35: Funktionen der fünf Neben-Vayus

Naga wird in Bezug auf das Aufstoßen gelehrt, Kurma in Bezug auf das Öffnen der Augen. Krikara bewirkt das Niesen, und Devadatta ist in Bezug auf das Gähnen zu kennen.


उद्गारे नाग आख्यातः कूर्म उन्मीलने स्मृतः |
कृकरः क्षुतकृज्ज्ञेयो देवदत्तो विजृम्भणे || ३५ ||
udgāre nāga ākhyātaḥ kūrma unmīlane smṛtaḥ |
kṛkaraḥ kṣuta-kṛj jñeyo deva-datto vijṛmbhaṇe || 1.35 ||
udgare naga akhyatah kurma unmilane smritah |
krikarah kshuta-krij jneyo deva-datto vijrimbhane || 1.35 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

udgāre : in Bezug auf das Aufstoßen (Udgara)
nāgaḥ : Naga ("Schlange, Schlangendämon")
ākhyātaḥ : wird gelehrt ("angegeben", Akhyata)
kūrmaḥ : Kurma ("Schildkröte")
unmīlane : in Bezug auf das Aufschlagen der Augen (Unmilana)
smṛtaḥ : wird gelehrt ("erinnert", Smrita)
kṛkaraḥ : Krikara ("Rebhuhn")
kṣuta-kṛt : bewirkt (Krit) das Niesen (Kshuta)
jñeyaḥ : ist zu kennen (Jneya)
deva-dattaḥ : Devadatta ("der Gottgegebene")
vijṛmbhaṇe : in Bezug auf das Gähnen (Vijrimbhana)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 36 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit kleineren Lesarten als Vers 25 in der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Shataka 1 Vers 36: Funktionen der fünf Neben-Vayus

Dhananjaya, der den ganzen (Körper) durchdringt, verlässt diesen auch nicht, wenn er tot ist. Diese (Neben- bzw. Haupt-Vayus) zirkulieren in Form der Lebenskräfte in allen feinstofflichen Energiekanälen.


न जहाति मृतं चापि सर्वव्यापिधनञ्जयः |
एते सर्वासु नाडीषु भ्रमन्ते जीवरूपिणः || ३६ ||
na jahāti mṛtaṃ cāpi sarva-vyāpi-dhanañ-jayaḥ |
ete sarvāsu nāḍīṣu bhramante jīva-rūpiṇaḥ || 1.36 ||
na jahati mritam chapi sarva-vyapi-dhanan-jayah |
ete sarvasu nadishu bhramante jiva-rupinah || 1.36 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

na : nicht (Na)
jahāti : verlässt ()
mṛtam : den toten (Körper, Mrita)
ca : und (Cha)
api : auch, sogar (Api)
sarva-vyāpi-dhanañ-jayaḥ : Dhananjaya ("der Reichtümer gewinnt"), der den ganzen (Körper, Sarva) durchdringt (Vyapin)
ete : diese (Körperwinde, Etad)
sarvāsu : in allen (Sarva)
nāḍīṣu : feinstofflichen Energiekanälen, Nerven (Nadi)
bhramante : fließen, verlaufen ("durchwandern", bhram)
jīva-rūpiṇaḥ : in Form, Gestalt (Rupin) des Lebens (Jiva)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 37 der Version 2 des Goraksha Shataka (dort heißt es sarva-vyāpī anstelle der zusammengesetzten Form sarva-vyāpi-) und mit kleineren Lesarten als Vers 26 in der Yogachudamani Upanishad überliefert. Der zweite Halbvers entspricht sinngemäß dem zweiten Halbvers von Vers 25 der Version 1 des Goraksha Shataka.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt das Kompositum jīva-rūpiṇaḥ als "diejenigen (zehn Vayus bzw. Körperwinde), die der Individualseele (Jiva) Form verleihen (Rupay)", wobei dem Hinterglied °rūpiṇaḥ ein (ungebräuchlicher) kausativer Sinn verliehen wird: jīvam avacchinnaṃ caitanyaṃ rūpayanti.

Das Wort Jiva (vgl. die folgenden Verse 1.37-42) wird hier im Sinne eines individualisierten Bewusstseins bzw. der "Individualseele" (Jivatman) verstanden und im Kommentar als Bewusstsein (Chaitanya) definiert, das sich aufgrund der Unwissenheit (Avidya) bzw. Nichterkenntnis (seiner wahren Natur) als getrennt (Avachchhinna) erfährt (avidyāvacchinnaṃ caitanyaṃ jīvaḥ), obwohl es in Wirklichkeit (Vastava) nicht getrennt (Avichchhinna) und seiner Natur nach (Svabhava) identisch mit dem Absoluten (Brahman) ist.

Shataka 1 Vers 37: Das Lebensprinzip (Jiva), Prana und Apana

So wie ein Ball, der mit langem Arm (zu Boden) geschleudert wird, wieder aufspringt, genauso steht das von Prana und Apana bewegte Lebensprinzip (Jiva) nicht still.


आक्षिप्तो भुजदण्डेन यथोच्चलति कन्दुकः |
प्राणापानसमाक्षिप्तस्तथा जीवो न तिष्ठति || ३७ ||
ākṣipto bhuja-daṇḍena yathoccalati kandukaḥ |
prāṇāpāna-samākṣiptas tathā jīvo na tiṣṭhati || 1.37 ||
akshipto bhuja-dandena yathocchalati kandukah |
pranapana-samakshiptas tatha jivo na tishthati || 1.37 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ākṣiptaḥ : der geworfen, geschleudert wird ("geworfen wurde", Akshipta)
bhuja-daṇḍena : mit geradem, langem Arm ("Arm-Stock", Bhujadanda)
yathā : so wie (Yatha)
uccalati : aufspringt, zurückprallt (ud + cal)
kandukaḥ : ein Ball, Spielball (Kanduka)
prāṇāpāna-samākṣiptaḥ : das von Prana und Apana geworfen, heftig bewegt wird wird ("geworfen wurde", Samakshipta)
tathā : genauso (Tatha)
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
na : nicht (Na)
tiṣṭhati : bleibt stehen, steht still (sthā)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 27) und als Vers 37 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit den Lesarten bhuvi daṇḍena "mit einem Stock auf die Erde (Bhu)" statt bhuja-daṇḍena im 1. und jīvo'nukṛṣyate "die Individualseele wird hinterhergezogen" statt jīvo na tiṣṭhati im 4. Pada als Vers 27 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Shataka 1 Vers 38: Das Lebensprinzip (Jiva), Prana und Apana

Weil das Lebensprinzip (Jiva) sich in der Gewalt von Prana und Apana befindet, bewegt es sich entlang der linken und rechten Energiebahn abwärts und aufwärts. Aufgrund seiner Unstetheit wird es nicht wahrgenommen.


प्राणापानवशो जीवो ह्यधश्चोर्ध्वं च धावति |
वामदक्षिणमार्गेण चञ्चलत्वान्न दृश्यते || ३८ ||
prāṇāpāna-vaśo jīvo hy adhaś cordhvaṃ ca dhāvati |
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa cañcalatvān na dṛśyate || 1.38 ||
pranapana-vasho jivo hy adhash chordhvam cha dhavati |
vama-dakshina-margena chanchalatvan na drishyate || 1.38 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇāpāna-vaśaḥ : in der Gewalt (Vasha) von Prana und Apana
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
hi : gewiss, weil (Hi)
adhaḥ : nach unten (Adhas)
ca : und (Cha)
ūrdhvam : nach oben (Urdhva)
ca : und
dhāvati  : bewegt sich ("läuft", dhāv)
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa : entlang des linken (Vama) und rechten (Dakshina) Pfades (Marga)
cañcalatvāt : aufgrund seiner Unstetheit, Beweglichkeit (Chanchalatva)
na : nicht (Na)
dṛśyate : es wird wahrgenommen, bemerkt ("gesehen", dṛś)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 26 der Version 1 und als Vers 39 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einer minimalen Lesart im 3. Pada (Instr. Dual vāma-dakṣiṇa-mārgābhyāṃ statt Instr. Singular °mārgeṇa) in der Yogachudamani Upanishad (Vers 28) überliefert.

Shataka 1 Vers 39: Das Lebensprinzip (Jiva) und die Gunas

So wie ein mit einem Strick angebundener Falke wieder herangezogen wird, wenn er weggeflogen ist, genauso wird das Lebensprinzip (Jiva), solange es an die Stricke (Guna) der Urnatur gebunden ist, von Prana und Apana hin und her gezogen.


रज्जुबद्धो यथा श्येनो गतोऽप्याकृष्यते पुनः |
गुणबद्धस्तथा जीवः प्राणापानेन कृष्यते || ३९ ||
rajju-baddho yathā śyeno gato'py ākṛṣyate punaḥ |
guṇa-baddhas tathā jīvaḥ prāṇāpānena kṛṣyate || 1.39 ||
rajjubaddho yatha shyeno gato'py akrishyate punah |
guna-baddhas tatha jivah pranapanena krishyate || 1.39 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

rajju-baddhaḥ : ein mit einem Strick (Rajju) angebundener (Baddha)
yathā : so wie (Yatha)
śyenaḥ : Falke (Shyena)
gataḥ : (wenn) er weggeflogen ist ("weggegangen", Gata)
api : auch, sogar (Api)
ākṛṣyate : herangezogen, mit sich fortgezogen wird (ā + kṛṣ)
punaḥ : wieder (Punar)
guṇa-baddhaḥ : (wenn) es an die Stricke (der Urnatur, Guna) gebunden (Baddha) ist
tathā : genauso (Tatha)
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
prāṇāpānena : von Prana und Apana
kṛṣyate : wird (hin und her) gezogen (kṛṣ)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 28 der Version 1 und als Vers 40 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie mit einer Lesart im 4. Pada (karṣati "zieht " statt kṛṣyate) in der Yogachudamani Upanishad (Vers 29) überliefert.

Der Vergleich zielt auf einen Jagdfalken ab, den der Falkner an einer Leine hält. Die Gunas sind Tamas, Rajas und Sattva, die drei Bestandteile bzw. "Eigenschaften" der Urnatur (Prakriti). Das Wort guṇa bedeutet auch "Schnur, Strick".

Shataka 1 Vers 40: Prana und Apana

Der Apana zieht den Prana, und der Prana zieht den Apana. Ein Kenner des Yoga bringt diese beiden, die sich jeweils oben und unten befinden, zusammen.


अपानः कर्षति प्राणं प्राणोऽपानं च कर्षति |
ऊर्ध्वाधः संस्थितावेतौ संयोजयति योगवित् || ४० ||
apānaḥ karṣati prāṇaṃ prāṇo'pānaṃ ca karṣati |
ūrdhvādhaḥ saṃsthitāv etau saṃyojayati yoga-vit || 1.40 ||
apanah karshati pranam prano'panam cha karshati |
urdhvadhah samsthitav etau samyojayati yoga-vit || 1.40 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

apānaḥ : der Apana
karṣati : zieht (kṛṣ)
prāṇam : den Prana
prāṇaḥ : der Prana
apānam : den Apana
ca : und (Cha)
karṣati : zieht
ūrdhvādhaḥ : oben (Urdhva) und (Unten)
saṃsthitau : befindlichen, gelegenen (Samsthita)
etau : diese beiden (Etad)
saṃyojayati : vereinigt, bringt zusammen (sam + yuj)
yoga-vit : ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 41 der Version 2 sowie mit einer abweichenden Lesart im vierten Pada (yo jānāti sa yoga-vit "wer ... kennt, der ist ein Kenner des Yoga" statt saṃyojayati yoga-vit) als Vers 29 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Die Lesart der Yogachudamani Upanishad (Vers 29) beruht vermutlich auf einem Überlieferungsfehler.

Laut Vers 1.34 befindet sich der Prana "oben" im Herzen (hṛdi) und der Apana "unten" im Anusbereich (guda-maṇḍale).

In der Hatha Yoga Pradipika 2.47 wird erklärt, dass die Vereinigung von Apana und Prana, die durch das gleichzeitige Setzen von Mula Bandha und Jalandhara Bandha erreicht wird, dem Alterungsprozess entgegenwirkt:

apānam ūrdhvam utthāpya prāṇaṁ kaṇṭhād adho nayet |
yogī jarā-vimuktaḥ san ṣoḍaśābda-vayā bhavet || 47 ||

"Indem der Yogi Apana (durch Mula Bandha) aufwärts zieht und Prana (durch Jalandhara Bandha) von der Kehle (Kantha) abwärts leitet, wird er vom Alter (Jara) befreit und einem Sechzehnjährigen gleich." (HYP 2.47)

Shataka 1 Vers 41: Ajapa

Mit dem Laut HA(M) geht das Leben hinaus, mit dem Laut SA tritt es wieder (in den Körper) ein. "Ham-sa Ham-sa" - so rezitiert das Lebensprinzip dieses Mantra ohne Unterlass.


हकारेण बहिर्याति सकारेण विशेत्पुनः |
हंसहंसेत्यमुं मन्त्रं जीवो जपति सर्वदा || ४१ ||
ha-kāreṇa bahir yāti sa-kāreṇa viśet punaḥ |
haṃsa-haṃsety amuṃ mantraṃ jīvo japati sarvadā || 1.41 ||
ha-karena bahir yati sa-karena vishet punah |
hamsa-hamsety amum mantram jivo japati sarvada || 1.41 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ha-kāreṇa : mit (der Silbe) HA(M, Hakara)
bahiḥ : hinaus (Bahis)
yāti : geht ()
sa-kāreṇa : mit (der Silbe) SA(H, Sakara)
viśet : tritt ein (viś)
punaḥ : wieder (Punar)
haṃsa-haṃsa : Hamsa-Hamsa
iti : so (Iti)
amum : dieses (Adas)
mantram : Mantra
jīvaḥ : das Lebensprinzip (die Individualseele, Jiva)
japati : rezitiert (jap)
sarvadā : immer, stets (Sarvada)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 42 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 31cd-32ab) überliefert. Der erste Halbvers entspricht mit den Lesarten haṃ-kāreṇa und saḥ-kāreṇa der Gheranda Samhita (5.86cd), der 4. Pada erscheint in GhS 5.87d.

Die Anneinanderreihung der Verbindung dieser beiden Silben haṃ und saḥ ergibt nach den Lautregeln des Sandhi haṃ-so haṃ-so haṃ-so "Selbst, Selbst ... (Hamsa = Atman)" bzw. so'haṃ so'haṃ so'haṃ "Dieser (Tad) bin ich (Aham) ...", womit die Seele bzw. das Selbst (Atman) gemeint ist.

Shataka 1 Vers 42: Ajapa

Innerhalb eines Tages und einer Nacht rezitiert das Lebensprinzip entsprechend der Anzahl von 21 600 (Ein- und Ausatmungen) dieses Mantra ohne Unterlass.


षट्शतानि त्वहोरात्रे सहस्राण्येकविंशतिः |
एतत्सङ्ख्यान्वितं मन्त्रं जीवो जपति सर्वदा || ४२ ||
ṣaṭ-śatāni tv aho-rātre sahasrāṇy eka-viṃśatiḥ |
etat-saṅkhyānvitaṃ mantraṃ jīvo japati sarvadā || 1.42 ||
shat shatani tv aho-ratre sahasrany eka-vimshatih |
etat-sankhyanvitam mantram jivo japati sarvada || 1.42 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

ṣaṭ-śatāni : sechshundert (Shatshata)
tu : aber (Tu)
aho-rātre : innerhalb eines Tages und einer Nacht, innerhalb von 24 Stunden (Ahoratra)
sahasrāṇy eka-viṃśatiḥ : 21 000 (Sahasra Ekavimshati)
etat-saṅkhyānvitaṃ : dieser (Etad) Anzahl (Sankhya) entsprechend (Anvita)
mantram : (dieses) Mantra
jīvaḥ : das Lebensprinzip (die Individualseele, Jiva)
japati : rezitiert (jap)
sarvadā : immer, stets (Sarvada)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 43 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit der Lesart divā-rātrau "innerhalb eines Tages und einer Nacht" (Divaratri) statt aho-rātre im ersten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 32cd-33ab) überliefert. Dieser Lesart folgt auch Gheranda Samhita (5.87), die im dritten Pada ajapāṃ nāma gāyatrīṃ liest, d.h. es handelt sich hierbei um die Ajapa genannte Gayatri (vgl. den folgenden Vers GP 1.43).

Die Anzahl von 21 600 Atemzügen innerhalb von 24 Stunden bzw. 86 400 Sekunden entspricht einer durchschnittlichen Atemfrequenz von 4 Sekunden, d.h. 15 Zyklen von Ein- und Ausatmung pro Minute.

Shataka 1 Vers 43: Ajapa

Diese Ajapa genannte Gayatri verleiht den Yogis Befreiung. Durch den bloßen Vorsatz, dieser (Gayatri aufmerksam und dauerhaft zu lauschen), befreit man sich von allen Leiden.


अजपा नाम गायत्री योगिनां मोक्षदायिनी |
अस्याः सङ्कल्पमात्रेण सर्वपापैः प्रमुच्यते || ४३ ||
ajapā nāma gāyatrī yogināṃ mokṣa-dāyinī |
asyāḥ saṅkalpa-mātreṇa sarva-pāpaiḥ pramucyate || 1.43 ||
ajapa nama gayatri yoginam moksha-dayini |
asyah sankalpa-matrena sarva-papaih pramuchyate || 1.43 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ajapā : Ajapa
nāma : namens (Nama)
gāyatrī : Gayatri
yoginām : den Yogis (Yogin)
mokṣa-dāyinī : verleiht (Dayin) Befreiung, Erlösung (Moksha)
asyāḥ : dieser (Gayatri, Idam)
saṅkalpa-mātreṇa : durch den bloßen (Matra) Vorsatz (Sankalpa)
sarva-pāpaiḥ : von allen (Sarva) Übeln, Leiden, Sünden (Papa)
pramucyate : man wird befreit, befreit sich (pra + muc)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 44 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit der Lesart mokṣadā sadā ("verleiht allzeit Befreiung") im zweiten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 33cd-34ab) überliefert.

Ajapa (a-japā) bedeutet wörtlich "Nicht-Murmeln" (eines Gebetes) und bezieht sich auf das "natürliche Mantra", das durch den spontanen Prozess der Ein- und Ausatmung von selbst entsteht (vgl. den vorangehenden Vers 42).

Als Gayatri wird im Allgemeinen ein Versmaß (Chhandas) von dreimal acht Silben bezeichnet. Das bekannteste und beliebteste Gayatri-Mantra ist die an den Sonnengott Savitri gerichtete 10. Strophe der Hymne Rigveda 3,62 (tat savitur vareṇyaṃ...), der bei ihrer Rezitation die Formel (Vyahriti) oṃ bhūr bhuvaḥ svaḥ vorangestellt wird.

Shataka 1 Vers 44: Ajapa

Ein Wissen, das dieser Ajapa gleicht, (oder) ein Gebet, das dieser Ajapa gleicht, (oder) eine Einsicht, die dieser Ajapa gleicht, gab es nie und wird es nie geben.


अनया सदृशी विद्या अनया सदृशो जपः |
अनया सदृशं ज्ञानं न भूतं न भविष्यति || ४४ ||
anayā sadṛśī vidyā anayā sadṛśo japaḥ |
anayā sadṛśaṃ jñānaṃ na bhūtaṃ na bhaviṣyati || 1.44 ||
anaya sadrishi vidya anaya sadrisho japah |
anaya sadrisham jnanam na bhutam na bhavishyati || 1.44 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

anayā : dieser (Ajapa, Idam)
sadṛśī : ähnlich, gleich (Sadrisha)
vidyā : ein Wissen (Vidya)
anayā : dieser (Ajapa)
sadṛśaḥ : ähnlich, gleich (Sadrisha)
japaḥ : ein Gebet, Mantra (Japa)
anayā : dieser (Ajapa)
sadṛśam : ähnlich, gleich (Sadrisha)
jñānam : eine Erkenntnis, Einsicht (Jnana)
na : nicht (Na)
bhūtam : es gab ("ist gewesen", Bhuta)
bhaviṣyati : es wird geben ("wird sein", bhū)
na : nicht

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 45 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 34cd-35ab) überliefert.

Shataka 1 Vers 45: Ajapa

Die Gayatri ist aus der Kundalini hervorgegangen und erhält den Lebensatem. Diese Lehre vom Lebensatem ist eine große Wissenschaft. Wer sie kennt, ist ein Kenner des Yoga.


कुण्डलिन्याः समुद्-भूता गायत्री प्राणधारिणी |
प्राणविद्या महाविद्या यस्तां वेत्ति स योगवित् || ४५ ||
kuṇḍalinyāḥ samudbhūtā gāyatrī prāṇa-dhāriṇī |
prāṇa-vidyā mahā-vidyā yas tāṃ vetti sa yoga-vit || 1.45 ||
kundalinyah samudbhuta gayatri prana-dharini |
prana-vidya maha-vidya yas tam vetti sa yoga-vit || 1.45 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kuṇḍalinyāḥ : aus der Kundalini ("Schlangenkraft")
samudbhūtā : hervorgegangen, entstanden (Samudbhuta)
gāyatrī : die Gayatri
prāṇa-dhāriṇī : erhält, trägt den Lebensatem (Prana)
prāṇa-vidyā : die Lehre vom Lebensatem (Pranavidya)
mahā-vidyā : (ist) eine große Wissenschaft (Mahavidya)
yaḥ : wer (Yad)
tām : sie, diese (Tad)
vetti : kennt (vid)
saḥ : der (Tad)
yoga-vit : (ist) ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 46 der Version 2 des Goraksha Shataka undmit einer geringfügigen Lesart im ersten Pada (Lokativ kuṇḍalinyāṃ statt Ablativ kuṇḍalinyāḥ) in der Yogachudamani Upanishad (Vers 35cd-36ab) überliefert.

In einigen Handschriften findet sich statt yoga-vit die Lesung veda-vit "(ist) ein Kenner der Veden, Vedakenner (Vedavid)". Dabei wird auf die etymologische Verwandschaft der Wörter Vidya und Veda, die beide von der Verbalwurzel vid "wissen, wahrnehmen, erkennen" abgeleitet sind, angespielt.

Shataka 1 Vers 46: Sitz der Kundali

Oberhalb des Kanda liegt Kundali, die Schlangenkraft. Achtfach geringelt, verschließt sie mit ihrem Maul stets die Öffnung des Tors zum Brahman.


कन्दोर्ध्वे कुण्डली शक्तिरष्टधा कुण्डलाकृतिः |
ब्रह्मद्वारमुखं नित्यं मुखेनाच्छाद्य तिष्ठति || ४६ ||
kandordhve kuṇḍalī śaktir aṣṭa-dhā kuṇḍalākṛtiḥ |
brahma-dvāra-mukhaṃ nityaṃ mukhenācchādya tiṣṭhati || 1.46 ||
kandordhve kundali shaktir ashta-dha kundalakritih |
brahma-dvara-mukham nityam mukhenachchhadya tishthati || 1.46 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kandordhve : oberhalb (Urdhva) des Kanda
kuṇḍalī : die Kundali
śaktiḥ : die Kraft, Energie (Shakti)
aṣṭa-dhā : achtfach (Ashtadha)
kuṇḍalākṛtiḥ : in Kreise gelegt ("in der Form Akriti von Ringen Kundala")
brahma-dvāra-mukham : die Öffnung, den Eingang (Mukha) des Tors zum Brahman, zum Absoluten (Brahmadvara)
nityam : immer, stets (Nitya)
mukhena : mit dem Maul (Mukha)
ācchādya : verdeckend, verschließend (ā + chad)
tiṣṭhati : liegt ("befindet sich", sthā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 36cd-37ab) und mit einer geringfügigen Lesart im ersten Pada (Akkusativ kandordhvaṃ statt (Lokativ kandordhve) als Vers 47 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert. Vers 30 der Version 1 des Goraksha Shataka bietet drei weitere Lesarten dieses Verses.

Laut Vers 1.24 (sowie Hatha Yoga Pradipika 3.107) befindet sich der Kanda oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels, d.h. der Sitz der Kundalini "oberhalb des Kanda" befände sich in der Nabelgegend.

Auch im Yoga Yajnavalkya, einem autoritativen, wenngleich weniger bekannten Text des Hatha Yoga, wird der Sitz der Kundalini im Bereich des Nabelzentrums angegeben (YY 4.21):

tasyordhvaṃ kuṇḍalinī-sthānaṃ nābhes tiryag athordhvataḥ |
aṣṭa-prakṛti-rūpā sā aṣṭa-dhā kuṇḍalī-kṛtā || 3.49 ||

"Oberhalb des (Nabelzentrums) ist der Sitz der Kundalini (Kundalinisthana), um den Nabel (Nabhi) herum und darüber." Gemäß ("in Form", Rupa) ihrer acht(fachen) Natur (Prakriti) ist sie achtfach (Ashtadha) geringelt (YY 4.21).

Dies widerspricht allerdings der allgemein verbreiteten Ansicht, dass sich die Kundalini im Muladhara Chakra befindet. So heißt es in der Shiva Samhita (2.21-23), die Kundali sitze im Adhara genannten Lotus (Padma), der sich zwei Fingerbreit oberhalb des Anus (Guda) und zwei Fingerbreit unterhalb des männlichen Glieds (Medhra) befindet.

Über die achtfache Aufteilung der (niederen) Natur (Prakriti), auf die sich möglicherweise die achtfache Natur der Kundalini bezieht, heißt es in der Bhagavad Gita (BhG 7.4):

bhūmir āpo 'nalo vāyuḥ khaṃ mano buddhir eva ca |
ahaṅkāra itīyaṃ me bhinnā prakṛtir aṣṭadhā || 7.4 ||

"Erde (Bhumi), Wasser (Ap), Feuer (Anala), Wind (Vayu), Äther (Kha), Geist (Denken, Manas), Intellekt (Vernunft, Buddhi) und Ego (Ichbewusstsein, Ahankara) - so ist meine achtfach aufgeteilte Natur (Prakriti)." (BhG 7.4)

Shataka 1 Vers 47: Sitz der Kundali

Während sie mit ihrem Maul die Tür verschließt, durch welche der Weg zum Brahman, der frei von Leid ist, zu erreichen ist, schläft die höchste Herrin.


येन द्वारेण गन्तव्यं ब्रह्मद्वारमनामयम् |
मुखेनाच्छाद्य तद् द्वारं प्रसुप्ता परमेश्वरी || ४७ ||
yena dvāreṇa gantavyaṃ brahma-dvāram anāmayam |
mukhenācchādya tad dvāraṃ prasuptā parameśvarī || 1.47 ||
yena dvarena gantavyam brahma-dvaram anamayam |
mukhenachchhadya tad dvaram prasupta parameshvari || 1.47 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yena : durch welche (Yad)
dvāreṇa : Tür (Dvara)
gantavyam : zu erreichen ist ("zu begehen ist", Gantavya)
brahma-dvāram : der Weg ("Tor") zum Brahman, zum Absoluten (Brahmadvara)
anāmayam : der frei von Leid ist ("ohne Krankheit", Anamaya)
mukhena : mit (ihrem) Mund (Mukha)
ācchādya : verschließend ("bedeckend", ā + chad)
tat : diese (Tad)
dvāram : Tür (Dvara)
prasuptā : schläft (Prasupta)
parameśvarī : die höchste Herrin (Parameshvari, d.h. die Kundalini)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 37cd-38ab) und mit der Lesart brahma-sthānam "der Ort des Brahmans (Brahmasthana)" statt brahma-dvāram im zweiten Pada als Vers 48 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert. Während mit brahma-sthānam das Brahmarandhra gemeint ist, bezieht sich brahma-dvāram hier auf die (Öffnung der) Sushumna.

In der Hatha Yoga Pradipika (3.106) erscheint dieser Vers mit den Lesarten mārgeṇa (statt dvāreṇa), brahma-sthānaṃ (statt brahma-dvāram), und nirāmayam (statt anāmayam) im ersten Halbvers.

In der Gheranda Samhita (3.51) heißt es in diesem Zusammenhang: kuṇḍalinyāḥ prabodhena brahma-dvāraṃ vibhedayet "Durch das Erwecken (Prabodha) der Kundalini soll man das Tor zum Brahman öffnen".

Shataka 1 Vers 48: Erweckung der Kundali

Ist die Kundali durch den Kontakt mit dem (inneren) Feuer erwacht, indem sie willentlich vermittels des Atems in Bewegung gesetzt wurde, wandert sie wie eine Nadel mit einem Faden entlang der Sushumna aufwärts.


प्रबुद्धा वह्नियोगेन मनसा मरुता सह |
सूचीव गुणमादाय व्रजत्यूर्ध्वं सुषुम्णया || ४८ ||
prabuddhā vahni-yogena manasā marutā saha |
sūcīva guṇam ādāya vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā || 1.48 ||
prabuddha vahni-yogena manasa maruta saha |
suchiva gunam adaya vrajaty urdhvam sushumnaya || 1.48 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prabuddhā : (ist die Kundali) erwacht (Prabuddha)
vahni-yogena : durch den Kontakt (Yoga) mit dem (inneren) Feuer (Vahni)
manasā : willentlich, mit dem Willen (Manas)
marutā : mit dem Atem ("Wind", Marut)
saha : zusammen, in Verbindung (Saha)
sūcī: eine Nadel (Suchi)
iva: wie (Iva)
guṇam: einem Faden Guna)
ādāya : mit ("genommen habend", Adaya)
vrajati : bewegt sich, wandert (vraj)
ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
suṣumṇayā : entlang der Sushumna

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart sūcī-vad statt sūcīva als Vers 49 der Version 2 des Goraksha Shataka und der Lesart sūcī-vad gātram statt sūcīva guṇam im dritten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 38cd-39ab) überliefert. Vers 31 der Version 1 des Goraksha Shataka liest mārutāhatā statt marutā saha im zweiten Pada und prajīva-guṇam statt sūcī-vad guṇam im dritten Pada (vgl. die dortige Anm.).

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt vahni-yogena mit prāṇa-preritānala-śikhā-sambandhena "durch den Kontakt (Sambandha) mit der Flamme (Shikha) des durch den Prana aktivierten (Prerita) Feuers (Anala", vgl. auch die Anm. zum folgenden Vers).

Shataka 1 Vers 49: Erweckung der Kundali

Ist die Kundali, in Form einer schlafenden (!) Schlange, verheißungsvoll, (dünn) wie die Faser eines Lotusstiels, durch den Kontakt mit dem Feuer (des Muladhara Chakra) erwacht, wandert sie entlang der Sushumna aufwärts.


प्रसुप्तभुजगाकारा पद्मतन्तुनिभा शुभा |
प्रबुद्धा वह्नियोगेन व्रजत्यूर्ध्वं सुषुम्णया || ४९ ||
prasupta-bhujagākārā padma-tantu-nibhā śubhā |
prabuddhā vahni-yogena vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā || 1.49 ||
prasupta-bhujagakara padma-tantu-nibha shubha |
prabuddha vahni-yogena urdhvam sushumnaya || 1.49 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prasupta-bhujagākārā : in Form (Akara) einer schlafenden (Prasupta) Schlange (Bhujaga)
padma-tantu-nibhā : (dünn) wie ("gleich", Nibha) die Faser eines Lotusstiels (Padmatantu)
śubhā : verheißungsvoll, prächtig, schön (Shubha)
prabuddhā : (ist die Kundali) erwacht (Prabuddha)
vahni-yogena : durch den Kontakt (Yoga) mit dem (inneren) Feuer (Vahni)
vrajati : bewegt sich, wandert (vraj)
ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
suṣumṇayā : entlang der Sushumna

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der etwas anschaulicheren Lesart prasphurad-bhujagākārā "in Form einer zuckenden (pra + sphur) Schlange" statt prasupta-bhujagākārā als Vers 50 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert. Möglicherweise bestand der Vers ursprünglich nur aus dem ersten Halbvers, der im Anschluss an den vorangehenden Vers GP 1.48 eine weitere Analogie für den Aufstieg der Kundalini liefert. Der zweite Halbvers ist lediglich eine Wiederholung aus dem ersten und vierten Pada des vorangehenden Verses (Pada c = GP 1.48 a, Pada d = GP 1.48 d).

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt vahni-yogena mit apāna-preritayā mūlādhāra-gata-kālāgni-śikhāyā yogena "durch den Kontakt (Yoga) mit der Flamme (Shikha) des durch den Apana aktivierten (Prerita), im Muladhara befindlichen (Gata) Feuers der Zeit (Kalagni").

Der Aufstieg der Kundalini im Zusammenhang mit dem durch den Apana aktivierten Feuer des Muladhara Chakra wird ausführlicher in GP 2.9 beschrieben.

Shataka 1 Vers 50: Erweckung der Kundali

So wie man eine Tür vermöge eines Schlüssels aufschließt, genau so öffnet der Yogi das Tor zur Befreiung mit Hilfe der Kundalini durch (die Praxis von) Hatha-Yoga.


उद्घाटयेत्कपाटं तु यथा कुञ्चिकया हठात् |
कुण्डलिन्या तथा योगी मोक्षद्वारं प्रभेदयेत् || ५० ||
udghāṭayet kapāṭaṃ tu yathā kuñcikayā haṭhāt |
kuṇḍalinyā tathā yogī mokṣa-dvāraṃ prabhedayet || 1.50 ||
udghatayet kapatam tu yathā kunchikaya hathat |
kundalinya tatha yogi moksha-dvaram prabhedayet || 1.50 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

udghāṭayet : (man) aufschließen kann, aufschließt (ud + ghaṭ)
kapāṭam : eine Tür (Kapata)
tu : aber (Tu)
yathā : (so) wie (Yatha)
kuñcikayā : mit einem Schlüssel (Kunchika)
haṭhāt : unter Kraftaufwand, gewaltsam, durch (die Praxis von) Hatha(-Yoga)
kuṇḍalinyā : mit der Kundalini
tathā : (genau) so (Tatha)
yogī : der Yogi (Yogin)
mokṣa-dvāraṃ : das Tor zur Befreiung (Mokshadvara)
prabhedayet : kann öffnen, öffnet ("zerspalten", pra + bhid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 51 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit einer minimalen Lesart (vibhedayet statt prabhedayet im 4. Pada) in der Hatha Yoga Pradipika (3.105) überliefert. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 39c-f) liest kavāṭaṃ und gṛham (statt haṭhāt) im ersten Halbvers. In der Gheranda Samhita (3.51) erscheint dieser Vers mit ein paar weiteren Abweichungen im zweiten Halbvers:

udghāṭayet kavāṭaṃ ca yathā kuñcikayā haṭhāt |
kuṇḍalinyāḥ prabodhena brahma-dvāraṃ vibhedayet || 3.51 ||

"So wie man eine Tür (Kavata) vermöge eines Schlüssels (Kunchika) aufschließt, genau so öffnet man durch das Erwachen (Prabodha) der Kundalini das Tor (Dvara) zum Brahman." (GhS 3.51)

Mit dem "Tor zum Brahman" (brahma-dvāram) bzw. dem "Tor zur Befreiung" (mokṣa-dvāram) ist die Sushumna gemeint (vgl. die Anm. zur 1. Version des Goraksha Shataka Vers 30).

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt, dass in diesem Vers der Ablativ haṭhāt zweimal, d.h. in beiden (Ubhayatra) Halbversen zu verstehen bzw. zu konstruieren (sambadhyate) ist: im ersten Halbvers als Adverb im Sinne von balāt ("gewaltsam, vermöge" Bala) und im zweiten Halbvers als Substantiv im Sinne von Hatha-Yoga: haṭhād iti … ubhayatra sambadhyate.

Shataka 1 Vers 51: Pranayama: Vereinigung von Prana und Apana

(Ein Mensch,) der einen stabilen Lotussitz eingenommen hat, beide Hände (auf dem Schoß) ineinander legt, das Kinn fest auf die Brust presst (und somit Jalandhara Bandha setzt), und im Geist über das (im Inneren) wahrgenommene meditiert, dabei immer wieder Apana, den nach unten fließenden Lebenshauch, aufwärts lenkt (indem er Mula Bandha setzt), und den eingeatmeten Lebenshauch (nachdem er ihn angehalten hat) wieder ausatmet, erlangt somit durch die übernatürliche Kraft der göttlichen Energie (Shakti) eine unvergleichliche Einsicht (in die Wirklichkeit).


कृत्वा सम्पुटितौ करौ दृढतरं बद्ध्वा तु पद्मासनं
गाढं वक्षसि सन्निधाय चिबुकं ध्यानं च तच्चेतसि |
वारं वारमपानमूर्ध्वमनिलं प्रोच्चारयेत्पूरितं
मुञ्चन्प्राणमुपैति बोधमतुलं शक्तिप्रभावादतः || ५१ ||
kṛtvā sampuṭitau karau dṛḍhataraṃ baddhvā tu padmāsanaṃ
gāḍhaṃ vakṣasi sannidhāya cibukaṃ dhyānaṃ ca tac cetasi |
vāraṃ vāram apānam ūrdhvam anilaṃ proccārayet pūritaṃ
muñcan prāṇam upaiti bodham atulaṃ śakti-prabhāvād ataḥ || 1.51 ||
kritva samputitau karau dridhataram baddhva tu padmasanam
gadham vakshasi sannidhaya chibukam dhyanam cha tach chetasi |
varam varam apanam urdhvam anilam prochcharayet puritam
munchan pranam upaiti bodham atulam shakti-prabhavad atah || 1.51 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kṛtvā : legend ("machend", kṛ)
sampuṭitau : (in Form einer halbkugelförmigen Schale) ineinander ("zusammengefügt", Samputita)
karau : beide Hände (Kara)
dṛḍhataram : sehr fest, stabil (Dridha)
baddhvā : eingenommen habend ("gebunden, aufgebaut habend", badh)
tu : aber, jedoch, wiederum (Tu)
padmāsanam : den Lotussitz (Padmasana)
gāḍham : fest, kräftig (drückend, Gadha)
vakṣasi : auf die Brust (Vakshas)
sannidhāya : legend (sam + ni + dhā)
cibukam : das Kinn (Chibuka)
dhyānam : (richte seine) Meditation (Dhyana)
ca : und (Cha)
tat : auf jenes (Tad)
cetasi : im Geist (Chetas)
vāraṃ vāram : immer wieder, wiederholt (Vara)
apānam : Apana, den nach unten fließenden
ūrdhvam : aufwärts (Urdhva)
anilam : Atem, Lebenshauch ("Wind", Anila)
proccārayet : er lenke ("lasse ertönen", pra + ud + car)
pūritam : (nach der Atemverhaltung) den eingeatmenten ("gefüllten", Purita)
muñcan : ausatmend ("frei gebend", muc)
prāṇam : den nach oben fließenden Lebensatem (Prana)
upaiti : erlangt, erreicht (upa + i)
bodham : Erkenntnis, Einsicht, Wachheit (Bodha)
atulam : unvergleichliche (Atula)
śakti-prabhāvāt : durch die Macht, übernatürliche Kraft (Prabhava) der Energie (Shakti, d.h. der Kundalini)
ataḥ : in Folge dessen, dadurch (Atas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen abweichenden Lesarten als Vers 52 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 40) sowie in der Hatha Yoga Pradipika (1.50) überliefert.

Die Ausführung von Padmasana bzw. Kamalasana wurde bereits in Vers 11 beschrieben. Hier geht es um die Vereinigung von Prana und Apana durch das Setzen von Jalandhara Bandha und Mula Bandha, also um die Praxis von Pranayama. Brahmananda, der Kommentator der HYP, erläutert in diesem Zusammenhang, dass durch die Vereinigung (Aikya "Einheit") von Prana und Apana die Kundalini erwacht, und aufgrund dessen die Lebensenergie (Prana) durch den Kanal der Sushumna zum Brahmarandhra aufsteigt. Wenn sie da anlangt, erfolgt die Bewegungslosigkeit (Sthairya) des Geistes (Chitta), und infolge dessen wird durch den sich ergebenden Samyama das Selbst (Atman) unmittelbar erfahren (Sakshatkara).

Das (Tad), worüber man meditieren soll, ist laut Brahmananda entweder die Form (Rupa) der jeweiligen eigenen (Sva) Gottheit (Ishtadevata) oder (vā) das Brahman: tat sva-sveṣṭa-devatā-rūpaṃ brahma vā.

Alle anderen bekannten Versionen dieses Verses lesen im 4. Pada antelle ataḥ "daher" naraḥ "ein Mensch", was in der vorliegenden Übersetzung am Anfang des Satzes im Sinne des logischen Subjekts bzw. Agens der Handlung (Kartri) ergänzt wurde.

Shataka 1 Vers 52: Ernährungsrichtlinien für intensive Pranayamapraxis

Er reibe seine Glieder mit dem durch die Anstrengung (des Pranayama) entstandenen Schweiß ein. Während (der so praktizierende Yogi) Scharfes, Saures und Salziges meidet, soll er Nahrung zu sich nehmen, die mit Milch(produkten) zubereitet ist.


अङ्गानां मर्दनं कृत्वा श्रमसञ्जातवारिणा |
कट्वम्ललवणत्यागी क्षीरभोजनमाचरेत् || ५२ ||
aṅgānāṃ mardanaṃ kṛtvā śrama-sañjāta-vāriṇā |
kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī kṣīra-bhojanam ācaret || 1.52 ||
anganam mardanam kritva shrama-sanjata-varina |
katv-amla-lavana-tyagi kshira-bhojanam acharet || 1.52 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

aṅgānām : der Glieder (Anga)
mardanam : das Einreiben (Mardana)
kṛtvā : er führe aus ("gemacht habend", kṛ)
śrama-sañjāta-vāriṇā  : mit dem Schweiß ("Wasser", Vari), der durch die Anstrengung (Shrama) entstandenen ist (Jata)
kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī : (während er) Scharfes (Katu), Saures (Amla) und Salziges (Lavana) meidet ("aufgibt", Tyagin)
kṣīra-bhojanam : (mit) Milchprodukten ("Milch" zubereitete, Kshira) Nahrung (Bhojana)
ācaret : verzehre er (ā + car)

Anmerkungen: Dieser Vers entspricht wortwörtlich Vers 41 der Yogachudamani Upanishad sowie mit geringfügigen Lesarten im ersten Halbvers Vers 53 der Version 2 und Vers 50 der Version 1 des Goraksha Shataka.

In der Hatha Yoga Pradipika (2.13-14) wird das hier in aller Kürze Gesagte noch weiter ausgeführt:

jalena śrama-jātena gātra-mardanam ācaret |
dṛḍhatā laghutā caiva tena gātrasya jāyate || 2.13 ||

"(Der Yogi) soll seinen Körper (Gatra) mit dem durch die Anstrengung (Shrama) entstandenen Schweiß ("Wasser", Jala) einreiben. Dadurch entsteht Festigkeit (Dridhata) und ebenso Leichtigkeit (Laghuta) des Körpers." (HYP 2.13)

abhyāsa-kāle prathame śastaṃ kṣīrājya-bhojanam |
tato'bhyāse dṛḍhī-bhūte na tādṛṅ-niyama-grahaḥ || 2.14 ||

"In der ersten Zeit (Kala) des Praktizierens (Abhyasa) wird Milch (Kshira) und geklärte Butter (Ajya) als Nahrung (Bhojana) empfohlen. Später, wenn die Übungspraxis sich gefestigt hat, ist das Festhalten (Graha) an einer solchen Beschränkung (Niyama) nicht mehr erforderlich." (HYP 2.14)

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt das Kompositum kṣīrājya-bhojanam als "Nahrung, die mit Milch und geklärter Butter (Ghrita) zubereitet wurde". Die Verwendung von (Kuh-)Milchprodukten ist aus ayurvedischer Sicht vor allem mit der kühlenden (Shita) Wirkung (Virya) derselben zu erklären, um die oben erwähnte, bei intensiver Pranayamapraxis entstehende Erhitzung des Körpers abzumildern. So erklärt sich auch der Verzicht auf Scharfes, Saures und Salziges, da diese drei Geschmacksrichtungen (Rasa) allesamt erhitzend (Ushna) wirken. Süßes (Madhura), das wiederum kühlend wirkt, ist dagegen zuträglich (vgl. HYP 1.66).

Brahmananda erklärt kaṭu, was wörtlich "scharf" bedeutet, interessanterweise mit "bitter", indem er hierfür die Bittergurke (Karavellka, Momordica charantia) als Beispiel anführt (ad HYP 1.61). Die bittere Geschmacksrichtung gilt aus ayurvedischer Sicht jedoch als kühlend.

Eine ausführlichere Auflistung von Nahrungsmitteln und Zubereitungsarten, die ein Yogi zu meiden hat, findet sich in Hatha Yoga Pradipika (1.61-62), empfohlene Nahrungsmittel werden wiederum in Hatha Yoga Pradipika (1.65-66) aufgezählt.

Shataka 1 Vers 53: Yogische Lebensführung

Wer Enthaltsamkeit pflegt, maßvoll isst, sich im Loslassen übt, wessen höchstes Ziel der Yoga ist, der wird nach Ablauf eines Jahres ein Vollkommener - hierüber gibt es keinen Zweifel.


ब्रह्मचारी मिताहारी त्यागी योगपरायणः |
अब्दादूर्ध्वं भवेत्सिद्धो नात्र कार्या विचारणा || ५३ ||
brahma-cārī mitāhārī tyāgī yoga-parāyaṇaḥ |
abdād ūrdhvaṁ bhavet siddho nātra kāryā vicāraṇā || 1.53 ||
brahma-chari mitahari tyagi yoga parayanah |
abdad urdhvam bhavet siddho natra karya vicharana || 1.53 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

brahma-cārī : einer, der Enthaltsamkeit pflegt ("im Brahman wandelt", Brahmacharin)
mitāhārī : der maßvoll isst ("dessen Nahrung maßvoll ist", Mitaharin)
tyāgī : der Entsagung übt, sich im Loslassen übt, freigebig ist (Tyagin)
yoga-parāyaṇaḥ : dessen höchstes Ziel, Hauptzweck (Parayana) der Yoga ist
abdāt : einem Jahr (Abda)
ūrdhvam : nach (Urdhva)
bhavet : wird, ist (bhū)
siddhaḥ : ein Vollkommener (Siddha)
na : nicht (Na)
atra : hierüber (Atra)
kāryā  : ist angebracht ("ist zu tun", Karya)
vicāraṇā : ein Zweifeln ("Bedenken", Vicharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 54 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Hatha Yoga Pradipika (1.59) überliefert sowie mit der Lesart yogī (statt tyāgī) im zweiten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 42).

Brahmananda, der Kommentator der HYP, gibt die folgenden beiden Bedeutungen von Tyagin an: ein "Entsagender" (tyāgī) ist einer, der freigebig ist – "dessen Gewohnheit (Shila) das Geben (Dana) ist" – oder () einer, der (die Anhaftung an alle) Sinnesobjekte (Vishaya) aufgegeben hat (tyāgī dāna-śīlo viṣaya-parityāgī vā).

Shataka 1 Vers 54: Definition von Mitahara

Wer schön milde (ölige), süße Nahrung, mit ihrem natürlichen Geschmack (d.h. ungewürzt), zur (eigenen) Freude isst, wobei ein Viertel (des Magens) leer bleibt, der wird als einer bezeichnet, dessen Nahrung maßvoll ist.


सुस्निग्धं मधुराहारं चतुर्थांशविवर्जितम् |
भुञ्जते स्वरसं प्रीत्यै मिताहारी स उच्यते || ५४ ||
su-snigdhaṃ madhurāhāraṃ caturthāṃśa-vivarjitam |
bhuñjate sva-rasaṃ prītyai mitāhārī sa ucyate || 1.54 ||
su-snigdham madhuraharam chaturthamsha-vivarjitam |
bhunjate sva-rasam prityai mitahari sa uchyate || 1.54 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

su-snigdham : schön milde, weiche, feuchte (Susnigdha)
madhurāhāram : süße (Madhura) Nahrung (Ahara)
caturthāṃśa-vivarjitam : (in der Weise, dass) der vierte (Chaturtha) Teil (Amsha des Magens) frei, leer (bleibt, Vivarjita)
bhuñjate : (wer) isst (bhuj)
sva-rasam : mit ihrem natürlichen Geschmack (d.h. ungewürzt, Svarasa)
prītyai : zur Freude, zur Befriedigung (Sampriti)
mitāhārī : einer, dessen Nahrung maßvoll ist (Mitaharin)
saḥ : der, ein solcher (Tad)
ucyate : wird genannt (vac)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 55 der Version 2 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.) und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 43) sowie in der Hatha Yoga Pradipika (1.60) überliefert.

Das Verb bhuñjate wird hier im Sinne der 3. Pers. Sg. "isst" verstanden, und damit als ein Verb der 1. bzw. Bhu Klasse behandelt (desgl. in YCU 43). Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers versteht die Form bhuñjate jedoch im üblichen Sinne als 3. Pers. Pl. der 7. bzw. Rudh Klasse: evaṃ-vidhaṃ yam āhāraṃ yogino bhuñjate sa mitāhāra ucyate "Die sogeartete (Evamvidha) Nahrung, die die Yogis essen, wird maßvolle Nahrung (Mitahara) genannt" (diese Version liest mit HYP 1.60 mitāhāraḥ statt mitāhārī).

Statt sva-rasaṃ prītyai liest GŚ 2, 55 im dritten Pada sura-samprītyai (Kommentar der YTT: surāṇāṃ samprītyai "zur Freude (Sampriti) der Götter (Sura)"), was man in Anlehnung an die Lesung der GP auch als su-rasaṃ prītyai "wohlschmeckende (Nahrung, Surasa) zur (eigenen) Befriedigung (Priti)" lesen könnte. In der mit Sicherheit späteren Version der HYP (1.60) heißt es dann śiva-samprītyai "zur Freude Shivas" (gefolgt von YCU 43 śiva-samprītyā), womit laut Brahmananda, dem Kommentator der HYP, entweder das Selbst bzw. die Seele (Jiva) oder Gott (Ishvara) gemeint ist.

Im Ayurveda bedeutet Snigdha "ölig, fetthaltig". Eine solche Nahrung sorgt für die nötige innere "Schmierung", die der Austrocknung des Körpers durch eine intensive, erhitzende Pranayama-Praxis entgegenwirkt. Die süße Geschmacksrichtung (Rasa) hat wiederum einen kühlenden (Shita) Effekt.

Brahmananda zitiert im Zusammenhang dieses Verses den folgenden Shloka:

dvau bhāgau pūrayed annais toyenaikaṃ prapūrayet |
vāyoḥ sañcaraṇārthāya caturtham avaśeṣayet ||

"Zwei Teile (des Magens, Bhaga) fülle man mit (fester) Nahrung (Anna), einen (Teil) fülle man mit Wasser (Toya), und den vierten (Teil) lasse man für die Bewegungen (Sancharana) des Windes (Vayu) übrig."

Shataka 1 Vers 55: Sitz der Kundali

Oberhalb des Kanda liegt Kundali, die Schlangenkraft. Sie verleiht (den Yogis) wahre Befreiung, und führt zur Gefangenschaft der Verwirrten. Wer sie kennt, der ist ein Kenner des Veda.


कन्दोर्ध्वं कुण्डली शक्तिः शुभमोक्षप्रदायिनी |
बन्धनाय च मूढानां यस्तां वेत्ति स वेदवित् || ५५ ||
kandordhvaṃ kuṇḍalī śaktiḥ śubha-mokṣa-pradāyinī |
bandhanāya ca mūḍhānāṃ yas tāṁ vetti sa veda-vit || 1.55 ||
kandordhvam kundali shaktih shubha-moksha-pradayini |
bandhanaya cha mudhanam yas tam vetti sa veda-vit || 1.55 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kandordhvam : oberhalb (Urdhva) des Kanda
kuṇḍalī : die Kundali
śaktiḥ : die Kraft, Energie (Shakti)
śubha-mokṣa-pradāyinī : wahre (Shubha) Befreiung (Moksha) verleihend (Pradayin)
bandhanāya : (sie führt) zur Gefangenschaft ("Bindung" an die Wiedergeburt, Bandhana)
ca : und, aber (Cha)
mūḍhānām : der Verwirrten (Mudha)
yaḥ : wer (Yad)
tām : sie, diese (Tad)
vetti : kennt (vid)
saḥ : der (Tad)
veda-vit : (ist) ein Kenner des Veda (Vedavid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 56 der Version 2 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.) und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 44) sowie in der Hatha Yoga Pradipika 3.107 überliefert, wo es heißt:

kandordhve kuṇḍalī śaktiḥ suptā mokṣāya yoginām |
bandhanāya ca mūḍhānāṁ yas tāṁ vetti sa yoga-vit || 3.107 ||

"Oberhalb des Kanda schläft Kundali, die Schlangenkraft. (Sie führt) zur Befreiung der Yogis und zur Gefangenschaft der Verwirrten. Wer sie kennt, der ist ein Kenner des Yoga." (HYP 3.107)

Auf den Sitz der Kundali(ni) wurde bereits in Vers 46 eingegangen.

Shataka 1 Vers 56: Mudras und Bandhas

Derjenige Yogi, der Mahamudra, Nabhomudra, Uddiyana Bandha, Jalandhara Bandha und Mula Bandha kennt, hat ein (geeignetes) Gefäß für die Erlösung.


महामुद्रां नभोमुद्रामुड्डीयानं जलन्धरम् |
मूलबन्धं च यो वेत्ति स योगी मुक्तिभाजनः || ५६ ||
mahā-mudrāṃ nabho-mudrām uḍḍīyānaṃ jalandharam |
mūla-bandhaṃ ca yo vetti sa yogī mukti-bhājanaḥ || 1.56 ||
maha-mudram nabho-mudram uddiyanam jalandharam |
mula-bandham cha yo vetti sa yogi mukti-bhajanah || 1.56 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

mahā-mudrām : Mahamudra (Maha Mudra)
nabho-mudrām : Nabhomudra (Nabho Mudra)
uḍḍīyānam : Uddiyana (Uddiyana Bandha)
jalandharam : Jalandhara (Jalandhara Bandha)
mūla-bandham : Mulabandha (Mula Bandha)
ca : und (Cha)
yaḥ : wer (Yad)
vetti : kennt (vid)
saḥ : dieser (Tad)
yogī : Yogi (Yogin)
mukti-bhājanaḥ : hat ein (geeignetes) Gefäß (Bhajana) für die Erlösung, Befreiung (Mukti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit der minimalen Lesart mukti-bhājanam als Vers 57 der Version 2 des Goraksha Shataka und der Lesart siddhi-bhājanam "ist ein Gefäß für die übernatürlichen Fähigkeiten" (statt mukti-bhājanaḥ) im vierten Pada als Vers 32 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. auch die dortige Anmerkung) sowie mit der Lesart oḍyāṇaṃ ca (statt uḍḍīyānaṃ) im zweiten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 45) überliefert.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers gibt für Nabho Mudra das Synonym Khechari Mudra, welche unter diesem Namen ab Vers 1.62 gelehrt wird.

Das Maskulinum mukti-bhājanaḥ der GP bietet eine interessante Variante zu den Neutra mukti-bhājanam bzw. siddhi-bhājanam der übrigen Versionen dieses Verses, insofern es ein Kompositum vom Typ Bahuvrihi darstellt, das die Grundbedeutung "haben" ausdrückt: "(Derjenige Yogi ...) hat ein (geeignetes) Gefäß für die Erlösung". Im Falle eines Tatpurusha-Kompositums wird wiederum ein "sein" ausgedrückt: "(Derjenige Yogi ...) ist ein (geeignetes) Gefäß für die Erlösung" - was der gängigen Verwendung des Wortes bhājana als Hinterglied eines Kompositums entspricht. Mit dem "(geeigneten) Gefäß", das der Yogi hat, ist der Körper gemeint, der in in der Gheranda Samhita (1.6-8) als ghaṭa (Ghata "Topf") bezeichnet wird.

Diese in GP 1.56, GŚ 1.32, GŚ 2.57 und YCU 45 gegebene Aufzählung der Mudras und Bandhas erscheint in der gleichen Reihenfolge in der Gheranda Samhita (3.1, Uddiyana ist ein Synonym für Odyana), wo sie noch um Maha Bandha, Mahavedha und Khechari erweitert wird:

mahā-mudrā nabho-mudrā uḍḍīyānaṃ jalandharam |
mūla-bandhaṃ mahā-bandhaṃ mahā-vedhaś ca khe-carī || 3.1 ||

In den Versen 3.2-3 der Gheranda Samhita werden weitere Mudras aufgeführt, so dass ihre Zahl dort insgesamt 25 erreicht: pañca-viṃśati-mudrāś ca siddhidā iha yoginām "... sind die 25 Mudras, die hier (gelehrt werden und) den Yogis übernatürliche Fähigkeiten (Siddhi) verleihen".

In der Hatha Yoga Pradipika 3.6-7 werden die folgenden zehn Mudras (Mudra-Dashaka) aufgezählt: Mahamudra, Mahabandha, Mahavedha, Khechari Mudra, Uddiyana Bandha, Mula Bandha, Jalandhara Bandha, Viparita Karani, Vajroli und Shaktichalana. Dieselben werden, in etwas veränderter Reihenfolge, in der Shiva Samhita (4.23-24) genannt. Diese verleihen die acht Siddhis, die auch als Aishvaryas bekannt sind (Hatha Yoga Pradipika 3.8). Brahmananda, der Kommentator der HYP, zählt diese auf und erklärt ihre Wirkungen. Es sind Animan, Mahiman, Gariman, Laghiman, Prapti, Prakamya, Ishita und Vashitva.

Shataka 1 Vers 57: Maha Mudra

Man presse mit der linken Ferse kontinuierlich den Beckenboden und halte den ausgestreckten rechten Fuß mit beiden Händen. Man drücke das Kinn an die Brust, nachdem man eingeatmet hat, (halte den Atem an und) setze Jalandhara Bandha und Mula Bandha, und atme (ohne Bandhas) langsam aus. Dies wird das Große Siegel (Maha Mudra) genannt, das die Krankheiten der Menschen vernichtet.


वक्षोन्यस्तहनुः प्रपीड्य सुचिरं योनिं च वामाङ्घ्रिणा
हस्ताभ्यामनुधारयेत्प्रसरितं पादं तथा दक्षिणम् |
आपूर्य श्वसनेन कुक्षियुगलं बद्ध्वा शनै रेचये-
देषा व्याधिविनाशिनी सुमहती मुद्रा नृणां कथ्यते || ५७ ||
vakṣo-nyasta-hanuḥ prapīḍya su-ciraṃ yoniṃ ca vāmāṅghriṇā
hastābhyām anudhārayet prasaritaṃ pādaṃ tathā dakṣiṇam |
āpūrya śvasanena kukṣi-yugalaṃ baddhvā śanai recayed
eṣā vyādhi-vināśinī su-mahatī mudrā nṛṇāṃ kathyate || 1.57 ||
vaksho-nyasta-hanuh prapidya su-chiram yonim cha vamanghrina
hastabhyam anudharayet prasaritam padam tatha dakshinam |
apurya shvasanena kukshi-yugalam baddhva shanai rechayed
esha vyadhi-vinashini su-mahati mudra nrinam kathyate || 1.57 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vakṣo-nyasta-hanuḥ : das Kinn (Hanu) auf die Brust (Vakshas) gedrückt (Nyasta)
prapīḍya : indem man presst ("gepresst habend", pra + pīḍ)
su-ciram : lange, kontinuierlich ("sehr lange", Suchira)
yonim : den Beckenboden, das Perineum (Yoni)
ca : und (Cha)
vāmāṅghriṇā : mit der linken (Vama) Ferse ("Fuß", Anghri)
hastābhyām : mit beiden Händen (Hasta)
anudhārayet : man halte, ergreife (anu + dhā, viell. irrtümlich für *avadhārayet, vgl. GŚ 1, 33 avadhāritaṃ)
prasaritam : den ausgestreckten (Prasarita)
pādam : Fuß (Pada)
tathā : und ("ebenso", Tatha)
dakṣiṇam : rechten (Dakshina)
āpūrya : nachdem man (die Lungen) gefüllt hat ("gefüllt habend", ā + pṛ/pṝ)
śvasanena : mit dem Atem (Shvasana)
kukṣi-yugalam : die beiden (Yugala) Körperöffnungen ("Höhlungen", Kukshi)
baddhvā : (und) nachdem man verschlossen hat ("gebunden habend", badh)
śanaiḥ : langsam (Shanais)
recayet : man atme aus (ric)
eṣā : das (Etad)
vyādhi-vināśinī : die Krankheiten, Leiden (Vyadhi) vernichtende (Vinashin)
su-mahatī : das überaus machtvolle (Sumahat)
mudrā : Siegel (Mudra)
nṛṇām : der Menschen (Nri)
kathyate : wird genannt (kath)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 59 in der Version 2 und mit einigen Lesarten als Vers 33 in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 66) überliefert den Vers bis auf die Varianten seyaṃ statt eṣā und procyate statt kathyate im 4. Pada Wort für Wort.

Mahamudra, das "große Siegel", wird hier su-mahatī mudrā "das überaus machtvolle Siegel" genannt. Eine weitere Bedeutung von Mudra ist "Verschluss, Schloss", was auf die Verbindung mit den Bandhas wie Jalandhara Bandha ("Kehl-Verschluss") usw. hinweist.

Der Wortlaut āpūrya śvasanena kukṣi-yugalaṃ baddhvā śanai recayet im dritten Pada kann in zweierlei Weise verstanden werden: Entweder konstruiert man das Absolutivum āpūrya "gefüllt habend, füllend" mit kukṣi-yugalam "die zwei Höhlungen" (was im Sinne eines Duals einfach "Bauch" bedeutet), dann hieße es: "Nachdem man den Bauch mit Atem gefüllt hat, halte man (die Luft) an, und atme langsam aus." Man kann kukṣi-yugalam aber auch mit dem Absolutivum baddhvā "zubindend, verschließend" konstruieren, was hieße, dass die "zwei Höhlungen bzw. Körperöffnungen" (d.h. Kehle und Anus) verschlossen werden sollen, also dass zwei Bandhas gesetzt werden sollen: "Nachdem man eingeatmet hat, setze man die beiden Bandhas (wobei die Luft angehalten wird), und atme langsam aus".

Der erste Bandha ist Jalandhara Bandha, wobei das Kinn an die Brust gedrückt (vakṣo-nyasta-hanuḥ) und somit die Kehle bzw. Luftröhre verschlossen wird. Das Setzen von Jalandhara Bandha im Zusammenhang mit Mahamudra wird einhellig in der Shiva Samhita (4.17), der Hatha Yoga Pradipika (3.11), sowie der Gheranda Samhita (3.7) gelehrt. Nur in der HYP (3.11) wird indirekt auf einen zweiten Bandha, nämlich Mula Bandha (das Kontrahieren des Beckenbodens und Verschließen des Anus) verwiesen, wie Brahmananda, der Kommentator der HYP, nahelegt: der Ausdruck dhārayed vāyum ūrdhvataḥ "man ziehe den Lebenshauch (Vayu) nach oben" bedeute, diesen durch das Setzen von Mula Bandha in die Sushumna zu ziehen: vāyuṃ … suṣumnāyāṃ dhārayet; anena mūla-bandhaḥ sūcitaḥ.

Die Hatha Yoga Pradipika (3.15) fügt hinzu, dass danach Mahamudra seitenvertauscht (d.h. mit dem ausgestreckten linken Bein) für dieselbe Dauer erneut praktiziert werden soll. In der Gheranda Samhita (3.7) wir zusätzlich die Konzentration des Blickes auf die Mitte (Madhya) der Brauen (Bhru), also das "dritte Auge", empfohlen: bhruvor madhye nirīkṣayet.

In Vers 60 werden einige Krankheiten (Vyadhi) aufgezählt, die durch die Praxis von Mahamudra vertrieben werden.

Shataka 1 Vers 58: Maha Mudra

Nachdem man (Maha Mudra) auf der linken Seite praktiziert hat, übe man noch einmal auf der rechten Seite. Sobald die Anzahl (der auf beiden Seiten praktizierten Atemverhaltungen) gleich ist, löse man das Siegel auf.


चन्द्राङ्गेन समभ्यस्य सूर्याङ्गेनाभ्यसेत्पुनः |
यावत्तुल्या भवेत्सङ्ख्या ततो मुद्रां विसर्जयेत् || ५८ ||
candrāṅgena samabhyasya sūryāṅgenābhyaset punaḥ |
yāvat tulyā bhavet saṅkhyā tato mudrāṃ visarjayet || 1.58 ||
chandrangena samabhyasya suryangenabhyaset punah |
yavat tulya bhavet sankhya tato mudram visarjayet || 1.58 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

candrāṅgena : auf der Seite (Anga) des Mondes (Chandra, d.h. links, wo Ida verläuft)
samabhyasya : nachdem man praktiziert hat (sam + abhi + as)
sūryāṅgena : auf der Seite (Anga) der Sonne (Surya), d.h. rechts, wo Pingala verläuft)
abhyaset : soll man üben (abhi + as)
punaḥ : wieder, noch einmal (Punar)
yāvat : sobald (Yavat)
tulyā : gleich (Tulya)
bhavet : ist ("sei", bhū)
saṅkhyā : die Anzahl (der auf beiden Seiten praktizierten Atemverhaltungen (Sankhya)
tataḥ : dann (Tatas)
mudrām : das Siegel (Mudra, d.h. Mahamudra)
visarjayet : löse man (vi + sṛj)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 60 in der Version 2 des Goraksha Shataka und mit einigen Lesarten in der Hatha Yoga Pradipika (3.15) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 67) überliefert.

Shataka 1 Vers 59: Maha Mudra

(Für einen, der Maha Mudra praktiziert, gibt es hinsichtlich seiner Nahrung) nichts Heilsames oder Unheilsames. Alle Geschmacksrichtungen sind ohne Geschmack (und damit wirkungslos). Sogar schreckliches Gift, das gegessen wurde, wird verdaut, als ob es Nektar wäre.


नहि पथ्यमपथ्यं वा रसाः सर्वेऽपि नीरसाः |
अपि भुक्तं विषं घोरं पीयूषमिव जीर्यते || ५९ ||
na-hi pathyam apathyaṃ vā rasāḥ sarve’pi nīrasāḥ |
api bhuktaṃ viṣaṃ ghoraṃ pīyūṣam iva jīryate || 1.59 ||
na-hi pathyam apathyam va rasah sarve’pi nirasah |
api bhuktam visham ghoram piyusham iva jiryate || 1.59 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

na-hi : nicht (Nahi)
pathyam : (etwas, das) heilsam, gesund (ist, Pathya)
apathyam : unheilsam, ungesund (Apathya)
 : oder (Va)
rasāḥ : Geschmack(srichtungen, Rasa)
sarve : alle (Sarva)
api : auch, sogar (Api)
nīrasāḥ : ohne Geschmack, wirkungslos ([Nirasa]])
api : auch, sogar
bhuktam : das gegessen wurde (Bhukta)
viṣam : Gift (Visha)
ghoram : schreckliches (Ghora)
pīyūṣam : Nektar (Piyusha)
iva : wie (Iva)
jīryate : wird verdaut (jṝ)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der minimalen Lesart jīryati (so lesen alle übrigen Texte) in der Hatha Yoga Pradipika (3.16) sowie mit der Lesart ati-bhuktaṃ "was zuviel gegessen wurde" (statt api bhuktaṃ) in der Yogachudamani Upanishad (Vers 68) überliefert. Die Lesung Lesart muktaṃ "freigesetzt" (statt bhuktaṃ) in Vers 61 der Version 2 des Goraksha Shataka ist möglicherweise ein Versehen des Herausgebers.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt nīrasāḥ "ohne Geschmack" dahingehend, dass die sechs im Ayurveda bekannten Geschmacksrichtungen (Rasa) dann wirkungslos bzw. unfähig sind, ihre positiven oder negativen Wirkungen auf den Organismus des Yogis zu entfalten.

Shataka 1 Vers 60: Maha Mudra

Krankheiten wie Tuberkulose, Lepra, Verstopfung, Unterleibsgeschwulste und Verdauungsprobleme nehmen für den ein Ende, der Maha Mudra praktiziert.


क्षयकुष्ठगुदावर्तगुल्माजीर्णपुरोगमाः |
रोगास्तस्य क्षयं यान्ति महामुद्रां च योऽभ्यसेत् || ६० ||
kṣaya-kuṣṭha-gudāvarta-gulmājīrṇa-purogamāḥ |
rogās tasya kṣayaṃ yānti mahā-mudrāṃ ca yo'bhyaset || 1.60 ||
kshaya-kushtha-gudavarta-gulmajirna-purogamah |
rogas tasya kshayam yanti maha-mudram cha yo'bhyaset || 1.60 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kṣaya-kuṣṭha-gudāvarta-gulmājīrṇa-purogamāḥ : angefangen mit ("angeführt von", Purogama) Schwindsucht, Tuberkulose (Kshaya), Aussatz, Lepra (Kushtha), Verstopfung ("Darm-Verdrehung", Gudavarta), krankhafte Anschwellung im Unterleib, Unterleibsgeschwulst (Gulma), Verdauungsprobleme (Ajirna)
rogāḥ : Krankheiten Roga)
tasya : für diesen (Yogi, Tad)
kṣayam : ein Ende (Kshaya)
yānti : nehmen ("gehen zu", )
mahā-mudrām : das große Siegel (Mahamudra)
ca : und, aber (Cha)
yaḥ : wer (Yad)
abhyaset : praktiziert, übt (abhi + as)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit kleineren Lesarten im zweiten Halbvers in der Yogachudamani Upanishad (Vers 69) und mit der Lesart tasya doṣāḥ "dessen Krankheiten, Störungen" statt rogās tasya im dritten Pada als Vers 62 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.17) überliefert.

Shataka 1 Vers 61: Maha Mudra

Somit wurde das große Siegel (Maha Mudra) gelehrt, das den Menschen (die es praktizieren) große Zauberkräfte verschafft. Es ist äußerst geheim zu halten und darf nicht an irgend jemanden (der dafür ungeeignet ist) weitergegeben werden.


कथितेयं महामुद्रा महासिद्धिकरी नृणाम् |
गोपनीया प्रयत्नेन न देया यस्य कस्यचित् || ६१ ||
kathiteyaṃ mahā-mudrā mahā-siddhi-karī nṛṇām |
gopanīyā prayatnena na deyā yasya kasya-cit || 1.61 ||
kathiteyam maha-mudra maha-siddhi-kari nrinam |
gopaniya prayatnena na deya yasya kasya-chit || 1.61 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kathitā : gelehrt ist (somit, Kathita)
iyam : dieses (Iyam)
mahā-mudrā : große Siegel (Mahamudra)
mahā-siddhi-karī : das große Zauberkräfte (Mahasiddhi) verschafft ("bewirkt", Kara)
nṛṇām : den Menschen (die es praktizieren, Nri)
gopanīyā : es ("sie") ist geheim zu halten (Gopaniya)
prayatnena : äußerst sorgsam (Prayatna)
na : nicht (Na)
deyā : ist es ("sie") weiterzugeben (Deya)
yasya kasya-cit : an irgend jemand (beliebigen, der dafür ungeeignet ist, Yad Ka Chid)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.17) und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 70) sowie mit der Lesart sarva-siddhi-karī "die alle übernatürlichen Fähigkeiten verschafft" (statt mahā-siddhi-karī) im zweiten Pada als Vers 63 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert.

Shataka 1 Vers 62: Khechari Mudra

Die zurückgebogene Zunge wird in den Nasenrachenraum eingeführt, und der Blick wird zwischen die Brauen gerichtet. Dies ist Khechari Mudra.


कपालकुहरे जिह्वा प्रविष्टा विपरीतगा |
भ्रुवोरन्तर्गता दृष्टिर्मुद्रा भवति खेचरी || ६२ ||
kapāla-kuhare jihvā praviṣṭā viparītagā |
bhruvor antar-gatā dṛṣṭir mudrā bhavati khe-carī || 1.62 ||
kapala-kuhare jihva pravishta viparitaga |
bhruvor antar-gata drishtir mudra bhavati khe-chari || 1.62 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kapāla-kuhare : in die Höhlung (Kuhara) des Schädels (Kapala)
jihvā : Zunge (Jihva)
praviṣṭā : (wird) eingeführt (Pravishta)
viparītagā : die zurückgebogene (Viparitaga)
bhruvoḥ : beide Brauen (gerichtet, Bhru)
antar-gatā : zwischen ("im Innern befindlich", Antargata)
dṛṣṭiḥ : der Blick (Drishti)
mudrā : (dieses) Siegel (Mudra)
bhavati : ist (bhū)
khe-carī : Khechari ("die im Himmel wandelnde")

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 34 der Version 1 und als Vers 64 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert, ebenso in der Hatha Yoga Pradipika (3.32) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 52), gleichfalls wird er in der Gheranda Samhita (3.27) in nahezu identischer Form überliefert (diese liest im dritten Pada bhruvor madhye gatā dṛṣṭir).

Shataka 1 Vers 63: Khechari Mudra

Für denjenigen, der Khechari Mudra kennt, existieren weder Krankheit noch Tod oder Schlaf, weder Hunger noch Durst oder Ohnmacht.


न रोगो मरणं तस्य न निद्रा न क्षुधा तृषा |
न मूर्च्छा तु भवेत्तस्य यो मुद्रां वेत्ति खेचरीम् || ६३ ||
na rogo maraṇaṃ tasya na nidrā na kṣudhā tṛṣā |
na mūrcchā tu bhavet tasya yo mudrāṃ vetti khe-carīm || 1.63 ||
na rogo maranam tasya na nidra na kshudha trisha |
na murchchha tu bhavet tasya yo mudram vetti khe-charim || 1.63 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

na : nicht (Na)
rogaḥ : Krankheit (Roga)
maraṇam : Tod (Marana)
tasya : für denjenigen (Tad)
na : nicht
nidrā : Schlaf (Nidra)
na : nicht
kṣudhā : Hunger (Kshudha)
tṛṣā : Durst (Trisha)
na : nicht
mūrcchā : Ohnmacht, Bewusstlosigkeit, geistige Betäubung (Murchha)
tu : aber (Tu)
bhavet : existiert (bhū)
tasya : für denjenigen
yaḥ : welcher, der (Yad)
mudrām : das Siegel (Mudra)
vetti : kennt (vid)
khe-carīm : (namens) Khechari

Anmerkungen: Dieser Vers wird fast wortwörtlich als Vers 65 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 53) überliefert, sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.39) mit der Lesart tandrā "Mattigkeit" (statt tasya) im ersten Pada. In der Gheranda Samhita (3.28) werden die Wirkungen von Khechari Mudra in ganz ähnlichen Worten beschrieben:

na ca mūrcchā kṣudhā tṛṣṇā naivālasyaṃ prajāyate |
na ca rogo jarā mṛtyur deva-dehaṃ prapadyate || 3.28 ||

"(Aufgrund der Praxis von Khechari Mudra) entstehen weder Ohnmacht (Murchha) noch Hunger (Kshudha), Durst (Trishna) oder Trägheit (Alasya), weder Krankheit (Roga) noch Alter (Jara) oder Tod (Mrityu). Man erlangt den Körper (Deha) eines Gottes (Deva)." (GhS 3.28)

Shataka 1 Vers 64: Khechari Mudra

Derjenige, der Khechari Mudra kennt, wird weder von Schmerz gequält, noch von Handlung befleckt, noch vom Tod bedrängt.


पीड्यते न च शोकेन लिप्यते न च कर्मणा |
बाध्यते न स केनापि यो मुद्रां वेत्ति खेचरीम् || ६४ ||
pīḍyate na ca śokena lipyate na ca karmaṇā |
bādhyate na sa kenāpi yo mudrāṃ vetti khe-carīm || 1.64 ||
pidyate na cha shokena lipyate na cha karmana |
badhyate na sa kenapi yo mudram vetti khe-charim || 1.64 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

pīḍyate : wird gequält, gepeinigt (pīḍ)
na : nicht (Na)
ca : und (Cha)
śokena : von Schmerz, Kummer, Sorgen (Shoka)
lipyate : wird befleckt (lip)
na : nicht
ca : und
karmaṇā : von Handlung (dem Gesetz der Tatvergeltung, Karman)
bādhyate : wird bedrängt, belästigt (bādh)
na : nicht
saḥ : der, dieser (Yogi, Tad)
kenāpi (kena + api) : von irgend (Api) jemandem (Ka), von irgend etwas (Kim)
yaḥ : welcher, der (Yad)
mudrām : das Siegel (Mudra)
vetti : kennt (vid)
khe-carīm : (namens) Khechari

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 66 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 54) überliefert, ebenso in der Hatha Yoga Pradipika (3.40), in den beiden letztgenannten Versionen mit der Lesart rogeṇa "von Krankheit" (statt śokena) im ersten Pada und der Lesart kālena "vom Tod" (statt kenāpi) im dritten Pada.

Die Form kenāpi setzt sich aus kena + api zusammen. Das Fragepronomen kena kann sowohl vom Maskulinum Ka "wer, welcher" als auch vom Neutrum Kim "was, welches" abgeleitet sein, so dass beides gemeint sein kann: "von irgend jemandem" und "von irgend etwas".

Shataka 1 Vers 65: Khechari Mudra

Der Geist bewegt sich nicht, weil sich die Zunge im leeren Raum (des Schädels) aufhält. Deshalb wird diese (Mudra), berühmt als Khechari, von allen Vollkommenen hoch geschätzt.


चित्तं चलति नो यस्माज्जिह्वा चरति खेचरी |
तेनेयं खेचरी सिद्धा सर्वसिद्धैर्नमस्कृता || ६५ ||
cittaṃ calati no yasmāj jihvā carati khe-carī |
teneyaṃ khe-carī siddhā sarva-siddhair namas-kṛtā || 1.65 ||
chittam chalati no yasmaj jihva charati khe-chari |
teneyam khe-chari siddha sarva-siddhair namas-krita || 1.65 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

cittam : der Geist (Chitta)
calati : bewegt sich (cal)
no : nicht (No)
yasmāt : weil (Yasmat)
jihvā : die Zunge (Jihva)
carati : sich aufhält ("bewegt", car)
khe-carī : im leeren Raum (des Schädels) wandelnd (Khechari)
tena : deshalb, daher (Tad)
iyam : sie, diese (Iyam)
khe-carī : (als) Khechari
siddhā : ist berühmt (Siddha)
sarva-siddhaiḥ : von allen (Sarva) Vollkommenen (Siddha)
namas-kṛtā : wird hoch geschätzt, verehrt (Namaskrita)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einigen Varianten als Vers 67 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 55) überliefert, ebenso in der Hatha Yoga Pradipika (3.41), die im zweiten Halbvers etwas stärker abweicht.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers umschreibt die Bedeutung des Verbs carati so: "(die Zunge) trinkt den Mondnektar (Chandramrita), oder: bewegt sich" candrāmṛtaṃ pibati gacchati, d.h. man könnte jihvā carati khe-carī auch mit "(weil) die Zunge sich, im leeren Raum wandelnd, (am Mondnektar) weidet" übersetzen.

Shataka 1 Vers 66: Bindu

Der männliche Same ist die Ursache der Körper. In diesen (Körpern) befinden sich die (feinstofflichen) Kanäle, die die (ganzen) Körper nähren, vom Scheitel bis zur Sohle.


बिन्दु मूलं शरीराणां शिरास्तत्र प्रतिष्ठिताः |
भावयन्ति शरीराणामापादतलमस्तकम् || ६६ ||
bindu mūlaṃ śarīrāṇāṃ śirās tatra pratiṣṭhitāḥ |
bhāvayanti śarīrāṇām ā-pāda-tala-mastakam || 1.66 ||
bindu mulam shariranam shiras tatra pratishthitah |
bhavayanti shariranam a-pada-tala-mastakam || 1.66 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

bindu : der männliche Same ("Tropfen", Bindu ist hier Nom. Sg. Neutrum)
mūlam : (ist) die Ursache ("Wurzel", Mula)
śarīrāṇām : der Körper (Sharira)
śirāḥ : die (feinstofflichen) Kanäle, Adern, Nerven, Gefäße (Shira)
tatra : in diesen (Körpern), Tatra)
pratiṣṭhitāḥ : befinden sich (Pratishthita)
bhāvayanti : sie nähren ("beleben, sind förderlich", bhū)
śarīrāṇām : die Körper ("den Körpern", Genitiv im Sinne eines Dativs)
ā-pāda-tala-mastakam : von (ā) den Fußsohlen (Padatala) bis zum Kopf (Mastaka)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 68 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 56) überliefert. Der Plural śarīrāṇām "der Körper" könnte sich allgemein auf den Körper jedes Yogis beziehen, oder die drei Körper meinen, d.h. den grobstofflichen physischen Körper (Sthula Sharira), den feinstofflichen Astralkörper (Linga Sharira bzw. Sukshma Sharira) und den Kausalkörper (Karana Sharira).

Die Lesung bindu mūlaṃ śarīrāṇāṃ "der männliche Same (Bindu, Nom. Sg. n. !) ist die Ursache (Mula, Nom. Sg. n.) der Körper (Sharira, Gen. Pl. n.)" ist möglicherweise die ursprünglichste aller vorliegenden Varianten der verschiedenen Überlieferungen. Hier ist bindu allerdings als ein Neutrum zu verstehen, weshalb es im Nominativ Singular endungslos bzw. mit dem Nominalstamm (Pratipadika) bindu- identisch ist.

Aufgrund des scheinbar "fehlenden" Visarga eines angenommenen Maskulinums wird bindu- in den anderen Varianten als Vorderglied eines Kompositums verstanden. So lesen GŚ 2.68 und YTṬ 1.68 bindu-mūlaṃ śarīraṃ tu wörtl.: "der Körper (Sharira) hat den männlichen Samen (Bindu) wiederum (Tu) zur Ursache (Mula)". Hier ist bindu-mūlaṃ als ein adjektivisches Kompositum (Bahuvrihi) zu verstehen, das sich auf den Nominativ śarīraṃ bezieht.

Die Partikel tu kann wiederum als bloßer Lückenfüller zur Vervollständigung des Metrums gesehen werden, da für den viersilbigen Genitiv Plural śarīrāṇāṃ das dreisilbige śarīraṃ (Nom. Sg. n.) erscheint, worauf sich bindu-mūlaṃ (Nom. Sg. n.) nun syntaktisch korrekt bezieht.

In der Hatha Yoga Pradipika 3.90 wird im Kontext der Vajroli genannten Praxis (HYP 3.83-91) in Bezug auf den männlichen Samen eine ähnliche Aussage gemacht:

cittāyattaṃ nṛṇāṃ śukraṃ śukrāyattaṃ ca jīvitam |
tasmāc chukraṃ manaś caiva rakṣaṇīyaṃ prayatnataḥ || 3.90 ||

"Der Samen (Shukra) der Männer (Nri) ist vom Geist (Chitta) abhängig (Ayatta), und das Leben (Jivita) ist von Samen abhängig. Daher sollte sowohl der Samen als auch der Geist sorgfältig behütet (Rakshaniya) werden." (HYP 3.90)

Shataka 1 Vers 67: Bindu

Wer mit Khechari Mudra die Öffnung hinter dem weichen Gaumen verschlossen hat, dessen Samen fließt nicht, selbst wenn er von einer Geliebten umarmt wird.


खेचर्या मुद्रितं येन विवरं लम्बिकोर्ध्वतः |
न तस्य क्षरते बिन्दुः कामिन्यालिङ्गितस्य च || ६७ ||
khe-caryā mudritaṃ yena vivaraṃ lambikordhvataḥ |
na tasya kṣarate binduḥ kāminyāliṅgitasya ca || 1.67 ||
khecharya mudritam yena vivaram lambikordhvatah |
na tasya ksharate binduh kaminyalingitasya cha || 1.67 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

khe-caryā : durch Khechari (Mudra)
mudritam : verschlossen ("versiegelt") wurde (Mudrita)
yena : durch welchen (Yogi, Yad)
vivaram : das Loch, die Öffnung (Vivara)
lambikordhvataḥ : hinter ("oberhalb", Urdhva) dem (weichen) Gaumen (Lambika)
na : nicht (Na)
tasya : dessen (Tad)
kṣarate : fließt (kṣar)
binduḥ : Samen ("Tropfen", Bindu)
kāminyā : von einer Geliebten, (jungen) Liebhaberin (Kamini)
āliṅgitasya : (wenn er) umarmt wird (Alingita)
ca : sogar (Cha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 69 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit der Lesart kṣīyate "erschöpft sich" (statt kṣarate) im 3. Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 57) überliefert, sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.42) mit der Lesart āśleṣitasya (statt āliṅgitasya) im 4. Pada.

Man könnte vivaraṃ lambikordhvataḥ auch mit "die Öffnung hinter dem Gaumenzäpfchen (Lambika)" übersetzen. Brahmananda, der Kommentator der HYP, versteht lambikā hier als Gaumen (Talu): lambikā tālu.

Shataka 1 Vers 68: Bindu

Solange der Samen im Körper verbleibt, wieso sollte es dann eine Furcht vor dem Tode geben? Solange wie Nabho Mudra (Khechari Mudra) praktiziert wird, solange fließt der Samen nicht.


यावद्बिन्दुः स्थितो देहे तावन्मृत्योर्भयं कुतः |
यावद्बद्धा नभोमुद्रा तावद्बिन्दुर्न गच्छति || ६८ ||
yāvad binduḥ sthito dehe tāvan mṛtyor bhayaṃ kutaḥ |
yāvad baddhā nabho-mudrā tāvad bindur na gacchati || 1.68 ||
yavad binduh sthito dehe tavan mrityor bhayam kutah |
yavad baddha nabho-mudra tavad bindur na gachchhati || 1.68 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yāvat : wenn ("solange wie", Yavat)
binduḥ : der Samen ("Tropfen", Bindu)
sthitaḥ : verbleibt ("beständig ist", Sthira)
dehe : im Körper (Deha)
tāvat : dann ("genau solange", Tavat)
mṛtyoḥ : vor dem Tod (Mrityu)
bhayam : (käme) Angst, Furcht (Bhaya)
kutaḥ : woher (Kutas)
yāvat : solange wie (Yavat)
baddhā : gehalten wird ("gebunden", Baddha)
nabho-mudrā : Nabho Mudra (d.h. Khechari Mudra)
tāvat : genau solange (Tavat)
binduḥ : der Samen
na : nicht (Na)
gacchati : fließt ("geht", gam)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 70 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 58) überliefert. Der erste Halbvers erscheint im Kontext der Vajroli genannten Praxis nahezu wortwörtlich als zweiter Halbvers von Hatha Yoga Pradipika 3.89:

su-gandho yogino dehe jāyate bindu-dhāraṇāt |
yāvad binduḥ sthiro dehe tāvat kāla-bhayaṃ kutaḥ || 3.89 ||

"Aufgrund des Zurückhaltens (Dharana) des Samens (Bindu) entsteht ein Wohlgeruch (Sugandha) im Körper (Deha) des Yogis. Solange der Samen im Körper verbleibt, wieso sollte es dann eine Furcht (Bhaya) vor dem Tode (Kala) geben?." (HYP 3.89)

Die Bezeichnung Nabho Mudra wird hier als Synonym für Khechari Mudra gebraucht, vgl. die Verse 32 und 34 (nebst Anm.) der Version 1 des Goraksha Shataka.

Der vorliegende Vers erscheint mit einigen Varianten auch im Anandakanda (1.20.95), einem medizinisch-alchemistischen Werk aus dem 13. Jahrhundert, wo er im Kontext von Khechari Mudra steht:

yāvac chukraṃ sthiraṃ dehe tāvat kāla-bhayaṃ na hi |
yena baddhā nabho-mudrā bījas tasya na gacchati || 20.95 ||

"Solange der Samen (Shukra) im Körper (Deha) verbleibt, gibt es gewiss keine Furcht (Bhaya) vor dem Tode (Kala). Wer Nabho Mudra (Khechari Mudra) praktiziert, dessen Samen (Bija) fließt nicht." (ĀK 1.20.95)

Shataka 1 Vers 69: Bindu

Sogar wenn der Samen vergossen wurde, und das Feuer (den "Ort der Yoni") erreicht hat, geht er wieder nach oben, indem er nach Kräften zurückgezogen wird, kontrolliert durch Yoni Mudra.


चलितोऽपि यदा बिन्दुः सम्प्राप्तश्च हुताशनम् |
व्रजत्यूर्ध्वं हृतः शक्त्या निरुद्धो योनिमुद्रया || ६९ ||
calito'pi yadā binduḥ samprāptaś ca hutāśanam |
vrajaty ūrdhvaṃ hṛtaḥ śaktyā niruddho yoni-mudrayā || 1.69 ||
chalito'pi yada binduh sampraptash cha hutashanam |
vrajaty urdhvam hritah shaktya niruddho yoni-mudraya || 1.69 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

calitaḥ : vergossen wurde ("sich fortbewegt hat", Chalita)
api : sogar (Api)
yadā : wenn (Yada)
binduḥ : der Samen ("Tropfen", Bindu)
samprāptaḥ : erreicht hat (Samprapta)
ca : und (Cha)
hutāśanam : das Feuer (Hutashana, d.h. Yonisthana, den "Ort der Yoni")
vrajati : (er) geht (wieder, (vraj)
ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
hṛtaḥ : erfasst, zurückgezogen (Hrita)
śaktyā : mit Kraft, nach Kräften (Shakti)
niruddhaḥ : kontrolliert ("zurückgehalten", Niruddha)
yoni-mudrayā : durch Yoni Mudra (d.h. Vajroli Mudra)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 71 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit drei Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 59) sowie in der Hatha Yoga Pradipika 3.43 überliefert. Letztere liest im 2. Pada yoni-maṇḍalam "den Bereich der Vagina" statt hutāśanam "das Feuer".

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt yoni-maṇḍalam mit yoni-sthānam ("Ort der Yoni"). Er beschreibt Yoni Mudra als ein Kontrahieren (Akunchana) des Penis (Medhra) und bemerkt, dass damit (etena) auf Vajroli Mudra (vgl. HYP 3.83-91) verwiesen wird (Suchita): yoni-mudrayā meḍhrākuñcana-rūpayā etena vajrolī mudrā sūcitā. Weiter führt er aus, dass der Samen über den Weg (Marga) der Sushumna nach oben, d.h. zum Bindusthana, dem "Ort des Samens", gelangt: suṣumnā-mārgeṇa bindu-sthānaṃ gacchati.

Upanishad Brahma Yogin, der Kommentator der YCU, erklärt hutāśanam ("das Feuer") ganz im Sinne Brahmanandas mit yoṣid-yoni-maṇḍalam "den Bereich (Mandala) der Vagina (Yoni) der Frau (Yoshit)".

Shataka 1 Vers 70: Bindu und Rajas

Der Same ist wiederum von zweierlei Art: weißlich und rötlich. Den weißlichen nennt man männlichen Samen, den rötlichen dagegen Menstrualblut.


स पुनर्द्विविधो बिन्दुः पाण्‍डुरो लोहितस्तथा |
पाण्‍डुरं शुक्रमित्याहुर्लोहिताख्यं महारजः || ७० ||
sa punar dvi-vidho binduḥ pāṇḍuro lohitas tathā |
pāṇḍuraṃ śukram ity āhur lohitākhyaṃ mahā-rajaḥ || 1.70 ||
sa punar dvi-vidho binduh panduro lohitas tatha |
panduram shukram ity ahur lohitakhyam maha-rajah || 1.70 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

saḥ : der, dieser (Tad)
punaḥ : wiederum, nun (Punar)
dvi-vidhaḥ : ist von zweierlei Art (Dvividha)
binduḥ : Same ("Tropfen", Bindu)
pāṇḍuraḥ : weiß, weißlich (Pandara)
lohitaḥ : rot, rötlich (Lohita)
tathā : und, sowie (Tatha)
pāṇḍuram : der weiße (Pandara)
śukram : männlicher Same, Sperma (Shukra)
iti : so (Iti)
āhuḥ : wird genannt ("sie nennen", ah)
lohitākhyam : heißt (Akhya) der rote (Lohita)
mahā-rajaḥ : Menstrualblut, wörtl. "große (Mahat) Dunkelheit (Rajas)" oder "großer (Blüten-)Staub" (Maharajas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 72 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad überliefert (Vers 60 liest im dritten Pada śuklam statt śukram). Sinngemäß finden sich die hier gemachten Aussagen auch im jeweils 2. Halbvers des Anandakanda 1.20.97-98. Dort heißt es:

bījas tu dvi-vidhaḥ proktaḥ śukraṃ caiva mahā-rajaḥ || 20.97 cd || ...
śukraṃ tu śveta-varṇaṃ syāt pravālābhaṃ rajaḥ smṛtam || 20.98 cd ||

"Der Same (Bija) wird wiederum als von zweierlei Art gelehrt: männlicher Same (Shukra) und Menstrualblut (Maharajas)." (ĀK 1.20.97 cd)

"Der männliche Same ist von weißer (Shveta) Farbe (Varna), und das Menstrualblut (Rajas) wird als korallenfarbig (Pravala-Abha) gelehrt." (ĀK 1.20.98 cd)

Die beiden edierten Fassungen dieses Verses geben die folgende, grammatisch nicht ganz korrekte Version des 2. Halbverses, die in keiner der übrigen Versionen zu finden und vielleicht einem Überlieferungs- oder Druckfehler geschuldet ist:

pāṇḍuraḥ (!) śukram ity āhur lohitākhyo (!) mahā-rajaḥ ||

Die Nominative pāṇḍuraḥ (Nom. Sg. m.) und lohitākhyo mahā-rajaḥ (Nom. Sg. m.!) beziehen sich auf das Maskulinum binduḥ (Nom. Sg. m.) im ersten Halbvers. Die Perfektform āhuḥ verlangt allerdings einen Akkusativ (pāṇḍuraṃ śukram ity āhur), der hier berichtigt worden ist. Das Nomen mahā-rajaḥ wäre in Verbindung mit dem Adjektiv lohitākhyo (Nom. Sg. m.) ein Maskulinum, was ebenso recht unwahrscheinlich ist, weshalb hier der Form des Neutrums (lohitākhyaṃ) in Übereinstimmung mit den anderen Textversionen - insbesondere der der Yoga Tarangini Tika - der Vorzug gegeben wurde.

Letztere unterstreicht in dem zu diesem Vers gegebenen Kommentar ausdrücklich, dass das Kompositum mahā-rajaḥ als Neutrum (n.) zu verstehen ist: lohitā ākhyā yasya tat (n.) mahā-rajaḥ (n.) rajo-rūpaṃ (n.) bhavatīty arthaḥ "wessen Name (Akhya) 'rot' (Lohita) ist, das ist mahā-rajaḥ, dessen Wesen ("Form" Rupa) Staub (Rajas) ist - so (Iti) ist der Sinn (Artha)" (zur Verdeutlichung der Wortformen werden im Kommentar an dieser Stelle die Sandhiregeln nicht beachtet).

Auch im folgenden Vers (GP 71 d) wird das Neutrum verwendet: nābhi-sthāne sthitaṃ (n.) rajaḥ (n.).

Shataka 1 Vers 71: Bindu und Rajas

Das Menstrualblut, das flüssigem Zinnober gleicht, befindet sich im Bereich des Nabels. Der männliche Same befindet sich im Sitz des Mondes. Die Vereingung dieser beiden ist sehr schwer zu erreichen.


सिन्दूरद्रवसङ्काशं नाभिस्थाने स्थितं रजः |
शशिस्थाने स्थितो बिन्दुस्तयोरैक्यं सुदुर्लभम् || ७१ ||
sindūra-drava-saṅkāśaṃ nābhi-sthāne sthitaṃ rajaḥ |
śaśi-sthāne sthito bindus tayor aikyaṃ su-dur-labham || 1.71 ||
sindura-drava-sankasham nabhi-sthane sthitam rajah |
shashi-sthane sthito bindus tayor aikyam su-dur-labham || 1.71 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sindūra-drava-saṅkāśam : flüssigem (Drava) Zinnober (Sindura) gleichend (Sankasha)
nābhi-sthāne : im Bereich ("Ort", Sthana) des Nabels (Nabhi)
sthitam : befindet sich (Sthita)
rajaḥ : das Menstrualblut (Rajas)
śaśi-sthāne : im Sitz ("Ort") des Mondes (Shashin)
sthitaḥ : befindet sich
binduḥ : der männliche Same ("Tropfen", Bindu)
tayoḥ : dieser beiden (Tad)
aikyam : die Einheit, Vereingung, Verbindung (Aikya)
su-durlabham : ist sehr schwer zu erlangen, erreichen (Sudurlabha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit der Lesart ravi-sthāne "im Sitz der Sonne" (statt nābhi-sthāne) im zweiten Pada als Vers 73 der Version 2 des Goraksha Shataka und einigen weiteren kleineren Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 61) überliefert.

Das Nabelzentrum (Nabhisthana bzw. Manipura Chakra) gilt als der "Sitz der Sonne" (Ravisthana) und das Kehlzentrum (Vishuddhi Chakra bzw. Shodashara Chakra "das sechzehnspeichige Rad") als der "Sitz des Mondes" (Shashisthana bzw. Chandrasthana), vgl. den Kommentar der Yoga Tarangini Tika zu diesem Vers: ravi-sthāne nābhi-pradeśe ... śaśi-sthāne ṣoḍaśāra-cakre.

Shataka 1 Vers 72: Bindu und Rajas

Der männliche Same ist Shiva - das Menstrualblut ist Shakti. Der männliche Same ist der Mond - das Menstrualblut ist die Sonne. Aufgrund der Vereinigung dieser beiden wird der höchste Bewusstseinszustand erlangt.


बिन्दुः शिवो रजः शक्तिश्चन्द्रो बिन्दू रजो रविः |
अनयोः सङ्गमादेव प्राप्यते परमं पदम् || ७२ ||
binduḥ śivo rajaḥ śaktiś candro bindū rajo raviḥ |
anayoḥ saṅgamād eva prāpyate paramaṃ padam || 1.72 ||
binduh shivo rajah shaktish chandro bindu rajo ravih |
anayoh sangamad eva prapyate paramam padam || 1.72 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

binduḥ : der männliche Same ("Tropfen", Bindu)
śivaḥ : (ist) Shiva
rajaḥ : das Menstrualblut (Rajas)
śaktiḥ : (ist) Shakti (die "Energie")
candraḥ : der Mond (Chandra)
binduḥ : (ist) der männliche Same
rajaḥ : das Menstrualblut
raviḥ : (ist) die Sonne (Ravi)
anayoḥ : dieser beiden (Ubha)
saṅgamāt : aufgrund der Vereinigung (Sangama)
eva : nur, eben (Eva)
prāpyate : wird erreicht, erlangt (pra + āp)
paramam : der höchste (Parama)
padam : (Bewusstseins-)Zustand ("Ort", Pada)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einigen Varianten als Vers 74 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 62) überliefert. Letztere hat die Lesart bindur brahmā "der männliche Samen ist Brahma" (statt binduḥ śivo) im ersten Pada. Setzt man für die Sonne (Ravi) die Silbe Ha und für den Mond (Chandra) die Silbe Tha ein, so ist deren Vereinigung Ha-Tha-Yoga.

Im Kommentar der Yoga Tarangini Tika zu diesem Vers wird deutlich gemacht, dass die verschiedenen Definitionen von Ha-Tha-Yoga - hier identisch mit dem höchsten Bewusstseinszustand (paramaṃ padam) - eine Vereinigung polarer Gegensätze wie Mond (Chandra) und Sonne (Surya), Prana und Apana oder Individualseele (Jivatman) und Allseele (Paramatman) beeinhalten und damit die Überwindung der Dualität (Dvaita) zum Ziel haben. Die verschiedenen Bezeichnungen dieser Gegensatzpaare sind in diesem Zusammenhang als Synonyme (Paryaya) zu verstehen.

Die Einheit (Aikya) von Individualseele (Jivatman) und Allseele (Paramatman) wird in Hatha Yoga Pradipika 4.7 als eine von drei Definitionen von Samadhi - einem weiteren Namen für den höchsten Bewusstseinszustand - genannt. In Hatha Yoga Pradipika 4.3-4 werden insgesamt 16 synonyme Bezeichnungen dieses Zustands aufgelistet, darunter Rajayoga "Königs-Yoga", Laya "Auflösung", Para Pada "höchster Zustand", Advaita "Nicht-Dualität", Jivanmukti "Befreiung zu Lebzeiten", Sahaja "natürlicher (Zustand)" und Turya "vierter (Zustand)".

Shataka 1 Vers 73: Bindu und Rajas

Wenn das Menstrualblut durch das Inbewegungsetzen der (Schlangen-)Kraft in Verbindung mit dem Atem angetrieben wird, vereinigt es sich mit dem männlichen Samen. Dann wird der Körper (des Yogi) göttlich.


वायुना शक्तिचारेण प्रेरितं तु यदा रजः |
याति बिन्दोः सहैकत्वं भवेद्दिव्यं वपुस्तदा || ७३ ||
vāyunā śakti-cāreṇa preritaṃ tu yadā rajaḥ |
yāti bindoḥ sahaikatvaṃ bhaved divyaṃ vapus tadā || 1.73 ||
vayuna shakti-charena preritam tu yada rajah |
yati bindor sahaikatvam bhaved divyam vapus tada || 1.73 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vāyunā : in Verbindung mit dem Atem ("Wind", Vayu)
śakti-cāreṇa : durch das Inbewegungsetzen (Chara) der (Schlangen-)Kraft (Shakti, d.h. Kundalini)
preritam : angetrieben (Prerita)
tu : aber, wiederum (Tu)
yadā : wenn (Yada)
rajaḥ : das Menstrualblut ("Monatsregel", Rajas)
yāti : gelangt ("geht", )
bindoḥ : dem männlichen Samen ("Tropfen", Bindu)
saha : mit (Saha)
ekatvam : zur Einheit (Ekatva)
bhavet : wird (bhū)
divyam : himmlich, göttlich (Divya)
vapuḥ : der Körper (Vapus)
tadā : dann (Tada)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 75 der Version 2 des Goraksha Shataka (diese liest im dritten Pada bindunaiti sahaikatvaṃ statt yāti bindoḥ sahaikatvaṃ) und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 63) überliefert (letztere liest śakti-cāleṇa statt śakti-cāreṇa im ersten Pada).

Hier wird auf die Praxis von Shakti Chalana verwiesen, bei der die Kundalini erweckt und entlang der Sushumna nach oben bewegt wird (vgl. Hatha Yoga Pradipika 3.104 ff. und Gheranda Samhita 3.52 ff.).

Der vorliegende Vers erscheint mit einigen Varianten auch im Anandakanda (1.20.100), einem medizinisch-alchemistischen Werk aus dem 13. Jahrhundert, wo er im Kontext von Khechari Mudra steht (vgl. auch die Anm. zu Vers 70):

marutā śakti-cāreṇa rajaś cordhvaṃ praṇīyate |
aikyaṃ tad bindunā yāti tadā divyaṃ vapur bhavet || 20.100 ||

"Durch das Inbewegungsetzen der (Schlangen-)Kraft in Verbindung mit dem Atem (Marut) wird das Menstrualblut (Rajas) aufwärts gelenkt und vereinigt sich mit dem männlichen Samen (Bindu). Dann wird der Körper (des Yogi) göttlich." (ĀK 1.20.100)

Shataka 1 Vers 74: Bindu und Rajas

Der männliche Samen steht in Verbindung mit dem Mond - das Menstrualblut steht in Verbindung mit der Sonne. Wer die Einheit (in Form) der Homogenität dieser beiden erfährt, der ist ein Kenner des Yoga.


शुक्रं चन्द्रेण संयुक्तं रजः सूर्येण संयुतम् |
तयोः समरसैकत्वं यो जानाति स योगवित् || ७४ ||
śukraṃ candreṇa saṃyuktaṃ rajaḥ sūryeṇa saṃyutam |
tayoḥ sama-rasaikatvaṃ yo jānāti sa yoga-vit || 1.74 ||
shukram chandrena samyuktam rajah suryena samyutam |
tayoh sama-rasaikatvam yo janati sa yoga-vit || 1.74 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śukram : der männliche Samen (Shukra)
candreṇa : mit dem Mond (Chandra)
saṃyuktam : steht in Verbindung, bezieht sich auf (Samyukta)
rajaḥ : das Menstrualblut (Rajas)
sūryeṇa : mit der Sonne (Surya)
saṃyutam : steht in Verbindung, bezieht sich auf (Samyuta)
tayoḥ : dieser beiden (Tad)
sama-rasaikatvam : die Identität und Einheit, oder: die Einheit (Ekatva, in Form) der Homogenität ("Geschmacks-Gleichheit", Samarasatva)
yaḥ : wer (Yad)
jānāti : kennt, erfährt (jñā)
saḥ : der (Tad)
yoga-vit : (ist) ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 76 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit zwei Lesarten im 1. Halbvers in der Yogachudamani Upanishad (Vers 64) überliefert (diese liest śuklaṃ statt śukraṃ).

Im Kommentar der Yoga Tarangini Tika zu diesem Vers wird abermals hervorgehoben, dass die Einheit (Ekatva) von Mond (Chandra) und Sonne (Surya) bzw. Bindu und Rajas die Bedeutung des Wortes Yoga ("Verbindung") darstellt. "Einheit in Form der Homogenität (Samarasatva)" verweist auf die vollständige Überwindung der Dualität (Dvaita "Zweiheit") polarer Gegensätze. Wer diesen Zustand der Nicht-Dualität (Advaita bzw. Advayatva) unmittelbar erfährt und somit aus eigener Erfahrung kennt, der ist ein "Kenner des Yoga" (Yogavid, vgl. die Verse 100-101 der Version 2 des Goraksha Shataka).

Shataka 1 Vers 75: Maha Mudra

Das Reinigen des Netzwerkes der feinstofflichen Energiekanäle, das Bewegen von Mond und Sonne, sowie das Austrocknen von (physischen, geistigen und emotionalen) Giften wird Maha Mudra genannt.


शोधनं नाडिजालस्य चालनं चन्द्रसूर्ययोः |
रसानां शोषणं चैव महामुद्राभिधीयते || ७५ ||
śodhanaṃ nāḍi-jālasya cālanaṃ candra-sūryayoḥ |
rasānāṃ śoṣaṇaṃ caiva mahā-mudrābhidhīyate || 1.75 ||
shodhanam nadi-jalasya chalanam chandra-suryayoh |
rasanam shoshanam chaiva maha-mudrabhidhiyate || 1.75 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śodhanam : das Reinigen (Shodhana)
nāḍi-jālasya : des Netzes (Jala) der feinstofflichen Energiekanäle (Nadi)
cālanam : das Bewegen, Inbewegungsetzen (Chalana)
candra-sūryayoḥ : von Mond (Chandra) und Sonne (Surya)
rasānām : der Gifte, Leidenschaften ("Säfte", Rasa)
śoṣaṇam : das Austrocknen (Shoshana)
ca : und (Cha)
eva : ebenso (Eva)
mahā-mudrā : Mahamudra (das "große Siegel")
abhidhīyate : wird genannt (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 58 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 65) überliefert. Allerdings erscheint die Stellung des Verses hier etwas außerhalb des (engeren) Kontexts, da die Behandlung von Mahamudra bereits in 1.57-61 erfolgt ist. So überliefern Goraksha Shataka (nebst Yoga Tarangini Tika), Yogachudamani Upanishad und Viveka Martanda allesamt diesen Vers jeweils als ersten in der Darstellung von Mahamudra.

Das Bewegen bzw. Inbewegungsetzen (Chalana) von Mond (Chandra) und Sonne (Surya) bezieht sich auf die wechselseitige Stimulierung von Ida und Pingala, vgl. Vers 1.58. Laut Kommentar der Yoga Tarangini Tika zu diesem Vers bedeutet es das Vereinigen bzw. "an ein und denselben Ort (Ekatra) bringen (Karana", ekatra karaṇam) von Mond und Sonne im Körper (vgl. den vorangehenden Vers 1, 74).

Mit dem Austrocknen der Gifte bzw. "Säfte" (rasānāṃ śoṣaṇam) ist möglicherweise neben der Neutralisierung physischer, d.h. in Nahrungsmitteln enthaltener Gifte (vgl. Vers 59) auch das Ausmerzen von Gelüsten, Begierden und Stimmungen gemeint, die sich im Gemüt des Yogi wie "Gifte" auswirken. Das Wort Rasa bedeutet u.a. "Saft, Geschmack(srichtung), Begierde, Gift", aber auch "Lebenselixier".

Upanishad Brahma Yogin, der Kommentator der YCU, versteht Rasa hier im Sinne von Dosha: śarīra-stha-duṣṭa-vāta-pittādi-rasānāṃ śoṣaṇa-karam "(Mahamudra) bewirkt das Austrocknen der im Körper (Sharira) befindlichen verdorbenen (Dushta) Säfte Vata, Pitta usw.".

Die Yoga Tarangini Tika wiederum versteht die "Säfte" (Rasa) hier im ayurvedischen Sinne der ersten Form der "Körpergewebe" (Dhatu) als "Nahrungsessenzen", die aus der Verdauung (Paka) der gegessenen (Bhukta) Nahrung (Anna) und getrunkenen (Pita) Getränke (Pana) entstanden (Jata) sind: rasānāṃ bhukta-pītānna-pānādi-pāka-jātānām.

Shataka 1 Vers 76: Uddiyana Bandha

Aufgrund dessen der große Vogel (Prana) unermüdlich (in der Sushumna) auffliegt, eben dieses Uddiyana (Bandha) ist wie ein Löwe gegenüber dem Elefanten des Todes.


उड्यानं कुरुते यस्मादविश्रान्तं महाखगः |
उड्डीयानं तदेव स्यान्मृत्युमातङ्गकेसरी || ७६ ||
uḍyānaṃ kurute yasmād aviśrāntaṃ mahā-khagaḥ |
uḍḍīyānaṃ tad eva syān mṛtyu-mātaṅga-kesarī || 1.76 ||
udyanam kurute yasmad avishrantam maha-khagah |
uddiyanam tad eva syan mrityu-matanga-kesari || 1.76 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

uḍyānam : das Auffliegen (in der Sushumna, Udyana hier im Sinne von Uddina zu verstehen)
kurute : macht (kṛ)
yasmāt : aufgrund dessen (Yasmat)
aviśrāntam : unermüdlich, unablässig (Avishranta)
mahā-khagaḥ : der große (Maha) Vogel ("der im Luftraum geht", d.h. Prana (Khaga)
uḍḍīyānam : Uddiyana (das "Auffliegenlassen")
tat : dies (Tad)
eva : eben, gerade, genau (Eva)
syāt : ist ("soll sein", (as)
mṛtyu-mātaṅga-kesarī : (wie) ein Löwe (Kesarin, gegenüber) dem Elefanten (Matanga) des Todes (Mrityu)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit den Lesarten uḍḍīnam bzw. oḍyānam statt uḍyānam im ersten Pada als Vers 77 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 48, vgl. die dortige Anm.) überliefert, sowie in der Gheranda Samhita 3.10 mit der Lesung uḍḍīyānaṃ tv asau bandho im 3. Pada. Die ersten drei Padas entsprechen Hatha Yoga Pradipika 3.56 a-c, der 4. Pada entspricht Hatha Yoga Pradipika 3.57 d (vgl. auch Vers 35 der Version 1 des Goraksha Shataka).

Die Lesung uḍyānam der GP könnte unter Vernachlässigung des zerebralen im Sinne von ud-yānam (von ud + "aufsteigen, auffliegen") interpretiert werden, was der Bedeutung von ud + ḍī in uḍ-ḍīnam entspräche.

Dass der "große Vogel" (mahā-khagaḥ) der Prana ist, der in der Sushumna durch die Praxis von Uddiyana Bandha zum "auffliegen" gebracht wird, wird aus Hatha Yoga Pradipika 3.55 ersichtlich:

baddho yena suṣumṇāyāṃ prāṇas tūḍḍīyate yataḥ |
tasmād uḍḍīyanākhyo'yaṃ yogibhiḥ samudāhṛtaḥ || 3.55 ||

"Weil mit diesem (Bandha) die Lebensenergie (Prana) in der Sushumna festgehalten wird (und darin) auffliegt, deshalb wurde dieser Verschluss von den Yogis mit der Bezeichnung Uddiyana benannt." (HYP 3.55)

Shataka 1 Vers 77: Uddiyana Bandha

Vom Bauch weg nach hinten, unterhalb des Nabels, dieser Verschluss wird Uddiyana genannt. Dort (im Bereich des Uddiyana) wird dieser Verschluss ausgeführt.


उदरात्पश्चिमे भागे अधो नाभेर्निगद्यते |
उड्डियानो ह्ययं बन्धस्तत्र बन्धो निगद्यते || ७७ ||
udarāt paścime bhāge adho nābher nigadyate |
uḍḍiyāno hy ayaṃ bandhas tatra bandho nigadyate || 1.77 ||
udarat pashchime bhage adho nabher nigadyate |
uddiyano hy ayam bandhas tatra bandho nigadyate || 1.77 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

udarāt : vom Bauch weg (Udara)
paścime : im hinteren (Pashchima)
bhāge : Teil, Bereich (Bhaga)
adhaḥ : unterhalb (Adhas)
nābheḥ : des (Nabhi)
nigadyate : wird genannt (ni + gad)
uḍḍiyānaḥ : Uddiyana
hi : gewiss (Hi)
ayam : dieser (Ayam)
bandhaḥ : Verschluss (Bandha)
tatra : dort (Tatra)
bandhaḥ : Verschluss
nigadyate : wird ausgeführt ("gelehrt")

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 78 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 49) überliefert. Die ersten beiden Padas erinnern an Hatha Yoga Pradipika 3.57 a-b bzw. Gheranda Samhita 3.10 a-b, der 4. Pada entspricht weitestgehend Hatha Yoga Pradipika 3.56 d.

Das Hiatus (Vivritti) genannt Aufeinandertreffen zweier Vokale an der Padagrenze (hier von e und a in bhāge adho zwischen Pada a und b) wird zwar im klassischen Sanskrit vermieden, ist aber insbesondere in tantrischen Texten nicht selten. In der Version des GŚ (2.78) wird zur Vermeidung der nach den Regeln des Sandhi eigentlich geforderten Elision von kurzem a nach e (bhāge 'dho) daher der Hiatus-Tilger hi eingeschoben: bhāge hy adho.

Obwohl die Bezeichnung Uddiyana Bandha traditionell in Ableitung von der Wurzel ud-ḍī als das "Auffliegen" erklärt wird (vgl. Vers 76), bezieht sich Uddiyana (mit den Varianten Oddiyana und Odyana) auch auf einen Bereich im Körper, der sich etwas unterhalb des Nabels (adho nābheḥ) befindet. Dieser Bereich wird in der Siddha Siddhanta Paddhati (2.14) unter der Bezeichnung Odyanadhara als das fünfte von insgesamt 16 Adharas (Konzentrationspunkten im Körper) gelehrt. Somit bedeutet Uddiyana Bandha ursprünglich wohl das "Kontrahieren" (Bandha) der Uddiyana bzw. Od(di)yana genannten Körperregion.

Shataka 1 Vers 78: Jalandhara Bandha

Weil es das Netz (der Nadis) im Kopf verschließt, fließt der Nektar nicht herab. Deshalb (heißt es) Jalandhara Bandha. (Es ist ein Mittel zum) Vertreiben einer Menge von Leiden der Kehle.


बध्नाति हि शिरोजालं नाधो याति नभोजलम् |
ततो जालन्धरो बन्धः कण्ठदुःखौघनाशनः || ७८ ||
badhnāti hi śiro-jālaṃ nādho yāti nabho-jalam |
tato jālandharo bandhaḥ kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ || 1.78 ||
badhnati hi shiro-jalam nadho yati nabho-jalam |
tato jalandharo bandhah kantha-duhkhaugha-nashanah || 1.78 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

badhnāti : es verschließt ("abbindet", badh)
hi : weil (Hi)
śiro-jālam : das Netz (Jala der Nadis) im Kopf (Shiras)
na : nicht (Na)
adhas : herab (Adhas)
yāti : fließt ("kommt", )
nabho-jalam : der Nektar ("Himmels-Wasser", Nabhas-Jala)
tataḥ : deshalb (Tatas)
jālandharaḥ : Jalandhara
bandhaḥ : Bandha ("Verschluss")
kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ : (ein Mittel zum) Vertreiben (Nashana) einer Menge (Ogha) von Leiden (Duhkha) der Kehle (Kantha)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 79 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 50) sowie in der Hatha Yoga Pradipika 3.71 überliefert. Diese beiden Versionen lesen im ersten Pada sirā-jālam "das Netzwerk (Jala) der (feinstofflichen) Kanäle (Sira)" statt śiro-jālam. Auch in Shiva Samhita 4.60 wird in einem ähnlichen Vers dieses Netzwerk der Nadis erwähnt (sirā ist ein Synonym zu śirā):

baddhvā gala-śirā-jālaṃ hṛdaye cibukaṃ nyaset |
bandho jālan-dharaḥ prokto devānām api dur-labhaḥ || 4.60 ||

"Das Netzwerk (Jala) der (feinstofflichen) Kanäle (Sira) in der Kehle (Gala) unterbindend, setze man das Kinn (Chibuka) auf die Brust (Hridaya). Dieser Verschluss (Bandha) wird Jalandhara genannt. Er ist selbst den Göttern (Deva) wertvoll." (ŚS 4.60)

Mit dem Nektar bzw. "Himmels-Wasser" (nabho-jalam) ist der vom Gaumen herabfließende "Mondnektar" (Piyusha, Chandramrita) gemeint, vgl. den folgenden Vers 51 sowie Vers 55 der Version 1 des Goraksha Shataka.

Shataka 1 Vers 79: Jalandhara Bandha

Wenn Jalandhara Bandha ausgeführt wird, der Verschluss, der durch das Zusammenziehen der Kehle gekennzeichnet ist, fällt der Nektar nicht ins Feuer (der Verdauung), und auch der Lebenshauch (Vayu) wird nicht erregt.


जालन्धरे कृते बन्धे कण्ठसङ्कोचलक्षणे |
न पीयूषं पतत्यग्नौ न च वायुः प्रकुप्यति || ७९ ||
jālandhare kṛte bandhe kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe |
na pīyūṣaṃ pataty agnau na ca vāyuḥ prakupyati || 1.79 ||
jalandhare krite bandhe kantha-sankocha-lakshane |
na piyusham pataty agnau na cha vayuh prakupyati || 1.79 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

jālandhare : Jalandhara (das "Festhalten des Netzes, das Auffangen des Wassers")
kṛte : (wenn) ausgeführt wird (Krita)
bandhe : der Verschluss (Bandha)
kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe : der durch das Zusammenziehen (Sankocha) der Kehle (Kantha) gekennzeichnet (Lakshana) ist
na : nicht (Na)
pīyūṣam : der Nektar (Piyusha)
patati : fällt (pat)
agnau : ins Feuer (Agni)
na : nicht
ca : und, auch (Cha)
vāyuḥ : der Lebenshauch ("Wind", Vayu)
prakupyati : wird erregt ("erzürnt", pra + kup)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 36 der Version 1 und als Vers 80 der Version 2 des Goraksha Shataka sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.72) überliefert. In der Yogachudamani Upanishad (Vers 51) heißt es im zweiten Pada kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśane "angesichts des Vertreibens (Nashana) einer Menge (Ogha) von Leiden (Duhkha) der Kehle (Kantha)" statt kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe, sowie im vierten Pada pradhāvati "verbreitet sich" statt prakupyati.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt na ca vāyuḥ prakupyati (wörtl.: "der Wind wird nicht erregt") dahingehend, dass Prana (Vayu) dadurch nicht in andere Kanäle (Nadis) gelangt: nāḍyantare vāyor gamanaṃ ... na karoti. Da Jalandhara Bandha jedoch nach HYP 3.71 bzw. GŚ 2, 79 alle Leiden der Kehle vertreibt (kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ), liegt in diesem Zusammenhang auch ein Verständnis aus ayurvedischer Sicht nahe: der Vata ("Wind") genannte Dosha wird nicht erregt (na … prakupyati), d.h. nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Eine Störung von Vata kann sich etwa im Bereich der Atmungsorgane und der Kehle als Krankheit zeigen, Jalandhara Bandha verhindert solche Störungen.

Shataka 1 Vers 80: Mula Bandha

Man presse mit der Ferse gegen den Beckenboden, kontrahiere den Anus und ziehe so den Apana aufwärts. (So) wird Mula Bandha praktiziert.


पार्ष्णिभागेन सम्पीड्य योनिमाकुञ्चयेद् गुदम् |
अपानमूर्ध्वमाकृष्य मूलबन्धो विधीयते || ८० ||
pārṣṇi-bhāgena sampīḍya yonim ākuñcayed gudam |
apānam ūrdhvam ākṛṣya mūla-bandho vidhīyate || 1.80 ||
parshni-bhagena sampidya yonim akunchayed gudam |
apanam urdhvam akrishya mula-bandho vidhiyate || 1.80 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

pārṣṇi-bhāgena : mit einem Teil (Bhaga) der Ferse (Parshni)
sampīḍya : während man presst ("gepresst habend", sam + pīḍ)
yonim : den Beckenboden, Damm, das Perineum (Yoni)
ākuñcayet : man kontrahiere, ziehe zusammen (ā + kuñc)
gudam : den Anus (Guda)
apānam : den Apana
ūrdhvam : aufwärts, nach oben (Urdhva)
ākṛṣya : während man zieht ("gezogen habend", ā + kṛṣ)
mūla-bandhaḥ : Mulabandha ("Wurzel-Verschluss", Mula Bandha)
vidhīyate : (so) wird praktiziert, ausgeführt, vorgeschrieben (vi + dhā)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 81 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit einer Lesart als Vers 37 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.61) überliefert. In der Yogachudamani Upanishad (Vers 46) heißt es im ersten Pada pārṣṇi-ghātena "mit einem Schlag der Ferse" statt pārṣṇi-bhāgena, im zweiten Pada dṛḍham "fest" statt gudam und im vierten Pada 'yam ucyate "dies wird genannt" statt vidhīyate.

Shataka 1 Vers 81: Mula Bandha

Wenn Mula Bandha beständig (praktiziert wird), wird aufgrund der (dadurch bewirkten) Vereinigung von Apana und Prana die Verringerung von (angesammeltem) Urin und Stuhl (bewirkt, und) sogar ein Greis wird wieder jung.


अपानप्राणयोरैक्यात्क्षयो मूत्रपुरीषयोः |
युवा भवति वृद्धोऽपि सततं मूलबन्धनात् || ८१ ||
apāna-prāṇayor aikyāt kṣayo mūtra-purīṣayoḥ |
yuvā bhavati vṛddho'pi satataṃ mūla-bandhanāt || 1.81 ||
apana-pranayor aikyat kshayo mutra-purishayoh |
yuva bhavati vriddho'pi satatam mula-bandhanat || 1.81 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

apāna-prāṇayoḥ : der abwärts fließenden Energie (Apana) und der aufwärts fließenden Energie (Prana)
aikyāt : aufgrund der Vereinigung, Einheit (Aikya)
kṣayaḥ : die Verringerung (Kshaya)
mūtra-purīṣayoḥ : von Urin (Mutra) und Stuhl (Purisha)
yuvā : jung (Yuvan)
bhavati : wird (bhū)
vṛddhaḥ : ein Alter, Greis (Vriddha)
api : auch, sogar (Api)
satatam : stets, beständig (praktiziert, Satata)
mūla-bandhanāt : aufgrund von Mulabandha ("Wurzel-Verschluss", Mula Bandha))

Anmerkung: Dieser Vers wird fast wortwörtlich als Vers 82 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 47) sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.65) überliefert. In letzterer steht im ersten Pada statt des Ablativs aikyāt der Nominativ aikyaṃ.

Shataka 1 Vers 82: OM Japa

An einem einsamen Ort den Lotussitz eingenommen habend, Körper und Hals gerade haltend, mit auf die Nasenspitze gerichtetem Blick, rezitiere man den unvergänglichen Laut OM.


पद्मासनं समारुह्य समकायशिरोधरः |
नासाग्रदृष्टिरेकान्ते जपेदोङ्कारमव्ययम् || ८२ ||
padmāsanaṃ samāruhya sama-kāya-śiro-dharaḥ |
nāsāgra-dṛṣṭir ekānte japed oṅ-kāram avyayam || 1.82 ||
padmasanam samaruhya sama-kaya-shiro-dharaḥ |
nasagra-drishtir ekante japed on-karam avyayam || 1.82 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

padmāsanam : den Lotussitz (Padmasana)
samāruhya : eingenommen habend ("bestiegen habend", sam + ā + ruh)
sama-kāya-śiro-dharaḥ : Körper (Kaya) und Hals (Shirodhara) gerade (haltend, Sama)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : mit auf die Nasenspitze (Nasagra gerichtetem) Blick (Drishti)
ekānte : an einem einsamen Ort (Ekanta)
japet : man rezitiere (jap)
oṅ-kāram : Laut OM (Omkara)
avyayam : den unvergänglichen (Avyaya)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 83 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 71) überliefert.

Shataka 1 Vers 83: OM Japa

Das höchste Licht, OM, (ist der Klang) in dessen (drei) Bestandteilen die (drei) Welten Erde, Luftraum und Himmel, und die (drei) Gottheiten Mond, Sonne und Feuer enthalten sind.


भूर्भुवः स्वरिमे लोकाः सोमसूर्याग्निदेवताः |
यस्य मात्रासु तिष्ठन्ति तत्परं ज्योतिरोमिति || ८३ ||
bhūr bhuvaḥ svar ime lokāḥ soma-sūryāgni-devatāḥ |
yasya mātrāsu tiṣṭhanti tat paraṃ jyotir om iti || 1.83 ||
bhur bhuvah svar ime lokah soma-suryagni-devatah |
yasya matrasu tishthanti tat param jyotir om iti || 1.83 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

bhūḥ : Erde (Bhur)
bhuvaḥ : Luftraum (Bhuvas)
svaḥ  : Himmel (Svar)
ime : diese (Idam)
lokāḥ : Welten (Loka)
soma-sūryāgni-devatāḥ : die Gottheiten (Devata) Mond (Soma), Sonne (Surya) und Feuer (Agni)
yasya : dessen (Yad)
mātrāsu : in den Lautbestandteilen (Matra)
tiṣṭhanti : sich befinden, existieren (sthā)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 84 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 85) überliefert.

Der Ausdruck paraṃ jyotiḥ, wörtlich "das höchste Licht", bedeutet im übertragenen Sinne auch "die höchste Intelligenz, der höchste Geist, die höchste Wahrheit".

Die drei lautlichen Bestandteile (Matra) von OM sind A (Akara), U (Ukara) und M (Makara). Sie symbolisieren der Reihe nach die drei Welten Erde (Bhur), Luftraum (Bhuvas) und Himmel (Svar).

OM, das hier das "höchste Licht" genannt wird, manifestiert sich aus upanishadischer Sicht in den drei Welten wie folgt: auf der Erde als Feuer (Agni), im Luft- bzw. Zwischenraum als Mond(licht Soma), und im Himmel als Sonne(nlicht Surya), wobei auch der "Himmel" als eine relative Sphäre gilt. Das Absolute - paraṃ jyotiḥ ist hier synonym mit Atman bzw. Brahman - wohnt all diesen drei Welten inne (ist "immanent") und geht zugleich über sie hinaus (ist "transzendent").

Die drei Welten können auch als Erfahrungsebenen verstanden werden, die den drei Bewusstseinszutänden Wachzustand (Jagrat / Erde), Traumzustand (Svapna / Zwischenraum) und Tiefschlaf (Sushupti / Himmel) entsprechen.

Shataka 1 Vers 84: OM Japa

Das höchste Licht, OM, (ist der Klang) worin die drei Zeiten, die drei Vedas, die drei Welten, die drei Akzente, und die drei Gottheiten enthalten sind.


त्रयः कालास्त्रयो वेदास्त्रयो लोकास्त्रयः स्वराः |
त्रयो देवाः स्थिता यत्र तत्परं ज्योतिरोमिति || ८४ ||
trayaḥ kālās trayo vedās trayo lokās trayaḥ svarāḥ |
trayo devāḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 1.84 ||
trayah kalas trayo vedas trayo lokas trayaḥ svarah |
trayo devah sthita yatra tat param jyotir om iti || 1.84 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

trayaḥ : die drei (Tri)
kālāḥ : Zeiten (Kala)
trayaḥ : die drei
vedāḥ : Vedas
trayaḥ : die drei
lokāḥ : Welten (Loka)
trayaḥ : die drei
svarāḥ : Akzente (Svara)
trayaḥ : die drei
devāḥ : Götter (Deva)
sthitāḥ : sich befinden, existieren (Sthita)
yatra : worin (Yatra)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 85 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert. In den drei lautlichen Bestandteilen (Matra, s. Vers 83) von OM - A, U und M - sind die folgenden Trinitäten enthalten:

- die drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
- die drei Vedas: Rig Veda, Yajur Veda und Sama Veda
- die drei Welten: Erde, Luftraum und Himmel (s. Vers 83)
- die drei vedischen Akzente: Udatta, Anudatta und Svarita
- die drei vedischen Götter bzw. Gottheiten Mond (Soma), Sonne (Surya) und Feuer (Agni, s. Vers 83) bzw. die drei hinduistischen Götter Brahma, Vishnu und Rudra (d.h. Shiva, s. Vers 85).

In der Yogachudamani Upanishad (Verse 74-76) wird die Zuordnung der drei letztgenannten Götter zu den drei lautlichen Bestandteilen von OM bzw. Pranava noch detaillierter ausgeführt:

A U M
Gott Brahma Vishnu Rudra
Guna Rajas Sattva Tamas
Farbe rot weiß schwarz
Bewusstseinszustand Wachen Traum Tiefschlaf
Körperregion Auge Kehle Herz

Shataka 1 Vers 85: OM Japa

Das höchste Licht, OM, (ist der Klang) worin die Energien Brahmas, Rudras und Vishnus in dreierlei Weise (als) Handlung, Wunsch und Erkenntnis enthalten sind.


क्रिया इच्छा तथा ज्ञानं ब्राह्मी रौद्री च वैष्णवी |
त्रिधा शक्तिः स्थिता यत्र तत्परं ज्योतिरोमिति || ८५ ||
kriyā icchā tathā jñānaṃ brāhmī raudrī ca vaiṣṇavī |
tridhā śaktiḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 1.85 ||
kriya ichchha tatha jnanam brahmi raudri cha vaishnavi |
tridha shaktih sthita yatra tat param jyotir om iti || 1.85 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kriyā : Handlung, Aktivität (Kriya)
icchā : Wunsch, Verlangen, Wille (Ichchha)
tathā : sowie (Tatha)
jñānam : Erkenntnis (Jnana)
brāhmī : die zu Brahma gehörige (Brahmi)
raudrī : die zu Rudra gehörige (Raudri)
ca : und
vaiṣṇavī : die zu Vishnu gehörige (Vaishnavi)
tridhā : in dreierlei Weise (Tridha)
śaktiḥ : Energie (Shakti)
sthitā : sich befindet, existiert (Sthita)
yatra : worin (Yatra)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit Einschub der Partikel ca ("und") vor icchā zur Vermeidung des Hiatus im ersten Pada als Vers 86 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit einer weiteren Lesart in der Yogachudamani Upanishad (Vers 86) überliefert. Letztere liest im dritten Pada mātrā-sthitiḥ "die Existenz, das Sich-Befinden der Lautbestandteile" (vgl. Vers 86) statt śaktiḥ sthitā.

Gemäß der hier gegebenen Zuordnung manifestiert sich die Energie Brahmas als Handlung (Kriya), die Energie Rudras als Wunsch bzw. Wille (Ichchha), und die Energie Vishnus als Erkenntnis (Jnana), entsprechend der Wirkungen der drei Gunas Rajas, Tamas und Sattva (vgl. die Anm. zu Vers 84).

Die Energien (Shakti) der entsprechenden Götter bzw. Gottheiten werden ikonographisch als Göttinnen dargestellt, bspw. als Sarasvati, Parvati und Lakshmi. Das tantrische Götterpaar par excellence ist Shiva (symbolisiert das Bewusstsein bzw. den Wahrnehmenden) und Shakti (symbolisiert die Energie bzw. das Wahrgenomme).

Dieselbe Triade von Ichchha, Jnana und Kriya wird im Trika genannten philosophischen System des tantrischen kaschmirischen Shivaismus benutzt, um drei grundlegende Manifestationen der göttlichen Energie (Shakti) zu bezeichnen: Ichchha ist hier die Energie des "Willens" bzw. Impulses, der am Anfang eines Prozesses steht, Jnana ist die Energie der Klarheit bzw. Bewusstwerdung, bevor eine Handlung umgesetzt wird, und Kriya ist die Energie des eigentlichen Handelns bzw. des Ausagierens, das den Prozess abschließt.

Shataka 1 Vers 86: OM Japa

Das höchste Licht, OM, (ist der Klang) worin in dreierlei Weise die Laute A, U und M, dessen Name Bindu ist, enthalten sind.


अकारश्च उकारश्च मकारो बिन्दुसंज्ञकः |
त्रिधा मात्राः स्थिता यत्र तत्परं ज्योतिरोमिति || ८६ ||
akāraś ca ukāraś ca makāro bindu-saṃjñakaḥ |
tridhā mātrāḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 1.86 ||
akarash cha ukarash cha makaro bindu-samjnakah |
tridha matrah sthita yatra tat param jyotir om iti || 1.86 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

akāraḥ : der Laut A (Akara)
ca : und (Cha)
ukāraḥ : der Laut U (Ukara)
ca : und
makāraḥ : der Laut M (Makara)
bindu-saṃjñakaḥ : dessen Name (Samjnaka) Bindu ("Punkt, Tropfen") ist
tridhā : in dreierlei Weise (Tridha)
mātrāḥ  : Lautbestandteile (Matra)
sthitāḥ : sich befinden, existieren (Sthita)
yatra : worin (Yatra)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart tathokāro statt ukāraś ca zur Vermeidung des Hiatus im ersten Pada als Vers 87 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es im dritten Pada tisraḥ "drei" statt tridhā.

Der Laut M wird auch Bindu ("Punkt, Tropfen") genannt. In der Devanagarischrift wird er häufig als ein Punkt dargestellt, insbesondere in Verbindung mit Bija Mantras: ओं OM हं HAM यं YAM usw.

Shataka 1 Vers 87: OM Japa

Diese Keimsilbe soll man sich mit der Stimme aneignen, mit dem Körper üben, und mit dem Geist darüber meditieren. Das ist das höchste Licht, (der Klang) OM.


वचसा तज्जयेद्बीजं वपुषा तत्समभ्यसेत् |
मनसा तत्स्मरेन्नित्यं तत्परं ज्योतिरोमिति || ८७ ||
vacasā taj jayed bījaṃ vapuṣā tat samabhyaset |
manasā tat smaren nityaṃ tat paraṃ jyotir om iti || 1.87 ||
vachasa taj jayed bijam vapusha tat samabhyaset |
manasa tat smaren nityam tat param jyotir om iti || 1.87 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vacasā : mit der Stimme (Vach)
tat : diese (Tad)
jayet : man soll sich aneignen ("erobern", ji)
bījam : Keimsilbe ("Samen", Bija)
vapuṣā : mit dem Körper (Vapus)
tat : sie (Tad)
samabhyaset : üben, praktizieren, (sam + abhi + as)
manasā : mit dem Geist (Manas)
tat : sie
smaret : man soll erinnern, meditieren (smṛ)
nityam : immer, beständig (Nitya)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 88 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit ein paar Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 87) überliefert. Letztere liest zweimal taj japen nityam "man soll es stets rezitieren" im ersten und dritten Pada, was vielleicht ein Druck- oder Überlieferungsfehler ist.

Stimme, Körper und Geist sollen beständig auf den Urklang OM eingestimmt werden: auch während der Asanapraxis soll man OM rezitieren und über seine Bedeutungen, d.h. über die in den Lauten A, U und M enthaltenen Aspekte der damit verbundenen Gottheit usw. (s. Verse 83-86), meditieren.

Shataka 1 Vers 88: OM Japa

(Sei er) rein oder auch unrein - wer die Silbe OM beständig rezitiert wird nicht von Sünde befleckt, so wie ein Lotusblatt vom Wasser (nicht benetzt wird).


शुचिर्वाप्यशुचिर्वापि यो जपेत्प्रणवं सदा |
न स लिप्यति पापेन पद्मपत्त्रमिवाम्भसा || ८८ ||
śucir vāpy aśucir vāpi yo japet praṇavaṃ sadā |
na sa lipyati pāpena padma-pattram ivāmbhasā || 1.88 ||
shucir vapy ashucir vapi yo japet pranavam sada |
na sa lipyati papena padma-pattram ivambhasa || 1.88 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śuciḥ : rein (Shuchi)
 : oder (Va)
api : auch (Api)
aśuciḥ : unrein (Ashuchi)
 : oder
api : auch
yaḥ : wer (Yad)
japet : rezitiert (jap)
praṇavam : die Silbe OM (Pranava)
sadā : immer, beständig (Sada)
na : nicht (Na)
saḥ : der (Tad)
lipyati : wird beschmutzt, befleckt (lip, hier im Sinne der Passivform lipyate)
pāpena : von Übel, Sünde (Papa)
padma-pattram : ein Lotusblatt (Padmapattra)
iva : (so) wie (Iva)
ambhasā : vom Wasser (Ambhas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 88) und mit kleineren Varianten als Vers 89 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert. Dieses liest im dritten Pada lipyate na sa statt na sa lipyati. Mit dieser Variante erscheint der zweite Halbvers dieses Shloka wortwörtlich als zweiter Halbvers von Bhagavad Gita 5.10:

brahmaṇy ādhāya karmāṇi saṅgaṃ tyaktvā karoti yaḥ |
lipyate na sa pāpena padma-pattram ivāmbhasā || 5.10 ||

"Wer handelt, indem er seine Handlungen (Karman) dem Brahman darbringt und Anhaftung (Sanga) aufgibt, der wird vom Übel (Papa) nicht befleckt, so wie ein Lotusblatt (Padmapattra) nicht vom Wasser (Ambhas) benetzt wird." (BhG 5.10)

Weil Wasser von einem Lotusblatt aufgrund dessen Oberflächenstruktur abperlt, ohne daran haften zu bleiben, wird die geringe Benetzbarkeit seiner Oberfläche als "Lotoseffekt" bezeichnet.

Die Form lipyati "wird beschmutzt" ist streng genommen ungrammatisch, da hier die Endung -ti (3. Person Singular Aktiv bzw. Parasmaipada) an den Passivstamm lipya- tritt. Die korrekte Form lipyate (3. Person Sg. Indikativ Präsens Passiv der Verbalwurzel lip "bestreichen, beschmieren, verunreinigen", 6. bzw. Tud Klasse) findet sich wiederum in der Version des Goraksha Shataka, wobei aus Gründen der Metrik die Wortstellung verändert ist. Derartige, zumeist metrisch bedingte irreguläre Passivformen wie lipyati sind in der epischen und tantrischen Sanskritliteratur keine Seltenheit.

Shataka 1 Vers 89: Pranayama

Ist der Atem unstet, ist der Samen unstet. (Ist der Atem) unbeweglich, ist (auch der Samen) unbeweglich, und der Yogi erlangt (innere und äußere) Bewegungslosigkeit. Darum soll er den Atem anhalten.


चले वाते चलो बिन्दुर्निश्चले निश्चलो भवेत् |
योगी स्थाणुत्वमाप्नोति ततो वायुं निरुन्धयेत् || ८९ ||
cale vāte calo bindur niścale niścalo bhavet |
yogī sthāṇutvam āpnoti tato vāyuṃ nirundhayet || 1.89 ||
chale vate chalo bindur nishchale nishchalo bhavet |
yogi sthanutvam apnoti tato vayum nirundhayet || 1.89 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

cale : unstet, beweglich (Chala)
vāte : (ist der) Atem ("Wind", Vata)
calaḥ : unstet, beweglich
binduḥ : (ist) der Samen (Bindu)
niścale : (der Atem) unbeweglich (Nishchala)
niścalaḥ : (der Samen) unbeweglich
bhavet : ist, wird (bhū)
yogī : (und) der Yogi (Yogin)
sthāṇutvam : Bewegungslosigkeit (Sthanutva)
āpnoti : erreicht (āp)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
vāyum : den Atem, ("Wind", Vayu)
nirundhayet : er soll kontrollieren, anhalten ("einsperren", ni + rudh, im Sinne von nirodhayet)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 88) und mit einer minimalen Variante als Vers 90 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert (dieses liest im vierten Pada nirodhayet statt nirundhayet), sowie mit einer wichtigen Lesart in der Hatha Yoga Pradipika (2.2): Dort heißt es cale vāte calaṃ cittam niścale niścalaṃ bhavet "Ist der Atem unstet, ist der Geist (Chitta) unstet. (Ist der Atem) unbeweglich, ist (auch der Geist) unbeweglich".

In Vers 39 der Version 1 des Goraksha Shataka heißt es wiederum cale vāte calaṃ sarvam ... "Ist der Atem unstet, ist alles (Sarva) unstet. (Ist der Atem) unbeweglich, ist (alles) unbeweglich" (vgl. die dortige Anm.). Diese Version hat zudem im vierten Pada die Verbform nibandhayet "er soll kontrollieren, anhalten" anstelle der eigentlich ungrammatischen Form nirundhayet, die in der YCU im Sinne von nirodhayet (ni + Kausativ der Verbalwurzel rudh), 7. bzw. Rudh Klasse) gebraucht wird. Dennoch kommt die Form nirundhayet bspw. in Texten über Alchimie (Rasashastra) aus dem 13. Jh. vor.

Die Synonyme Vata und Vayu, die beide wörtlich "Wind" bedeuten, stehen hier gleichermaßen für Prana, den Lebensatem bzw. die Lebensenergie.

Die innere und äußere Bewegungslosigkeit (Sthanutva) ist zugleich Vorraussetzung und Folge des Vorgangs der Verinnerlichung bzw. des "Rückzugs der Sinne" (Pratyahara) und des Eintauchens in Meditation (Dhyana) und Versenkung (Samadhi).

Shataka 1 Vers 90: Pranayama

Solange wie der Lebensatem sich im Körper befindet, solange verlässt er das Leben (oder: das lebende Wesen) nicht. Das Hinausgehen des Lebensatems bedeutet den Tod. Darum soll man den Atem anhalten.


यावद्वायुः स्थितो देहे तावज्जीवं न मुञ्चति |
मरणं तस्य निष्क्रान्तिस्ततो वायुं निरोधयेत् || ९० ||
yāvad vāyuḥ sthito dehe tāvaj jīvaṃ na muñcati |
maraṇaṃ tasya niṣkrāntis tato vāyuṃ nirodhayet || 1.90 ||
yavad vayuh sthito dehe tavaj jivam na munchati |
maranam tasya nishkrantis tato vayum nirodhayet || 1.90 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yāvat : solange wie (Yavat)
vāyuḥ : der (Lebens-)Atem, Prana ("Wind", Vayu)
sthitaḥ : sich befindet (Sthita)
dehe : im Körper (Deha)
tāvat : solange (Tavat)
jīvam : das Leben, Lebewesen, die Individualseele (Jiva)
na : nicht (Na)
muñcati : verlässt, lässt im Stich (muc)
maraṇam : (bedeutet) Sterben, Tod (Marana)
tasya : dieses (Lebensatems, Tad)
niṣkrāntiḥ : das Hinausgehen, Weichen, Verschwinden (Nishkranti)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
vāyum : den Atem, ("Wind", Vayu)
nirodhayet : man soll kontrollieren, anhalten ("einsperren", ni + rudh)

Anmerkung: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 90) und als Vers 91 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert (dieses liest im zweiten Pada mucyate "entrinnt" statt muñcati, ebenso in der Hatha Yoga Pradipika (2.3). Dort heißt es im zweiten Pada jīvanam ucyate "wird Leben (Jivana) genannt" statt jīvo na mucyate.

Die Formulierung tāvaj jīvaṃ na muñcati kann auch bedeuten "solange verlässt man das Leben nicht", d.h. "solange stirbt man nicht".

Shataka 1 Vers 91: Pranayama

Solange wie der Lebensatem im Körper festgehalten wird, solange wie der Geist still ist, solange wie der Blick in der Mitte beider Brauen ruht, solange gibt es keine Furcht vor dem Tod.


यावद्बद्धो मरुद्देहे यावच्चित्तं निरामयम् |
यावद्दृष्टिर्भ्रुवोर्मध्ये तावत्कालभयं कुतः || ९१ ||
yāvad baddho marud dehe yāvac cittaṃ nirāmayam |
yāvad dṛṣṭir bhruvor madhye tāvat kāla-bhayaṃ kutaḥ || 1.91 ||
yavad baddho marud dehe yavach chittam niramayam |
yavad drishtir bhruvor madhye tavat kala-bhayam kutah || 1.91 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yāvat : solange wie (Yavat)
baddhaḥ : festgehalten ("festgebunden") wird (Baddha)
marut : der Atem, Prana ("Wind", Marut)
dehe : im Körper (Deha)
yāvat : solange wie
cittam : der Geist (Chitta)
nirāmayam : makellos ("frei von Krankheit", Niramaya)
yāvat : solange wie
dṛṣṭiḥ : der Blick (Drishti)
bhruvoḥ : beider Brauen (Bhru)
madhye : in der Mitte, zwischen (Madhya)
tāvat : solange (Tavat)
kāla-bhayam : Furcht (Bhaya) vor dem Tod ("Zeit", Kala)
kutaḥ : woher (sollte kommen, Kutas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 92 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit einer Lesart in der Hatha Yoga Pradipika (2.40) überliefert: diese liest nirākulam "nicht verwirrt" statt nirāmayam im zweiten Pada. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 91) überliefert Pada 1 und 3-4 identisch, liest jedoch im zweiten Pada tāvaj jīvo na muñcati "solange entrinnt das Leben nicht" und wiederholt damit (vielleicht aufgrund eines Kopierfehlers) den zweiten Pada des vorangehenden Verses (YCU 90, siehe Vers 91 der Version 2 des Goraksha Shataka).

Das "Festhalten" des Atems bzw. der Lebensenergie (Prana) bezieht sich auf die Technik der Atemverhaltung (Kumbhaka).

Shataka 1 Vers 92: Pranayama

Daher widmet sich sogar der Gott Brahma, aus Furcht vor dem Tod, eifrig der Atemkontrolle (Pranayama), und ebenso die Yogis und Weisen. Darum soll man den Atem anhalten.


अतः कालभयाद्ब्रह्मा प्राणायामपरायणः |
योगिनो मुनयश्चैव ततो वायुं निरोधयेत् || ९२ ||
ataḥ kāla-bhayād brahmā prāṇāyāma-parāyaṇaḥ |
yogino munayaś caiva tato vāyuṃ nirodhayet || 1.92 ||
atah kala-bhayad brahma pranayama-parayanah |
yogino munayash chaiva tato vayum nirodhayet || 1.92 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ataḥ : daher (Atas)
kāla-bhayāt : aus Furcht (Bhaya) vor dem Tod ("der Zeit", Kala)
brahmā : (sogar der Gott) Brahma
prāṇāyāma-parāyaṇaḥ : widmet sich eifrig der Atemkontrolle (Pranayama-Parayana)
yoginaḥ : die Yogis (Yogin)
munayaḥ : die Weisen (Muni)
ca : und (Cha)
eva : ebenso (Eva)
tataḥ : deshalb, daher (Tatas)
vāyum : den Atem, ("Wind", Vayu)
nirodhayet : man soll kontrollieren, anhalten ("einsperren", ni + rudh)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 93 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit ein paar Lesarten als Vers 38 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 92) liest im ersten Pada alpa-kāla-bhayād "aufgrund der Furcht (Bhaya) vor zuwenig (Alpa Lebens-)Zeit (Kala)" statt ataḥ kāla-bhayād, sowie im vierten Pada prāṇān "die Lebenshauche" (Prana) statt vāyuṃ.

In der Hatha Yoga Pradipika (2.39) heißt es ganz ähnlich:

brahmādayo’pi tri-daśāḥ pavanābhyāsa-tat-parāḥ |
abhūvann antaka-bhayāt tasmāt pavanam abhyaset || 2.39 ||

"Sogar die dreißig Götter (Tridasha), beginnend mit Brahma, sind aus Furcht (Bhaya) vor dem Tod (Antaka) eifrig der Atempraxis (Pavana-Abhyasa) hingegeben. Daher übe man die (Beherrschung des Lebens-)Windes (Pavana)." (HYP 2.39)

Shataka 1 Vers 93: Pranayama

Der Atem (Hamsa) geht durch den linken und rechten Nasengang 36 Fingerbreiten weit nach draußen. Daher wird er Atem (Prana) genannt.


षट्त्रिंशदङ्गुलो हंसः प्रयाणं कुरुते बहिः |
वामदक्षिणमार्गेण ततः प्राणोऽभिधीयते || ९३ ||
ṣaṭ-triṃśad-aṅgulo haṃsaḥ prayāṇaṃ kurute bahiḥ |
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa tataḥ prāṇo'bhidhīyate || 1.93 ||
shat-trimshad-angulo hamsaḥ prayanaṃ kurute bahih |
vama-dakshina-margena tatah prano'bhidhiyate || 1.93 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ṣaṭ-triṃśad-aṅgulaḥ : (im Ausmaß von) 36 (Shattrimshat) Fingerbreiten (Angula)
haṃsaḥ : der Atem, die Individualseele ("Ganter", Hamsa)
prayāṇam : eine Bewegung ("Gang", Prayana)
kurute : macht (kṛ)
bahiḥ : nach draußen (Bahis)
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa : durch den linken (Vama) und rechten (Dakshina) Gang, Kanal ("Weg", Marga)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
prāṇaḥ : Atem (Prana)
abhidhīyate : wird er genannt (abhi + dhā)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 40 der Version 1 und als Vers 94 der Version 2 des Goraksha Shataka überliefert. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 93) liest im ersten Pada ṣaḍ-viṃśad-aṅgulīr "26 Finger(breiten, Anguli)" statt ṣaṭ-triṃśad-aṅgulo, sowie im vierten Pada prāṇāyāmo vidhīyate "(so) wird die Atemregelung (Pranayama) ausgeführt" statt tataḥ prāṇo'bhidhīyate.

Der Vers erklärt vermittels eines Wortspiels - anhand des ähnlich lautenden Wortes prayāṇa, das "Aufbruch, Abreise, Gang" bedeutet - warum der Atem prāṇa heißt. Diese etymologisch nicht ganz korrekte Erklärung (prāṇa ist von der Sanskrit Verbalwurzel an "atmen" mit Präfix pra gebildet) verweist auf die Länge bzw. Reichweite des Atems bei der Ausatmung, wobei hier die Entfernung, die der der Atem sich von der Nase wegbewegt, mit 36 Fingerbreiten angegeben wird.

In diesem Zusammenhang ist die Gheranda Samhita (5.89-90) besonders interessant, wo die unterschiedliche Reichweite (und damit die Intensität bzw. "Tiefe") des Atems bei der Ausatmung entsprechend bestimmter körperlicher Zustände bzw. Aktivitäten angegeben wird:

dehād bahir-gato vāyuḥ sva-bhāvād dvādaśāṅguliḥ || 5.89 ||
śayane ṣoḍaśāṅgulyo bhojane viṃśatis tathā |
catur-viṃśāṅguliḥ panthe nidrāyāṃ triṃśad-aṅguliḥ |
maithune ṣaṭ-triṃśad uktaṃ vyāyāme ca tato'dhikam || 5.90 ||

"Der aus dem Körper (Deha) ausgetretene Atem (Vayu, misst) im natürlichen Zustand (Svabhava) 12 Fingerbreiten (Anguli), beim Liegen (Shayana) 16 Fingerbreiten, und beim Essen (Bhojana) 20 Fingerbreiten. Beim Gehen (Pantha, misst) er 24 Fingerbreiten, im Schlaf (Nidra) 30 Fingerbreiten, beim Geschlechtsverkehr (Maithuna) wird er mit 36 (Fingerbreiten) angegeben, und bei körperlicher Anstrengung (Vyayama geht er noch) darüber hinaus." (GhS 5.89-90)

Shataka 1 Vers 94: Pranayama

Wenn das gesamte Netzwerk der feinstofflichen Energiekanäle, das voller Verunreinigungen war, gereinigt ist, dann wird der Yogi fähig, die Lebensenergie (im Körper) festzuhalten (bzw.: den Atem anzuhalten).


शुद्धिमेति यदा सर्वं नाडीचक्रं मलाकुलम् |
तदैव जायते योगी प्राणसङ्ग्रहणे क्षमः || ९४ ||
śuddhim eti yadā sarvaṃ nāḍī-cakraṃ malākulam |
tadaiva jāyate yogī prāṇa-saṅgrahaṇe kṣamaḥ || 1.94 ||
shuddhim eti yada sarvam nadi-chakram malakulam |
tadaiva jayate yogi prana-sangrahane kshamah || 1.94 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śuddhim : zur Reinheit (Shuddhi)
eti : gelangt ("geht", i)
yadā : wenn (Yada)
sarvam : das ganze, gesamte (Sarva)
nāḍī-cakram : Netzwerk ("Menge", Chakra) aus feinstoffliche Energiekanälen, Nerven (Nadi)
malākulam : voller (Akula) Verunreinigungen (Mala)
tadā : dann (Tada)
eva : erst, genau (Eva)
jāyate : wird (jan)
yogī : der Yogi (Yogin)
prāṇa-saṅgrahaṇe : (hinsichtlich) des Festhaltens, Kontrollierens ("Ergreifens", Sangrahana) des Lebensatems, der Lebensenergie (Prana)
kṣamaḥ : fähig (Kshama)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 95 der Version 2 des Goraksha Shataka und mit der Lesart prāṇa-saṅgrahaṇa-kṣamaḥ statt prāṇa-saṅgrahaṇe kṣamaḥ in der Yogachudamani Upanishad (Vers 94) überliefert. Upanishad Brahma Yogin, der Kommentator der YCU, erklärt hierzu, dass insbesondere die Fähigkeit (Shakti) zur Praxis von Kevala Kumbhaka entsteht bzw. gemeint sei: kevala-kumbhaka-śaktir bhavati.

Shataka 1 Vers 95: Wechselatmung: Einatmung links

Der Yogi, der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen hat, soll durch das linke Nasenloch einatmen, und nachdem er (den Atem) nach Vermögen angehalten hat, durch das rechte Nasenloch wieder ausatmen.


बद्धपद्मासनो योगी प्राणं चन्द्रेण पूरयेत् |
धारयित्वा यथाशक्ति भूयः सूर्येण रेचयेत् || ९५ ||
baddha-padmāsano yogī prāṇaṃ candreṇa pūrayet |
dhārayitvā yathā-śakti bhūyaḥ sūryeṇa recayet || 1.95 ||
baddha-padmasano yogi pranam chandrena purayet |
dharayitva yatha-shakti bhuyah suryena rechayet || 1.95 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

baddha-padmāsanaḥ : der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen ("gebunden", Baddha) hat
yogī : der Yogi (Yogin)
prāṇam : den Atem (Prana)
candreṇa : durch den Mond(kanal, das linke Nasenloch, Chandra)
pūrayet : atme ein ("fülle", pṛ/pṝ)
dhārayitvā : nachdem er (den Atem) angehalten hat (dhṛ)
yathā-śakti : nach Vermögen ("wie es in seiner Macht steht", Yathashakti)
bhūyaḥ : wieder (Bhuyas)
sūryeṇa : durch den Sonne(nkanal, das rechte Nasenloch, Surya)
recayet : atme aus ("leere", ric)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 43 der Version 1 und als Vers 96 der Version 2 des Goraksha Shataka, sowie in der Hatha Yoga Pradipika (2.7) überliefert. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 95) liest im dritten Pada dhārayed vā yathā-śaktyā "man halte (den Atem) wahlweise nach Vermögen an" statt dhārayitvā yathā-śakti.

Der Ausdruck "Mond" (Chandra) steht für Ida, den im linken Nasenloch endenden "Mondkanal", der Ausdruck "Sonne" (Surya) steht für Pingala, den im rechten Nasenloch endenden "Sonnenkanal".

Das Kompositum baddha-padmāsanaḥ bezieht sich hier als adjektivisches Kompositum (Bahuvrihi) auf yogī und bedeutet "(ein Yogi) der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen (Baddha) hat". Brahmananda, der Kommentator der HYP analysiert in diesem Sinne baddha-padmāsanaḥ als baddhaṃ padmāsanaṃ yena, d.h. "von dem (yena) der Lotussitz (padmāsanaṃ) eingenommen wurde (baddhaṃ).

Obwohl laut der in GP 1, 11 gegebenen Beschreibung im vollständigen Padmasana die hinter dem Rücken gekreuzten Arme bzw. Hände die großen Zehen festhalten - was Baddha Padmasana, dem "gebundenen Lotussitz" entspricht - dürfte für die Ausführung von Atemtechniken wie der Reinigungsatmung dennoch der einfache Lotussitz gemeint sein, da zumindest die rechte Hand für das Verschließen des jeweiligen Nasenlochs benötigt wird. Dies bekräftigt auch ein Vers der Gheranda Samhita (5.38), der ebenfalls im Kontext der Reinigung der Nadis (Nadishuddhi) steht:

upaviśyāsane yogī padmāsanaṃ samācaret |
gurvādi-nyasanaṃ kṛtvā yathaiva guru-bhāṣitam |
nāḍī-śuddhiṃ prakurvīta prāṇāyāma-viśuddhaye || 5.38 ||

"Nachdem er sich auf seine Sitzunterlage (Asana) gesetzt hat, nehme der Yogi den Lotussitz (Padmasana) ein, rezitiere einen Gruß an (seinen eigenen) und andere Meister (Guru), so wie es vom Meister gelehrt wurde, und beginne mit der Reinigung (Shuddhi) der feinstofflichen Energiekanäle (Nadi) für die Vervollkommnung ("Reinheit", Vishuddhi) der Praxis der Atemregulation (Pranayama)." (GhS 5.38)

Shataka 1 Vers 96: Wechselatmung: Einatmung links mit Visualisierung

Indem der die Atemregulierung Praktizierende auf das (visualisierte) Abbild des Mondes, den Nektar, (dessen Farbe) der Sauermilch und dem Weiß der Kuhmilch gleicht, meditiert, sei er voller Wonne.


अमृतं दधिसङ्काशं गोक्षीरधवलोपमम् |
ध्यात्वा चन्द्रमसो बिम्बं प्राणायामी सुखी भवेत् || ९६ ||
amṛtaṃ dadhi-saṅkāśaṃ go-kṣīra-dhavalopamam |
dhyātvā candramaso bimbaṃ prāṇāyāmī sukhī bhavet || 1.96 ||
amritam dadhi-sankasham go-kshira-dhavalopamam |
dhyatva chandramaso bimbam pranayami sukhi bhavet || 1.96 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

amṛtam : den Nektar (Amrita)
dadhi-saṅkāśam : der Sauermilch (Dadhi) gleicht (Sankasha)
go-kṣīra-dhavalopamam : der dem Weiß (Dhavala) der Kuhmilch (Gokshira) gleicht (Upama)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
candramasaḥ : des Mondes (Chandramas)
bimbam : auf das (visualisierte) Abbild (Bimba)
prāṇāyāmī : der die Atemregulierung, Atemverhaltung Praktizierende (Pranayamin)
sukhī : glücklich, voller Wohlbehagen (Sukhin)
bhavet : werde, sei (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 44 der Version 1 und als Vers 97 der Version 2 des Goraksha Shataka, sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 96) überliefert. Im ersten Pada lesen GŚ 1, 44 und YCU 96 amṛtodadhi-saṅkāśaṃ "der dem Nektarmeer (Amritodadhi) gleicht (Sankasha)" statt amṛtaṃ dadhi-saṅkāśaṃ.

Der Vers bezieht sich direkt auf den vorangehenden Vers 95, der den ersten Teil der Wechselatmung beschreibt: während man durch das linke Nasenloch, also den Mondkanal (Chandra bzw. Ida) einatmet, den Atem anhält, und dann wieder rechts ausatmet, soll man in der beschriebenen Weise den Mond visualisieren. In der Gheranda Samhita (5.43) wird ergänzt, das der Yogi den Mond (mit geschlossenen Augen) an der Nasenspitze visualisieren soll. Auch über die relative Dauer der Phasen der Ein- und Ausatmung sowie der Atemverhaltung macht die Gheranda Samhita (5.39-40) konkrete Angaben: die Einatmung soll 16 Matras dauern, die Atemverhaltung 64 Matras, und die Ausatmung 32 Matras. Dies entspricht dem häufig praktizieren Verhältnis von 1 : 4 : 2.

nāsāgre śaśadhṛg-bimbaṃ dhyātvā jyotsnā-samanvitam |
ṭhaṃ-bījaṃ ṣoḍaśenaiva iḍayā pūrayen marut || 5.43 ||

"Während (der Yogi) an der Nasenspitze (Nasagra) die Mondscheibe (Shashadhrik-Bimba), die vom Mondschein (Jyotsna) umgeben ist, visualisiert, atme er mit dem Bijamantra ṭhaṃ genau 16 (Zählzeiten lang) durch das linke Nasenloch (Ida) ein." (GhS 5.43)

Diese Form der Wechselatmung in Verbindung mit der Wiederholung eines Bijamantras wird in der Gheranda Samhita (5.36) sa-manur nāḍī-śuddhiḥ, d.h. "Reinigung der Nadis (Nadishuddhi) in Verbindung mit einem Mantra (Samanu)", genannt.

Shataka 1 Vers 97: Wechselatmung: Einatmung rechts

Dann soll (der Yogi) rechts einatmend langsam den Bauch füllen, und nachdem er (den Atem) in der vorgeschriebenen Weise angehalten hat, durch das linke Nasenloch wieder ausatmen.


दक्षिणे श्वासमाकृष्य पूरयेदुदरं शनैः |
कुम्भयित्वा विधानेन पुनश्चन्द्रेण रेचयेत् || ९७ ||
dakṣiṇe śvāsam ākṛṣya pūrayed udaraṃ śanaiḥ |
kumbhayitvā vidhānena punaś candreṇa recayet || 1.97 ||
dakshine shvasam akrishya purayed udaram shanaih |
kumbhayitva vidhanena punash chandrena recayet || 1.97 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dakṣiṇe : rechts ("die rechte Seite", Dakshina, vgl. die Anm.)
śvāsam : den Atem (Shvasa)
ākṛṣya : einziehend ("eingezogen habend", ā + kṛṣ)
pūrayet : er fülle (pṛ/pṝ)
udaram : den Bauch (Udara)
śanaiḥ : langsam (Shanais)
kumbhayitvā : nachdem er (den Atem) angehalten hat ("angehalten habend", kumbhay)
vidhānena : in der vorgeschriebenen Weise (Vidhana)
punaḥ : vorher, zuerst, nach vorn (Puras, vgl. die Anm.)
candreṇa : durch den Mond(kanal, das linke Nasenloch, Chandra)
recayet : er atme aus ("entleere", ric)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 45 der Version 1 und als Vers 98 der Version 2 des Goraksha Shataka, sowie in der Hatha Yoga Pradipika (2.8) überliefert. In der Yogachudamani Upanishad fehlt er.

Der Ausdruck pūrayed udaram "er fülle den Bauch" verweist auf die sogenannte Bauchatmung, wobei das sich bei der Einatmung nach unten wölbende Zwerchfell die Bauchorgane nach unten und außen drückt.

Shataka 1 Vers 98: Wechselatmung: Einatmung rechts mit Visualisierung

Indem der die Atemregulierung Praktizierende auf die im Bereich des Nabels (visualisierte) Sonnenscheibe als ein intensives Licht eines brennenden Feuers meditiert, sei er voller Wonne.


प्रज्वलज्ज्वलनज्वालापुञ्जमादित्यमण्डलम् |
ध्यात्वा नाभिस्थितं योगी प्राणायामी सुखी भवेत् || ९८ ||
prajvalaj-jvalana-jvālā-puñjam āditya-maṇḍalam |
dhyātvā nābhi-sthitaṃ yogī prāṇāyāmī sukhī bhavet || 1.98 ||
prajvalaj-jvalana-jvala-punjam aditya-mandalam |
dhyatva nabhi-sthitam yogi pranayami sukhi bhavet || 1.98 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prajvalaj-jvalana-jvālā-puñjam : als eine Menge (Punja) Licht (Jvala) eines brennenden (pra + jval) Feuers (Jvalana)
āditya-maṇḍalam : auf die (visualisierte) Sonnenscheibe (Adityamandala)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
nābhi-sthitaṃ : die sich am Nabel (Nabel) befindet (Sthita)
yogī : der Yogi (Yogin)
prāṇāyāmī : der die Atemregulierung, Atemverhaltung Praktizierende (Pranayamin)
sukhī : glücklich, voller Wohlbehagen (Sukhin)
bhavet : werde er, sei er (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 99 der Version 2 und mit einer Variante als Vers 46 der Version 1 des Goraksha Shataka, sowie mit einigen Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 97) überliefert. Letztere liest im dritten Pada hṛdi sthitaṃ "die sich im Herzen (Hrid) befindet" statt nābhi-sthitaṃ.

Dieser Vers bezieht sich direkt auf den vorangehenden Vers 97, der den zweiten Teil der Wechselatmung beschreibt: während man durch das rechte Nasenloch, also den Sonnenkanal (Surya bzw. Pingala) einatmet, den Atem anhält, und dann wieder links ausatmet, soll man in der beschriebenen Weise im Bereich des Nabels die Sonne visualisieren.

Die in den Versen 96 und 98 im Zusammenhang der Wechselatmung gelehrte innerliche Visualisierung der Mond- bzw. Sonnenscheibe bezieht sich möglicherweise auch nur auf die Phase der Atemverhaltung, wenn man das dem Wort Pranayamin zugrundeliegende Pranayama im engsten Wortsinn versteht, wo es "das Anhalten des Atems (Prana)", also Kumbhaka bedeutet (vgl. hierzu die Anmerkung zu GP 1.6, wo Pranasamrodha - d.h. Pranayama - als das zweite der sechs Glieder des Hatha Yoga aufgezählt wird).

Dies bestätigt auch der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar, d.h. die jeweilige Visualisierung der Mond- bzw. Sonnenscheibe wird während der Zeit (Samaya) der Atemverhaltung (kumbhaka-samaye) praktiziert. Zudem gibt der Kommentar das Verhältnis von Einatmung, Atemverhaltung und Ausatmung mit 12 : 16 : 10 an (vgl. GP 2, 4 sowie Yogachudamani Upanishad Vers 103).

Shataka 1 Vers 99: Wechselatmung mit Visualisierung

Wenn (der Yogi) den Atem durch das linke Nasenloch (Ida) einzieht, soll er, nachdem er ihn maßvoll (angehalten hat), wieder durch das andere Nasenloch ausatmen. Wenn er den Atem durch das rechte Nasenloch (Pingala) eingezogen hat, soll er ihn anhalten, und dann durch das linke (Nasenloch) ausatmen. Indem die Yogis in dieser Weise auf (eines der) beiden (innerlich visualisierten) Abbilder von Sonne und Mond meditieren, werden ihre sämtlichen (feinstofflichen) Energiekanäle innerhalb von drei Monaten gereinigt.


प्राणं चेदिडया पिबेत्परिमितं भूयोऽन्यया रेचयेत्
पीत्वा पिङ्गलया समीरणमथो बद्ध्वा त्यजेद्वामया |
सूर्यचन्द्रमसोरनेन विधिना बिम्बद्वयं ध्यायतां
शुद्धा नाडिगणा भवन्ति यमिनां मासत्रयादूर्ध्वतः || ९९ ||
prāṇaṃ ced iḍayā pibet parimitaṃ bhūyo'nyayā recayet
pītvā piṅgalayā samīraṇam atho baddhvā tyajed vāmayā |
sūrya-candramasor anena vidhinā bimba-dvayaṃ dhyāyatāṃ
śuddhā nāḍi-gaṇā bhavanti yamināṃ māsa-trayād ūrdhvataḥ || 1.99 ||
pranam ched idaya pibet parimitam bhuyo’nyaya rechayet
pitva pingalaya samiranam atho baddhva tyajed vamaya |
surya-chandramasor anena vidhina bimba-dvayam dhyayatam
shuddha nadi-gana bhavanti yaminam masa-trayad urdhvatah || 1.99 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇam : den Atem, die Lebensenergie (Prana)
ced : wenn (Ched)
iḍayā : durch Ida (den Mondkanal, das linke Nasenloch)
pibet : man einatmet (den Atem "einsaugt", )
parimitam : den (bei gefüllter Lunge) angehaltenen ("beschränkten" Atem, Parimita)
bhūyaḥ : wieder (Bhuyas)
anyayā : durch den anderen (Kanal, das andere Nasenloch, Anya)
recayet : man soll ausatmen (ric)
pītvā : nachdem man eingeatmet hat (“eingesaugt” hat, )
piṅgalayā : durch Pingala (den Sonnenkanal, das rechte Nasenloch)
samīraṇam : den) Atem ("Wind", Samirana)
atho : nun, dann (Atha U)
baddhvā : nachdem man angehalten hat (bandh)
tyajet : man entlasse (ihn, tyaj)
vāmayā : durch den linken (Kanal, das linke Nasenloch, Vama)
sūrya-candramasoḥ : von Sonne (Surya) und Mond (Chandramas)
anena : auf diese (Idam)
vidhinā : Art (und Weise, Vidhi)
bimba-dvayam : auf die beiden (Dvaya) Abbilder (Bimba)
dhyāyatām : der meditierenden (dhyā)
śuddhāḥ : rein (Shuddha)
nāḍi-gaṇāḥ : die Scharen (Gana) der feinstofflichen Energie-)Kanäle, (Nadi)
bhavanti : werden (bhū)
yaminām : der sich zügelnden (Yogis, Yamin)
māsa-trayāt : drei ("einer Dreiheit von", Traya) Monat(en, Masa)
ūrdhvataḥ : nach (Urdhva)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 100 der Version 2 des Goraksha Shataka, ebenso mit ein paar Lesarten in der Hatha Yoga Pradipika (2.10) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 98) überliefert. Letztere liest im dritten Pada bindu-dvayam "die beiden Punkte" statt bimba-dvayam, wobei mit Bindu entweder auf die beiden innerlich visualisierten (symbolischen) Abbilder von Sonne und Mond bezug genommen wird (Bindu kann auch ein innerlich wahrgenommenes Licht bedeuten), oder es sind die beiden in YCU 60 erwähnten Arten des Bindu (Shukra und Maharajas) gemeint (vgl. GP 1, 70). Diese haben ihren Sitz jeweils in der körperlichen Entsprechung von "Mond" und "Sonne" (vgl. YCU 61 bzw. GP 1, 71).

In HYP 2.10 fehlt dieser Aspekt der Meditation bzw. Visualisierung. Dort heißt es im dritten Pada sūrya-candramasor anena vidhinābhyāsaṃ sadā tanvatāṃ, wobei sich "Sonne" und "Mond" wieder auf Pingala und Ida im ersten Halbvers beziehen: "(der Yogis), die in dieser Weise die Praxis (Abhyasa) von Sonnen- und Mond(kanal) kontinuierlich ausüben ..."

Die Edition der Laxmi-Venkateshwar Press (Bombay) liest im ersten Pada übrigens prāṇāṃś ced (Akk. Plural "die Lebenswinde, Lebensgeister") statt prāṇaṃ ced (Akk. Singular "den Atem"). Die ziemlich fehlerbehaftete Version des Divine Yoga Institute (Kathmandu) hat den ungrammatischen Nominativ Singular prāṇaś ced und übersetzt daher das aktive Verb pibet "(wenn) man einsaugt, einatmet") passivisch "When the breath is drawn in ...".

Shataka 1 Vers 100: Resultate der Wechselatmung

Aufgrund ("In Anbetracht") der Reinigung der (feinstofflichen Energie-)Kanäle kann man den Atem nach Belieben anhalten, das Verdauungsfeuer wird entfacht, der innere Klang wird offenbar, und (umfassende) Gesundheit stellt sich ein.


यथेष्टं धारणं वायोरनलस्य प्रदीपनम् |
नादाभिव्यक्तिरारोग्यं जायते नाडिशोधने || १०० ||
yatheṣṭaṃ dhāraṇaṃ vāyor analasya pradīpanam |
nādābhivyaktir ārogyaṃ jāyate nāḍi-śodhane || 1.100 ||
yatheshtam dharanam vayor analasya pradipanam |
nadabhivyaktir arogyam jayate nadi-shodhane || 1.100 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yatheṣṭam : nach Belieben ("wie gewünscht", Yatheshta)
dhāraṇam : das Anhalten (Dharana)
vāyoḥ : des Atems, von Prana ("Windes", Vayu)
analasya : des (Verdauungs-)Feuers (Anala)
pradīpanam : das) Auflodern, Entfachen (Pradipana)
nādābhivyaktiḥ : das Offenbarwerden, Erscheinen (Abhivyakti) des inneren ("unangeschlagenen") Klanges (Nada)
ārogyam : Gesundheit ("Nichtkrankheit", Arogya)
jāyate : entsteht (jan)
nāḍi-śodhane : in Anbetracht der Reinigung der (feinstofflichen Energie-)Kanäle (Nadi Shodhana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 101 der Version 2 des Goraksha Shataka und in der Hatha Yoga Pradipika (2.20) überliefert, wo er den Abschnitt zur Wechsel- bwz. Reinigungsatmung abschließt. In der Yogachudamani Upanishad erscheint er als Vers 99.

All diese Versionen haben im vierten Pada den Ablativ nāḍi-śodhanāt "Aufgrund (bzw. Infolge) der Reinigung der (feinstofflichen Energie-)Kanäle" statt des Lokativs nāḍi-śodhane "In Anbetracht der Reinigung der (feinstofflichen Energie-)Kanäle".

Shataka 1 Schluss

So (lautet) in der Yoga-Lehre des Goraksha die erste Gruppe von hundert Versen.


इति गोरक्षयोगशास्त्रे पूर्वशतकम् |
iti gorakṣa-yoga-śāstre pūrva-śatakam ||
iti goraksha-yoga-shastre purva-shatakam ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iti : so (lautet, Iti)
gorakṣa-yoga-śāstre : in der Yoga-Lehre (Yogashastra) des Goraksha
pūrva-śatakam : die erste ("vordere" Purva) Gruppe von hundert Versen (Shataka)

Anmerkung: Die Edition der Laxmi-Venkateshwar Press (Bombay) liest: iti gorakṣa-śāstre prathama-śatakam "So (lautet) in der Lehre des Goraksha die erste (Prathama) Gruppe von hundert Versen".

Shataka 2 Vers 1: Pranayama: Atemverhaltung

Aufgrund des Zurückhaltens von Apana (vermittels Mulabandha) verbleibt der Prana (genannte) Atem im Körper. Vermittels nur eines einzigen Atemzuges soll (der Yogi) den Weg in den Himmel (d.h. in den leeren Raum der Sushumna) öffnen.


प्राणो देहे स्थितो वायुरपानस्य निरोधनात् |
एकश्वसनमात्रेणोद्घाटयेद्गगने गतिम् || १ ||
prāṇo dehe sthito vāyur apānasya nirodhanāt |
eka-śvasana-mātreṇodghāṭayed gagane gatim || 2.1 ||
prano dehe sthito vayur apanasya nirodhanat |
eka-shvasana-matrenodghatayed gagane gatim || 2.1 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇaḥ : der Prana (genannte)
dehe : im Körper (Deha)
sthitaḥ : verbleibt (Sthita)
vāyuḥ : Atem (Vayu)
apānasya : des Ausatems bzw. der nach unten fließenden Lebensenergie (Apana)
nirodhanāt : aufgrund des Zurückhaltens (Nirodhana)
eka-śvasana-mātreṇa : vermittels nur (Matra) eines einzigen (Eka) Atemzuges (Shvasana)
udghāṭayet : man soll öffnen (ud + ghaṭ)
gagane : in den inneren leeren Raum ("Himmel", Gagana)
gatim : den Weg (Gati)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen stärker abweichenden Lesarten als Vers 42 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dort. Anm.) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 100) überliefert. Im erstgenannten Text wird folgende Erklärung des Wortes Pranayama (prāṇa + āyāma) gegeben:

prāṇo deha-sthito vāyur āyāmas tan-nibandhanam |
eka-śvāsa-mayī mātrā tad-yogo gaganāyate || 42 ||

"Der Atem (Prana) ist die im Körper (Deha) befindliche Luft (Vayu). Kontrolle (Ayama) ist das Zurückhalten (Nibandhana) des Atems. Die (dafür gebräuchliche) Maßeinheit (Matra) bemisst sich nach einer (natürlichen) Ein- und Ausatmung (Shvasa). Der (richtige) Gebrauch (Yoga) dieser (Maßeinheit) führt zur Erfahrung des Höchsten ("Himmels", Gagana)." (GŚ 1, 42)

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar, der dem Wortlaut von GP 2, 1 folgt, ergänzt, dass mit dem Zurückhalten des Apana (apānasya nirodhanāt) das Heraufziehen (ūrdhvam utthāpanāt Urdhva Utthapana) desselben gemeint sei, was in der Ausdrucksweise der Hatha Yoga-Texte auf das Setzen von Mulabandha verweist. Der Ausdruck gagane "im bzw. in den Himmel" wird mit "in den Bewusstseinsraum (Chid Akasha), der sich in der Sushumna befindet (Antargata)" suṣumṇāntargata-cid-ākāśe erklärt.

In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass in der Hatha Yoga Pradipika 3.4 sieben Synonyme für Sushumna benannt werden, darunter auch die Bezeichnung śūnya-padavī "der Pfad der Leere":

suṣumṇā śūnya-padavī brahma-randhraṃ mahā-pathaḥ |
śmaśānaṃ śāmbhavī madhya-mārgaś cety eka-vācakāḥ || 3.4 ||

"Sushumna ("die überaus Gnädige"), Shunyapadavi ("der Pfad der Leere"), Brahmarandhra ("die Öffnung zum Brahman"), Mahapatha ("der große Weg"), Shmashana ("der Verbrennungsplatz"), Shambhavi ("die zu Shambhu/Shiva gehörige") und Madhyamarga ("der mittlere Weg") - so lauten die Synonyme (Ekavachaka) für Sushumna." (HYP 3.4)

Shataka 2 Vers 2: Drei Atemphasen des Pranayama

Die (Praxis der) Atemregulation, in Verbindung mit (einer Dauer von) zwölf Zählzeiten (pro Einatmung) in Form der heiligen Silbe OM, besteht aus drei Teilen: Ausatmung, Einatmung und Atemverhaltung.


रेचकः पूरकश्चैव कुम्भकः प्रणवात्मकः |
प्राणायामो भवेत्त्रेधा मात्राद्वादशसंयुतः || २ ||
recakaḥ pūrakaś caiva kumbhakaḥ praṇavātmakaḥ |
prāṇāyāmo bhavet tredhā mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ || 2.2 ||
rechakah purakash chaiva kumbhakah pranavatmakah |
pranayamo bhavet tredha matra-dvadasha-samyutah || 2.2 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

recakaḥ : Ausatmung (Rechaka)
pūrakaḥ : Einatmung (Puraka)
ca : und (Cha)
eva : ebenso ("so", Eva)
kumbhakaḥ : Atemverhaltung (Kumbhaka)
praṇavātmakaḥ : deren Wesen (Atmaka) die heilige Silbe ॐ (Pranava) ist
prāṇāyāmaḥ : die Atemkontrolle, Atemregulation (Pranayama)
bhavet : besteht ("sei", bhū)
tredhā : aus drei Teilen (Tredha)
mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ : verbunden (Samyuta) mit (einer Dauer von) zwölf (Dvadasha) Zählzeiten (Matra)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 47 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie mit der Lesart evaṃ "so, in dieser Weise" statt tredhā im dritten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 101) überliefert.

Er benennt die drei Phasen eines vollständigen Pranayama, das aus Einatmung (Puraka), Atemverhaltung (Kumbhaka) und Ausatmung (Rechaka) besteht. Die beiden Adjektive praṇavātmakaḥ "deren Wesen die heilige Silbe OM ist" und mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ "verbunden mit (einer Dauer von) zwölf Zählzeiten" können sich syntaktisch sowohl auf prāṇāyāmaḥ, also den gesamten Zyklus, beziehen, oder aber auf jeweils eine der genannten drei Phasen recakaḥ, pūrakaḥ oder kumbhakaḥ.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt den Sinn (Artha) des Kompositums mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ dahingehend, dass es sich auf die Einatmung (pūrakaḥ) bezieht, und definiert ein mātrā als die Zeit (Kala), die für die einmalige (Sakrit) Rezitation (Japa) eines OM (Pranava) benötigt wird: sakṛt praṇava-japa-kālo mātrā. Die Einatmung (Purita) erstreckt sich folglich über die Zeitdauer der Rezitation von zwölf (Dvadasha) Pranava (was in GP 2, 4 ausdrücklich gelehrt wird): dvādaśa-praṇava-japa-kālena pūrita ity arthaḥ.

Shataka 2 Vers 3: Pranayama

Die Yogis sollten sich stets (der Funktionen von) Sonnen- und Mondkanal (d.h. von Pingala und Ida) bewusst sein. Diese vertreiben (in der Pranayamapraxis) in Verbindung mit (einer Dauer von) zwölf Zählzeiten (in Form von 12 mal OM pro Einatmung) eine Menge von Krankheiten.


मात्राद्वादशसंयुक्तौ दिवाकरनिशाकरौ |
दोषजालमपघ्नन्तौ ज्ञातव्यौ योगिभिः सदा || ३ ||
mātrā-dvādaśa-saṃyuktau divākara-niśākarau |
doṣa-jālam apaghnantau jñātavyau yogibhiḥ sadā || 2.3 ||
matra-dvadasha-samyuktau divakara-nishakarau |
dosha-jalam apaghnantau jnatavyau yogibhih sada || 2.3 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

mātrā-dvā-daśa-saṃyuktau : verbunden (Samyukta) mit (einer Dauer von) zwölf (Dvadasha) Zählzeiten (Matra)
divākara-niśākarau : der Sonne(nkanal, Divakara) und der Mond(kanal, Nishakara)
doṣa-jālam (Edition doṣā-jālam) : eine Menge ("ein Netz", Jala) von krankheitserzeugenden Faktoren, Krankheiten (Dosha)
apaghnantau : vertreibend, verscheuchend" (apa + han)
jñātavyau : sind zu kennen (Jnatavya)
yogibhiḥ : von den Yogapraktizierenden (Yogin)
sadā : immer, stets (Sada)

Anmerkungen: Dieser Vers wird fast wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 102) überliefert. Diese liest im dritten Pada a-badhnantau "nicht bindend" - was vermutlich auf einem Überlieferungsfehler beruht - statt apa-ghnantau "vertreibend, verscheuchend" (apa + han).

Bereits in Vers 1.99 und dem die Praxis von Nadi Shodhana zusammenfassenden Vers 1.100 wurde deutlich, dass die Reinigungsatmung die feinstofflichen Kanäle (Nadi) von Verunreinigungen (Mala) bzw. einem Übermaß oder Ungleichgewicht der Doshas Vata, Pitta und Kapha reinigt.

"Sonne" und "Mond" beziehen sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit im doppelten Sinne sowohl auf den Sonnen- und Mondkanal (Pingala und Ida, vgl. GP 1.96 candreṇa pūrayet ... sūryeṇa recayet), als auch auf die während der Atemverhaltung als Meditation visualisierte (dhyā) Sonnen- bzw. Mondscheibe (Bimba, vgl. GP 1.100 sūrya-candramasor ... bimba-dvayaṃ dhyāyatāṃ). Dies legt auch der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers nahe, welcher das Kompositumsglied °saṃyuktau wie folgt erläutert: sva-svāṅgābhyāsa-samaye dhyāna-yogena yojitau "verbunden (Yojita) mit der Visualisierungsmeditation ("Meditationstechnik" Dhyanayoga) zum Zeitpunkt (Kala) des Übens (Abhyasa) auf der jeweiligen (Sva Sva) Körperseite (Anga)".

Shataka 2 Vers 4: Verhältnis der Atemphasen

In der Einatmung führe man zwölf (OM) aus, in der Atemverhaltung seien es 16 (OM, und) in der Ausatmung zehn Omkara - dies wird Atemregulation (Pranayama) genannt.


पूरके द्वादशीकुर्यात्कुम्भके षोडशी भवेत् |
रेचके दश ॐकाराः प्राणायामः स उच्यते || ४ ||
pūrake dvādaśī-kuryāt kumbhake ṣoḍaśī bhavet |
recake daśa om̐-kārāḥ prāṇāyāmaḥ sa ucyate || 2.4 ||
purake dvadashi-kuryat kumbhake shodashi bhavet |
rechake dasha on-karah pranayamah sa uchyate || 2.4 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

pūrake : in der Einatmung (Puraka)
dvādaśī-kuryāt : man führe zwölf (Dvadasha) aus (kṛ)
kumbhake : in der Atemverhaltung (Kumbhaka)
ṣoḍaśī : sechzehn (Shodasha)
bhavet : soll (das Zählmaß) sein (bhū)
recake : in der Ausatmung (Rechaka)
daśa : zehn (Dasha)
om̐-kārāḥ : OM (lang, Omkara)
prāṇāyāmaḥ : Atemregulation (Pranayama)
saḥ : das (Tad)
ucyate : wird genannt (vac)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einigen grammatischen Varianten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 103) überliefert. Er gibt die Zählzeiten für jede einzelne der drei Phasen des Pranayama an und stellt somit klar, dass sich der Ausdruck Dvadasha "zwölf" in den beiden vorangehenden Versen GP 2, 2-3 auf die Einatmung (Puraka) bezieht.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar liest im ersten Pada pūrake dvādaśīṃ kuryāt und erklärt den Sinn des Akkusativs dvādaśīṃ in dem Sinne, dass er sich auf ein (aus dem vorangehenden Vers) zu ergänzendes Femininum mātrāṃ bezieht mit dvādaśoṅkāravatīṃ mātrāṃ kuryāt, d.h. in der Einatmung soll man das Zählmaß (Matra) mit 12 Omkara bemessen.

Shataka 2 Vers 5: Drei Stufen des Pranayama: Dauer der Einatemphasen

Auf der ersten Stufe besteht die Zählzeit aus zwölf (OM), auf der mittleren Stufe wird sie doppelt so hoch gelehrt, und auf der höchsten Stufe wird sie dreimal so hoch gelehrt - so lautet die Festlegung (der Dauer der Einatemphase) der Atemregulation.


प्रथमे द्वादशी मात्रा मध्यमे द्विगुणा मता |
उत्तमे त्रिगुणा प्रोक्ता प्राणायामस्य निर्णयः || ५ ||
prathame dvādaśī mātrā madhyame dvi-guṇā matā |
uttame tri-guṇā proktā prāṇāyāmasya nirṇayaḥ || 2.5 ||
prathame dvadashi matra madhyame dvi-guna mata |
uttame tri-guna prokta pranayamasya nirnayah || 2.5 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prathame : auf der ersten (Stufe, Prathama)
dvādaśī : besteht aus zwölf (Dvadasha)
mātrā : die Zählzeit ("Maßeinheit", Matra)
madhyame : auf der mittleren (Stufe, Madhyama)
dvi-guṇā : die doppelte (Zählzeit, Dviguna)
matā : wird gelehrt (Mata)
uttame : auf der höchsten (Stufe, Uttama)
tri-guṇā : die dreifache (Zählzeit, Triguna)
proktā : wird gelehrt (Prokta)
prāṇāyāmasya : der Atemkontrolle, Atemverhaltung (Pranayama)
nirṇayaḥ : (das ist) die Festlegung (Nirnaya)

Anmerkungen: Dieser Vers wird fast wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 104) sowie mit einigen Lesarten im ersten Halbvers als Vers 48 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. In YCU 104 heißt es im ersten Pada adhame "auf der niedrigsten (Stufe)" statt prathame.

Da im vorangehenden Vers GP 2, 4 die Einatmung mit einer Dauer von zwölf OM, die Atemverhaltung mit einer Dauer von 16 OM, und die Ausatmung mit einer Dauer von zehn OM angegeben wurde (was somit der niedrigsten Stufe entspricht), ergibt sich für die mittlere Stufe ein Verhältnis von 24 : 32 : 20 und für die höchste Stufe ein Verhältnis von 36 : 48 : 30 Zählzeiten bzw. Omkara.

Brahmananda zitiert in seinem Kommentar zu Hatha Yoga Pradipika 2.12 eine weitere, ebenfalls dem Goraksha zugeschriebenen Version dieses Shloka:

adhame dvādaśa proktā madhyame dvi-guṇāḥ smṛtāḥ |
uttame tri-guṇā mātrāḥ prāṇāyāme dvijottamaiḥ ||

"Auf der niedrigsten Stufe in Bezug auf die Atemregulierung werden von den Brahmanen (Dvijottama) zwölf Maßeinheiten gelehrt (Smrita), auf der mittleren Stufe doppelt soviele, und auf der höchsten Stufe dreimal soviele."

In der Gheranda Samhita (5.56) wird ebenfalls zwischen drei Stufen des Pranayama bzw. der Länge der Atemphasen unterschieden, allerdings in einer Abstufung von 12, 16 und 20 Zählzeiten pro Einatmung:

uttamā viṃśatir mātrā madhyamā ṣoḍaśī smṛtā |
adhamā dvādaśī mātrā prāṇāyāmās tridhā smṛtāḥ || 5.56 ||

"Die Atemkontrolle (Pranayama) wird als von dreierlei Art gelehrt: die höchste (Uttama, Stufe dauert) 20 Zählzeiten (pro Einatmung), die mittlere (Madhyama, Stufe) wird mit 16 Zählzeiten angegeben, und die niedrigste (Adhama, Stufe dauert) 12 Zählzeiten (Matra)." (GhS 5.56)

Da sich in der Gheranda Samhita (vgl. 5.50-52) das Verhältnis Einatmung : Atemverhaltung : Ausatmung wie 1 : 4 : 2 verhält, ergibt sich dort wiederum für die niedrigste Stufe ein Verhältnis von 12 : 48 : 24, für die mittlere Stufe ein Verhältnis von 16 : 64 : 32, und für die höchste Stufe ein Verhältnis von 20 : 80 : 40 Zählzeiten (Matra).

Shataka 2 Vers 6: Drei Stufen des Pranayama: Wirkungen

Auf der niedrigsten (Stufe) wird (innere) Hitze angefacht, auf der mittleren entsteht Zittern, und auf der höchsten (Stufe) erhebt sich der Yogi (von seiner Unterlage, oder: zum Brahmarandhra) - daher soll man den Atem anhalten.


अधमे चोद्यते घर्मः कम्पो भवति मध्यमे |
उत्तिष्ठत्युत्तमे योगी ततो वायुं निरोधयेत् || ६ ||
adhame codyate gharmaḥ kampo bhavati madhyame |
uttiṣṭhaty uttame yogī tato vāyuṃ nirodhayet || 2.6 ||
adhame codyate gharmah kampo bhavati madhyame |
uttishthaty uttame yogi tato vayum nirodhayet || 2.6 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

adhame : auf der niedrigsten (Stufe, Adhama)
codyate : wird angefacht, gefördert (cud)
gharmaḥ : Hitze, Schweiß (Gharma)
kampaḥ : ein Zittern (Kampa)
bhavati : entsteht ("wird", bhū)
madhyame : auf der mittleren (Stufe, Madhyama)
uttiṣṭhati : erhebt sich (von seiner Unterlage, oder: zum Brahmarandhra, ud + sthā)
uttame : auf der höchsten (Stufe, Uttama)
yogī : der Yogi (Yogin)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
vāyum : den Atem ("Wind", Vayu)
nirodhayet : man soll kontrollieren, anhalten ("einsperren", ni + rudh)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 105) sowie mit einer stärker abweichenden Lesung im 2. Halbvers als Vers 49 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Die Bedeutung des Verbs uttiṣṭhati (ud + sthā) "er steht auf, erhebt sich, steigt auf, springt auf" kann in diesem Vers in zweierlei Weise verstanden werden: in wörtlicher Bedeutung wäre gemeint, dass der Yogi von seiner Sitzunterlage "abhebt", d.h. es wird das Phänomen der Levitation oder spontanen in die Luft Hüpfens (vgl. Shiva Samhita 3.47) beschrieben. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt uttiṣṭhati in diesem Sinne mit āsanād utthānaṃ labhate "er erlangt das Sicherheben, Aufspringen (Utthana) von seinem Sitz (Asana)". In übertragener Bedeutung wäre gemeint, dass der Yogi in seinem Bewusstsein entlang der Wirbelsäule zum höchsten Punkt, dem Brahmarandhra, aufsteigt.

Auch in der Hatha Yoga Pradipika 2.12, der Gheranda Samhita (5.57) sowie der Shiva Samhita (3.46-48) werden die Wirkungen der drei genannten Stufen der Atemregulierung beschrieben, wobei jeweils eine der beiden genannten Verständnismöglichkeiten von uttiṣṭhati zum Tragen kommt. In der HYP heißt es dazu:

kanīyasi bhavet svedaḥ kampo bhavati madhyame |
uttame sthānam āpnoti tato vāyuṃ nibandhayet || 2.12 ||

"Auf der niedrigsten (Stufe) entsteht Schweiß (Sveda), auf der mittleren Zittern (Kampa), und auf der höchsten (Stufe) erreicht man den (höchsten) Ort (Sthana) - daher man soll den Atem (Vayu) anhalten." (HYP 2.12)

Brahmananda, der Kommentator der HYP erklärt hierzu, dass man auf der höchsten (Uttama) Stufe der Atemverhaltung das Brahmarandhra, den "Öffnung zum Brahman" genannten Ort (Sthana), erreicht: uttame prāṇāyāme sthānam brahma-randhram āpnoti. Eine weitere Bedeutung von sthāna ist "vollkommene Ruhe", d.h. das "Stillstehen" des Geistes.

In der Gheranda Samhita (5.57) heißt es wiederum:

adhamāj jāyate gharmo meru-kampaś ca madhyamāt |
uttamāc ca bhūmi-tyāgas tri-vidhaṃ siddhi-lakṣaṇam || 5.57 ||

"Die Erscheinungsformen (Lakshana) der (durch Atemverhaltung erlangten) übernatürlichen Fähigkeiten (Siddhi) sind von dreierlei Art: durch die niedrigste (Form) entsteht Hitze (Gharma), durch die mittlere das Zittern (Kampa) der Wirbelsäule ("des Berges Meru"), und durch die höchste (Form) entsteht das Verlassen (Tyaga) des Erdbodens (Bhumi)." (GhS 5.57)

Zur letzten und fortgeschrittensten Phase der Pranayamapraxis äußert sich Shiva Samhita (3.48) wie folgt:

yogī padmāsana-stho'pi bhuvam utsṛjya vartate |
vāyu-siddhis tadā jñeyā saṃsāra-dhvānta-nāśinī || 3.48 ||

"Ein Yogi, auch wenn er sich im Lotussitz (Padmasana) befindet, bleibt (in der Luft), nachdem er den Erdboden (Bhu) verlassen hat (d.h. er schwebt über dem Erdboden). Dann ist die Meisterschaft (Siddhi) über die Luft/den Atem/die Lebensenergie (Vayu) zu erkennen, welche die Dunkelheit (Dhvanta) des Daseinswandels (Samsara) zertört (Nashin)." (ŚS 3.48)

Shataka 2 Vers 7: Pranayama

Der Yogi, der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen hat, soll, nachdem er seinen Lehrer und Shiva verehrt hat, allein und mit auf die Mitte der Augenbrauen gerichtetem Blick die Atemkontrolle (Pranayama) praktizieren.


बद्धपद्मासनो योगी नमस्कृत्य गुरुं शिवम् |
भ्रूमध्ये दृष्टिरेकाकी प्राणायामं समभ्यसेत् || ७ ||
baddha-padmāsano yogī namas-kṛtya guruṃ śivam |
bhrū-madhye dṛṣṭir ekākī prāṇāyāmaṃ samabhyaset || 2.7 ||
baddha-padmasano yogi namas-kritya gurum shivam |
bhru-madhye drishtir ekaki pranayamam samabhyaset || 2.7 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

baddha-padmāsanaḥ : der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen ("gebunden", Baddha) hat
yogī : der Yogi (Yogin)
namas-kṛtya : nachdem er gegrüßt, verehrt hat (Namas-kṛ)
gurum : den Lehrer, Meister (Guru)
śivam : (und) Shiva (oder: als Shiva, wie Shiva)
bhrū-madhye : in der Mitte der Augenbrauen (fixiert, Bhrumadhya)
dṛṣṭiḥ : der Blick (Drishti)
ekākī : allein (Ekakin)
prāṇāyāmam : die Atemkontrolle, Verlängerung des Atems (Pranayama)
samabhyaset : soll praktizieren, üben (sam + abhi + as)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer Lesart in der Yogachudamani Upanishad (Vers 106) sowie als Vers 41 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Beide Versionen lesen im dritten Pada nāsāgra-dṛṣṭiḥ "mit auf die Nasenspitze (Nasagra) gerichtetem Blick" statt bhrū-madhye dṛṣṭiḥ.

Das Kompositum baddha-padmāsanaḥ bezieht sich hier als adjektivisches Kompositum (Bahuvrihi) auf yogī und bedeutet "(ein Yogi) der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen (Baddha) hat" (YTṬ: baddhaṃ padmāsanaṃ yena sa yogī.) Dessen Ausführung wird in GP 1.11 beschrieben, wobei ausdrücklich der auf die Nasenspitze (Nasagra) gerichtete Blick erwähnt wird, außerdem das auf die Brust gedrückte Kinn. Zudem sollen die hinter dem Rücken gekreuzten Arme bzw. Hände die großen Zehen festhalten, was wiederum Baddha Padmasana, dem "gebundenen Lotussitz" entspricht. Für die Ausführung von Atemtechniken, bei denen durch jeweils ein Nasenloch geatmet wird, kommt allerdings nur der einfache Lotussitz in Frage.

Die Lesung der Yoga Tarangini Tika lautet im dritten Pada ebenfalls nāsāgra-dṛṣṭiḥ, der Kommentar greift jedoch interessanterweise bhrū-madhye (die vorliegende Lesung der GP) auf und zitiert den Passus bhrū-madhye śaśabhṛd-bimbam "die Mondscheibe in der Mitte der Augenbrauen", der vermutlich der Shandilya Upanishad (5.2) oder einer anderen Yoga Upanishad ähnlichen Inhalts entnommen ist. Dann wird erklärt, es sei gemeint, dass der Yogi beide Augen auf die Nektar (Piyusha) verströmende Mondscheibe (Chandrabimba) in der Mitte der Augenbrauen richten soll.

Die erwähnte Stelle der Shandilya Upanishad, die im Kontext von Nadishuddhi, der Reinigung der feinstofflichen Energiekanäle steht, macht es noch deutlicher: "Der Weise (Vidvams), mit gerade aufgerichtetem Hals (Griva) und Kopf (Shiras), den (äußeren) Blick (Drish) auf der Nasenspitze (Nasagra), trinke den Unsterblichkeitsnektar (Amrita), indem er (innerlich) mit beiden Augen (Netra) die Mondscheibe (Shashabhrit-Bimba) in der Mitte der Augenbrauen (Bhrumadhya) visualisiert" (vidvān sama-grīva-śiro-nāsāgra-dṛg bhrū-madhye śaśabhṛd-bimbaṃ paśyan netrābhyām amṛtaṃ pibet).

Shataka 2 Vers 8: Vereinigung von Apana und Prana, Aufstieg der Kundalini

Indem man den Apana (genannten) Lebenswind (durch das Setzen von Mulabandha) nach oben zieht, soll man ihn mit Prana vereinigen. (Wenn) er durch die (Schlangen-)Kraft nach oben geleitet wird, befreit man sich von allen Leiden.


ऊर्ध्वमाकृष्य चापानवायुं प्राणे नियोजयेत् |
ऊर्ध्वमानीयते शक्त्या सर्वपापैः प्रमुच्यते || ८ ||
ūrdhvam ākṛṣya cāpāna-vāyuṃ prāṇe niyojayet |
ūrdhvam ānīyate śaktyā sarva-pāpaiḥ pramucyate || 2.8 ||
urdhvam akrishya chapana-vayum prane niyojayet |
urdhvam aniyate shaktya sarva-papaih pramuchyate || 2.8 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhvam : aufwärts, nach oben (Urdhva)
ākṛṣya : indem man zieht ("gezogen habend", ā + kṛṣ)
ca : und (Cha)
apāna-vāyum : den Apana (genannten) Lebenswind, Aspekt der Lebensenergie ("Wind", Vayu)
prāṇe : mit (wörtl.: "in") dem Prana
niyojayet : man vereinige ("bringe, zwinge zu", ni + yuj)
ūrdhvam : aufwärts, nach oben
ānīyate : wird er geführt, geleitet (ā + )
śaktyā : zusammen mit der (Schlangen-)Kraft (Shakti, gemeint ist die Kundalini)
sarva-pāpaiḥ : von allen (Sarva) Übeln, Leiden, Sünden (Papa)
pramucyate : wird man befreit, befreit man sich (pra + muc)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 52 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es im dritten Pada mūrdhānaṃ nīyate "(Wenn) er zum Schädel (Murdhan) geleitet wird" statt ūrdhvam ānīyate.

Mit dem Hinaufziehen von Apana wird auf das Setzen von Mula Bandha (das Kontrahieren des Beckenbodens und Verschließen des Anus) verwiesen, vgl. GP 1.80: apānam ūrdhvam ākṛṣya mūla-bandho vidhīyate "... und ziehe so den Apana aufwärts. Das wird Mula Bandha genannt".

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt: "Indem man den Apana (genannten) Lebenswind durch das Kontrahieren (Sankochana) des Adhara (d.h. des Muladhara) usw. nach oben zieht" āpāna-vāyum ādhāra-saṅkocanādinā ūrdhvam ākṛṣya. Mit Shakti ist die Kundalini gemeint: śaktyā kuṇḍalinyā.

Shataka 2 Vers 9: Pranayama und Meditation über das Selbst

Nachdem (der Yogi) die neun Körperöffnungen fest verschlossen hat, den Atem eingesogen und (im Wurzelzentrum) fest angehalten hat, soll er ihn zusammen mit Apana und dem Feuer (des Muladhara Chakra), in Bewegung gesetzt mit Hilfe der göttlichen (Kundalini-)Energie, in den leeren Raum (oberhalb des Augenbrauenzentrums) leiten. Indem er, verbunden mit dem unveränderten Zustand des Selbst, in der vorgeschriebenen Weise (die Kundalini) zusammen mit dem (Prana) im Scheitel(chakra) kontinuierlich sammelt, wird er, genau solange wie er dort (in absoluter Stille) verweilt, von der Gemeinschaft der großen Seelen gepriesen.


द्वाराणां नवकं निरुध्य मरुतं पीत्वा दृढं धारितं
नीत्वाकाशमपानवह्निसहितं शक्त्या समुच्चालितम्|
आत्मस्थानयुतस्त्वनेन विधिवद्विन्यस्य मूर्ध्नि ध्रुवं
यावत्तिष्ठति तावदेव महतां सङ्घेन संस्तूयते || ९ ||
dvārāṇāṃ navakaṃ nirudhya marutaṃ pītvā dṛḍhaṃ dhāritaṃ
nītvākāśam apāna-vahni-sahitaṃ śaktyā samuccālitam |
ātma-sthāna-yutas tv anena vidhivad vinyasya mūrdhni dhruvaṃ
yāvat tiṣṭhati tāvad eva mahatāṃ saṅghena saṃstūyate || 2.9 ||
dvaranam navakam nirudhya marutam pitva drdham dharitam
nitvakasham apana-vahni-sahitam shaktya samuchchalitam |
atma-sthana-yutas tv anena vidhivad vinyasya murdhni dhruvam
yavat tisthhati tavad eva mahatam sanghena samstuyate || 2.9 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvārāṇām : (Körper-)Öffnungen ("Tore", Dvara)
navakam : die neun (Navaka)
nirudhya : nachdem man verschlossen hat ("verschlossen habend", ni + rudh)
marutam : den Atem, die Lebensenergie ("Wind", Marut)
pītvā : eingesogen habend ()
dṛḍham : fest (Dridha)
dhāritam : angehalten (Dharita)
nītvā : führend, lenkend ("geführt habend", )
ākāśam : in den leeren Raum (Akasha)
apāna-vahni-sahitam : zusammen (Sahita) mit Apana und dem Feuer (Agni)
śaktyā : durch die göttliche (Kundalini-)Energie (Shakti)
samuccālitam : in Bewegung gesetzt (Samuchchalita)
ātma-sthāna-yutaḥ : vereinigt, verbunden (Yuta) mit dem unveränderten Zustand (Sthana) des Selbst (Atman)
tu : aber (Tu)
anena : auf, durch diese (Idam)
vidhivat : in der vorgeschriebenen Weise (Vidhivat)
vinyasya : lenkend, richtend, sammelnd ("gelenkt habend", vi + ni + as)
mūrdhni : auf das Scheitel-(Chakra, "auf den Kopf", Murdhan)
dhruvam : kontinuierlich (Dhruva)
yāvat : solange wie (Yavat)
tiṣṭhati : er still steht, ruht (sthā)
tāvat : solange (Tavat)
eva : genau (Eva)
mahatām : der großen (Seelen, Mahat)
saṅghena : von der Gemeinschaft (Sangha)
saṃstūyate : wird gepriesen, gelobt (sam + stu)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer Reihe von Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 107) überliefert. Die Varianten der YCU beruhen angesichts der Version der GP in der Mehrzahl vermutlich auf Überlieferungs- bzw. Kopierfehlern.

Die neun Körperöffnungen (dvārāṇāṃ navakam) sind die beiden Augen, die beiden Ohren, die beiden Nasenlöcher, der Mund, der Anus und die Geschlechtsöffnung bzw. Harnröhre (vgl. GP 1.13).

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers ergänzt wichtige Details der hier beschriebenen Praxis: Der eingezogene Atem soll zunächst im Muladhara Chakra festgehalten und da zusammen mit Apana sowie dem dort befindlichen Feuer (mūladhāra-gatena vahninā) stabilisiert werden (zu diesem "Feuer" vgl. GP 1.19 u. 48-49). Dann soll der Prana vermittels der Kundalini in den leeren Raum (Akasha) in der Region (Pradesha) oberhalb des Ajna Chakra (ājñā-cakrordhva-pradeśam) geleitet und dort gehalten werden, und anschließend im Sahasrara Chakra (sahasra-dale) stabilisiert werden. Dort soll der Yogi in der Meditation (Dhyana) über sein wahres Selbst (Atman) verweilen. An dieser Stelle weicht die YTṬ von der Lesung der GP ab und liest mit der YCU ātma-dhyāna-yutaḥ statt ātma-sthāna-yutaḥ.

Shataka 2 Vers 10: Lob des Pranayama

Auf diese Weise wird Pranayama zu einem (reinigenden) Feuer, das den Brennstoff der Sünden verzehrt. Pranayama wird von den Yogis eine gewaltige Brücke über den Ozean der weltlichen Existenz genannt.


प्राणायामो भवत्येवं पातकेन्धनपावकः |
भवोदधिमहासेतुः प्रोच्यते योगिभिः सदा || १० ||
prāṇāyāmo bhavaty evaṃ pātakendhana-pāvakaḥ |
bhavodadhi-mahā-setuḥ procyate yogibhiḥ sadā || 2.10 ||
pranayamo bhavaty evam patakendhana-pavakah |
bhavodadhi-maha-setuh prochyate yogibhih sada || 2.10 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇāyāmaḥ : die Atemkontrolle, Atemregulierung (Pranayama)
bhavati : ist, wird (bhū)
evam : auf diese Weise (Evam)
pātakendhana-pāvakaḥ : zu einem (reinigenden) Feuer (Pavaka) für den Brennstoff (Indhana) der Sünden (Pataka)
bhavodadhi-mahā-setuḥ : eine gewaltige (Maha) Brücke (Setu) über den Ozean der weltlichen Existenz (Bhavodadhi)
procyate : es wird genannt (pra + vac)
yogibhiḥ : von den Yogis (Yogin)
sadā : immer, stets (Sada)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einer minimalen Lesart in der Yogachudamani Upanishad (Vers 108) sowie mit einer Lesart als Vers 53 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. In letzterer lautet es im dritten Pada enombudhi-mahā-setuḥ "eine gewaltige Brücke über den Ozean (Ambudhi) der Sünden (Enas)" statt bhavodadhi-mahā-setuḥ.

Shataka 2 Vers 11: Zweck von Asana, Pranayama und Pratyahara

Durch die Körperstellungen vernichtet der Yogi Krankheiten, durch die Atemkontrolle vernichtet er Sünde, und durch das Zurückziehen (der Sinne von ihren Sinnesobjekten) lässt er geistige Ablenkungen los.


आसनेन रुजो हन्ति प्राणायामेन पातकम् |
विकारं मानसं योगी प्रत्याहारेण मुञ्चति || ११ ||
āsanena rujaṃ hanti prāṇāyāmena pātakam |
vikāraṃ mānasaṃ yogī pratyāhāreṇa muñcati || 2.11 ||
asanena rujam hanti pranayamena patakam |
vikaram manasam yogi pratyaharena munchati || 2.11 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanena : durch die Körperstellung(en), Sitzhaltung(en, Asana)
rujam : Krankheit (Ruj)
hanti : vernichtet (han)
prāṇāyāmena : durch die Atemkontrolle (Pranayama)
pātakam : Sünde (Pataka)
vikāram : Störung, Aufregung, Modifikation ("Veränderung", Vikara)
mānasam : mentale, geistige (Manasa)
yogī : der Yogi (Yogin)
pratyāhāreṇa : durch das Zurückhalten, Zurückziehen (der Sinne, Pratyahara)
muñcati : lässt los, gibt auf (muc)

Anmerkungen: Dieser Vers wird Wort für Wort in der Yogachudamani Upanishad (Vers 109) sowie mit einer Lesart als Vers 54 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. In letzterer lautet es im vierten Pada sarvadā "jederzeit, immer" statt muñcati.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers ergänzt aus ayurvedischer Sicht, dass der Yogi durch die Asanapraxis vermittelst des Besänftigens (Shamana) der Humore (Dosha) die körperlichen (Daihika) Beschwerden (Badha) vertreibt: doṣa-śamana-dvārā ... daihika-bādhā ... nāśayati.

Shataka 2 Vers 12: Zweck von Dharana, Dhyana und Samadhi

(Ein Yogi), der den Konzentrationsübungen zugetan ist, erlangt Festigkeit (des Geistes), durch Meditation einen wunderbaren Bewusstseinszustand, und in der Versenkung, wo er gute und schlechte Handlungen (und deren Folgen) hinter sich lässt, erlangt er die Erlösung.


धारणाभिमतो धैर्यं ध्यानाच्चैतन्यमद्भुतम् |
समाधौ मोक्षमाप्नोति त्यक्त्वा कर्म शुभाशुभम् || १२ ||
dhāraṇābhimato dhairyaṃ dhyānāc caitanyam adbhutam |
samādhau mokṣam āpnoti tyaktvā karma śubhāśubham || 2.12 ||
dharanabhimato dhairyam dhyanach chaitanyam adbhutam |
samadhau moksham apnoti tyaktva karma shubhashubham || 2.12 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dhāraṇābhimataḥ : einer, der den Konzentrationsübungen (Dharana) zugetan ist (Abhimata)
dhairyam : Festigkeit, Beständigkeit, Ruhe (des Geistes, Dhairya)
dhyānāt : durch Meditation (Dhyana)
caitanyam : Bewusstsein(szustand, Chaitanya)
adbhutam : einen wunderbaren (Adbhuta)
samādhau : in der Versenkung (Samadhi)
mokṣam : Erlösung (Moksha)
āpnoti : er erreicht, erlangt (āp)
tyaktvā : indem er aufgibt, loslässt ("verlassen habend", tyaj)
karma : Handlungen (und deren Folgen, Karman)
śubhāśubham : gute und schlechte (Shubhashubha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit ein paar Lesarten im ersten Halbvers in der Yogachudamani Upanishad (Vers 110) überliefert. Dort heißt es dhāraṇābhir mano-dhairyaṃ yāti "Durch die Konzentrationsübungen erlangt (der Yogi) Festigkeit des Geistes (Manas)" statt dhāraṇābhimato dhairyaṃ dhyānāc.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt caitanyam adbhutam mit uttamaṃ jñānam "höchste (Uttama) Erkenntnis (Jnana)". Zum vierten Pada heißt es "wo er ... Handlungen und deren Folgen (Phala) vermittels des Loslassens (Tyaga) von Identifikation (Abhimana) hinter sich lässt" ... karma tat-phalaṃ cābhimāna-tyāga-dvārā tyaktvā ....

Die Verse 2.11 und 2.12 nehmen auf den Vers 1.6 der GP bezug, wo die sechs Glieder des Hatha Yoga aufgezählt werden.

Shataka 2 Vers 13: Verhältnis von Pranayama, Pratyahara und Dharana

Durch 12 (Zyklen der) Atemkontrolle wird das Zurückhalten (der Sinne bzw. des inneren Nektars) definiert. Durch 12 (Zyklen) des Zurückhaltens wird verheißungsvolle Konzentration erfahren.


प्राणायामद्विषट्केन प्रत्याहारः प्रकीर्तितः |
प्रत्याहारद्विषट्केन ज्ञायते धारणा शुभा || १३ ||
prāṇāyāma-dvi-ṣaṭkena pratyāhāraḥ prakīrtitaḥ |
pratyāhāra-dvi-ṣaṭkena jñāyate dhāraṇā śubhā || 2.13 ||
pranayama-dvi-shatkena pratyaharah prakirtitah |
pratyahara-dvi-shatkena jnayate dharana shubha || 2.13 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇāyāma-dvi-ṣaṭkena : durch zwei (Dvi mal) sechs (Shatka Zyklen der) Atemkontrolle (Pranayama)
pratyāhāraḥ : das Zurückhalten (des inneren Nektars, Pratyahara)
prakīrtitaḥ : wird definiert ("bezeichnet", Prakirtita)
pratyāhāra-dvi-ṣaṭkena : durch zwei (mal) sechs des Zurückhaltens (des inneren Nektars)
jñāyate : wird erfahren (jñā)
dhāraṇā : Konzentration (Dharana)
śubhā : verheißungsvolle (Shubha)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einer minimalen Lesart in der Yogachudamani Upanishad (Vers 111) überliefert. Dort heißt es im vierten Pada jāyate "entsteht" statt jñāyate.

Der Kommentar der Yoga Tarangini Tika bemerkt zum zweiten Halbvers, dass durch 144 (12 x 12) Pranayamas (bzw. 12 Pratyaharas) die durch die Konzentration hervorgebrachten (Janita) Folgen bzw. "Früchte" (Phala) eintreten (Phalodaya): dhāraṇā-janita-phalodayo bhavati.

Shataka 2 Vers 14: Verhältnis von Dharana, Dhyana und Samadhi

Zwölf Konzentration(szyklen) werden von den Meditationskundigen Meditation genannt. Eine Anzahl von zwölf Meditation(szyklen) wird als Versenkung bezeichnet.


धारणा द्वादश प्रोक्ता ध्यानं ध्यानविशारदैः |
ध्यानद्वादशकेनैव समाधिरभिधीयते || १४ ||
dhāraṇā dvādaśa proktā dhyānaṃ dhyāna-viśāradaiḥ |
dhyāna-dvādaśakenaiva samādhir abhidhīyate || 2.14 ||
dharana dvadasha prokta dhyanam dhyana-visharadaih |
dhyana-dvadashakenaiva samadhir abhidhiyate || 2.14 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dhāraṇāḥ : Konzentration(szyklen, Dharana)
dvādaśa : (eine Anzahl von) zwölf (Dvadasha)
proktāḥ : werden genannt (Prokta)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
dhyāna-viśāradaiḥ : von den Meditationskundigen (Dhyana-Visharada)
dhyāna-dvādaśakena : eine Anzahl von zwölf (Dvadashaka) Meditation(szyklen)
eva : gewiss (Eva)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
abhidhīyate : wird bezeichnet als (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Lesarten im ersten Halbvers in der Yogachudamani Upanishad (Vers 112) überliefert. Dort heißt es im vierten Pada yoga-viśāradaiḥ "von den Yogakundigen" statt dhyāna-viśāradaiḥ.

Die Edition der Laxmi-Venkateshwar Press (Bombay) liest im zweiten Pada dhyānād (Abl. Singular "von der Meditation her, hinsichtlich der Meditation") statt dhyānaṃ. Die ziemlich fehlerbehaftete Version des Divine Yoga Institute (Kathmandu) folgt dieser Lesung, übersetzt allerdings den Nominativ dhyānaṃ, welcher hier im Einklang mit der Version der Yoga Tarangini Tika sowie YCU 112 übernommen wurde. Die Version dhāraṇā dvādaśa proktā dhyānād dhyāna-viśāradaiḥ könnte man wie folgt verstehen: "Hinsichtlich der Meditation werden von den Meditationskundigen zwölf Konzentration(szyklen) gelehrt".

Zusammengefasst ergibt sich das folgende, zunächst rein rechnerische Verhältnis der einzelnen Glieder bzw. Angas:

In Analogie zum Kommentar der YTṬ zum vorangehenden Vers (GP 2.13) ergibt sich, dass durch die Praxis von 12 Dhyanas (bzw. 20736 Pranayamas) die durch die Versenkung (Samadhi) hervorgebrachten Folgen eintreten - mit anderen Worten, der Yogi in den höchsten, nicht-dualen Bewusstseinszustand eintritt.

Shataka 2 Vers 15: Das höchste Licht

Wenn dieses höchste, unendliche, nach allen Richtungen strahlende Licht (im Zustand) der Versenkung erblickt wird, dann gibt es (für den Yogi) weder Handlung noch das Gesetz der Tatvergeltung oder (erneuten) Daseinswandel.


यत्समाधौ परं ज्योतिरनन्तं विश्वतोमुखम् |
तस्मिन्दृष्टे क्रिया कर्म यातायातं न विद्यते || १५ ||
yat samādhau paraṃ jyotir anantaṃ viśvato-mukham |
tasmin dṛṣṭe kriyā karma yātāyātaṃ na vidyate || 2.15 ||
yat samadhau param jyotir anantam vishvato-mukham |
tasmin drishte kriya karma yatayatam na vidyate || 2.15 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yat : dieses ("welches", Yad)
samādhau : in der Versenkung (Samadhi)
param : (erscheinende) höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
anantam : unendliche, grenzenlose (Ananta)
viśvato-mukham : das überallhin strahlt ("nach allen Seiten gewandt ist", Vishvatomukha)
tasmin : (wenn) es (Tad)
dṛṣṭe : gesehen, wahrgenommen wird (Drishta)
kriyā : Handlung (Kriya)
karma : (das Gesetz der) Tatvergeltung (Karman)
yātāyātam : Entstehen und Vergehen, Daseinswandel ("Kommen und Gehen", Yatayata)
na : nicht (Na)
vidyate : es gibt (vid)

Anmerkungen: Dieser Vers erschien mit zwei Lesarten bereits als Vers 20 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati im Kontext von Samadhi (vgl. die dortige Anm.). Er wird mit mit kleineren Varianten im ersten Pada als Vers 113 der Yogachudamani Upanishad (dort ebenfalls zum wiederholten mal) überliefert.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt yātāyātam als "Geborenwerden (Janana) und Sterben (Marana), das Sichdrehen (Parivartana) des Rades (Chakra) des Daseinswandels (Samsara)": janana-maraṇaṃ saṃsāra-cakra-parivartanam.

Shataka 2 Vers 16: Konzentration auf die höchste Wirklichkeit mit Shanmukhi Mudra

Indem man (in Siddhasana bzw. Guptasana eine der) beide(n) Fersen (jeweils) an den Beckenboden und (über) das Glied legt, und die Öffnungen der Ohren, Augen und Nasengänge mit den Fingern verschließt, soll man die durch den Mund eingeatmete Luft (d.h. Prana) im Brustbereich zusammen mit Apana und dem Feuer (des Muladhara Chakra) visualisieren und dann im Scheitel(chakra) unbeweglich (durch Konzentration) festhalten. Auf diese Weise, in dem er mit diesen (Prana, Apana und dem Feuer) eins geworden ist, erreicht ein hervorragender Yogi Gleichheit mit der außergewöhnlichen (höchsten) Wirklichkeit.


सम्बद्धासनमेढ्रमङ्घ्रियुगलं कर्णाक्षिनासापुट-
द्वाराण्यङ्गुलिभिर्नियम्य पवनं वक्त्रेण सम्पूरितम् |
ध्यात्वा वक्षसि वह्न्यपानसहितं मूर्ध्नि स्थितं धारये-
देवं याति विशेषतत्त्वसमतां योगीश्वरस्तन्मयः || १६ ||
sambaddhāsana-meḍhram aṅghri-yugalaṃ karṇākṣi-nāsā-puṭa-
dvārāṇy aṅgulibhir niyamya pavanaṃ vaktreṇa sampūritam |
dhyātvā vakṣasi vahny-apāna-sahitaṃ mūrdhni sthitaṃ dhārayed
evaṃ yāti viśeṣa-tattva-samatāṃ yogīśvaras tan-mayaḥ || 2.16 ||
sambaddhasana-medhram anghri-yugalam karnakshi-nasa-puta-
dvarany angulibhir niyamya pavanam vaktrena sampuritam |
dhyatva vakshasi vahny-apana-sahitam murdhni sthitam dharayed
evam yati vishesha-tattva-samatam yogishvaras tan-mayah || 2.16 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sambaddhāsana-meḍhram : an den Beckenboden (Asana im Sinne von Yonisthana) und (oberhalb) des Gliedes (Medhra) angelegt ("verbunden mit, sich befindend", Sambaddha)
aṅghri-yugalam : beide ("Paar", Yugala) Fersen, Knöchel ("Füße" Anghri)
karṇākṣi-nāsā-puṭa-dvārāṇi : die Öffnungen ("Tore", Dvara) der Ohren (Karna), Augen (Akshi) und Nasengänge (Nasaputa)
aṅgulibhiḥ : mit den Fingern (Anguli)
niyamya : verschließend ("unterdrückt habend", ni + yam)
pavanam : Atem ("Wind", Pavana)
vaktreṇa : durch den Mund (Vaktra)
sampūritam : den eingeatmenten ("gefüllten", Sampurita)
dhyātvā : visualisierend, sich konzentrierend ("meditiert habend", dhyā)
vakṣasi : im Brustbereich (Vakshas)
vahny-apāna-sahitam : zusammen (Sahita) mit dem Feuer (Vahni) und Apana
mūrdhni : im Scheitel-(Chakra, "auf dem Kopf", Murdhan)
sthitam : befindlich, feststehend (Sthita)
dhārayet : er halte, konzentriere (dhṛ)
evam : so, in dieser Weise (Evam)
yāti : erreicht ("geht zu", )
viśeṣa-tattva-samatām : Gleichheit, Identität (Samata) mit der außergewöhnlichen (Vishesha) Wirklichkeit ("Sosein", Tattva)
yogīśvaraḥ : der hervorragende Yogin ("Fürst unter den Yogis", Yogishvara)
tan-mayaḥ : darin aufgehend, damit Eins seiend (Tanmaya)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer Reihe von Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 114) überliefert. Der Kommentar der Yoga Tarangini Tika erklärt, dass sich die kurzgefassten Anweisungen im ersten Pada auf Siddhasana (bzw. Guptasana) beziehen, wobei eine entsprechende Passage aus GP 1.10 zitiert wird.

Das Kompositum sambaddhāsana-meḍhram bezieht sich als adjektivisches Kompositum (Bahuvrihi) auf aṅghri-yugalam ("die beiden Fersen bzw. Füße") und ist wie folgt aufzulösen: sambaddhe āsana-meḍhre (Nom. Dual n.) [yena, tat] aṅghri-yugalam "womit Beckenboden (Asana) und Glied (Medhra) verbunden (Sambaddha) sind, diese beiden (Yugala) Fersen (Anghri)". Das Kompositumsglied āsana- bedeutet hier nicht "Sitzhaltung", sondern steht im Sinne von Yonisthana "Beckenboden": atrāsanaṃ yoni-sthānam.

Das Verschließen von Ohren, Augen und Nasenlöchern sowie (nach erfolgter Einatmung) des Mundes mit den Daumen und Fingern (Anguli) beider Hände ist als Shanmukhi Mudra bekannt.

Der eingezogene Atem (YTṬ: pavanaṃ = prāṇa-vāyum) soll (wie in der in GP 2.9 gelehrten Praxis) zusammen mit Apana sowie dem im Muladhara Chakra befindlichen Feuer (mūladhāra-sthita-vahny-apānābhyām) in der Brust, d.h. im "Herzlotus" (hṛt-saroje, Hritsaroja) gehalten bzw. visualisiert (dhyātvā) werden (zu diesem "Feuer" vgl. GP 1.19 u. 48-49).

Shataka 2 Vers 17: Die Entstehung des inneren Klanges

Wenn der Atem (d.h. Prana) in den leeren Raum (des Stirnchakras) eingetreten ist, dann entsteht ein mächtiger Klang, wie der von Glocken und anderen Musikinstrumenten. Dann ist die Vollkommenheit nicht mehr fern.


गगनं पवने प्राप्ते ध्वनिरुत्पद्यते महान् |
घण्टादीनां प्रवाद्यानां तदा सिद्धिरदूरतः || १७ ||
gaganaṃ pavane prāpte dhvanir utpadyate mahān |
ghaṇṭādīnāṃ pravādyānāṃ tadā siddhir adūrataḥ || 2.17 ||
gaganam pavane prapte dhvanir utpadyate mahan |
ghantadinam pravadyanam tada siddhir aduratah || 2.17 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

gaganam : den leeren Raum ("Himmel", Gagana)
pavane : (wenn) der Atem ("Wind", Pavana)
prāpte : erreicht hat (Prapta)
dhvaniḥ : Ton, Klang (Dhvani)
utpadyate : entsteht (ut + pad)
mahān : ein mächtiger, gewaltiger (Mahat)
ghaṇṭādīnām : wie Glocken (Ghanta) usw. ("zum Anfang habend", Adi)
pravādyānām : von Musikinstrumenten (Pravadya)
tadā : dann (Tada)
siddhiḥ : die Vollkommenheit (Siddhi)
adūrataḥ : (ist) nicht mehr fern (Aduratas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit zwei Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 115) überliefert. Dort heißt es im vierten Pada nāda-siddhir udīritā "das wird die Erlangung (Siddhi) des inneren ("unangeschlagenen") Klanges (Nada) genannt (Udirita)" statt tadā siddhir adūrataḥ.

In GP 2.73 wird gelehrt, dass der leere Raum (Akasha) bzw. "Himmel" (Gagana, die Yoga Tarangini Tika umschreibt gaganam mit ākāśam) im Zusammenhang mit dem (inneren) Klang (Shabda) auf den leeren Raum des Ajna Chakras verweist: ākāśe yatra śabdaḥ syāt ....

In der Hatha Yoga Pradipika (4.68) wird gesagt, dass der innere Klang in der Sushumna entsteht:

śravaṇa-puṭa-nayana-yugala-ghrāṇa-mukhānāṃ nirodhanaṃ kāryam |
śuddha-suṣumṇā-saraṇau sphuṭam amalaḥ śrūyate nādaḥ || 4.68 ||

"Die Ohren (Shravana), die Augen (Nayana), die Nase (Ghrana) und der Mund (Mukha) sollen verschlossen werden. Dann hört man deutlich einen reinen (Amala) Klang (Nada) im Kanal (Sarani) der gereinigten (Shuddha) Sushumna." (HYP 4.68)

In seinem Kommentar zu Hatha Yoga Pradipika (4.85-86) bringt Brahmananda das Entstehen verschiedener innerer Klänge (Nada) wiederum mit dem Hinführen des Prana zum Brahmarandhra und seiner Stabilisierung dort in Zusammenhang.

Im Allgemeinen wird allerdings die Wahrnehmung des inneren Klanges mit dem (an der Sushumna gelegenen) Herz- bzw. Anahata Chakra in Verbindung gebracht, das nach dem "unangeschlagenen Ton" (Anahata Nada) benannt ist. Auch Upanishad Brahma Yogin, der Kommentator der Yogachudamani Upanishad, erklärt hier das Wort gaganam, das wörtlich "Himmel" bedeutet, als den "im Herzen (Hridaya) beschlossenen (Avachchhinna) ungeteilten (Avyakrita) Raum": hṛdayāvacchinnāvyākṛta-gaganam.

Shataka 2 Vers 18: Pranayama: Gesundheitliche Folgen richtiger und mangelnder Praxis

Durch richtige Atemkontrolle kommt die Vernichtung aller Krankheiten zustande. Durch die Anwendung unangemessener Übungspraktiken entstehen alle möglichen Krankheiten.


प्राणायामेन युक्तेन सर्वरोगक्षयो भवेत् |
अयुक्ताभ्यासयोगेन सर्वरोगस्य सम्भवः || १८ ||
prāṇāyāmena yuktena sarva-roga-kṣayo bhavet |
ayuktābhyāsa-yogena sarva-rogasya sambhavaḥ || 2.18 ||
pranayamena yuktena sarva-roga-kshayo bhavet |
ayuktabhyasa-yogena sarva-rogasya sambhavaḥ || 2.18 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇāyāmena : Atemkontrolle (Pranayama)
yuktena : durch angemessene, richtige (Yukta)
sarva-roga-kṣayaḥ : die Vernichtung (Kshaya) aller (Sarva) Krankheiten (Roga)
bhavet : kommt zustande, wird sein (bhū)
ayuktābhyāsa-yogena : für diejenigen, die keine Atemkontrolle praktizieren ("ermangelnd", Viyukta)
sarva-rogasya : aller Krankheiten
sambhavaḥ : die Entstehung (Sambhava)

Anmerkungen: Dieser Vers wird fast Wort für Wort in der Hatha Yoga Pradipika (2.16) sowie mit einigen Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 116) überliefert. In letzterer heißt es im dritten Pada prāṇāyāma-viyuktebhyaḥ "denjenigen, die keine Atemkontrolle praktizieren" statt ayuktābhyāsa-yogena.

In seinem Kommentar zu HYP 2.16 ergänzt Brahmananda, dass eine korrekte (Yukta) Atemkontrolle von einer angemessenen Ernährung (Ahara) usw. begleitet wird (āhārādi-yukti-pūrvakaḥ) sowie durch die richtige Anwendung (Yukti) der Jalandhara Bandha usw. genannten Verschlüsse charakterisiert ist (jālandharādi-bandha-yukti-viśiṣṭaḥ).

Shataka 2 Vers 19: Pranayama: Gesundheitliche Folgen falscher Praxis

Aufgrund der Beeinträchtigung des Atems (durch verkehrte Atempraxis) entstehen die verschiedentlichsten Krankheiten (und Störungen wie) Schluckauf, Husten, Asthma sowie Kopf-, Ohren- und Augenschmerzen.


हिक्का कासस्तथा श्वासः शिरःकर्णाक्षिवेदनाः |
भवन्ति विविधा रोगाः पवनस्य व्यतिक्रमात् || १९ ||
hikkā kāsas tathā śvāsaḥ śiraḥ-karṇākṣi-vedanāḥ |
bhavanti vividhā rogāḥ pavanasya vyatikramāt || 2.19 ||
hikka kasas tatha shvasah shirah-karnakshi-vedanah |
bhavanti vividha rogah pavansya vyatikramat || 2.19 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

hikkā : Schluckauf (Hikka)
kāsaḥ : Husten (Kasa)
tathā : und, ebenso (Tatha)
śvāsaḥ : Asthma (Shvasa)
śiraḥ-karṇākṣi-vedanāḥ : Kopf- (Shiras), Ohren- (Karna) und Augenschmerzen (Akshi-Vedana)
bhavanti : entstehen (bhū)
vividhāḥ : die verschiedentlichsten (Vividha)
rogāḥ : Krankheiten (Roga)
pavanasya : des Atems ("Windes", Pavana), der Lebensenergie)
vyatikramāt : durch Beeinträchtigung ("Übertretung", Vyatikrama)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten in der Hatha Yoga Pradipika (2.17) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 117) überliefert. Dort heißt es im vierten Pada entsprechend pavanasya prakopataḥ "aufgrund einer Übererregung (Prakopa) des (Atem-)Windes" (aus ayurvedischer Sicht ist der Dosha Vata gemeint) bzw. pavana-vyatyaya-kramāt "aufgrund der Missachtung ('Verkehrung', Vyatyaya) der Praxis (Krama) hinsichtlich des Atems" statt pavanasya vyatikramāt.

Shataka 2 Vers 20: Pranayama: Allmähliche Zähmung des Atems

So wie ein Löwe, ein Elefant oder ein Tiger ganz allmählich gehorsam wird, anderenfalls (aber) den Dompteur tötet - genauso (tötet auch) der Atem (den Praktizierenden), wenn er nicht richtig behandelt wird.


यथा सिंहो गजो व्याघ्रो भवेद्वश्यः शनैः शनैः |
अन्यथा हन्ति योक्तारं तथा वायुरसेवितः || २० ||
yathā siṃho gajo vyāghro bhaved vaśyaḥ śanaiḥ śanaiḥ |
anyathā hanti yoktāraṃ tathā vāyur asevitaḥ || 2.20 ||
yatha simho gajo vyaghro bhaved vashyah shanaih shanaih |
anyatha hanti yoktaram tatha vayur asevitah || 2.20 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yathā : wie (Yatha)
siṃhaḥ : ein Löwe (Simha)
gajaḥ : ein Elefant (Gaja)
vyāghraḥ : ein Tiger (Vyaghra)
bhavet : wird (bhū)
vaśyaḥ : gehorsam, folgsam (Vashya)
śanaiḥ śanaiḥ : ganz langsam, ganz allmählich (Shanais)
anyathā : anderenfalls (Anyatha)
hanti  : er tötet (han)
yoktāram : den Dompteur (Yoktri)
tathā : so (Tatha)
vāyuḥ : der Atem, Prana ("Wind", Vayu)
asevitaḥ : nicht (richtig, respektvoll) behandelt (Asevita)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einem abweichenden zweiten Halbvers in der Hatha Yoga Pradipika (2.15) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 118) überliefert. Dort heißt es übereinstimmend tathaiva sevito vāyur anyathā hanti sādhakam "Genau so wird es auch der Atem, wenn er richtig behandelt (Sevita) wird. Anderenfalls tötet er den Praktizierenden (Sadhaka)".

Shataka 2 Vers 21: Bedeutung achtsamen Praktizierens

Man soll sehr aufmerksam ausatmen, sehr aufmerksam einatmen, und sehr aufmerksam den Atem anhalten. So ist die Vollkommenheit nicht mehr fern.


युक्तं युक्तं त्यजेद्वायुं युक्तं युक्तं च पूरयेत् |
युक्तं युक्तं च बध्नीयादेवं सिद्धिरदूरतः || २१ ||
yuktaṃ yuktaṃ tyajed vāyuṃ yuktaṃ yuktaṃ ca pūrayet |
yuktaṃ yuktaṃ ca badhnīyād evaṃ siddhir adūrataḥ || 2.21 ||
yuktam yuktam tyajed vayum yuktam yuktam cha purayet |
yuktam yuktam cha badhniyad evam siddhir aduratah || 2.21 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yuktaṃ yuktam : ganz angemessen, sehr aufmerksam (Yukta)
tyajet : man entlasse (tyaj)
vāyum : den Atem ("Wind", (Vayu)
yuktaṃ yuktam : ganz angemessen, sehr aufmerksam
ca : und (Cha)
pūrayet : man atme ein (pṝ)
yuktaṃ yuktam : ganz angemessen, sehr aufmerksam
ca : und
badhnīyāt : man halte an ("binde fest", badh)
evam : so, auf diese Weise (Evam)
siddhiḥ : die Vollkommenheit (Siddhi)
adūrataḥ : (ist) nicht mehr fern (Aduratas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wird mit kleineren Lesarten in der Hatha Yoga Pradipika (2.18) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 119) überliefert. Dort heißt es im vierten Pada jeweils siddhim avāpnuyāt "man erlangt die Vollkommenheit" statt siddhir adūrataḥ.

Brahmananda, der Kommentator der HYP ergänzt, dass das Anhalten (kumbh) des Atems mit dem Setzen von Jalandhara Bandha usw. (Adi), d.h. von Mulabandha und Uddiyana Bandha verbunden (Yukta) ist: jālandhara-bandhādi-yuktaṃ badhnīyāt kumbhayet.

Shataka 2 Vers 22: Erste Definition von Pratyahara

Das Zurückziehen der Augen und übrigen (Sinne), die zu ihren jeweiligen Sinnesobjekten schweifen, (von diesen Sinnesobjekten) wird Pratyahara ("Rückzug der Sinne") genannt.


चरतां चक्षुरादीनां विषयेषु यथाक्रमम् |
यत्प्रत्याहरणं तेषां प्रत्याहरः स उच्यते || २२ ||
caratāṃ cakṣur-ādīnāṃ viṣayeṣu yathā-kramam |
yat pratyāharaṇaṃ teṣāṃ pratyāharaḥ sa ucyate || 2.22 ||
charatam chakshur-adinam vishayeshu yatha-kramam |
yat pratyaharanam tesham pratyaharah sa uchyate || 2.22 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

caratām : der abschweifenden, wandernden (car)
cakṣur-ādīnām : Augen (Cakshus) usw. ("zum Anfang habend", Adi)
viṣayeṣu : zu den Sinnesobjekten (Vishaya)
yathā-kramam : der Reihe nach, jeweils (Yathakrama)
yat : das, welches (Yad)
pratyāharaṇam : Zurückhalten, Zurückziehen (Pratyaharana) von diesen (Sinnesobjekten, Tad)
teṣām : dieser (Sinnesorgane, Tad)
pratyāhāraḥ : Zurückhalten, Zurückziehen (der Sinne, Pratyahara)
saḥ : das (Tad)
ucyate : wird genannt, heißt (vac)

Anmerkung: Dieser Vers wird beinahe wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 120) überliefert. Der zweite Halbvers erscheint ebenso fast Wort für Wort in GP 2, 30 cd, wo eine weitere, gänzlich andere Definition von Pratyahara gegeben wird.

Shataka 2 Vers 23: Zweck von Pratyahara

So wie die Sonne am Abend ihr Licht zurückzieht, genauso (zieht) der Yogi, der das dritte Glied (des Hatha Yoga, Pratyahara) praktiziert, die (Energie der auf die Sinnesobjekte gerichteten) geistigen Modifikationen (zurück).


यथा तृतीयकालस्थो रविः प्रत्याहरेत्प्रभाम् |
तृतीयाङ्गस्थितो योगी विकारं मानसं तथा || २३ ||
yathā tṛtīya-kāla-stho raviḥ pratyāharet prabhām |
tṛtīyāṅga-sthito yogī vikāraṃ mānasaṃ tathā || 2.23 ||
yatha tritiya-kala-stho ravih pratyaharet prabham |
tritiyanga-sthito yogi vikaram manasam tatha || 2.23 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yathā : so wie (Yatha)
tṛtīya-kāla-sthaḥ : sich am Abend, zur Abendzeit ("zur dritten Tageszeit", Tritiya-Kala) zeigend ("befindend", Stha)
raviḥ : die Sonne (Ravi)
pratyāharet : zurückzieht (prati + ā + hṛ)
prabhām : den Glanz, das Licht (Prabha)
tṛtīyāṅga-sthitaḥ : der sich im dritten (Tritiya) Glied (des Yoga Anga) befindet (Stha)
yogī : der Yogi (Yogin)
vikāram : Modifikation ("Veränderung", Vikara)
mānasam : mentale, geistige (Manasa)
tathā : ebenso, genauso (Tatha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit zwei Lesarten als Abschlussvers der Yogachudamani Upanishad (Vers 121) überliefert. Dort heißt es im ersten Pada tṛtīya-kāle tu "in der dritten Tageszeit aber" statt tṛtīya-kāla-stho.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt tṛtīya-kāla-sthaḥ mit divasāvasāna-sthaḥ "sich am Ende (Avasana) des Tages (Divasa) befindend", also zur Zeit des Sonnenuntergangs bzw. der Abenddämmerung. Somit steht Kala hier im Sinne der letzten der drei Sandhya, der als drei "Gelenke" des Tages verstandenen Abschnitte Morgen, Mittag und Abend.

Der Wortlaut vikāraṃ mānasam wird in der YTṬ mit viṣaya-vāsanā-rūpam "in Form (Rupa) der auf die Sinnesobjekte (Vishaya) gerichteten Wünsche (Vasana)" erklärt. Hier entspricht vikāraṃ mānasam "geistige Modifikation(en)" dem bekannteren Begriff citta-vṛtti (Chittavritti). Der Yogi nimmt in Pratyahara die nach außen gerichtete Energie seiner Wünsche und Projektionen wieder zu sich zurück (vgl. prati + ā + hṛ "zurückziehen, wiederholen, wiederaufnehmen").

Das dritte Glied des Yoga ist in der Goraksha Paddhati Pratyahara (vgl. GP 1, 6). Vorliegender Vers knüpft an GP 2, 11 an, wo es hieß, dass ein Yogi sich durch das Zurückziehen (der Sinne von ihren Sinnesobjekten) von geistigen Ablenkungen befreit: vikāraṃ mānasaṃ yogī pratyāhāreṇa muñcati.

Shataka 2 Vers 24: Pratyahara: Das Schildkrötengleichnis

So wie eine Schildkröte ihre Glieder in ihren Panzer ("die Körpermitte") einzieht, ebenso soll der Yogi seine Sinne beständig in sich selbst zurückziehen.


अङ्गमध्ये यथाङ्गानि कूर्मः सङ्कोचयेद्ध्रुवम् |
योगी प्रत्याहरेदेवमिन्द्रियाणि तथात्मनि || २४ ||
aṅga-madhye yathāṅgāni kūrmaḥ saṅkocayed dhruvam |
yogī pratyāhared evam indriyāṇi tathātmani || 2.24 ||
anga-madhye yathangani kurmah sankochayed dhruvam |
yogi pratyahared evam indriyani tathatmani || 2.24 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

aṅga-madhye : in (ihren) Panzer ("die Körpermitte", Anga-Madhya)
yathā : so wie (Yatha)
aṅgāni : (ihre) Glieder (Anga)
kūrmaḥ : eine Schildkröte (Kurma)
saṅkocayet : einzieht (sam + kuc)
dhruvam : beständig, unbeweglich, fest (Dhruva)
yogī : der Yogi (Yogin)
pratyāharet : zurückzieht (prati + ā + hṛ)
evam: so, in dieser Weise (Evam)
indriyāṇi : (seine) Sinne (Indriya)
tathā : ebenso, genauso (Tatha)
ātmani : in sich selbst, ins Selbst (Atman)

Anmerkung: In diesem Sinne heißt es in der Bhagavad Gita (BhG 2.58):

yadā saṃharate cāyaṃ kūrmo 'ṅgānīva sarvaśaḥ |
indriyāṇīndriyārthebhyas tasya prajñā pratiṣṭhitā || 2.58 ||

"Und wenn man die Sinne völlig von den Sinnesobjekten (Indriyartha) zurückzieht, wie eine Schildkröte ihre Glieder, dann ist das Bewusstsein (Prajna) fest begründet." (BhG 2.58)

Shataka 2 Vers 25: Pratyahara des Hörsinnes

Welchen (Klang) auch immer - (sei er) unangenehm oder angenehm - der Kenner des Yoga hört, jeden einzelnen davon als das Selbst erkennend, zieht er (den Hörsinn ins Selbst) zurück.


यं यं शृणोति कर्णाभ्यामप्रियं प्रियमेव वा |
तं तमात्मेति विज्ञाय प्रत्याहरति योगवित् || २५ ||
yaṃ yaṃ śṛṇoti karṇābhyām apriyaṃ priyam eva vā |
taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.25 ||
yam yam shrinoti karnabhyam apriyam priyam eva vā |
tam tam atmeti vijnaya pratyaharati yoga-vit || 2.25 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yaṃ yam : welchen (Klang) auch immer (Yad)
śṛṇoti : hört (śru)
karṇābhyām : mit den Ohren (Karna)
apriyam : unangenehmen (Apriya)
priyam : angenehmen (Priya)
eva : (Eva)
 : oder (Va)
taṃ tam : jeden einzelnen (davon, Tad)
ātmā : als das Selbst (Atman)
iti : so (Iti)
vijñāya : erkennend ("erkannt habend ", vi + jñā)
pratyāharati zieht (den Hörsinn ins Selbst) zurück : (prati + ā + hṛ)
yoga-vit : der Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkungen: Die Übersetzung folgt der inneren Logik des zweiten Halbverses des vorangehenden Verses GP 2, 24. In den folgenden vier Versen wird der Rückzug der übrigen Sinne von ihren Sinnesobjekten beschrieben, wobei der zweite Halbvers jeweils wie ein Refrain wiederholt wird. Der Yogi zieht nicht "sich" von den Sinnesobjekten (Indriyartha) zurück, sondern nimmt die durch seine Sinne (Indriya) wie durch Tore nach außen strömende Energie ins "Selbst", die Grundlage aller Erscheinungen, zurück (praty-ā-harati).

In diesem Sinne definiert der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers das Selbst (Atman) als "das Bewusstsein (Chaitanya), das die Grundlage bzw. das Substrat (Adhishthana) für die darauf projizierte Illusion des Getrenntseins (Vivarta) bildet": vivartādhiṣṭhāna-caitanyam ātmā.

Shataka 2 Vers 26: Pratyahara des Geruchssinnes

Welchen unangenehmen Geruch oder Wohlgeruch auch immer die Nase riecht - jeden einzelnen davon als das Selbst erkennend, zieht der Kenner des Yoga (den Geruchssinn ins Selbst) zurück.


अगन्धमथवा गन्धं यं यं जिघ्रति नासिका |
तं तमात्मेति विज्ञाय प्रत्याहरति योगवित् || २६ ||
agandham athavā gandhaṃ yaṃ yaṃ jighrati nāsikā |
taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.26 ||
agandham athava gandham yam yam jighrati nasika |
tam tam atmeti vijnaya pratyaharati yoga-vit || 2.26 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

agandham : unangenehmen Geruch, Gestank ("Un-Geruch", Agandha)
athavā : oder (Athava)
gandham : Duft, Wohlgeruch ("Geruch", Gandha)
yaṃ yam : welchen auch immer (Yad)
jighrati : riecht (ghrā)
nāsikā : die Nase (Nasika)
taṃ tam : jeden einzelnen (davon, Tad)
ātmā : als das Selbst (Atman)
iti : so (Iti)
vijñāya : erkennend ("erkannt habend ", vi + jñā)
pratyāharati zieht (den Geruchssinn ins Selbst) zurück : (prati + ā + hṛ)
yoga-vit : der Kenner des Yoga (Yogavid)

Shataka 2 Vers 27: Pratyahara des Sehsinnes

Welchen (Anblick) auch immer - (sei er) unrein oder rein - der Kenner des Yoga mit dem Auge sieht, jeden einzelnen davon als das Selbst erkennend, zieht er (den Sehsinn ins Selbst) zurück.


अमेध्यमथवा मेध्यं यं यं पश्यति चक्षुषा |
तं तमात्मेति विज्ञाय प्रत्याहरति योगवित् || २७ ||
amedhyam athavā medhyaṃ yaṃ yaṃ paśyati cakṣuṣā |
taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.27 ||
amedhyam athava medhyam yam yam pashyati chakshusha |
tam tam atmeti vijnaya pratyaharati yoga-vit || 2.27 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

amedhyam : unrein (Amedhya)
athavā : oder (Athava)
medhyam : rein (Medhya)
yaṃ yam : welchen (Anblick) auch immer (Yad)
paśyati : sieht (paś)
cakṣuṣā : mit dem Auge (Chakshus)
taṃ tam : jeden einzelnen (davon, Tad)
ātmā : als das Selbst (Atman)
iti : so (Iti)
vijñāya : erkennend ("erkannt habend ", vi + jñā)
pratyāharati zieht (den Sehsinn ins Selbst) zurück : (prati + ā + hṛ)
yoga-vit : der Kenner des Yoga (Yogavid)

Shataka 2 Vers 28: Pratyahara des Tastsinnes

Welchen (Körper) auch immer - (gelte er als) unberührbar oder berührbar - der Kenner des Yoga mit der Haut berührt, jeden einzelnen davon als das Selbst erkennend, zieht er (den Tastsinn ins Selbst) zurück.


अस्पृश्यमथवा स्पृश्यं यं यं स्पृशति चर्मणा |
तं तमात्मेति विज्ञाय प्रत्याहरति योगवित् || २८ ||
aspṛśyam athavā spṛśyaṃ yaṃ yaṃ spṛśati carmaṇā |
taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.28 ||
asprishyam athava sprishyam yam yam sprishati charmana |
tam tam atmeti vijnaya pratyaharati yoga-vit || 2.28 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

aspṛśyam : unberührbar, nicht zu berühren (Asprishya)
athavā : oder (Athava)
spṛśyam : berührbar, zu berühren (Sprishya)
yaṃ yam : welchen (Körper) auch immer (Yad)
spṛśati : berührt (spṛś)
carmaṇā : mit der Haut (Charman)
taṃ tam : jeden einzelnen (davon, Tad)
ātmā : als das Selbst (Atman)
iti : so (Iti)
vijñāya : erkennend ("erkannt habend ", vi + jñā)
pratyāharati zieht (den Tastsinn ins Selbst) zurück : (prati + ā + hṛ)
yoga-vit : der Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkung: Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erwähnt als etwas nicht zu berührendes Dinge wie (Adika) einen Leichenkörper (Shava-Deha), und als etwas zu berührendes eine Kuh (Go) und einen Brahmanen (Vipra): aspṛśyaṃ śava-dehādikaṃ spṛśyaṃ go-viprādikam.

Shataka 2 Vers 29: Pratyahara des Geschmackssinnes

Welchen (Geschmack) auch immer - (sei er) schmackhaft oder nicht schmackhaft - der Kenner des Yoga mit der Zunge schmeckt, jeden einzelnen davon als das Selbst erkennend, zieht er (den Geschmackssinn ins Selbst) zurück.


लवण्यमलवण्यं वा यं यं रसति जिह्वया |
तं तमात्मेति विज्ञाय प्रत्याहरति योगवित् || २९ ||
lavaṇyam alavaṇyaṃ vā yaṃ yaṃ rasati jihvayā |
taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.29 ||
lavanyam alavanyam va yam yam rasati jihvaya |
tam tam atmeti vijnaya pratyaharati yoga-vit || 2.29 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

lavaṇyam : schmackhaft (Lavanya)
alavaṇyam : nicht schmackhaft (Alavanya)
 : oder (Va)
yaṃ yam : welchen (Geschmack) auch immer (Yad)
rasati  : schmeckt (ras)
jihvayā : mit der Zunge (Jihva)
taṃ tam : jeden einzelnen (davon, Tad)
ātmā : als das Selbst (Atman)
iti : so (Iti)
vijñāya : erkennend ("erkannt habend ", vi + jñā)
pratyāharati zieht (den Tastsinn ins Selbst) zurück : (prati + ā + hṛ)
yoga-vit : der Kenner des Yoga (Yogavid)

Shataka 2 Vers 30: Zweite Definition von Pratyahara

Die (in der Nabelgegend befindliche) Sonne zieht den Strom des Mondnektars an sich (und zehrt ihn auf). Das Zurückhalten dieses (Nektarstroms von der Sonne) wird Pratyahara genannt.


चन्द्रामृतमयीं धारां प्रत्याहारति भास्करः |
यत्प्रत्याहरणं तस्याः प्रत्याहारः स उच्यते || ३० ||
candrāmṛta-mayīṃ dhārāṃ pratyāhārati bhāskaraḥ |
yat pratyāharaṇaṃ tasyāḥ pratyāhāraḥ sa ucyate || 2.30 ||
chandramrita-mayim dharam pratyaharati bhaskarah |
yat pratyaharanam tasyah pratyaharah sa uchyate || 2.30 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

candrāmṛta-mayīm : den aus dem Nektar (Amrita) des Mondes (Chandra) bestehenden, gemachten (Maya)
dhārām : Strom, Fluss (Dhara)
pratyāhārati : zieht an, macht zunichte (prati + ā + hṛ)
bhāskaraḥ  : die Sonne (in der Nabelgegend, Bhaskara)
yat : das, welches (Yad)
pratyāharaṇam : Zurückhalten (Pratyaharana)
tasyāḥ : dieses (Nektarstroms, Tad)
pratyāhāraḥ : Zurückhalten (Pratyahara)
saḥ : das (Tad)
ucyate : wird genannt, heißt (vac)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Varianten als Vers 55 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Näheres über die Bedeutung von "Sonne" (Bhaskara) und "Mond" (Chandra) in diesem Vers erläutern die Verse GP 2, 32 und 33.

Shataka 2 Vers 31: Genuss des Mondnektars

Eine Frau, die von der Mondscheibe kommt, wird von zweien (Mond und Sonne) genossen. Ein dritter aber, der von diesen beiden (verschieden) ist, wird (durch den Genuss dieser Frau) alterslos und unsterblich.


एका स्त्री भुज्यते द्वाभ्यामागता चन्द्रमण्डलात् |
तृतीयो यो पुनस्ताभ्यां स भवेदजरामरः || ३१ ||
ekā strī bhujyate dvābhyām āgatā candra-maṇḍalāt |
tṛtīyo yo punas tābhyāṃ sa bhaved ajarāmaraḥ || 2.31 ||
eka stri bhujyate dvabhyam agata chandra-mandalat |
tritiyo yo punas tabhyam sa bhaved ajaramarah || 2.31 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ekā : eine (Eka)
strī : Frau (Stri)
bhujyate : wird genossen (bhuj)
dvābhyām : von zwei (anderen, Dvi)
āgatā : kommend ("gekommen", Agata)
candra-maṇḍalāt : von der Mondscheibe (Candra-Mandala)
tṛtīyaḥ : ein dritter (Tritiya)
yaḥ : der, welcher (Yad)
punaḥ : wiederum, aber (Punar)
tābhyām : (verschieden) von diesen beiden (Tad)
saḥ : dieser (Tad)
bhavet : wird (bhū)
ajarāmaraḥ : nicht alternd und nicht sterbend (Ajaramara)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Varianten im zweiten Halbvers als Vers 56 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es im zweiten Pada soma-maṇḍalāt statt candra-maṇḍalāt.

Er nimmt in poetisch-erotischer Ausdrucksweise, die aus den tantrischen Ursprüngen der Hatha Yoga-Praxis verständlich wird, auf den vorangehenden Vers GP 2, 30 Bezug: die "eine Frau, die von der Mondscheibe kommt" (ekā strī ... āgatā candra-maṇḍalāt) ist der "Strom des Mond-Nektars" (candrāmṛta-mayīṃ dhārām). Im grammatischen Sinne bedeutet Stri auch das weibliche grammatische Geschlecht, hier also das Femininum dhārā- aus dem vorangehenden Vers.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt, dass sich der Ausdruck Mondscheibe (Candra-Mandala) auf das Energiezentrum in der Mitte (Madhyastha) des "sechzehnblättrigen" (Lotus, Shodashadala), d.h. auf das Vishuddha Chakra bezieht: candra-maṇḍalāt ṣoḍaśa-dala-madhya-sthāt.

Mit den "beiden anderen" (dvābhyām, Dual) sind die als Mond (Candra) und Sonne (Surya, beide sind im Sanskrit männlich) bezeichneten energetischen Zentren im Körper des Yogis gemeint, von denen dieser Nektar "genossen" bzw. aufgezehrt wird (vgl. GP 2, 32).

Der "dritte" (tṛtīyaḥ, Maskulinum) ist der Yogi, der durch die Praxis von Viparita Karani (YTṬ: viparīta-karaṇyā, vgl. GP 2, 33-34) den Nektar (Amrita, Piyusha) auffängt und dadurch "alterslos und unsterblich" wird.

Shataka 2 Vers 32: Viparita Karani - Sonne, Mond und Nektar

In der Region des Nabels wohnt einer (dieser beiden), die brennende Sonne, und an der Basis des Gaumens befindet sich immer (der andere,) der Mond voller Unsterblichkeitsnektar.


नाभिदेशे वसत्येको भास्करो दहनात्मकः |
अमृतात्मा स्थितो नित्यं तालुमूले च चन्द्रमाः || ३२ ||
nābhi-deśe vasaty eko bhāskaro dahanātmakaḥ |
amṛtātmā sthito nityaṃ tālu-mūle ca candramāḥ || 2.32 ||
nabhi-deshe vasaty eko bhaskaro dahanatmakah |
amritatma sthito nityam talu-mule cha chandramah || 2.32 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nābhi-deśe : in der Region (Desha) des Nabels (Nabhi)
vasati : wohnt, befindet sich (vas)
ekaḥ : einer (Eka)
bhāskaraḥ : Sonne (Bhaskara)
dahanātmakaḥ : brennende ("deren Wesen (Atmaka) das Brennen (Dahana) ist")
amṛtātmā : voller Unsterblichkeitsnektar ("dessen Wesen (Atman) der Unsterblichkeitsnektar (Amrita) ist")
sthitaḥ : befindet sich (Sthita)
nityam : stets, immer (Nitya)
tālu-mūle : an der Basis ("Wurzel", Mula) des Gaumens (Talu)
ca : und (Cha)
candramāḥ : ein Mond (Chandramas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird Wort für Wort als Vers 57 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Er nimmt direkt auf den vorangehenden Vers GP 2, 31 Bezug und verrät, wer die "beiden" sind: Sonne und Mond im Körper des Yogi. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt tālu-mūle "an der Basis des Gaumens" mit viśuddha-cakre, d.h. der Mondnektar entspringt im Vishuddha Chakra und wird teilweise auch von diesem "verzehrt".

Dieser Unsterblichkeitsnektar (Amrita) wurde bereits in GP 1, 79 unter dem Namen Piyusha im Zusammenhang mit der Praxis von Jalandhara Bandha erwähnt, das dazu dient, dessen Hinabfließen und Verbranntwerden in der "Sonne" zu verhindern.

In der Gheranda Samhita (3.33) heißt es im Kontext der Praxis von Viparita Karani ganz ähnlich:

nābhi-mūle vaset sūryas tālu-mūle ca candramāḥ |
amṛtaṃ grasate sūryas tato mṛtyu-vaśo naraḥ || 3.33 ||

"In der Gegend unmittelbar unter dem Nabel (Nabhimula) wohnt die Sonne (Surya), und an der Basis des Gaumens der Mond (Chandramas). Die Sonne verschlingt den Unsterblichkeitsnektar (des Mondes Amrita), daher unterliegt der Mensch (Nara) der Gewalt (Vasha) des Todes (Mrityu)." (GhS 3.33)

Shataka 2 Vers 33: Viparita Karani - Sonne, Mond und Nektar

Der Mond regnet mit nach unten gerichtetem Gesicht (Nektar) herab, und die Sonne verschlingt (diesen Nektar) mit nach oben gerichtetem Gesicht. Daher sollte man eine Methode kennen, mit welcher dieser Nektar aufgefangen werden kann.


वर्षत्यधोमुखश्चन्द्रो ग्रसत्यूर्ध्वमुखो रविः |
ज्ञातव्या करणी तत्र यया पीयूषमाप्यते || ३३ ||
varṣaty adho-mukhaś candro grasaty ūrdhva-mukho raviḥ |
jñātavyā karaṇī tatra yayā pīyūṣam āpyate || 2.33 ||
varshaty adho-mukhash chandro grasaty urdhva-mukho ravih |
jnatavya karani tatra yaya piyusham apyate || 2.33 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

varṣati : regnet herab (Nektar, vṛṣ)
adho-mukhaḥ : mit nach unten gerichtetem Gesicht, Mund (Adhomukha)
candraḥ : der Mond (Chandra)
grasati : verschlingt (den Nektar, gras)
ūrdhva-mukhaḥ : mit nach oben gerichtetem Gesicht, Mund (Urdhvamukha)
raviḥ : die Sonne (Ravi)
jñātavyā : man sollte kennen ("es ist zu kennen", Jnatavya)
karaṇī : eine Methode, Stellung (Karani)
tatra : in diesem Zusammenhang, angesichts dessen ("dort", Tatra)
yayā : durch die, wodurch (Yad)
pīyūṣam : der Nektar (Piyusha)
āpyate : aufgefangen, erlangt, in Besitz genommen wird (āp)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Varianten im zweiten Halbvers als Vers 58 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Die Hatha Yoga Pradipika (3.77) sagt in diesem Zusammenhang:

yat kiñ-cit sravate candrād amṛtaṃ divya-rūpiṇaḥ |
tat sarvaṃ grasate sūryas tena piṇḍo jarā-yutaḥ || 3.77 ||

"Welches bisschen Nektar (Amrita) auch immer vom Mond (Chandra) von himmlicher Gestalt herabfließt, diesen verzehrt die Sonne (Surya) ganz und gar, wodurch der Körper (Pinda) dem Alter (Jara) unterliegt." (HYP 3.77)

Shataka 2 Vers 34: Viparita Karani

Der Nabel ist oben, der Gaumen ist unten. Die Sonne ist oben, der Mond ist unten. Diese als umgekehrt bezeichnete Stellung (Viparita Karani) wird durch die Worte des Meisters erlangt.


ऊर्ध्वं नाभिरधस्तालु ऊर्ध्वं भानुरधः शशी |
करणी विपरीताख्या गुरुवाक्येन लभ्यते || ३४ ||
ūrdhvaṃ nābhir adhas tālu ūrdhvaṃ bhānur adhaḥ śaśī |
karaṇī viparītākhyā guru-vākyena labhyate || 2.34 ||
urdhvam nabhir adhas talu urdhvam bhanur adhah shashi |
karani viparitakhya guru-vaktrena labhyate || 2.34 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhvam : oben (Urdhva)
nābhiḥ : der Nabel (Nabhi)
adhaḥ : unten (Adhas)
tālu : der Gaumen (Talu)
ūrdhvam : oben
bhānuḥ : die Sonne (Bhanu)
adhaḥ : unten
śaśī : der Mond (Shashin)
karaṇī : Stellung (Karani)
viparītākhyā : (diese als) umgekehrt (Viparita) bezeichnete (Akhya)
guru-vākyena : durch die Worte (Vakya) des Meisters (Guru)
labhyate : wird erlangt (labh)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.79) sowie mit kleineren Varianten als Vers 59 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Genauere Details über die Ausführung dieser Technik sind - wie so oft - nicht aus dem Text, sondern nur durch die Unterweisung des Meisters bzw. Lehrers (guru-vākyena) zu erfahren.

Laut der Definition von Pratyahara in GP 2, 30 als "das Zurückhalten des (Mond-Nektarstroms) von der Sonne (in der Nabelgegend)" fällt die Praxis von Viparita Karani, die in der Hatha Yoga Pradipika zu den Mudras bzw. Karanas zählt, in der Goraksha Paddhati somit unter die Rubrik Pratyahara.

Shataka 2 Vers 35: Anahata Chakra - das Energiezentrum des unangeschlagenen Tones

Die Yogis kennen das Energiezentrum des unangeschlagenen Tones (Anahata Chakra) im Herzen, da wo ein dreifach gebundener Stier laut schallend brüllt.


त्रिधा बद्धो वृषो यत्र रोरवीति महास्वनः |
अनाहतं च तच्चक्रं हृदये योगिनो विदुः || ३५ ||
tridhā baddho vṛṣo yatra roravīti mahā-svanaḥ |
anāhataṃ ca tac cakraṃ hṛdaye yogino viduḥ || 2.35 ||
tridha baddho vrisho yatra roraviti maha-svanah |
anahatam cha tach chakram hridaye yogino viduh || 2.35 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

tridhā : dreifach (Tridha)
baddhaḥ : gebundener (Baddha)
vṛṣaḥ : ein Stier (Vrisha)
yatra : wo (Yatra)
roravīti : brüllt (ru)
mahā-svanaḥ : laut schallend (Mahasvana)
anāhatam : des unangeschlagenen (Tones, Anahata)
ca : aber (Cha)
tat : (Tad)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
hṛdaye : im Herzen (Hridaya)
yoginaḥ : die Yogis (Yogin)
viduḥ : kennen (vid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 60 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar verrät, dass sich das Gleichnis vom brüllenden Stier auf die Individualseele (das individualisierte Bewusstsein, Jiva) bezieht, die sich in der aus den drei (Traya) Gunas bestehenden Urnatur (Prakriti) wiederspiegelt (Pratibimbita): guṇa-trayātmikāyāṃ prakṛtau pratibimbito jīvo. "Dreifach gebunden" spielt auf eine weitere Bedeutung von Guna an ("Strick, Schnur") - der "Seelenstier" ist aufgrund seiner Unkenntnis (anabhijñtvāt, Anabhijna) seiner wahren Natur an die aus Sattva, Rajas und Tamas bestehende (Atmika) materielle Natur gebunden, bis er zur Selbsterkenntnis gelangt.

Die Natur dieses Klanges im Herzzentrum, den die Individualseele erzeugt, wird durch ein Zitat aus dem Yoga Sara, das sich mit einigen Varianten auch in der Yoga Shikha Upanishad (3, 4) findet, genauer bestimmt:

hṛdaye vādyate ghoṣo garjat-parjanya-sannibhaḥ |
tatra sthitā mahā-devī madhyamety abhidhīyate ||


"Im Herzen erklingt ein Ton (Ghosha) ähnlich einer donnernden Regenwolke (Parjanya). Dort befindet sich die große Göttin (Mahadevi), die Madhyama genannt wird." (YS ~ YŚU 3, 4)

Madhyama bezieht sich in der tantrischen Sprachphilosophie auf die sogenannte "mittlere" Stufe in der Manifestation des Wortes bzw. der Sprache (Vach), die gedankliche Ebene, die dem Aussprechen vorausgeht.

Shataka 2 Vers 36: Vishuddha Chakra

Wenn die Lebensenergie, nachdem sie das Manipuraka Chakra verlassen hat, über dem Anahata Chakra den (nächsten) großen Lotus (das Vishuddha Chakra) erreicht, dann wird der Yogi - (identisch mit dem) Selbst - unsterblich.


अनाहतमतिक्रम्य चाक्रम्य मणिपूरकम् |
प्राप्ते प्राणे महापद्मं योगी स्वममृतायते || ३६ ||
anāhatam atikramya cākramya maṇi-pūrakam |
prāpte prāṇe mahā-padmaṃ yogī svam amṛtāyate || 2.36 ||
anahatam atikramya chakramya mani-purakam |
prapte prane maha-padmam yogi svam amritayate || 2.36 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

anāhatam : dem Anahata (Chakra)
atikramya : hinter, nach ("überschritten habend", ati + kram)
ca : und, aber (Cha)
ākramya : nachdem (sie) erstiegen, verlassen hat ("erstiegen habend", ā + kram)
maṇi-pūrakam : das Manipuraka (Chakra)
prāpte : erreicht hat (Prapta)
prāṇe : (wenn) die Lebensenergie ("der Atem", Prana)
mahā-padmam : den (nächsten) großen Lotus (Mahapadma)
yogī : der Yogi (Yogin)
svam : selbst, (als) das Selbst (Sva)
amṛtāyate : wird unsterblich (Amritay)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer Lesart als Vers 61 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es im vierten Pada yogitvam amṛtāyate "der Zustand eines Yogin, das Yogi-Sein (Yogitva) wird unsterblich" statt yogī svam amṛtāyate. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar folgt zwar der Lesart des GŚ, fügt jedoch hinzu, es sei nicht yogitvam, sondern yogī gemeint: yogīty arthaḥ - dies scheint die Lesart der GP zu bestätigen.

Die YTṬ versteht zudem den "großen Lotus" (mahā-padmam) hier als den tausendblättrig (Sahasradala) genannten (Akhya) Ort Brahmas (Brahmasthana), d.h. das Sahasrara Chakra: mahā-padmam sahasra-dalākhyaṃ brahma-sthānam und verweist darauf, dass die Partikel ca "und" (Chakara) den Zweck (Artha) des Miteinbegreifens (Samuchchaya) der beiden nicht genannten (Anukta) Zentren des Vishuddha Chakra und Ajna Chakra habe: ca-kāro 'nuktayor viśuddhājñayoḥ samuccayārthaḥ.

Diese etwas erzwungene Interpretation erscheint allerdings unnötig, da sich hier aus der inneren Logik des Textes - das Voranschreiten vom Manipura Chakra über das Anahata Chakra - das Vishuddha Chakra anbietet, das insbesondere im Kontext von Viparita Karani (vgl. GP 2, 33 - 34) und Khechari Mudra (vgl. GP 2, 37) von Bedeutung ist. Der Kommentator selbst sieht den vorliegenden Vers GP 2, 36 im Kontext von Khechari Mudra, indem er ihn und den folgenden Vers wie folgt einleitet: khe-carī-mudrāyām amṛta-pānam upadiśati dvābhyām "(Nun) lehrt (der Autor) mit zwei (Versen) das Drinken (Pana) des (Mond-)Nektars (Amrita) in Khechari Mudra".

Die sieben Haupt-Chakras entlang der Wirbelsäule bzw. der Sushumna bis hinauf zum Scheitel werden auch als "großer Lotus" (Mahapadma) oder "großes Rad" (Mahachakra) bezeichnet, was ein Hinweis darauf ist, dass es noch viele weitere Neben-Chakras gibt. Der Aufstieg der Lebensenergie (Prana) durch die einzelnen Energiezentren bzw. Chakras ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg der Kundalini. Hat diese das Kehlzentrum (Vishuddha Chakra) erreicht, so fällt der Yogi nicht wieder in einen niedrigeren Bewusstseinszustand zurück, d.h. "er selbst" bzw. sein Einssein mit dem Selbst oder sein "Yogi-Sein" wird dauerhaft, also "unsterblich" (amṛtāyate).

Shataka 2 Vers 37: Viparita Karani mit Khechari Mudra

Ein Yogi, der mit nach oben gewandtem Gesicht (d.h. in Viparita Karani), indem er die Zunge nach oben (in die Höhlung des Gaumens) legt und auf gehörige Weise über die höchste Energie (d.h. die Kundalini) meditiert, und das infolge der Hatha-Yogapraxis aufgrund des (gezügelten) Lebenshauches erlangte, aus dem (Scheitel-Chakra) in den sechzehn-blättrigen Lotus (d.h. das Kehl- bzw. Vishuddhi Chakra) tröpfelnde, reine, wogende Nass des (Mond-)Nektars in vollen Zügen trinkt, der hat einen Körper weich und zart wie die Wurzel einer Lotuspflanze, ist von Krankheit frei und lebt lang.


ऊर्ध्वं षोडशपत्त्रपद्मगलितं प्राणादवाप्तं हठा-
दूर्ध्वास्यो रसनां निधाय विधिवच्छक्तिं परां चिन्तयेत् |
तत्कल्लोलकलाजलं सुविमलं जिह्वाकुलं यः पिबे-
न्निर्दोषः स मृणालकोमलवपुर्योगी चिरं जीवति || ३७ ||
ūrdhvaṃ ṣoḍaśa-pattra-padma-galitaṃ prāṇād avāptaṃ haṭhād
ūrdhvāsyo rasanāṃ nidhāya vidhi-vac chaktiṃ parāṃ cintayet |
tat-kallola-kalā-jalaṃ su-vimalaṃ jihvākulaṃ yaḥ piben
nirdoṣaḥ sa mṛṇāla-komala-vapur yogī ciraṃ jīvati || 2.37 ||
urdhvam shodasha-pattra-padma-galitam pranad avaptam hathad
urdhvasyo rasanam nidhaya vidhi-vach chhaktim param chintayet |
tat-kallola-kala-jalam su-vimalam jihvakulam yah piben
nirdoshah sa mrinala-komala-vapur yogi chiram jivati || 2.37 ||


  • Wort-für-Wort-Übersetzung:
ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
ṣoḍaśa-pattra-padma-galitam : in den sechzehn-blättrigen (ShodashaPattra) Lotus (Padma, das Kehl- bzw. Vishuddhi Chakra) tröpfelnde (Galita)
prāṇāt : durch den (gezügelten) Lebenshauch (Prana)
avāptam : erlangte (Avapta)
haṭhāt : aufgrund der Hatha(-Yogapraxis), gewaltsam, vermöge (Hatha)
ūrdhvāsyaḥ : mit dem Gesicht (Asya) nach oben (gewandt, Urdhva)
rasanām : die Zunge (Rasana)
nidhāya : legend ("gelegt habend", ni + dhā)
vidhi-vat : gemäß der Vorschrift, auf gehörige Weise (Vidhivat)
śaktim : Energie ("Kraft" Shakti, d.h. Kundalini)
parām : über die höchste (Para)
cintayet : meditiert (cint)
tat-kallola-kalā-jalam : aus jenem (Scheitel-Chakra, Tad) wogende ("mit Wellen, Wogen", Kallola) Nass ("Wasser", Jala) des (Mond-)Nektars ("Sechzehntels", Kala)
su-vimalam : das äußerst reine (Suvimala)
jihvākulam : in vollen Zügen ("zungen-voll", Jihva-Akula)
yaḥ : wer, welcher (Yad)
pibet : trinkt ()
nirdoṣaḥ : frei von Krankheit ("fehlerfrei", Nirdosha)
saḥ : ein solcher (Tad, Nom. Sg. m.)
mṛṇāla-komala-vapuḥ : mit einem Körper (Vapus, Nom. Sg. m.) weich, zart (Komala) wie die Wurzel einer Lotuspflanze (Mrinala)
yogī : Yogi (Yogin, Nom. Sg. m.)
ciram : lang (Chira, adv.)
jīvati : lebt (jīv, Verb)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten in der Hatha Yoga Pradipika (3.51) überliefert. Diese liest (mit der YTṬ) am Anfang des ersten Pada mūrdhnaḥ "vom Kopf her" statt ūrdhvam. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass damit das Scheitel-Chakra bzw. der "tausendblättrige" (Sahasradala) Lotus gemeint sei, von dem der Mondnektar in den sechzehnblättrigen Lotus (das Vishuddhi Chakra) fällt: mūrdhnaḥ ... sahasra-dalāt. In vorliegender Übersetzung wurde ūrdhvam auf rasanāṃ nidhāya bezogen: "die Zunge nach oben legend".

Das Wort haṭhāt im ersten Pada kann einerseits als Ablativ des Substantivs Hatha im Sinne von "infolge der Hatha(-Yogapraxis)" verstanden werden, andererseits als ein vom Adjektiv haṭha abgeleitetes Adverb mit der Bedeutung "gewaltsam, vermöge" (vgl. Hatha Yoga Pradipika 3.105). Der Kommentator der YTṬ versteht haṭhāt im Zusammenhang mit prāṇād avāptam als "erlangt (Avapta) aufgrund des gewaltsam nach oben gezogenen (Utthapita) Prana, der zur Höhlung (Vivara) oberhalb (Urdhva) der Nase (Vivara) geführt (Nita) wurde": haṭhād ūrdhvam utthāpitāt prāṇād avāptaṃ nāsikordhva-vivare nītam.

Das Kompositum jihvākulam im dritten Pada kann in unterschiedlicher Weise interpretiert werden. Die HYP liest stattdessen dhārā-mayam "aus einem Strom bestehende" (DharaMaya), was sich auf den (Mond-)Nektar (°kalā-jalam) bezieht. Löst man jihvākulam in seine beiden Wortbestandteile auf, so ergibt sich entweder jihvā + kulam oder jihvā + ākulam. Swami Vishnuswaroop (Version des Divine Yoga Institute, Kathmandu) übersetzt die erste Möglichkeit mit "from kula (the home) of his tongue". Der Kommentator der YTṬ versteht das Kompositum als "von der Zunge erregt", d.h. durch das Reiben (Nirmathana) der Zunge (Jihva) erregt (Akula): jihvāyā nirmathanenākulam. Eine weitere, im Kontext des lebensspendenen (Mond-)Nektars passend erscheinende Möglichkeit wäre die hier bevorzugte, etwas freiere Übersetzung "in vollen Zügen" ("zungen-voll", Jihva-Akula).

Das Adjektiv nirdoṣaḥ (HYP liest nirvyādhiḥ "frei von Krankheit" Nirvyadhi) erklärt die YTṬ mit "frei (Rahita) von körperlichen (Kayika) und geistigen (Manasika) Störungen (Dosha) wie Hautausschlag (Dadru), Lepra (Kushtha), Zuneigung (Raga) und Abneigung (Dvesha)" kāyika-mānasika-doṣair dadru-kuṣṭha-rāga-dveṣādibhī rahitaḥ.

Shataka 2 Vers 38: Kaki Mudra

Der Yogi, der durch den Mund (über die) wie ein Krähenschnabel (geformte Zunge) den kühlen Strom (der Luft) einsaugt, verbunden mit der Methode (der Vereinigung) von Prana und Apana, wird frei vom Alterungsprozess.


काकचञ्चुवदास्येन शीतलं सलिलं पिबेत् |
प्राणापानविधानेन योगी भवति निर्जरः || ३८ ||
kāka-cañcu-vad āsyena śītalaṃ salilaṃ pibet |
prāṇāpāna-vidhānena yogī bhavati nirjaraḥ || 2.38 ||
kaka-canchu-vad asyena shitalam salilam pibet |
pranapana-vidhanena yogi bhavati nirjarah || 2.38 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kāka-cañcu-vat : wie (Vad) ein Krähenschnabel (Kaka-Chanchu)
āsyena : durch den Mund (Asya)
śītalam : den kühlen (Shitala)
salilam : Strom, Fluss (der Luft, Salila)
pibet : einsaugt ("trinkt", )
prāṇāpāna-vidhānena : verbunden mit der Methode (der Vereinigung, Vidhana) von Prana und Apana
yogī : der Yogi (Yogin)
bhavati : wird (bhū)
nirjaraḥ : frei vom Alterungsprozess ("nicht alternd", Nirjara)

Anmerkungen: Das Wort salilam bedeutet normalerweise "Wasser" (ursprünglich "das Fließende"), auch "Flut, Wogen", also ein Fließen oder Strömen. Es wird hier im Sinne des kühlen Stromes der äußeren (Bahya) Luft (Vayu) verwendet (YTṬ: śītalaṃ salilaṃ bāhya-vāyum), der über die in Form eines Krähenschnabels aus dem Mund nach außen gestreckte, längs eingerollte Zunge eingesogen wird. Obwohl ausdrücklich nur gesagt wird, dass die Einatmung durch den Mund geschieht, bezieht sich der Vergleich "wie ein Krähenschnabel" wohl eher auf die Form der Zunge als auf die des Mundes bzw. der Lippen. Der Kommentator der Yoga Tarangini Tika schweigt hierzu und erklärt āsyena lediglich mit mukhena "durch den Mund (Mukha)".

Diese Beschreibung erinnert an die kühlende Atemtechnik Shitali. In der Einleitung zu diesem Vers heißt es in der Yoga Tarangini Tika entsprechend: "Jetzt zeigt (der Autor) Techniken (Kriya), beginnend mit Shitali, zur Vernichtung (Shanti) von Alter (Jara), Tod (Mara), Krankheiten (Roga) usw." atha jarā-mara-rogādi-śāntaye śītalī-pramukhāḥ kriyā darśayati.

Das Kompositum prāṇāpāna-vidhānena erklärt der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar als die bereits (Purva) gelehrte (Ukta) Methode bzw. Art und Weise (Riti, Prakara) des Vereinigens (Ekikarana) von Prana und Apana: prāṇāpānayor vidhānena pūrvokta-rītyā ekī-karaṇa-prakāreṇa. Die Methode der Vereinigung von Prana und Apana wurde in GP 1, 51 und 2, 8 gelehrt. Sie beinhaltet das Setzen von Mula Bandha und Jalandhara Bandha.

In der Gheranda Samhita (3.86) heißt es in diesem Zusammenhang:

kāka-cañcu-vad āsyena pibed vāyuṃ śanaiḥ śanaiḥ |
kākī mudrā bhaved eṣā sarva-roga-vināśinī || 3.86 ||

"Man sauge durch den Mund (über die) wie ein Krähenschnabel (geformte Zunge) ganz langsam die Luft (Vayu) ein. Dies ist Kaki Mudra (die "Krähen-Mudra"), die alle (Sarva) Krankheiten (Roga) vertreibt (Vinashin)." (GhS 3.86)

Shataka 2 Vers 39: Weitere Atemtechnik

Wer über die Basis der Zunge und des Gaumens den Prana (genannten) Hauch (durch den Mund) einatmet, der erfährt innerhalb eines halben Jahres das Ende jeglicher Krankheit.


रसनातालुमूलेन यः प्राणमनिलं पिबेत् |
अब्दार्धेन भवेत्तस्य सर्वरोगस्य सङ्क्षयः || ३९ ||
rasanā-tālu-mūlena yaḥ prāṇam anilaṃ pibet |
abdārdhena bhavet tasya sarva-rogasya saṅkṣayaḥ || 2.39 ||
rasana-talu-mulena yah pranam anilaṃ pibet |
abdardhena bhavet tasya sarva-rogasya sankshayah || 2.39 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

rasanā-tālu-mūlena : über die Basis (Mula) der Zunge (Rasana) und des Gaumens (Talu)
yaḥ : wer (Yad)
prāṇam : den Prana (genannten)
anilam : Wind, Hauch (Anila)
pibet : einatmet ("einsaugt", )
abdārdhena : innerhalb der Hälfte (Ardha) eines Jahres (Abda)
bhavet : wird, entsteht (bhū)
tasya : dem ("dessen", Tad)
sarva-rogasya : jeglicher (Sarva) Krankheit (Roga)
saṅkṣayaḥ : die Vernichtung, das Ende (Sankshaya)

Anmerkungen: Die Knappheit der Ausdrucksweise dieses Verses hinsichtlich der Beschreibung dieser Atemtechnik erlaubt keine sichere Zuordnung zu einer der bekannten Techniken. Der Ausdruck tālu-mūla (wörtl. "die Wurzel des Gaumens") begegnete bereits im Vers GP 2, 32 und wurde in der Yoga Tarangini Tika an dieser Stelle als ein Synonym für das Vishuddha Chakra verstanden (s.o.). Der Kommentar zu GP 2.39 lässt das Wort leider unkommentiert. Sollte allerdings auch hier das Vishuddha Chakra gemeint sein, so könnte dies ein Hinweis auf die Ujjayi genannte Technik sein (vgl. Hatha Yoga Pradipika 3.51).

In Ujjayi wird allerdings mit geschlossenem Mund durch die Nase geatmet, worauf der vorliegende Vers keinen Hinweis gibt. Sollten die Verse GP 2, 38 (Kaki Mudra) und 2, 39 tatsächlich vom Autor der GP in dieser Reihenfolge gelehrt worden sein, so könnte man das Wort āsyena "durch den Mund" aus 2, 38 in 2, 39 fortgelten lassen und annehmen, auch die hier beschriebene Technik erfordere eine Einatmung durch den Mund. Dies wird vielleicht durch das Wort rasanā "Zunge" unterstrichen, da die Luft nur bei der Mundatmung kühlend über die Zunge streicht, wie etwa bei Shitali und Sitkari, nicht aber bei Ujjayi.

In der wörtlichsten Übersetzung lässt sich das Kompositum rasanā-tālu-mūlena als "über Zunge und Gaumenwurzel", oder auch als "über Zungen- und Gaumenwurzel" (hier würde sich mūla gleichzeitig auf rasanā und tālu beziehen) verstehen.

Die Lesung des Viveka Martanda (142) lautet im ersten Halbvers abweichend rasanā-tālu-yogena yo'mṛtaṃ satataṃ pibet "Wer (vermittels) des Kontakes (Yoga) von Zunge und Gaumen den Unsterblichkeitsnektar (Amrita) trinkt ...", was wiederum an Khechari Mudra erinnert. Liest man allerdings die Variante rasanā-tālu-yogena statt rasanā-tālu-mūlena in GP 2, 39, so wäre dies vielleicht ein Hinweis auf Sitkari, bei der die Luft mit einem schlürfenden Geräusch entlang der Zungenränder die Kehle hinunter gesaugt wird, wobei der vordere Teil der Zunge (Rasana) leichten Kontakt (Yoga) am Gaumen (Talu) bzw. am Zahndamm hat.

Shataka 2 Vers 40: Aufwärtslenken des Mondnektars

Nachdem der (Yogi) den gesamten Nektar im fünften, Vishuddha (genannten) Chakra visualisiert hat, wird (der Nektar) nach oben geleitet, weil er dem Mund der Sonne entgangen ist.


विशुद्धे पञ्चमे चक्रे ध्यात्वासौ सकलामृतम् |
उन्मार्गेण हृतं याति वञ्चयित्वा मुखं रवेः || ४० ||
viśuddhe pañcame cakre dhyātvāsau sakalāmṛtam |
unmārgeṇa hṛtaṃ yāti vañcayitvā mukhaṃ raveḥ || 2.40 ||
vishuddhe panchame chakre dhyatvasau sakalamritam |
unmargena hritam yati vanchayitva mukham raveh || 2.40 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

viśuddhe : reinen (Vishuddha)
pañcame : im fünften (Panchama)
cakre : Energiezentrum (Chakra)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
asau : er, dieser (Adas)
sakalāmṛtam : den gesamten (Sakala) Nektar (Amrita)
unmārgeṇa : über den Kanal nach oben (Unmarga)
hṛtam : geleitet, gebracht (Hrita)
yāti : er kommt ("geht", )
vañcayitvā : weil er entgangen ist ("entgangen seiend", vañc)
mukham : dem Mund (Mukha)
raveḥ : der Sonne (Ravi)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer Reihe von Lesarten als Vers 63 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Die Yoga Tarangini Tika liest im zweiten Pada dhyātvā soma-kalāmṛtam "nachdem er den Nektar (Amrita) der Mondsichel (Somakala) visualisiert hat" statt dhyātvāsau sakalāmṛtam der GP, das möglicherweise auf einem Kopier- bzw. Überlieferungsfehler beruht (die beiden Silben so-ma können in manchen nordindischen Schriften leicht als sau-sa verlesen werden). GŚ 1, 63 liest dhṛtvā soma-kalā-jalam "wenn der Nektar ('das Wasser', Jala) der Mondsichel zurückgehalten (dhṛ) wurde".

Das Wort unmārgeṇa versteht die YTṬ als "über den nach oben (Urdhva) führenden Kanal (Marga)": unmārgeṇa ūrdhva-mārgeṇa.

Von der inneren "Sonne" in der Nabelgegend, die den Mondnektar verschlingt, war bereits in Vers 2, 33 die Rede.

In der Hatha Yoga Pradipika (3.78) ist im Zusammenhang mit der Praxis von Viparita Karani ebenfalls vom Täuschen bzw. Vermeiden "des Mundes der Sonne" die Rede:

tatrāsti karaṇaṃ divyaṃ sūryasya mukha-vañcanam |
gurūpadeśato jñeyaṃ na tu śāstrārtha-koṭibhiḥ || 3.78 ||

"In diesem Zusammenhang gibt es ein himmliches (Divya) Mittel (Karana) zum Vermeiden (Vanchana) des Mundes (Mukha) der Sonne (Surya). Dieses ist durch die Unterweisung (Upadesha) eines Meisters (Guru) zu erlernen, aber nicht durch (das Studium von) zehn Millionen (Koti) Dingen (Artha) in den Lehrbüchern (Shastra)." (HYP 3.78)

Shataka 2 Vers 41: Vishuddha (Vishuddhi) Chakra

Das Wort vi bedeutet den Lebenshauch, und shuddhi ("Reinheit" bedeutet) Unbeflecktheit. Daher kennen diejenigen, die sich mit den feinstofflichen Energiezentren auskennen, das feinstoffliche Energiezentrum in der Kehle unter dem Namen Vishuddhi Chakra.


विशब्देन स्मृतो हंसो नैर्मल्यं शुद्धिरुच्यते |
अतः कण्ठे विशुद्धाख्यं चक्रं चक्रविदो विदुः || ४१ ||
vi-śabdena smṛto haṃso nairmalyaṃ śuddhir ucyate |
ataḥ kaṇṭhe viśuddhākhyaṃ cakraṃ cakra-vido viduḥ || 2.41 ||
vi-shabdena smrito hamso nairmalyam shuddhir uchyate |
atah kanthe vishuddhakhye chakram chakra-vido viduh || 2.41 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vi-śabdena : durch das Wort (Shabda) Vi ("Vogel")
smṛtaḥ : wird bedeutet ("wird erinnert", Smrita)
haṃsaḥ : Seele, Lebenshauch, Lebensenergie, Atem ("Gans", Hamsa)
nairmalyam : Unbeflecktheit, Ungetrübtheit (Nairmalya)
śuddhiḥ : Reinheit (Shuddhi)
ucyate : wird ausgedrückt ("wird genannt", vac)
ataḥ : daher (Atas)
kaṇṭhe : in der Kehle, im Kehlbereich (Kantha)
viśuddhākhyam : unter dem Namen (Akhya) Vishuddha ("das Reine", oder: "die reine Seele bzw. Lebensenergie")
cakram : das feinstoffliche Energiezentrum (Chakra)
cakra-vidaḥ : (diejenigen), die sich mit den feinstofflichen Energiezentren auskennen (Chakra-Vid)
viduḥ : kennen (vid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten im ersten Halbvers als Vers 62 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es im ersten Pada nirmalaḥ śuddha ucyate statt nairmalyaṃ śuddhir ucyate. Die GP gibt somit eine Deutung der Bezeichnung Vishuddhi Chakra, ein Synonym für Vishuddha Chakra.

Das Wort vi-śuddhi wird hier in zwei Substantive zerlegt: Vi "Vogel" bedeutet Hamsa, und Shuddhi "Reinheit". Das Wort haṃsa (wörtl.: "Gans") wurde bereits in GP 1, 93 im Sinne von Prana "Lebensenergie, Lebensatem, Atem" verwendet. Die Bedeutung von vi-śuddhi ist demnach "die Reinheit des Lebenshauchs", oder etwas freier: "pure Lebensenergie".

Der Kommentator der Yoga Tarangini Tika orientiert sich allerdings an der Lesung des Adjektivs śuddha-ḥ des GŚ 1, 62: "Bei dem (das Wort) vi Vogel (Pakshin) bedeutet, und śuddha rein (Nirmala) bedeutet, dieses Vishuddha genannte Chakra ..." (viḥ pakṣī śuddho nirmalo yasmin tad viśuddhaṃ nāma cakram ...).

Shataka 2 Vers 42: Aufwärtslenken des Mondnektars

Nachdem der (Yogi) den (im Vishuddha Chakra befindlichen) Unsterblichkeitsnektar in die Höhlung (oberhalb des Gaumenzäpfchens) geleitet hat, und allmählich weiter zur Höhlung an der Nasenwurzel, fließt (der Nektar) von selbst (weiter) aufwärts, weil er dem Mund der Sonne entgangen ist.


अमृतं कन्दरे कृत्वा नासान्तसुषिरे क्रमात् |
स्वयमुच्चालितं याति वर्जयित्वा मुखं रवेः || ४२ ||
amṛtaṃ kandare kṛtvā nāsānta-suṣire kramāt |
svayam uccālitaṃ yāti varjayitvā mukhaṃ raveḥ || 2.42 ||
amritam kandare kritva nasanta-sushire kramat |
svayam uchchlitam yati varjayitva mukham raveh || 2.42 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

amṛtam : den Nektar (Amrita)
kandare : in der Höhlung, im Hohlraum (Kandara)
kṛtvā : gebracht habend ("gemacht habend ", kṛ)
nāsāntasuṣire : in der Höhlung (Sushira) am Ende (Anta) der Nase (Nasa, an der Nasenwurzel)
kramāt : schrittweise, nach und nach, allmählich (Krama)
svayam : von selbst (Svayam)
uccālitam : sich aufwärts bewegend (Uchchalita)
yāti : er kommt ("geht", )
varjayitvā : weil er entgangen ist ("entgangen seiend", vṛj)
mukham : dem Mund (Mukha)
raveḥ : der Sonne (Ravi)

Anmerkung: Hier wird ein ähnlicher Prozess wie in GP 2, 40 und im folgenden Vers 2, 43 beschrieben. In letzterem Vers wird der Hinweis gegeben, dass sich der Yogi dabei in einer Umkehrstellung, vermutlich in Viparita Karani, befindet.

Shataka 2 Vers 43: Aufwärtslenken des Mondnektars

Man lenke den äußerst reinen, im Bereich der Kehle zurückgehaltenen Nektar der Mondsichel von dort aufwärts in die Höhlung an der Nasenwurzel, und von dort vollständig zum Tor des leeren Raums (des Stirnchakras), und trinke (diesen Nektar), mit nach oben gewandtem Gesicht und nach oben gestreckten Beinen (d.h. in Viparita Karani) am Boden liegend. Wer auf diese Weise kontinuierlich praktiziert und die Gesamtheit seiner Sinne besiegt hat, für den gibt es keinen Tod.


बद्धं सोमकलाजलं सुविमलं कण्ठस्थलादूर्ध्वतो
नासान्ते सुषिरे नयेच्च गगनद्वारं ततः सर्वतः |
ऊर्ध्वास्यो भुवि सन्निपत्य नितरामुत्तानपादः पिबे-
देवं यः कुरुते जितेन्द्रियगणो नैवास्ति तस्य क्षयः || ४३ ||
baddhaṃ soma-kalā-jalaṃ suvimalaṃ kaṇṭha-sthalād ūrdhvato
nāsānte suṣire nayec ca gagana-dvāraṃ tataḥ sarvataḥ |
ūrdhvāsyo bhuvi sannipatya nitarām uttāna-pādaḥ pibed
evaṃ yaḥ kurute jitendriya-gaṇo naivāsti tasya kṣayaḥ || 2.43 ||
baddham soma-kala-jalam suvimalam kantha-sthalad urdhvato
nasante sushire nayech cha gagana-dvaram tatah sarvatah |
urdhvasyo bhuvi sannipatya nitaram uttana-padah pibed
evam yah kurute jitendriya-gano naivasti tasya kshayah || 2.43 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

baddham : den zurückgehaltenen (Baddha)
soma-kalā-jalam : Nektar ("Wasser", Jala) der Mondsichel (Somakala)
su-vimalam : äußerst reinen (Suvimala)
kaṇṭha-sthalāt : aus der Region (Sthala) der Kehle (Kantha)
ūrdhvataḥ : nach oben, aufwärts (Urdhvatas)
nāsānte : am Ende (Anta) der Nase (Nasa, an der Nasenwurzel)
suṣire : in die Höhlung (Sushira)
nayet : bringe, führe, lenke ()
ca : und (Cha)
gagana-dvāram : zum Tor (Dvara) des leeren Raums ("Himmel", Gagana)
tataḥ : dann, darauf hin (Tatas)
sarvataḥ : vollständig, vollkommen (Sarvatas)
ūrdhvāsyaḥ  : mit dem Gesicht (Asya) nach oben (gewandt, Urdhva)
bhuvi : am Boden, auf der Erde (Bhu)
sannipatya : liegend ("sich niedergelassen habend", sam + ni + pat)
nitarām : ununterbrochen, kontinuierlich (Nitaram)
uttāna-pādaḥ : mit den Füßen bzw. Beinen (Pada) nach oben zeigend (Uttana)
pibet : trinkt, einsaugt ()
evam : so, auf diese Weise (Evam)
yaḥ : wer (Yad)
kurute : praktiziert ("macht", kṛ)
jitendriya-gaṇaḥ : die Gesamtheit ("Schar", Gana) seiner Sinne besiegt hat (Jitendriya)
na : nicht (Na)
eva : gewiss (Eva)
asti : existiert, es gibt (as)
tasya : für diesen (Yogi, Tad)
kṣayaḥ : Untergang, Tod (Kshaya)

Anmerkung: Hier wird ein ähnlicher Prozess wie in GP 2, 40 und 2, 42 beschrieben bzw. die knappen Beschreibungen dieser beiden Verse in einem ausführlicheren Merkvers (im Metrum Shardulavikridita) noch einmal zusammengefasst und vervollständigt. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass mit gagana-dvāram der Bereich (Pradesha) des Stirn- bzw. Ajna Chakras gemeint ist: gagana-dvāram ājñā-pradeśam.

Shataka 2 Vers 44: Das Trinken des Mondnektars

Wer die Zunge oben (in der Höhlung oberhalb des Gaumenzäpfchens) unbeweglich hält und den Nektar (des Mondes) trinkt, dieser Kenner des Yoga besiegt ohne Zweifel innerhalb eines halben Monats den Tod.


ऊर्ध्वं जिह्वां स्थिरीकृत्य सोमपनां करोति यः |
मासार्धेन न सन्देहो मृत्युं जयति योगवित् || ४४ ||
ūrdhvaṃ jihvāṃ sthirī-kṛtya soma-panāṃ karoti yaḥ |
māsārdhena na sandeho mṛtyuṃ jayati yoga-vit || 2.44 ||
urdhvam jihvam sthiri-kritya soma-panam karoti yah |
masardhena na sandeho mrityum jayati yoga-vit || 2.44 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhvam : nach oben (Urdhva)
jihvām : die Zunge (Jihva)
sthirī-kṛtya : unbeweglich haltend (Sthiri-kṛ)
soma-panām : das Trinken (Pana) des Nektars (Soma)
karoti : praktiziert ("macht", kṛ)
yaḥ : wer (Yad)
māsārdhena : innerhalb der Hälfte (Ardha) eines Monats (Masa)
na : nicht (Na)
sandehaḥ : ein Zweifel (Sandeha)
mṛtyum : den Tod (Mrityu)
jayati : besiegt (ji)
yoga-vit : Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkungen: Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass die nach oben geführte Zunge in die Höhlung (Vivara) oberhalb (Upari) des Gaumenzäpfchens (Lambika) gelegt wird: jihvām ūrdhva-lambikopari vivare. Diese Praxis entspricht Khechari Mudra.

Das Besiegen des Todes bezieht sich laut YTṬ darauf, dass der Tod dem Praktizierenden nichts anhaben kann (Asamartha), selbst wenn er schon "gekommen" ist (Prapta), womit auf die Fähigkeit des Yogis angespielt wird, den Zeitpunkt des Todes bewusst zu bestimmen (jedoch nicht auf der physischen Ebene zu verhindern): samprāpto'pi mṛtyus tasminnn asamartho bhavati.

Shataka 2 Vers 45: Das Verschließen der Wurzelöffnung

Wer die Wurzelöffnung (d.h. die untere Öffnung der Sushumna durch Mula Bandha) verschlossen hat, der hat (jegliches) Hindernis zerschmettert. Er erlangt ewige Jugend und Unsterblichkeit wie der fünfgesichtige Hara (Shiva).


बद्धं मूलबिलं येन तेन विघ्नो विदारितः |
अजरामरमाप्नोति यथा पञ्चमुखो हरः || ४५ ||
baddhaṃ mūla-bilaṃ yena tena vighno vidāritaḥ |
ajarāmaram āpnoti yathā pañca-mukho haraḥ || 2.45 ||
baddham mula-bilam yena tena vighno vidaritah |
ajaramaram apnoti yatha pancha-mukho harah || 2.45 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

baddham : verschlossen ist (Baddha)
mūla-bilam : die Wurzelöffnung, der After (Mulabila)
yena : durch wen, von wem (Yad)
tena : durch den, von dem (Tad)
vighnaḥ : das Hindernis (Vighna)
vidāritaḥ : zerschmettert, durchbrochen (Vidarita)
ajarāmaram : ewige Jugend und Unsterblichkeit (Ajaramara)
āpnoti : erlangt (āp)
yathā : wie (Yatha)
pañca-mukhaḥ : der fünfgesichtige (Panchamukha)
haraḥ : Hara (Shiva)

Anmerkungen: Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass mit mūla-bilam das "Wurzeltor" (Mula-Dvara) in Form (Rupa) der (unteren Öffnung der) Sushumna gemeint ist: mūla-bilam mūla-dvāraṃ suṣumṇā-rūpam. Das Verschließen dieser Öffnung geschieht durch das Setzen von Mula Bandha.

Die YTṬ führt weiter aus, dass Hara (Shiva) frei (Rahita) von der Identifikation (Ahambhava) mit dem Körper (Deha), von Alter (Jara) und dem Tod ("Sterben", Marana) usw. (Adi) ist: dehāhaṃ-bhāva-jarā-maraṇādi-rahitaḥ.

Shataka 2 Vers 46: Jihva Bandha mit Meditation über die Göttin

Indem man mit der Zungenspitze gegen die große Höhlung (hinter) den Schneidezähnen drückt, und über die aus Nektar bestehende Göttin meditiert, wird man innerhalb von sechs Monaten ein Weiser.


संपीड्य रसनाग्रेण राजदन्तबिलं महत् |
ध्यात्वामृतमयीं देवीं षण्मासेन कविर्भवेत् || ४६ ||
saṃpīḍya rasanāgreṇa rāja-danta-bilaṃ mahat |
dhyātvāmṛta-mayīṃ devīṃ ṣaṇ-māsena kavir bhavet || 2.46 ||
sampidya rasanagrena raja-danta-bilam mahat |
dhatvamrita-mayim devim shan-masena kavir bhavet || 2.46 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

saṃpīḍya : indem er drückt, presst ("gedrückt habend", sam + pīḍ)
rasanāgreṇa : mit der Zungenspitze (Rasanagra)
rāja-danta-bilam : Höhlung (Bila hinter) den Schneidezähnen (Rajadanta)
mahat : die große (Mahat)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
amṛta-mayīm : die aus dem Nektar (Amrita) bestehende (Maya)
devīm : Göttin (Devi)
ṣaṇ-māsena : innerhalb von sechs (Shash) Monaten (Masa)
kaviḥ : ein Weiser, ein Dichter (Kavi)
bhavet : er wird ("werde", bhū)

Anmerkungen: Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass mit der "aus Nektar bestehendem Göttin" die Göttin der Rede (Vagishvari, d.h. Sarasvati) gemeint ist: amṛta-mayīṃ devīṃ vāg-īśvarīm. Durch die Meditation über dieselbe, heißt es weiter, werde man innerhalb von sechs Monaten (wie ein) Dichter (Kavi) mit spielerischem Vergnügen (Vilasin) wundervolle (Vichitra) Poesie (Kavita) verfassen: kavir vicitra-kavitā-vilāsī.

In der Hatha Yoga Pradipika wird der Jihva Bandha genannte Zungenverschluss, der ebenfalls das Fallen des Mondnektars in die Sonne im Nabelbereich verhindert, zweimal erwähnt - einmal in Vers 1.48 im Zusammenhang mit der Praxis von Padmasana, und einmal in Vers 3.22 im Zusammenhang mit der Praxis von Maha Bandha:

nāsāgre vinyased rāja-danta-mūle tu jihvayā |
uttambhya cibukaṃ vakṣasy utthāpya pavanaṃ śanaiḥ || 1.48 ||

"Man richte (beide Augen) auf die Nasenspitze (Nasagra), drücke mit der Zunge (Jihva) an die Basis (Mula) der Schneidezähne (Rajadanta), presse das Kinn (Chibuka) auf die Brust (Vakshas), und lenke den Lebensatem (Pavana, durch Mula Bandha) langsam aufwärts." (HYP 1.48)

matam atra tu keṣāñ-cit kaṇṭha-bandhaṃ vivarjayet
rāja-danta-stha-jihvāyā bandhaḥ śasto bhaved iti || 3.22 ||

"Hier (im Zusammenhang mit der Praxis von Maha Bandha) ist jedoch die Ansicht (Mata) einiger (Lehrer), dass man den Kehlverschluss (Kanthabandha, d.h. Jalandhara Bandha) vermeiden soll, (und dafür) wird der Verschluss (Bandha) empfohlen, bei dem sich die Zunge (Jihva an den Schneidezähnen (Rajadanta) befindet (Stha, d.h. Jihva Bandha)." (HYP 3.22)

Shataka 2 Vers 47: Wirkung von Jihva Bandha

(Durch das Setzen von Jihva Bandha) verschließt ein (so praktizierender Yogi) sämtliche Konzentrationspunkte (bzw. Öffnungen wichtiger feinstofflicher Kanäle sowie) diese große (Höhlung), und er vergießt den oberhalb (des Gaumens) festgehaltenen Nektar nicht. Diese Methode (begleitet) die fünf Konzentrationsübungen (über die Elemente).


सर्वाधाराणि बध्नाति तदूर्ध्वं धारितं महत् |
न मुञ्चत्यमृतं कोऽपि स पन्थाः पञ्चधाराणाः || ४७ ||
sarvādhārāṇi badhnāti tad ūrdhvaṃ dhāritaṃ mahat |
na muñcaty amṛtaṃ ko'pi sa panthāḥ pañca-dhārāṇāḥ || 2.47 ||
sarvadharani badhnati tad urdhvam dharitam mahat |
na munchaty amritam ko'pi sa panthah pancha-dharanah || 2.47 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sarvādhārāṇi : sämtliche (Sarva) Konzentrationspunkte ("Stützen", Adhara)
badhnāti : verschließt ("bindet ab", badh)
tad : dieser (Tad)
ūrdhvam : oben, oberhalb (Urdhva)
dhāritam : aufgehalten, festgehalten (Dharita)
mahat : große (Mahat)
na : nicht (Na)
muñcati : vergießt, entlässt, lässt los (muc)
amṛtam : den Nektar (Amrita)
ko'pi : irgendein, ein (Ka + Api)
saḥ : diese (Tad)
panthāḥ : Methode ("Weg, Pfad", Patha)
pañca-dhārāṇāḥ : die fünf (Pancha) Konzentrationsübungen (Dharana)

Anmerkungen: In GP 2, 13 wurden u.a. sechzehn Stützen (Adharas) erwähnt, die in der Siddha Siddhanta Paddhati (2.10-25) im Einzelnen aufgezählt und beschrieben werden. In ihnen sind die sieben bekannten Hauptchakras Muladhara Chakra usw. enthalten. Der Lesung der Yoga Tarangini Tika weicht an zwei Stellen ab: im ersten Pada liest sie sarva-dvārāṇi "sämtliche Tore (Dvara)" statt sarvādhārāṇi, was die YTṬ mit "die Öffnungen oder Mündungen (Mukha) der feinstofflichen Energiekanäle (Nadi)" umschreibt: sarva-dvārāṇi nāḍī-mukhāni. Im dritten Pada heißt es wiederum kvāpi "irgendwann" (Kva + Api) statt ko'pi.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass sich das PPP dhāritam auf den herabströmenden ("stromförmigen", Dhara-Akara) Nektar (Amrita) bezieht: dhāritaṃ dhārākāram amṛtam. Außerdem wird laut YTṬ mit mahat auf die mit der Zungenspitze (Rasanagra) gedrückte (Sampidita) Höhlung (Bila) hinter den Schneidezähnen (Rajadanta)" verwiesen: tan mahad rasanāgreṇa sampīḍitaṃ rāja-danta-bilam (vgl. den vorangehenden Vers GP 2, 46).

Die fünf Konzentrations - bzw. Meditationsübungen (Dharana) über die fünf Elemente werden in GP 2, 54-58 gelehrt.

Shataka 2 Vers 48: Wirkungen der Bewahrung des Mondnektars

Wenn die Zunge (eines Yogi) ständig die Spitze des Gaumenzäpfchens berührt, und so einen Saft fließen lässt, (manchmal) von salzigem, scharfem oder saurem Geschmack, und (manchmal) wie Milch, Honig oder Butterschmalz (schmeckend, dann) wird diesem (Yogi) das Verschwinden (seiner) Krankheiten zuteil, die Vernichtung des Alters, das (spontane) Rezitieren von Lehrtexten und (tantrischen) Überlieferungen, Unsterblichkeit verbunden mit den acht (Siddhis), sowie das (unwiderstehliche) Anziehen der weiblichen Vollkommenen.


चुम्बन्ती यदि लम्बिकाग्रमनिशं जिह्वा रसस्यन्दिनी
सक्षारं कटुकाम्लदुग्धसदृशं मध्वाज्यतुल्यं तथा |
व्याधीनां हरणं जरान्तकरणं शास्त्रागमोद्गीरणं
तस्य स्यादमरत्वमष्टगुणितं सिद्धाङ्गनाकर्षणम् || ४८ ||
cumbantī yadi lambikāgram aniśaṃ jihvā rasa-syandinī
sa-kṣāraṃ kaṭukāmla-dugdha-sadṛśaṃ madhv-ājya-tulyaṃ tathā |
vyādhīnāṃ haraṇaṃ jarānta-karaṇaṃ śāstrāgamodgīraṇaṃ
tasya syād amaratvam aṣṭa-guṇitaṃ siddhāṅganākarṣaṇam || 2.48 ||
chumbanti yadi lambikagram anisham jihva rasa-syandini
sa-ksharam katukamla-dugdha-sadrisham madhv-ajya-tulyam tatha |
vyadhinam haranam jaranta-karanam shastragamodgiranam
tasya syad amaratvam ashta-gunitam siddhanganakarshanam || 2.48 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

cumbantī : berührt ("küssend ist", cumb)
yadi : wenn (Yadi)
lambikāgram : das (äußerste) Ende (die "Spitze", Agra) (des weichen) Gaumens (oder: des Gaumenzäpfchens, Lambika)
aniśam : ständig, ohne Unterlass (Anisha)
jihvā : die Zunge (Jihva)
rasa-syandinī : einen Saft, Geschmack, ein Lebenselixier (Rasa) fließen lassend (Syandini)
sa-kṣāram : mit (Sa) salzigem (Kshara)
kaṭukāmla-dugdha-sadṛśam : scharfem (Katuka) oder saurem (Geschmack, Amla) oder Milch (Dugdha) ähnlich, vergleichbar mit (Sadrisha)
madhv-ājya-tulyam : gleich, so wie (Tulya) Honig (Madhu) und geklärte Butter, Butterschmalz (Ajya)
tathā : ebenso, und (Tatha)
vyādhīnām : (seiner) Krankheiten (Vyadhi)
haraṇam : das Verschwinden ("Zunichtemachen", Harana)
jarānta-karaṇam : die Vernichtung ("Zuendemachen", Antakarana) des Alters (Jara)
śāstrāgamodgīraṇam : das Hersagen, Rezitieren (Udgirana) von Lehrtexten (Shastra) und (tantrischen) Überlieferungen (Agama)
tasya : diesem (Yogi, Tad)
syāt : wird zuteil ("sei", as)
amaratvam : Unsterblichkeit, Göttlichsein (Amaratva)
aṣṭa-guṇitam : verbunden mit (Gunita) den acht (Siddhis, Ashta)
siddhāṅganākarṣaṇam : das (unwiderstehliche) Anziehen (Akarshana) der weiblichen Vollkommenen ("vollkommenen Frauen", Siddhangana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen abweichenden Lesarten in der Hatha Yoga Pradipika (3.50) überliefert. Dort heißt es im dritten Pada śastrāgamodīraṇam "das Abwehren (Udirana) des Nahens (Agama) von Geschossen (Shastra)" statt des hier übernommenen śāstrāgamodgīraṇam der YTṬ. Die Versionen des Divine Yoga Institute (Kathmandu) und der Laxmi-Venkateshwar Press (Bombay) lesen beide (wohl irrtümlich) śāstrāṅgamodgīraṇam, dessen Analyse śāstra + aṅgama (!) + udgīraṇam ergibt.

Laut Brahmananda, dem Kommentator der HYP, ist mit dem hier beschriebenen "Saft" (Rasa) der Nektar (Amrita) der Mondsichel (Somakala), also der "Mondnektar" gemeint: rasasya soma-kalāmṛtasya (vgl. GP 2, 43).

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass der Yogi die Fähigkeit erlangt, die in den Lehrtexten (Shastra) enthaltenen Lehren (Siddhanta) und die geheimen Diagramme (Yantra) und Sprüche (Mantra) der tantrischen Überlieferungen (Agama) zu rezitieren und zu erklären (Vyakhyana), ohne sie vorher (Purva) studiert (Ashruta) zu haben: śāstrāṇām āgamānāṃ codgīraṇaṃ tatra tatra sthita-siddhāntānāṃ yantra-mantrāṇāṃ cāśruta-pūrvāṇāṃ vyākhyānam.

Shataka 2 Vers 49: Wirkungen der Bewahrung des Mondnektars

Der Samen eines Yogis, dessen Körper mit dem Unsterblichkeitsnektar gefüllt ist, steigt innerhalb von zwei bis drei Jahren aufwärts, und es kommen auch die übernatürlichen Fähigkeiten wie das Winzigwerden usw. zur Entfaltung.


अमृतापूर्णदेहस्य योगिनो द्वित्रिवत्सरात् |
ऊर्ध्वं प्रवर्तते रेतोऽप्यणिमादिगुणोदयः || ४९ ||
amṛtāpūrṇa-dehasya yogino dvi-tri-vatsarāt |
ūrdhvaṃ pravartate reto'py aṇimādi-guṇodayaḥ || 2.49 ||
amritapurna-dehasya yogino dvi-tri-vatsarat |
urdhvam pravartate reto'py animadi-gunodayah || 2.49 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

amṛtāpūrṇa-dehasya : dessen Körper (Deha) mit dem Unsterblichkeitsnektar (Amrita) gefüllt, gesättigt (Apurna) ist
yoginaḥ : eines Yogis (Yogin)
dvi-tri-vatsarāt : nach, innerhalb von zwei (Dvi) bis drei (Tri) Jahren (Vatsara)
ūrdhvam : aufwärts (Urdhva)
pravartate : bewegt sich, steigt (pra + vṛt)
retaḥ : der Samen (Retas)
api : auch (Api)
aṇimādi-guṇodayaḥ : (es kommt zur) Entfaltung ("Aufgang", Udaya) der (übernatürlichen) Fähigkeiten ("Eigenschaften", Guna) wie dem Winzigwerden (Animan) usw. (Adi)

Anmerkungen: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 65 der Version 1 des Goraksha Shataka.

Die acht übernatürlichen Fähigkeiten (Siddhi), auf die hier anespielt wird, sind Animan, Mahiman, Gariman, Laghiman, Prapti, Prakamya, Ishita und Vashitva.

Shataka 2 Vers 50: Wirkungen der Bewahrung des Mondnektars

So wie das Feuer das Brennholz und die Flamme einer Lampe den mit Öl (gesättigten) Docht nicht verlässt, genauso verlässt auch die Seele nicht den Körper, (solange) er von dem Strahl des Mondnektars erfüllt ist.


इन्धनानि यथा वह्निस्तैलवर्तिं च दीपकः |
तथा सोमकलापूर्णं देहं देही न मुञ्चति || ५० ||
indhanāni yathā vahnis taila-vartiṃ ca dīpakaḥ |
tathā soma-kalā-pūrṇaṃ dehaṃ dehī na muñcati || 2.50 ||
indhanani yatha vahnis taila-vartim cha dipakah |
tatha soma-kala-purnam deham dehi na munchati || 2.50 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

indhanāni : den Brennstoff, das Brennholz (Indhana)
yathā : so wie (Yatha)
vahniḥ : das Feuer (Vahni)
taila-vartim : den mit Öl (gesättigten, Taila) Docht (Varti)
ca : und (Cha)
dīpakaḥ : die Flamme einer Lampe (Dipaka)
tathā : genauso (Tatha)
soma-kalā-pūrṇam : den von dem Strahl (Kala) des Mondnektars (Soma) erfüllten (Purna)
deham : Körper (Deha)
dehī : der Verkörperte, die Seele (Dehin)
na : nicht (Na)
muñcati : verlässt (muc)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 66 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert, sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.46), wo er im Kontext von Khechari Mudra steht.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass mit dehī die Individualseele (Jivatman) - das sich mit einem Körper identifizierende individualisierte Bewusstsein - gemeint ist: dehī jīvātmā.

Shataka 2 Vers 51: Wirkungen der Bewahrung des Mondnektars

Im Körper eines Yogi, der täglich von dem Strahl des Mondnektars erfüllt ist, breitet sich kein Gift aus, sogar wenn er von (dem Schlangendämonen) Takshaka gebissen wurde.


नित्यं सोमकलापूर्णशरीरं यस्य योगिनः |
तक्षकेणापि दष्टस्य विषं तस्य न सर्पति || ५१ ||
nityaṃ soma-kalā-pūrṇa-śarīraṃ yasya yoginaḥ |
takṣakeṇāpi daṣṭasya viṣaṃ tasya na sarpati || 2.51 ||
nityam soma-kala-purna-shariram yasya yoginah |
takshakenspi dashtasya visham tasya na sarpati || 2.51 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nityam : täglich ("stets", Nitya)
soma-kalā-pūrṇa-śarīram : Körper (Sharira) von dem Strahl (Kala) des Mondnektars (Soma) erfüllt (Purna) ist
yasya : welches (Yad)
yoginaḥ : Yogis (Yogin)
takṣakeṇa : von (dem Schlangendämonen) Takshaka
api : sogar (Api)
daṣṭasya : der gebissen wurde (Dashta)
viṣam : Gift (Visha)
tasya : in diesem (Tad)
na : nicht (Na)
sarpati : breitet sich aus ("schleicht sich ein", (sṛp)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.45) überliefert, wo er im Kontext von Khechari Mudra steht.

Takshaka ist der bekannteste der acht mythologischen Fürsten der Schlangendämonen. Die geheimnisvolle Fähigkeit der Yogis, von Gift unbeeinflusst zu bleiben, wird oft erwähnt. So auch im Zusammenhang mit der Dharana über das Element Wasser, wo es heißt, der Yogi könne das Gift Kalakuta neutralisieren bzw. "verbrennen" (GP 2, 55), oder im Zusammenhang mit der Praxis von Mayurasana in der Hatha Yoga Pradipika (1.33).

Shataka 2 Vers 52: Dharana

Vertraut mit der Sitzhaltung, mit der Atemkontrolle und mit dem Zurückhalten (der Sinne bzw. des Mondnektars), soll man auch mit der Praxis der Konzentrationsübungen beginnen.


आसनेन समायुक्तः प्राणायामेन संयुतः |
प्रत्याहारेण सम्पन्नो धारणां च समभ्यसेत् || ५२ ||
āsanena samāyuktaḥ prāṇāyāmena saṃyutaḥ |
pratyāhāreṇa sampanno dhāraṇāṃ ca samabhyaset || 2.52 ||
asanena samayuktah pranayamena samyutah |
pratyaharena sampanno dharanam cha samabhyaset || 2.52 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanena : mit der Sitzhaltung, Körperstellung (Asana)
samāyuktaḥ : ausgestattet, vertraut ("verbunden", Samayukta)
prāṇāyāmena : mit der Atemkontrolle, Atemverhaltung (Pranayama)
saṃyutaḥ : ausgestattet ("verbunden", Samyuta)
pratyāhāreṇa : mit dem Zurückhalten (der Sinne bzw. des Mondnektars, Pratyahara)
sampannaḥ : ausgestattet (Sampanna)
dhāraṇām : die Konzentration(sübungen, Dharana)
ca : auch (Cha)
samabhyaset : man soll üben, praktizieren (sam + abhi + as)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit zwei kleineren Lesarten im zweiten Halbvers als Vers 67 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es saṃyukto dhāraṇāś statt sampanno dhāraṇāṃ.

Hier werden einerseits die bisher gelehrten drei Glieder des Hatha Yoga, nämlich Asana, Pranayama und Pratyahara, als notwendige Voraussetzungen für die Konzentrations- bzw. Meditationspraxis (Dharana) angesehen, andererseits wird auch deutlich, dass letztere die folgerichtige Fortsetzung und das eigentliche Ziel der vorangehenden drei Glieder ist.

Gemäß der beiden in GP 2, 22 bzw. 2, 30 gegebenen Definitionen von Pratyahara lässt sich dies als das Zurückhalten der Sinne von ihren Sinnesobjekten bzw. als das Zurückhalten des Mondnektars verstehen. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar favorisiert allerdings die erste Interpretation: "ein mit dem Zurückhalten (der Sinne) begabter Yogi hat seine Sinnesfunktionen (Indriya-Vritti) gemäß der Vorschriften (Vidhivat) zurückgehalten (Pratyahrita)" - pratyāhāreṇa sampanno vidhivat pratyāhṛtendriya-vṛttir yogī.

Shataka 2 Vers 53: Dharanas über die fünf Elemente

Die Konzentration auf jedes einzelne der fünf Elemente im Inneren ("im Herzen"), verbunden mit der Bewegungslosigkeit des Geistes, wird Dharana ("das Halten") genannt.


हृदये पञ्चभूतानां धारणा च पृथक्पृथक् |
मनसो निश्चलत्वेन धारणा साभिधीयते || ५३ ||
hṛdaye pañca-bhūtānāṃ dhāraṇā ca pṛthak pṛthak |
manaso niścalatvena dhāraṇā sābhidhīyate || 2.53 ||
hridaye pancha-bhutanam dharana cha prithak prithak |
manaso nishchalatvena dharana sabhidhiyate || 2.53 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

hṛdaye : im Inneren, innerlich ("im Herzen", Hridaya)
pañca-bhūtānām : der fünf Elemente (Panchabhuta)
dhāraṇā : die Konzentration, Visualisierung ("das Halten", Dharana)
ca : aber (Cha)
pṛthak pṛthak : jeweils, einzeln, jede für sich (Prithak)
manasaḥ : des Geistes (Manas)
niścalatvena : als, mit, in Form der Bewegungslosigkeit, Unbeweglichkeit (Nishchalatva)
dhāraṇā : Konzentration
 : dies(e, Tad)
abhidhīyate : wird genannt, bezeichnet (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Lesarten als Vers 68 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es im vierten Pada ca vidhīyate "(und) wird ausgeführt, praktiziert" statt sābhidhīyate.

In den folgenden fünf Versen (GP 2.54-58) werden die einzelnen Konzentrationsübungen über die fünf Elemente gelehrt, wobei die entsprechenden Visualisierungen in den jeweils zugeordneten Körperregionen bzw. Konzentrationspunkten (Adhara) vorgenommen werden. Daher ist hṛdaye "im Herzen" hier nicht wörtlich zu verstehen, sondern es verweist auf das "Innere, Geistige" im Allgemeinen. Im zweiten Halbvers wird mit manaso niścalatvena "in Form der Bewegungslosigkeit des Geistes" eine kurzgefasste Definition für Dharana (wörtl.: "das Festhalten") gegeben, vgl. hierzu Patanjalis Definition in Yogasutra 3.1: deśa-bandhaś cittasya dhāraṇā "Die Bindung (Bandha) des Bewusstseins (Chitta) an einen Ort (Desha) ist Konzentration (Dharana)".

In der Gheranda Samhita werden diese Konzentrationsübungen über die fünf Elemente unter der Bezeichnung pañca-dhāraṇā im Zusammenhang mit den Mudras gelehrt. In den Versen 3.68-69 werden ihre Wirkungen wie folgt gepriesen:

kathitā śāṃbhavī mudrā śṛṇuṣva pañca-dhāraṇām |
dhāraṇāni samāsādya kiṃ na sidhyati bhū-tale || 3.68 ||

"Höre nun, nachdem die Shambhavi Mudra gelehrt wurde, die fünf (Pancha) Konzentrationstechniken (über die fünf Elemente, Dharana). Was erreicht einer nicht auf Erden (Bhutala), der diese Konzentrationstechniken beherrscht?" (GhS 3.68)

anena nara-dehena svargeṣu gamanāgamam |
mano-gatir bhavet tasya khe-caratvaṃ na cānyathā || 3.69 ||

"(So) kann er mit diesem menschlichen (Nara) Körper (Deha) in den Himmeln (Svarga) ein- und ausgehen (Gamana-Agama), nach Belieben gehen, wohin er will (Manogati), sich durch die Luft bewegen (Khecharatva), nicht (aber) auf andere Weise." (GhS 3.69)

Shataka 2 Vers 54: Dharana über das Element Erde

Man absorbiere seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist in dem im Herzen befindlichen (Element) Erde, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Erde als ein) wie Gold oder Auripigment (gold-)gelb leuchtendes Viereck, darin den auf einer Lotusblüte sitzenden (Gott Brahma), zusammen mit dem Laut LA(M). Diese Konzentrationsübung auf (das Element) Erde macht unbeweglich und verleiht jederzeit die Meisterschaft über (das Element) Erde.


या पृथ्वी हरितालहेमरुचिरा पीता लकारान्विता
संयुक्ता कमलासनेन हि चतुष्कोणा हृदि स्थायिनी |
प्राणांस्तत्र विलीय पञ्चघटिकं चित्तान्वितं धारये-
देषा स्तम्भकरी सदा क्षितिजयं कुर्याद्भुवो धारणा || ५४ ||
yā pṛthvī hari-tāla-hema-rucirā pītā la-kārānvitā
saṃyuktā kamalāsanena hi catuṣ-koṇā hṛdi sthāyinī |
prāṇāṃs tatra vilīya pañca-ghaṭikaṃ cittānvitaṃ dhārayed
eṣā stambhakarī sadā kṣiti-jayaṃ kuryād bhuvo dhāraṇā || 2.54 ||
ya prithvi hari-tala-hema-ruchira pita la-karanvita
samyukta kamalasanena hi catush-kona hridi sthayini |
pranams tatra viliya pancha-ghatikam chittanvitam dharayed
esha stambhakari sada kshiti-jayam kuryad bhuvo dharana || 2.54 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

 : (dort) wo ("was, welche", Yad)
pṛthvī : (das Element) Erde (Prithvi)
hari-tāla-hema-rucirā : glänzend; prächtig, schön (Ruchira) wie Gold (Heman oder) Auripigment, Arsen(III)-sulfid (Haritala)
pītā : gelb, gelblich (Pita)
la-kārānvitā : versehen, zusammen (Anvita) mit dem Laut La (Lakara)
saṃyuktā : zusammen, verbunden (Samyukta)
kamalāsanena : mit (Gott) Brahma, ("dessen Sitz eine Lotusblüte ist", Kamalasana)
hi : gewiss (Hi)
catuṣ-koṇā : viereckig, in viereckiger Form (Chatushkona)
hṛdi : im Herzen, im Herzchakra (Hrid)
sthāyinī : sich befindet (Sthayin)
prāṇān : die (Akk. Pl.!) Lebensatem, die Lebensenergien (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vilīya : absorbierend, auflösend (vi + )
pañca-ghaṭikam : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : diese (Etad)
stambhakarī : unbeweglich machende (Stambhakara)
sadā : immer, jederzeit (Sada)
kṣiti-jayam : die Herrschaft, Meisterschaft ("Sieg", Jaya) über (das Element) Erde (Kshiti)
kuryāt : verleiht, bewirkt ("macht", kṛ)
bhuvaḥ : über (das Element) Erde (Bhu)
dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 69 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie in der Gheranda Samhita (3.70) überliefert. Dort heißt es im ersten Pada jeweils hari-tāla-deśa-rucirā "schön (Ruchira) wie ein Stück (Desha) Auripigment (Haritala)" statt hari-tāla-hema-rucirā sowie im dritten Pada prāṇaṃ tatra vinīya "den Lebensatem, die Lebensenergie dorthin lenkend (vi + )" statt prāṇāṃs tatra vilīya. Im vierten Pada liest GhS adho-dhāraṇā "die nach unten (Adhas), d.h. zur Erde ausgerichtete Visualisierungstechnik" statt bhuvo dhāraṇā.

Es handelt sich (hier und in den folgenden vier Versen) um eine komplexe Konzentrations- und Visualisierungstechnik (Dharana), bei der Geist (Chitta) und Atmung (wörtl.: die Lebensenergie Prana) auf einen Konzentrationspunkt im Körper (bzw. auf ein feinstoffliches Energiezentrum, in diesem Fall das Herzchakra) gelenkt und da für längere Zeit gehalten werden. In diesem inneren Raum werden eine geometrische Form, eine Farbe, sowie die dazugehörige Gottheit visualisiert und das jeweilige, dem Element zugeordnete Bijamantra innerlich rezitiert bzw. "gehört".

Das dem Element Erde (Bhu) zugeordnete Bijamantra ist LAM, das in der Regel mit dem Muladhara Chakra in Verbindung gebracht wird. Die in der Goraksha Paddhati gelehrten Visualisierungstechniken über die fünf Elemente beginnen jedoch im Herzchakra (Anahata Chakra) und steigen mit jedem Element weiter aufwärts bis zum Brahmarandhra.

Das Wort stambha-karī "die unbeweglich machende" kann sich einerseits auf die unbewegliche, stabile Sitzhaltung sowie die angestrebte Unbeweglichkeit des Geistes des meditierenden Yogis beziehen (vgl. die Anm. zu GP 2.53). In diesem Sinne wäre stambha-karī gleichbedeutend mit den Adjektiven sthira, niścala bzw. sthāṇu und deren Substantivierungen Sthairya, Nishchalatva bzw. Sthanutva, die alle "Unbeweglichkeit" bedeuten. Insofern diese Dharana über das Element Erde die Herrschaft bzw. den "Sieg" über dieses Element verleiht (kṣiti-jayam), könnte stambha-karī auch ein Verweis auf die als Stambhana bezeichnete magische Fähigkeit des "Festbannens, Lähmens, Unbeweglichmachens" verstanden werden, die in vielen tantrischen Texten erwähnt wird. Diese magische Fähigkeit wurde bspw. benutzt, um bestimmte Gottheiten festzubannen bzw. an der Ausübung ihrer (magischen) Kräfte zu hindern.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt stambha-karī als "diejenige, die das Herabfallen (Patana) aus schwerwiegenden (Guru) Gründen (Hetuka) verhindert (Stambhika)": guru-hetuka-patana-stambhikā, d.h. diese Visualisierungstechnik verhindert entweder das Zurückfallen vom Fortschritt der Übungspraxis oder das "Fallen" in schlechtere Lebensumstände bzw. eine Wiedergeburt unter ungünstigen Umständen. Zu den Wirkungen der einzelnen Dharanas vgl. auch GP 2.59.

In der Gheranda Samhita (3.71) heißt es in diesem Zusammenhang weiter:

pārthivī-dhāraṇā-mudrāṃ yaḥ karoti ca nityaśaḥ |
mṛtyuṃ-jayaḥ svayaṃ so 'pi sa siddho vicared bhuvi || 3.71 ||

"Wer diese Mudra (in Form der) Konzentration (Dharana) auf das (Element) Erde (Parthiva) beständig praktiziert, der besiegt von selbst den Tod (Mrityumjaya), der wandelt als ein Vollkommener (Siddha) auf Erden (Bhu)." (GhS 3.71)

Shataka 2 Vers 55: Dharana über das Element Wasser

Man absorbiere seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist in dem (im Bereich der) Kehle befindliche Element Wasser, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Wasser) in Form eines Halbmondes, blendend weiß wie Jasmin, zusammen mit der Keimsilbe VA(M) und dem (Mond-)Nektar, immer in Verbindung mit Vishnu (als Gottheit). Dies ist die zum (Element) Wasser gehörige Konzentrationsübung, die (sogar) das tödliche Gift Kalakuta verbrennt.


अर्धेन्दुप्रतिमं च कुन्दधवलं कण्ठेऽम्बुतत्त्वं स्थितं
यत्पीयूषवकारबीजसहितं युक्तं सदा विष्णुना |
प्राणं तत्र विलीय पञ्चघटिकं चित्तान्वितं धारये-
एषा दुःसहकालकूटदहनी स्याद्वारुणी धारणा || ५५ ||
ardhendu-pratimaṃ ca kunda-dhavalaṃ kaṇṭhe'mbu-tattvaṃ sthitaṃ
yat pīyūṣa-va-kāra-bīja-sahitaṃ yuktaṃ sadā viṣṇunā |
prāṇaṃ tatra vilīya pañca-ghaṭikaṃ cittānvitaṃ dhārayed
eṣā duḥsaha-kāla-kūṭa-dahanī syād vāruṇī dhāraṇā || 2.55 ||
ardhendu-pratimam cha kunda-dhavalam kanthe'mbu-tattvam sthitam
yat piyusha-va-kara-bija-sahitam yuktam sada vishnuna |
pranam tatra viliya pancha-ghatikam chittanvitam dharayed
esha duhsaha-kala-kuta-dahani syad varuni dharana || 2.55 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ardhendu-pratimam : in Form, als Abbild (Pratima) des Halbmondes (Ardhendu)
ca : und (Cha)
kunda-dhavalam : blendend weiß (Dhavala) wie Jasmin (Kunda, Jasminum multiflorum)
kaṇṭhe : in der Kehle, im Kehlchakra (Kantha)
ambu-tattvam : das Element, Prinzip (Tattva) Wasser (Ambu)
sthitam : sich befindet (Sthita)
yat : (dort) wo ("was, welches", Yad)
pīyūṣa-va-kāra-bīja-sahitam : versehen, zusammen mit (Sahita) der Keimsilbe (Bija) Va (Vakara) und dem (Mond-)Nektar (Piyusha)
yuktam : verbunden (Yukta)
sadā : immer, jederzeit (Sada)
viṣṇunā : mit (dem Gott) Vishnu
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vilīya : absorbierend, auflösend (vi + )
pañca-ghaṭikam : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : dies (Etad)
duḥsaha-kāla-kūṭa-dahanī : die das tödliche ("schwer zu ertragende", Duhsaha) Gift Kalakuta verbrennt (Dahana)
syāt : ist (as)
vāruṇī : die zum (Element) Wasser gehört (Varuna)
dhāraṇā : die Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 70 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie mit stärkeren Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.72) überliefert. Das dem Element Wasser (Vari) zugeordnete Bijamantra ist VAM, das in der Regel mit dem Svadhishthana Chakra in Verbindung gebracht wird.

In der Gheranda Samhita (3.73) heißt es über die Wirkung dieser Visualsierungstechnik:

āmbhasīṃ paramāṃ mudrāṃ yo jānāti sa yoga-vit |
jale ca gabhīre ghore maraṇaṃ tasya no bhavet || 3.73 ||

"Wer diese höchste Mudra (in Form der Konzentration) die zum (Element) Wasser gehört (Ambhasa) kennt, der ist ein Kenner des Yoga (Yogavid). Auch in tiefem (Gabhira), schrecklichem (Ghora) Wasser (Jala) findet er nicht den Tod (Marana)." (GhS 3.73)

Shataka 2 Vers 56: Dharana über das Element Feuer

Man absorbiere seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist in dem in der Gaumengegend befindlichen Element Feuer, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Feuer als) ein karminrotes, dem Feuer zugeordnetes Dreieck, schön wie eine Koralle, zusammen mit (der Keimsilbe) RA(M und) mit Rudra in der rechten Weise (als Gottheit) verbunden. Diese zum (Element) Feuer gehörige Konzentrationsübung verleiht jederzeit die Meisterschaft über das (Element) Feuer.


यत्तालुस्थितमिन्द्रगोपसदृशं तत्त्वं त्रिकोणानलं
तेजो रेफयुतं प्रवालरुचिरं रुद्रेण सत्सङ्गतम् |
प्राणं तत्र विलीय पञ्चघटिकं चित्तान्वितं धारये-
देषा वह्निजयं सदा वितनुते वैश्वानरी धारणा || ५६ ||
yat tālu-sthitam indra-gopa-sadṛśaṃ tattvaṃ tri-koṇānalaṃ
tejo repha-yutaṃ pravāla-ruciraṃ rudreṇa sat-saṅgatam |
prāṇaṃ tatra vilīya pañca-ghaṭikaṃ cittānvitaṃ dhārayed
eṣā vahni-jayaṃ sadā vitanute vaiśvānarī dhāraṇā || 2.56 ||
yat talu-sthitam indra-gopa-sadrisham tattvam tri-konanalam
tejo repha-yutam pravala-ruchiram rudrena sat-sangatam |
pranam tatra viliya pancha-ghatikam chittanvitam dharayed
esha vahni-jayam sada vitanute vaishvanari dharana || 2.56 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yat : (dort) wo ("was, welches", Yad)
tālu-sthitam : sich in der Gaumen(gegend, Talu) befindet (Sthita)
indra-gopa-sadṛśam : (dem roten Farbstoff) Karmin (Indragopa) gleich (Sadrisha)
tattvam : das Element, Prinzip (Tattva)
tri-koṇānalam : (in Form eines) dem Feuer zugeordneten (ānala ?, Anala) Dreiecks (Trikona)
tejaḥ : Feuer (Tejas)
repha-yutam : verbunden mit (Yuta) dem (Laut) RA(M) (Repha)
pravāla-ruciram : prächtig, schön (Ruchira) wie eine Koralle (Pravala)
rudreṇa : mit Rudra (als Gottheit)
sat-saṅgatam : in der rechten Weise, in Wirklichkeit ? (Sat) verbunden, in Verbindung (Sangata)
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vilīya : absorbierend, auflösend (vi + )
pañca-ghaṭikam : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : diese (Etad)
vahni-jayam : die Herrschaft, Meisterschaft ("Sieg", Jaya) über (das Element) Feuer (Vahni)
sadā : immer, jederzeit (Sada)
vitanute : bewirkt, verleiht (vi + tan)
vaiśvānarī : die zum (Element) Feuer gehört (Vaishvanara)
dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 71 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie mit stärkeren Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.75) überliefert. In letzterer wird allerdings der Nabel (Nabhi) als der Ort angegeben, wo das Element Feuer im Körper zu visualisieren ist: yan nābhi-sthitam... Das dem Element Feuer (Vahni) zugeordnete Bijamantra ist RAM, das in der Regel mit dem Manipura Chakra in Verbindung gebracht wird (vgl. GhS 3.75). Das Goraksha Shataka liest dagegen yat tāla-sthitam, wobei tāla (wörtl.: "Handfläche") vermutlich ein Schreibfehler (in allen bekannten Manuskripten?) ist.

Die Lesung sat-saṅgatam am Ende des zweiten Pada ist vielleicht ein Überlieferungsfehler, insofern GŚ 1.71 und YTṬ 2.56 das syntaktisch stimmigere yat saṅgatam haben, wobei sich das Relativpronomen Yad auf tattvam oder eines seiner zugehörigen Adjektive bezieht. Das Vorderglied im Kompositum sat-saṅgatam liese sich im Sinne des Substantivs Sat "(in) Wirklichkeit" bzw. adverbiell "in der rechten Weise" verstehen. Anderenfalls wäre es als ein für sich stehendes Partizip Präsens Aktiv der Wurzel as "sein" aufzufassen, das sich wiederum auf eines der zu tattvam gehörigen Adjektive bezieht.

In der Gheranda Samhita (3.76) heißt es über die Wirkung dieser Visualsierungstechnik:

pradīpte jvalite vahnau yadi patati sādhakaḥ |
etan-mudrā-prasādena sa jīvati na mṛtyu-bhāk || 3.76 ||

"Wenn der Praktizierende (Sadhaka) in ein heißes (Pradipta), loderndes (Jvalita) Feuer (Vahni) fällt, bleibt er durch die Gnade (Prasada) dieser Mudra (in Form der Konzentration auf das Element Feuer) am Leben und erleidet nicht den Tod (Mrityu)." (GhS 3.76)

Shataka 2 Vers 57: Dharana über das Element Luft

Man absorbiere seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist in dem zwischen den Augenbrauen befindlichen Element Luft, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Luft als) einen Kreis, (schwarz) wie mit Öl angemachte Augensalbe, zusammen mit (der Keimsilbe) YA(M und) Ishvara (als) Gottheit. Diese zum (Element) Luft gehörige Konzentrationsübung bewirkt, dass der sich zügelnde (Yogi) im Luftraum wandeln kann.


यद्भिन्नाञ्जनपुञ्जसन्निभमिदं स्यूतं (वृत्तं) भ्रुवोरन्तरे
तत्त्वं वायुमयं यकारसहितं यत्रेश्वरो देवता |
प्राणं तत्र विलीय पञ्चघटिकं चित्तान्वितं धारये-
देषा खे गमनं करोति यमिनः स्याद्वायवी धारणा || ५७ ||
yad bhinnāñjana-puñja-sannibham idaṃ syūtaṃ (vṛttaṃ) bhruvor antare
tattvaṃ vāyu-mayaṃ ya-kāra-sahitaṃ yatreśvaro devatā |
prāṇaṃ tatra vilīya pañca-ghaṭikaṃ cittānvitaṃ dhārayed
eṣā khe gamanaṃ karoti yaminaḥ syād vāyavī dhāraṇā || 2.57 ||
yad bhinnanjana-punja-sannibham idam syutam (vrittam) bhruvor antare
tattvam vayu-mayam ya-kara-sahitam yatreshvaro devata |
pranam tatra viliya pancha-ghatikam chittanvitam dharayed
esha khe gamanam karoti yaminah syad vayavi dharana || 2.57 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yat : (dort) wo ("was, welches", Yad)
bhinnāñjana-puñja-sannibham : (von schwarzer Farbe) gleich, ähnlich (Sannibha) einem Fleck ("Haufen", Punja) von mit Öl angemachter Augensalbe (Bhinnanjana)
idam : das (Idam)
syūtam : verbunden ("angenäht", Syuta - wohl fehlerhaft für vṛttam rund, Kreis Vritta)
bhruvoḥ : der Augenbrauen (Bhru)
antare : in der Mitte, zwischen (Antara)
tattvam : Element, Prinzip (Tattva)
vāyu-mayam : bestehend aus ("gebildet aus", Maya) Luft ("Wind", Vayu)
ya-kāra-sahitam : versehen, zusammen mit (Sahita) dem Laut YA(M, Yakara)
yatra : wo (Yatra)
īśvaraḥ : Ishvara ("der Herr, Gebieter")
devatā : Gottheit (ist, Devata)
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vilīya : absorbierend, auflösend (vi + )
pañca-ghaṭikam : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : die (Etad)
khe : im Luftraum (Kha)
gamanam : das Gehen (Gamana)
karoti : sie bewirkt ("macht", kṛ)
yaminaḥ : des sich zügelnden (Yogis, Yamin)
syāt : ist ("sei", as)
vāyavī : die zum (Element) Wind gehört (Vayava)
dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 72 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie mit stärkeren Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.77) überliefert. In letzterer wird allerdings kein Ort angegeben, wo das Element Luft im Körper zu visualieren ist. Das dem Element Luft (Vayu) zugeordnete Bijamantra ist YAM, das in der Regel mit dem Anahata Chakra in Verbindung gebracht wird.

Die Lesung syūtaṃ "verbunden, angenäht" im ersten Pada ist vermutlich ein Überlieferungsfehler für vṛttaṃ "rund, Kreis" (vgl. YTṬ 2.57). Auch GŚ 1.72 liest vṛttaṃ, allerdings im zweiten Pada in vertauschter Reihenfolge mit tattvaṃ im ersten Pada.

In der Gheranda Samhita (3.78) heißt es über die Wirkung dieser Visualsierungstechnik:

iyaṃ tu paramā mudrā jarāmṛtyu-vināśinī |
vāyunā mriyate nāpi khe ca gati-pradāyinī || 3.78 ||

"Diese höchste Mudra (in Form der Konzentration auf das Element Luft) vertreibt Alter (Jara) und Tod (Mrityu), und sie verleiht (die Fähigkeit), im Luftraum (Kha) zu wandeln (Gati). Man stirbt auch nicht durch Wind (Vayu)." (GhS 3.78)

Shataka 2 Vers 58: Dharana über das Element Äther/Raum

Man absorbiere seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist in dem am Brahmarandhra befindlichen Element Äther, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Äther als farblos) wie vollkommen reines Wasser, zusammen mit der (Keim-)Silbe HA(M und), dem diesen (zugehörigen inneren) Klang (und) Sadashiva (als Gottheit). Diese Konzentrationsübung über (das Element) Äther gilt als geeignet, die Tür zur Befreiung aufbrechen.


आकाशं सुविशुद्धवारिसदृशं यद्ब्रह्मरन्ध्रस्थितं
तन्नादेन सदाशिवेन सहितं तत्त्वं हकाराक्षरम् |
प्राणं तत्र विलीय पञ्चघटिकं चित्तान्वितं धारये-
देषा मोक्षकपाटपाटनपटुः प्रोक्ता नभोधारणा || ५८ ||
ākāśaṃ su-viśuddha-vāri-sadṛśaṃ yad brahma-randhra-sthitaṃ
tan-nādena sadā-śivena sahitaṃ tattvaṃ ha-kārākṣaram |
prāṇaṃ tatra vilīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed
eṣā mokṣa-kapāṭa-pāṭana-paṭuḥ proktā nabho-dhāraṇā || 2.58 ||
akasham su-vishuddha-vari-sadrisham yad brahma-randhra-sthitam
tan-nadena sada-shivena sahitam tattvam ha-karaksharam |
pranam tatra viliya pancha-ghatikash chittanvitam dharayed
esha moksha-kapata-patana-patuh prokta nabho-dharana || 2.58 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ākāśam : der Äther, Raum (Akasha)
su-viśuddha-vāri-sadṛśam : (farblos) wie ("gleich", Sadrisha) vollkommen reines (Suvishuddha) Wasser (Vari)
yat : (dort) wo ("was, welches", Yad)
brahma-randhra-sthitam : sich im Brahmarandhra ("Öffnung zum Brahman") befindet (Sthita)
tan-nādena : mit dem diesen (zugehörigen, Tad inneren) Klang (Nada)
sadā-śivena : mit Sadashiva (als Gottheit)
sahitam : zusammen (Sahita)
tattvam : Element, Prinzip (Tattva)
ha-kārākṣaram : (zusammen mit) der Silbe (Akshara) HA(M, Hakara)
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vilīya : absorbierend, auflösend (vi + )
pañca-ghaṭikam : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : diese (Etad)
mokṣa-kapāṭa-pāṭana-paṭuḥ  : (als) geeignet (Patu) für das Aufbrechen (Patana) der Tür (Kapata) zur Befreiung (Moksha)
proktā : gilt ("wird genannt", Prokta)
nabho-dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana über das Element) Äther, Raum (Nabhas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 73 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie mit stärkeren Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.80) überliefert. In letzterer Version wird allerdings kein Ort angegeben, wo das Element Äther im Körper zu visualieren ist. Das dem Element Äther (Akasha) zugeordnete Bijamantra ist HAM, das in der Regel mit dem Vishuddha Chakra in Verbindung gebracht wird.

Im Unterschied zu den vorangegangenen vier Dharanas über die anderen Elemente wird das Element Äther nicht in einer bestimmten (geometrischen) Form visualisiert, wohl um die Formlosigkeit und Unbegrenztheit dieses Elements, das alle anderen Elemente durchdringt, zu betonen.

In der Gheranda Samhita (3.81) heißt es über die Wirkung dieser Visualsierungstechnik:

ākāśī-dhāraṇāṃ mudrāṃ yo vetti sa ca yoga-vit |
na mṛtyur jāyate tasya pralaye nāvasīdati || 3.81 ||

"Wer diese Mudra (in Form der Konzentration auf das Element) Äther (Akasha) kennt, der ist ein Kenner des Yoga (Yogavid). Dem wiederfährt nicht der Tod (Mrityu), und bei der Auflösung (des Universums, Pralaya) geht er nicht zugrunde." (GhS 3.81)

Shataka 2 Vers 59: Wirkungen der Dharanas über die fünf Elemente

Die (jeweilige) Konzentrationsübung (über das entsprechende Element) wirkt fest machend, flüssig machend, verbrennend, verwirrend und austrocknend - (dies sind) die fünf Konzentrationsübungen über die Elemente.


स्तम्भिनी द्राविणी चैव दहनी भ्रामिणी तथा |
शोषिणी च भवत्येषा भूतानां पञ्च धारणाः || ५९ ||
stambhinī drāviṇī caiva dahanī bhrāmiṇī tathā |
śoṣiṇī ca bhavaty eṣā bhūtānāṃ pañca dhāraṇāḥ || 2.59 ||
stambhini dravini chaiva dahani bhramini tatha |
shoshini cha bhavaty esha bhutanam pancha dharanah || 2.59 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

stambhinī : steif machend, fest machend, lähmend, hemmend (Stambhini)
drāviṇī : flüssig machend, weich machend, zum Laufen bringend, in die Flucht schlagend (Dravini)
ca : und (Cha)
eva : ebenso ("so", Eva)
dahanī : verbrennend, versengend (Dahani)
bhrāmiṇī : drehend, wirbelnd, Schwindel erzeugend, verwirrend (Bhramini)
tathā : ebenso (Tatha)
śoṣiṇī : austrocknend, verscheuchend, vernichtend, absorbierend (Shoshini)
ca : und
bhavati : wirkt ("ist", (bhū)
eṣā : diese, sie (Etad)
bhūtānām : der Elemente, über die Elemente (Bhuta)
pañca : die fünf (Pancha)
dhāraṇāḥ : Konzentration(sübung)en, Visualisierungstechniken (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Lesarten als Vers 74 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Hier werden noch einmal die (magischen) Wirkungsweisen der beschriebenen Konzentrationstechniken genannt. Sie verleihen die Herrschaft bzw. Meisterschaft (Jaya "Sieg") über die einzelnen Elemente, was nur in GP 2.54 (kṣiti-jayam) und 2.56 (vahni-jayam) in Bezug auf die Elemente Erde (Kshiti) und Feuer (Feuer) explizit gemacht wird. Je nach der physikalischen Beschaffenheit des jeweiligen Elements wirken sie entsprechend fest machend (Erde), flüssig machend (Wasser), verbrennend (Feuer), verwirrend (Luft bzw. "Wind") und absorbierend (wört.: "austrocknend", d.h. im Äther bzw. Raum zum Verschwinden bringend). Nur in GP 2.54 wurde die entsprechende Eigenschaft bzw. Fähigkeit bereits genannt (stambha-karī für stambhinī "fest oder steif machend").

Die genannten Wirkungsweisen finden sich in ähnlicher Weise auch in den drei ayurvedischen Doshas wieder, die aus einer Kombination von jeweils zweien der fünf Elemente bestehen (Kapha aus Erde und Wasser, Pitta aus Wasser und Feuer und Vata aus Luft und Äther).

Shataka 2 Vers 60: Wirkungen der Dharanas über die fünf Elemente

Ein Yogi, der diese durch Handlung, Denken und Rede schwer zu erlangenden fünf Konzentrationsübungen (über die Elemente) gemeistert hat, befreit sich für immer von allen Leiden.


कर्मणा मनसा वाचा धारणाः पञ्च दुर्लभाः |
विज्ञाय सततं योगी सर्वदुःखैः प्रमुच्यते || ६० ||
karmaṇā manasā vācā dhāraṇāḥ pañca dur-labhāḥ |
vijñāya satataṃ yogī sarva-duḥkhaiḥ pramucyate || 2.60 ||
karmana manasa vacha dharanah pancha dur-labhah |
vijnaya satatam yogi sarva-duhkhaih pramuchyate || 2.60 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

karmaṇā : mit Handlung, Opferhandlung (Karman)
manasā : mit dem Geist, Denken (Manas)
vācā : mit der Sprache, Rede (Vach)
dhāraṇāḥ : Konzentration(sübung)en, Visualisierungstechniken (Dharana)
pañca : die fünf (Pancha)
dur-labhāḥ : die schwer zu erlangen sind (Durlabha)
vijñāya : (der verstanden und durch Praxis) gemeistert hat ("erlernt habend", vi + jñā)
satatam : stets, für immer (Satata)
yogī : ein Yogi (Yogin)
sarva-duḥkhaiḥ : von jeglichen (Sarva) Leiden, Kümmernissen, Schmerzen (Duhkha)
pramucyate : wird befreit, befreit sich (pra + muc)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit kleineren Lesarten als Vers 75 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es im dritten Pada vidhāya "praktizierend, praktiziert habend" statt vijñāya, was den Fokus dieser Aussage auf die Übungspraxis lenkt.

So könnte man den geläufigen Ausdruck karmaṇā manasā vācā auch in GP 2.60 auf die Komplexität der Praxis dieser als Dharana bezeichneten Konzentrations- und Visualisierungstechniken anwenden: Der Ausdruck "mit Handlung" (karmaṇā) bezöge sich dann auf die körperliche Ebene im Sinne der Sitzhaltung (Asana) und die Atemregulation (Pranayama) bzw. das "Festhalten" der Lebensenergie (Prana) auf den jeweiligen Konzentrationspunkt Adhara im Körper. "Mit dem Geist" (manasā) verwiese auf die innerliche Visualisierung bzw. das "Festhalten" des jeweiligen Elements an ebendiesem Punkt mit einer konkreten geometrischen Form, einer Farbe und der zugeordneten Gottheit. "Mit der Sprache" (vācā) meinte schließlich die (stille) Rezitation des jeweiligen Bijamantras (vgl. auch GP 2.52, wo die drei Voraussetzungen Asana, Pranayama und Pratyahara für die erfolgreiche Praxis von Dharana genannt werden.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers bezieht dagegen das Adjektiv dur-labhāḥ "schwer zu erlangen" ausdrücklich nicht auf die verschiedenen Aspekte der Übungspraxis, sondern auf Handlung in Form (Rupa) von Opferhandlungen oder anderen religiösen Praktiken (Anushthana), auf das Denken (Chintana) in Form intellektuellen Verstehens, und auf die Rede in Form einer Unterweisung bzw. von verkündenden (Nidarshana-Atmaka) Aussagen (Vachana).

Shataka 2 Vers 61: Dhyana

Die Verbalwurzel smri "erinnern" wird (bei den Grammatikern) einzig (in der Bedeutung) sämtlicher (Formen) des Denkens verstanden. Ein reiner (unvermischter) Gedanke im Geist wird zweifellos Meditation genannt.


स्म्रित्येव सर्वचिन्तायां धातुरेकः प्रपद्यते |
यच्चित्ते निर्मला चिन्ता तद्धि ध्यानं प्रचक्षते || ६१ ||
smr-ity eva sarva-cintāyāṃ dhātur ekaḥ prapadyate |
yac citte nirmalā cintā tad dhi dhyānaṃ pracakṣate || 2.61 ||
smr-ity eva sarva-chintayam dhatur ekah prapadyate |
yach chitte nirmala chinta tad dhi dhyanam prachakshate || 2.61 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

smṛ : erinnern (smṛ)
iti : so (Iti)
eva : gewiss (Eva)
sarva-cintāyām : (in der Bedeutung) sämtlicher (Sarva, Formen) des Denkens ("Gedanken", Chinta)
dhātuḥ : die Verbalwurzel (Dhatu)
ekaḥ : allein, einzig (Eka)
prapadyate : wird verstanden ("wird angenommen", pra + pad)
yat : was (Yad)
citte : im Geist, im Denken (Chitta)
nirmalā : ein reiner, unbefleckter (Nirmala)
cintā : Gedanke, Vorstellung, Betrachtung (Chinta)
tat : das (Tad)
hi : gewiss (Hi)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
pracakṣate : heißt ("ist benannt", pra + cakṣ)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit stark abweichendem Wortlaut als Vers 76 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert, was eine etwas unsichere Überlieferungslage vermuten lässt. Der erste Halbvers der vorliegenden Version nimmt in gelehrter Weise auf Dhatupatha 1.980 (smṛ cintāyām) bezug, wo es heißt, dass die Verbalwurzel (smṛ) in der (allgemeinen) Bedeutung "denken" (Chinta) gebraucht wird.

Shataka 2 Vers 62: Dhyana

Meditation ist von zweierlei Art: (Meditation) mit Teilen (d.h. mit Eigenschaften) und (Meditation) ohne Teile (d.h. ohne Eigenschaften). (Meditation) mit Teilen (d.h. mit Eigenschaften) unterscheidet sich hinsichtlich der (jeweiligen) spirituellen (bzw. religiösen) Praxis, (Meditation) ohne Teile hat keine Eigenschaften (hinsichtlich des Meditationsobjekts).


द्विविधं भवति ध्यानं सकलं निष्कलं तथा |
सकलं चर्याभेदेन निष्कलं निर्गुणं भवेत्‌ || ६२ ||
dvi-vidhaṃ bhavati dhyānaṃ sakalaṃ niṣkalaṃ tathā |
sakalaṃ caryā-bhedena niṣkalaṃ nirguṇaṃ bhavet‌ || 2.62 ||
dvi-vidham bhavati dhyanam sakalam nishkalam tatha |
sakalam charya-bhedena nishkalam nirgunam bhavet‌ || 2.62 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvi-vidham : von zweierlei Art (Dvividha)
bhavati : ist (bhū)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
sakalam : mit Teilen (d.h. mit Eigenschaften, Sakala)
niṣkalam : ohne Teile (d.h. ohne Eigenschaften, Nishkala)
tathā : und, sowie (Tatha)
caryā-bhedena : durch Verschiedenheit (Bheda, hinsichtlich) der spirituellen Praxis (Charya)
sakalam : (erkennt man Meditation) mit Teilen
niṣkalam : (Meditation) ohne Teile
nirguṇam : (Meditation) ohne Eigenschaften (Nirguna)
bhavet‌ : ist ("sei", bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit stärker abweichendem Wortlaut als Vers 77 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt sakalaṃ niṣkalaṃ im zweiten Pada saguṇaṃ nirguṇaṃ.

Der Text der Yoga Tarangini Tika lautet im dritten Pada wie in GŚ 1,77 varṇa-bhedena "Unterscheidungen (hinsichtlich) der begrenzenden Attribute ("Farbe, Klang", Varna) statt caryā-bhedena. Im Kommentar wird die Meditation mit Teilen bzw. Eigenschaften (sakalaṃ = saguṇam) beispielhaft auf die Form (Rupa einer Gottheit) mit vier (Chatur) Armen (Bahu) und fünf (Pancha) Gesichtern (Vaktra) usw. (Adi) bezogen: catur-bāhu-pañca-vaktrādi-rūpam. Die eigenschaftslose Meditation wird dagegen als lichthaft bzw. "die Erscheinungsform (Rupa) von Licht (Jyotis habend)" beschrieben: nirguṇaṃ jyotī-rūpam.

Shataka 2 Vers 63: Dhyana Mudra

In einer bequemen Sitzhaltung (sitzend), den Geist nach innen, den Blick nach außen und unten (bewegungslos) ausgerichtet, samt der geraden Aufrichtung des Körpers - das wird Meditationshaltung genannt.


अन्तश्चेतो बहिश्चक्षुरधः स्थाप्य सुखासनः |
[ समत्वं च शरीरस्य ध्यानमुद्रेति कथ्यते ] || ६३ ||
antaś ceto bahiś cakṣur adhaḥ sthāpya sukhāsanaḥ |
[ samatvaṃ ca śarīrasya dhyāna-mudreti kathyate ] || 2.63 ||
antash cheto bahish chakshur adhah sthapya sukhasanah |
[ samatvam ca sharirasya dhyana-mudreti kathyate ] || 2.63 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

antaḥ : nach innen (Antar)
cetaḥ : den Geist (Chetas)
bahiḥ : nach außen (Bahis)
cakṣuḥ : den Blick (Chakshus)
adhaḥ : nach unten (Adhas)
sthāpya : ausgerichtet habend (sthā)
sukhāsanaḥ : in einer bequemen (Sukha) Sitzhaltung (Asana)
samatvam : Geradheit ("Ebenmäßigkeit", Samatva)
ca : und (Cha)
śarīrasya : des Körpers (Sharira)
dhyāna-mudrā : die Meditationshaltung (Dhyanamudra)
iti : so (Iti)
kathyate : wird genannt (kath)

Anmerkung: Der zweite Halbvers dieses Verses wurde aus der Yoga Tarangini Tika übernommen. Die Edition der Laxmi-Venkateshwar Press (Bombay), der die Version des Divine Yoga Institute (Kathmandu) folgt, hat an dessen Stelle (vermutlich versehentlich) den zweiten Halbvers aus GP 2.64 stehen (mit der Variation kilbiṣāt‌ für kilbiṣaiḥ), der nur in diesem Vers (s.u.) dem Kontext gemäß und syntaktisch passend erscheint (kuṇḍalinyā samāyuktaṃ dhyātvā mucyeta kilbiṣāt‌).

Shataka 2 Vers 64: Saguna Dhyana über das Adhara (Muladhara Chakra)

Indem (der Yogi) auf die Grundlage (Adhara), das erste Energiezentrum (Chakra) von goldener Farbe, vierblättrig und mit der Kundalini verbunden, meditiert, befreie er sich von Sünden.


आधारं प्रथमं चक्रं स्वर्णाभं च चतुर्दलम्‌ |
कुण्डलिन्या समायुक्तं ध्यात्वा मुच्येत किल्बिषैः || ६४ ||
ādhāraṃ prathamaṃ cakraṃ svarṇābhaṃ ca catur-dalam‌ |
kuṇḍalinyā samāyuktaṃ dhyātvā mucyeta kilbiṣaiḥ || 2.64 ||
adharam prathamam chakram svarnabham cha chatur-dalam‌ |
kundalinya samayuktam dhyatva munchyeta kilbishaih || 2.64 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ādhāram : die Grundlage, Stütze Adhara)
prathamam : das erste (Prathama)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
svarṇābham : von goldener (Svarna) Farbe (Abha
ca : und (Cha)
catur-dalam : vierblättrig (Chaturdala)
kuṇḍalinyā : mit der Kundalini
samāyuktaṃ : verbunden, ausgestattet (Samayukta)
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
mucyeta : (man) befreit sich ("möge frei werden", muc)
kilbiṣaiḥ : von Sünden, Vergehen, Schuld (Kilbisha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit stärker abweichendem Wortlaut im zweiten und dritten Pada als Vers 78 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt kuṇḍalinyā samāyuktaṃ im dritten Pada nāsāgre dṛṣṭim ādāya "den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (Nasagra) richtend".

Das Adhara bzw. Muladhara Chakra und seine symbolische Darstellung, die als Grundlage für Visualisierungs- und Meditationsübungen dient, wurde in den Versen 1.17-19 ausführlich beschrieben. Auch im Vers 2.54 zur Dharana über das Element Erde ist von einem Viereck, das (gold)gelb wie Auripigment (Haritala) zu visualisieren ist, die Rede.

Shataka 2 Vers 65: Saguna Dhyana im Svadhishthana Chakra

Indem der Yogi aber in Svadhishthana, das sechs Blütenblätter hat und eine Farbe wie die eines echten Rubins, auf das Selbst meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze (gerichtet hält), sei er voller Wonne.


स्वाधिष्ठाने च षट्पत्त्रे सन्माणिक्यसमप्रभे |
नासाग्रदृष्टिरात्मानं ध्यात्वा योगी सुखी भवेत् || ६५ ||
svādhiṣṭhāne ca ṣaṭ-pattre san-māṇikya-sama-prabhe |
nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā yogī sukhī bhavet || 2.65 ||
svadhishthane cha shat-pattre san-manikya-sama-prabhe |
nasagra-drishtir atmanam dhyatva yogi sukhi bhavet || 2.65 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

svādhiṣṭhāne : in Svadhishthana
cha : und, aber (Cha)
ṣaṭ-pattre : (mit) sechs Blütenblättern (Shatpattra)
san-māṇikya-sama-prabhe : von gleicher (Sama) Farbe ("Glanz", Prabha) wie ein echter (Sat) Rubin (Manikya)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (richtend, Nasagra)
ātmānam : auf das Selbst (Atman)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
yogī : der Yogi (Yogin)
sukhī : glücklich, voller Wohlbehagen (Sukhin)
bhavet : werde, sei (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten sinngemäß als Vers 79 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ im dritten Pada nāsāgre dṛṣṭim ādāya "den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (Nasagra) richtend".

Die Symbolik des Svadhishthana Chakra wurde in Vers 1.21 erläutert.

Shataka 2 Vers 66: Saguna Dhyana im Manipuraka Chakra

Indem (der Yogi) in Manipuraka Chakra, das (der orange-roten Farbe) der aufgehenden Sonne gleicht, auf das Selbst meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze (gerichtet hält), kann er die Welt ins Wanken bringen.


तरुणादित्यसङ्काशे चक्रे च मणिपूरके |
नासाग्रदृष्टिरात्मानं ध्यात्वा सङ्क्षोभयेज्जगत् || ६६ ||
taruṇāditya-saṅkāśe cakre ca maṇi-pūrake |
nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā saṅkṣobhayej jagat || 2.66 ||
tarunaditya-sankasham chakram cha mani-purakam |
nasagra-drishtir atmanam dhyatva sankshobhayej jagat || 2.66 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

taruṇāditya-saṅkāśe : das der aufgehenden ("jungen", Taruna) Sonne (Aditya) gleicht (Sankasha)
cakre : im Energiezentrum ("Rad", Chakra)
ca : und, aber (Cha)
maṇi-pūrake : im Nabelzentrum ("Edelsteinflut", Manipuraka)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (richtend, Nasagra)
ātmānam : auf das Selbst (Atman)
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
saṅkṣobhayet : er kann erzittern lassen, zum Schwanken bringen, in Aufregung versetzen (sam + kṣubh)
jagat : die Welt (Jagat)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten sinngemäß als Vers 80 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es - wie schon im vorangehenden Vers - statt nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ im dritten Pada nāsāgre dṛṣṭim ādāya "den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (Nasagra) richtend".

Die Symbolik des Manipura Chakra wurde in Vers 1.22 erläutert.

Shataka 2 Vers 67: Saguna Dhyana über Shambhu im Anahata Chakra

Indem (der Yogi) über den im (leeren) Raum des Herzens befindlichen Shambhu, strahlend wie die grelle (Sommer-)Sonne, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, werde er eins mit dem Absoluten.


हृदाकाशे स्थितं शम्भुं प्रचण्डरवितेजसम् |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वा ब्रह्ममयो भवेत् || ६७ ||
hṛd-ākāśe sthitaṃ śambhuṃ pracaṇḍa-ravi-tejasam |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.67 ||
hrid-akashe sthitam shambhum prachanda-ravi-tejasam |
nasagre drishtim adaya dhyatva brahma-mayo bhavet || 2.67 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

hṛd-ākāśe : im leeren Raum des Herzens Hridakasha
sthitam : der sich befindet (Sthita)
śambhum : über (Shambhu, eine Form Shivas)
pracaṇḍa-ravi-tejasam : mit dem Glanz (Tejas) der grellen (Prachanda) Sonne (Ravi)
nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
ādāya : richtend ("genommen habend", ā + )
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
brahma-mayaḥ : zum Brahman ("zu einem, der aus dem Absoluten besteht", Brahmamaya)
bhavet : er werde, sei (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers ist möglicherweise eine späterer - wenngleich zum Thema passender - Einschub, der die Anzahl der Verse auch im zweiten Shataka auf 101 bringt. Der folgende Vers (2.68) lehrt eine weitere Meditation im Anahata Chakra, die auch vom Wortlaut im dritten Pada stimmiger zum bisherigen und folgenden Textfluss der Goraksha Paddhati passt.

Auffällig ist zudem, dass der vorliegende Vers im entsprechenden Abschnitt der Version 1 des Goraksha Shataka nicht erscheint (vgl. die dortige Anmerkung zu Vers 1.81), ebensowenig im Viveka Martanda, einer weiteren Version des Goraksha Shataka. Er wird von den Editoren des Textes - wohl unter Bezugnahme auf die Paddhati - als "fehlend" vermerkt, obwohl im eigentlichen Textfluss nichts wirklich "fehlt", da die Meditation über das Anahata Chakra ja an der richtigen Stelle (1.82) mit einem Vers gelehrt wird.

Shataka 2 Vers 68: Saguna Dhyana im Anahata Chakra

Indem (der Yogi) im Herzlotus (Anahata Chakra, das die Farbe und) den Glanz des Blitzes (hat), in Verbindung mit den verschiedene Arten von Atemübungen auf das Selbst meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze (gerichtet hält), wird er zum Absoluten.


विद्युत्प्रभे च हृत्पद्मे प्राणायामविभेदतः |
नासाग्रदृष्टिरात्मानं ध्यात्वा ब्रह्ममयो भवेत् || ६८ ||
vidyut-prabhe ca hṛt-padme prāṇāyāma-vibhedataḥ |
nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.68 ||
vidyut-prabhe cha hrit-padme pranayama-vibhedatah |
nasagra-drishtir atmanam dhyatva brahma-mayo bhavet || 2.68 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vidyut-prabhe : von der Farbe ("Glanz", Prabha) des Blitzes (Vidyut)
ca : und, aber (Cha)
hṛt-padme : im Herzlotus (Hritpadma)
prāṇāyāma-vibhedataḥ : (in Verbindung) mit den verschiedene Arten (Vibheda) von Atemübungen ("Atemkontrolle", Pranayama)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (richtend, Nasagra)
ātmānam : auf das Selbst (Atman)
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
brahma-mayaḥ : zum Brahman ("zu einem, der aus dem Absoluten besteht", Brahmamaya)
bhavet : er wird (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten sinngemäß als Vers 82 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ im dritten Pada nāsāgre dṛṣṭim ādāya "den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (Nasagra) richtend".

Die Symbolik des Anahata Chakra wurde in den Versen 1.23 und 2.35 erläutert.

Shataka 2 Vers 69: Saguna Dhyana im Vishuddha Chakra

Indem (der Yogi) im Vishuddha (Chakra) in der Mitte der Kehle, das wie eine Lampe scheint, auf das Selbst meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze (gerichtet hält), wird er zum Absoluten.


सततं घण्टिकामध्ये विशुद्धे दीपकप्रभे |
नासाग्रदृष्टिरात्मानं ध्यात्वा ब्रह्ममयो भवेत् || ६९ ||
satataṃ ghaṇṭikā-madhye viśuddhe dīpaka-prabhe |
nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.69 ||
satatam ghantika-madhye vishuddhe dipaka-prabhe |
nasagra-drishtir atmanam dhyatva brahma-mayo bhavet || 2.69 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

satatam : stets (Satata)
ghaṇṭikā-madhye : in der Mitte (Madhya) der Kehle ("des Halszäpfchens", Ghantika)
viśuddhe : im Vishuddha (Chakra)
dīpaka-prabhe : vom Glanz (Prabha der Flamme einer) Leuchte, Lampe (Dipaka)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (richtend, Nasagra)
ātmānam : auf das Selbst (Atman)
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
brahma-mayaḥ : zum Brahman ("zu einem, der aus dem Absoluten besteht", Brahmamaya)
bhavet : er wird (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten sinngemäß als Vers 83 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ im dritten Pada nāsāgre dṛṣṭim ādāya "den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (Nasagra) richtend".

Die im Yoga Tarangini (Tika) genannten Kommentar überlieferte Version dieses Verses liest statt brahma-mayo bhavet im vierten Pada mṛtyuṃ pramuñcati "verscheucht den Tod (Mrityu)". Diese Lesung mag ein Hinweis auf den Unsterblichkeitsnektar (Amrita) sein, der u.a. mit dem Vishuddha Chakra in Verbindung gebracht wird. So lautet Pada zwei des vorliegenden Verses im Goraksha Shataka nicht viśuddhe dīpaka-prabhe, sondern viśuddhaṃ cāmṛtodbhavam "(Indem der Yogi auf das) Vishuddha (Chakra), den Ursprung der Unsterblichkeit/des Unsterblichkeitsnektars, (meditiert) ...".

Die Symbolik des Vishuddha Chakra wurde in den Versen 2.35 und 41 erläutert. Das Adjektiv viśuddha bedeutet neben "rein, lauter" auch "glänzend weiß".

Shataka 2 Vers 70: Saguna Dhyana über das Göttliche im Ajna Chakra

Indem (der Yogi) auf das Selbst als eine Gottheit, die sich in der Mitte beider Brauen befindet, gleich dem Lichtstrahl eines echten Rubins, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze (gerichtet hält), wird er zu reiner Wonne.


भ्रुवोरन्तर्गतं देवं सन्माणिक्यशिखोपमम् |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वानन्दमयो भवेत् || ७० ||
bhruvor antar-gataṃ devaṃ san-māṇikya-śikhopamam |
nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvānanda-mayo bhavet || 2.70 ||
bhruvor antar-gatam devam san-manikya-shikhopamam |
nasagra-drishtir atmanam dhyatvananda-mayo bhavet || 2.70 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

bhruvoḥ : beiden Brauen (Bhru)
antar-gatam : der sich befindet (Gata) zwischen (Antar)
devam : auf den Gott, die Gottheit (Deva)
san-māṇikya-śikhopamam : gleich (Upama) dem Lichtstrahl (Shikha) eines echten (Sat) Rubins (Manikya)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (richtend, Nasagra)
ātmānam : auf das Selbst (Atman)
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
ānanda-mayaḥ : zu reiner Wonne, Glückseligkeit ("zu einem, der aus Wonne besteht", Anandamaya)
bhavet : man wird (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten sinngemäß als Vers 84 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es - abgesehen von den im dritten Pada beinahe konsistenten Abweichungen - statt san-māṇikya-śikhopamam im zweiten Pada snigdha-mauktika-sannibham "(als eine Gottheit) die (an Farbe) einer (perlmuttartig) glänzenden Perle (Mauktika) gleicht, (meditiert) ...".

Die hier mit dem Ajna Chakra in Verbindung gebrachte Farbe "Rubinrot" wurde bereits im Hinblick auf das Svadhishthana Chakra (GP 2.65) genannt. Es ist auffällig, dass die in diesem Abschnitt erwähnten Farbzuordnungen der untersten fünf Chakras deutlich von den im modernen Hatha Yoga üblichen "Regenbogenfarben" abweichen. Es handelt sich durchweg um verschiedene Nuancen der "feurigen" Farben Rubin-Rot, Orange-Rot (Manipura-Chakra), das Weiß-Gelb der grellen Sommersonne bzw. des Blitzes (Anahata-Chakra) sowie Gold (Muladhara-Chakra).

Diese Farben stehen entweder in Beziehung zu natürlichen Lichtquellen wie Sonne oder Blitz, oder sie beziehen sich auf den Glanz des Goldes bzw. das Licht, das ein Rubin reflekiert. Dies erinnert an die Aussage, dass das (höchste) Selbst bzw. das Brahman das "höchste Licht" (paraṃ jyotis, vgl. GP 2.15) ist, welches auch die Essenz der heiligen Silbe OM ist (GP 1.83-87).

In den meisten dieser Verse ist das eigentliche "Objekt" der Mediation tatsächlich das Selbst (ātmānaṃ dhyātvā), das in dem jeweiligen Chakra in verschiedener Weise (sa-guṇa) erfahren wird, oder dort als strahlende bzw. lichtvolle "Gottheit" (deva bzw. śambhu, GP 2.67) visualisiert und verehrt wird - bis der Yogi eins mit dem Brahman wird (brahma-mayo bhavet, GP 2.67).

Shataka 2 Vers 71: Saguna Dhyana über das Selbst als Parameshvara im Ajna Chakra

Indem der Yogi, der seinen Lebensatem unter Kontrolle gebracht hat, in der Mitte beider Brauen auf das Selbst als die höchste Gottheit, von blauer Farbe, meditiert, erreicht er den (Zustand des) Yoga.


ध्यायन्नीलनिभं नित्यं भ्रूमध्ये परमेश्वरम् |
आत्मानं विजितप्राणो योगी योगमवाप्नुयात् || ७१ ||
dhyāyan nīla-nibhaṃ nityaṃ bhrū-madhye parameśvaram |
ātmānaṃ vijita-prāṇo yogī yogam avāpnuyāt || 2.71 ||
dhyayan nila-nibham nityam bhru-madhye parameshvaram |
atmanam vijita-prano yogi yogam avapnuyat || 2.71 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dhyāyan : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditierend", dhyā)
nīla-nibham : als von blauer (Nila) Farbe ("Erscheinung", Nibha)
nityam : stets (Nitya)
bhrū-madhye : in der Mitte zwischen den Augenbrauen (Bhrumadhya)
parameśvaram : auf den höchsten Gott, die höchste Gottheit (Parameshvara)
ātmānam : auf das Selbst (Atman)
vijita-prāṇaḥ : der seinen Lebensatem (Prana) kontrolliert hat ("besiegt", Vijita)
yogī : der Yogi (Yogin)
yogam : den (Zustand des) Yoga
avāpnuyāt : er erreicht ("möge erreichen", ava + āp)

Anmerkung: Die Version des Divine Yoga Institute (Kathmandu) liest statt yogam im vierten Pada mokṣam "Erlösung, Befreiung". Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt die Lesung yogam mit jīvatma-paramātmanor aikyam "die Einheit (Aikya) von individuellem Selbst (Jivatman) und universellem Selbst (Paramatman)".

Shataka 2 Vers 72: Nirguna Dhyana über das Selbst als Shiva im Ajna Chakra

Und indem (der Yogi) im leeren Raum (des Ajna Chakra) auf den eigenschaftslosen, (vollkommen) stillen Shiva, dessen Gesicht überallhin gewandt ist, allein (für sich) meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze (gerichtet hält), werde er eins mit dem Absoluten.


निर्गुणं च शिवं शान्तं गगने विश्वतोमुखम् |
नासाग्रदृष्टिरेकाकी ध्यात्वा ब्रह्ममयो भवेत् || ७२ ||
nirguṇaṃ ca śivaṃ śāntaṃ gagane viśvato-mukham |
nāsāgra-dṛṣṭir ekākī dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.72 ||
nirgunam cha shivam shantam gagane vishvato-mukham |
nasagra-drishtir ekaki dhyatva brahma-mayo bhavet || 2.72 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nirguṇam : auf den eigenschaftslosen (Nirguna)
ca : und (Cha)
śivam : Shiva ("den Gütigen")
śāntam : (vollkommen) ruhigen, stillen (Shanta)
gagane : im Himmel, im leeren Raum (Gagana)
viśvato-mukham : dessen Gesicht überallhin gewandt ist (Vishvatomukha)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : den Blick (Drishti) auf die Nasenspitze (richtend, Nasagra)
ekākī : allein (Ekakin)
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
brahma-mayaḥ : zum Brahman ("zu einem, der aus dem Absoluten besteht", Brahmamaya)
bhavet : er werde, sei (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten sinngemäß als Vers 85 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt brahma-mayo bhavet im vierten Pada duḥkhād vimucyate "wird er frei von Leid (Duhkha)". Der in der Yoga Tarangini Tika überlieferte Text liest an dieser Stelle brahma-samaḥ "(wird er) dem Absoluten gleich".

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt gagane mit ājñā-cakra-sthāne "am Ort des Ajna Chakra", und viśvato-mukham mit viśvato-vyāpakam "all-durchdringend" (Vyapaka).

Shiva steht für das reine, inhalts- und eigenschaftslose (nirguṇa) Bewusstsein, den sogenannten Zeugen, der alles wahrnimmt (viśvato-mukha "dessen Gesicht überallhin gewandt ist"). Diesen erkennt der Yogi in tiefer "abstrakter" Meditation (Nirguna Dhyana), wenn alle geistigen Aktivitäten zur Ruhe gekommen sind, als sein wahres Selbst (Atman), das mit dem allumfassenden Brahman identisch ist.

Shataka 2 Vers 73: Nirguna Dhyana über das Selbst als Shiva im Ajna Chakra

Wo sich der Klang im leeren Raum manifestiert, dieser (Ort zwischen den Augenbrauen) wird Ajna Chakra genannt. Indem der Yogi dort auf das Selbst als Shiva meditiert, erreicht er die Erlösung.


आकाशे यत्र शब्दः स्यात्तदाज्ञाचक्रमुच्यते |
तत्रात्मानं शिवं ध्यात्वा योगी मुक्तिमवाप्नुयात् || ७३ ||
ākāśe yatra śabdaḥ syāt tad ājñā-cakram ucyate |
tatrātmānaṃ śivaṃ dhyātvā yogī muktim avāpnuyāt || 2.73 ||
akashe yatra shabdah syat tad ajna-chakram uchyate |
tatratmanam shivam dhyatva yogi muktim avapnuyat || 2.73 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ākāśe : im leeren Raum (Akasha)
yatra : wo (Tatra)
śabdaḥ : der Klang (Shabda)
syāt : sich manifestiert ("ist, existiert", as)
tat : das (Tad)
ājñā-cakram : Ajna Chakra
ucyate : wird genannt (uc)
tatra : dort (Tatra)
ātmānam : auf das Selbst (Atman)
śivam : Shiva ("den Gütigen")
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
yogī : der Yogi (Yogin)
muktim : die Erlösung, Befreiung Mukti
avāpnuyāt : er erreicht ("möge erreichen", ava + āp)

Anmerkungen: Die Yoga Tarangini Tika zitiert in diesem Zusammenhang den folgenden Vers aus dem Yoga Sara, der wortwörtlich auch in der Yoga Shikha Upanishad (1, 178) überliefert ist. Auch in diesem Vers wird die Verbindung des Raum-Elements samt dem ihm zugeordneten Tanmatra "Klang" (Nada mit dem "Dritten Auge" bzw. dem Ajna Chakra hergestellt:

ākāśa-maṇḍalaṃ vṛttaṃ devatāsya sadā-śivaḥ |
nāda-rūpaṃ bhruvor madhye manaso maṇḍalaṃ viduḥ ||


"Das Mandala, welches den Raum bzw. Äther (Akasha repräsentiert,) ist rund. Seine Gottheit ist Sadashiva. Es hat die Erscheinungsform des Klangs (Nada), (und befindet sich) zwischen den Augenbrauen (Bhru). Man kennt es auch als Mandala des Geistes (Manas)." (YS = YŚU 1, 178)

Shataka 2 Vers 74: Nirguna Dhyana über das allgegenwärtige Selbst im Sahasrara Chakra

Indem der Yogi (im Sahasrara Chakra) auf das reine, allgegenwärtige Selbst, das die Form des leeren Raumes hat und (an Substanzlosigkeit) dem Wasser einer Luftspiegelung gleicht, erreicht er die Erlösung.


निर्मलं गगनाकारं मरीचिजलसन्निभम् |
आत्मानं सर्वगं ध्यात्वा योगी मुक्तिमवाप्नुयात् || ७४ ||
nirmalaṃ gaganākāraṃ marīci-jala-sannibham |
ātmānaṃ sarvagaṃ dhyātvā yogī muktim avāpnuyāt || 2.74 ||
nirmalam gaganakaram marichi-jala-sannibham |
atmanam sarvagam dhyatva yogi muktim avapnuyat || 2.74 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nirmalam : auf das reine, fleckenlose (Nirmala)
gaganākāram : vom Wesen ("der Form", Akara) des leeren Raumes ("Luftraums", Gagana)
marīci-jala-sannibham : gleich, ähnlich (Sannibha) dem Wasser einer Luftspiegelung (Marichijala)
ātmānam : Selbst (Atman)
sarvagam : allgegenwärtige, alldurchdringende (Sarvaga)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
yogī : der Yogi (Yogin)
muktim : die Erlösung, Befreiung Mukti
avāpnuyāt : er erreicht ("möge erreichen", ava + āp)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu identisch als Vers 87 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt muktim im vierten Pada yogam "(er erreicht den Zustand des) Yoga".

Der Vergleich des Selbst (Atman) mit dem "leeren", klaren Himmelsraum wird auch im Kommentar bestätigt. So heißt es dazu in der YTṬ: nirabhra-gagana-sadṛśam "wie der wolkenlose (Nirabhra) Himmel (Gagana)". Das Adjektiv sarvagam "allgegenwärtig" wird mit vyāpakam "alldurchdringend" umschrieben.

Allerdings versteht der Kommentator den Vergleich mit dem Wasser einer Luftspiegelung (marīci-jala-sannibham) dahingehend, dass das Selbst "die Farbe bzw. Erscheinung (Rupa) von flimmerndem (Sphurat) Licht (Tejas)" wie das (scheinbare) Wasser einer Lufspiegelung habe (sphurat-tejo-rūpam).

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar leitet diesen Vers mit der Bemerkung ein, dass nun eine Meditation (Dhyana) mit der Konzentration auf den Ort der Leere (Shunya-Sthana) oberhalb (Upari-Gata) des Ajna Chakra gelehrt werde: ājñā-cakropari-gata-śūnya-sthāne ... dhyānam āha.

Dieser Wechsel vom Ajna Chakra zum Sahasrara Chakra ist aus dem Text der Goraksha Paddhati selbst so nicht ersichtlich, wird aber durch einen weiteren Vers plausibel gemacht, der im Viveka Martanda (175) dem vorliegenden Vers (= VM 176) vorgeschaltet ist. Er lautet:

brahma-randhre mahā-cakre sahasrāre ca paṅkaje |
nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā siddho bhavet svayam ||


"Indem (der Yogi) im Brahmarandhra (genannten) Haupt-Chakra (Mahachakra), dem tausendstrahligen (Sahasrara) Lotus (Pankaja), auf das Selbst meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze (gerichtet hält), wird er ganz von selbst zu einem Siddha." (VM 175)

Shataka 2 Vers 75-76: Dhyana Sthana - die Zentren der Meditation

Anus (das Muladhara Chakra), das männliche Glied (das Svadhishthana Chakra), Nabel (das Manipura Chakra), Herzlotus (das Anahata Chakra) und oberhalb davon (das Vishuddha Chakra), der Kehlkopf (?), der Ort des Halszäpfchens, die Mitte zwischen den Augenbrauen (das Ajna Chakra), und das Himmelsloch (das Sahasrara Chakra bzw. Brahmarandhra) -

Diese neun Zentren der Meditation werden von den Yogis gelehrt. In Verbindung mit den begrenzenden Attributen und dem Selbst bewirken sie die Entfaltung der acht übernatürlichen Fähigkeiten.


गुदं मेढ्रं च नाभिश्च हृत्पद्मं च तदूर्ध्वतः |
घण्टिका लम्बिकास्थानं भ्रूमध्यं च नभोबिलम् || ७५ ||
कथितानि नवैतानि ध्यानस्थानानि योगिभिः |
उपाधितत्त्वयुक्तानि कुर्वन्त्यष्टगुणोदयम् || ७६ ||
gudaṃ meḍhraṃ ca nābhiś ca hṛt-padmaṃ ca tad-ūrdhvataḥ |
ghaṇṭikā lambikā-sthānaṃ bhrū-madhyaṃ ca nabho-bilam || 2.75 ||
kathitāni navaitāni dhyāna-sthānāni yogibhiḥ |
upādhi-tattva-yuktāni kurvanty aṣṭa-guṇodayam || 2.76 ||
gudam medhram cha nabhish cha hrit-padmam cha tad-urdhvatah |
ghantika lambika-sthanam bhru-madhyam ca nabho-bilam || 2.75 ||
kathitani navaitani dhyana-sthanani yogibhih |
upadhi-tattva-yuktani kurvanty ashta-gunodayam || 2.76 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

gudam : der Anus (Guda)
meḍhram : das männliche Glied (Medhra)
ca : und (Cha)
nābhiḥ : der Nabel (Nabhi)
ca : und
hṛt-padmam : der Herzlotus (Hritpadma)
ca  : und
tad-ūrdhvataḥ : oberhalb (Urdhvatas) davon (Tad)
ghaṇṭikā : der Kehlkopf ? ("das Halszäpfchen", Ghantika im Sinne von Kanthika ?)
lambikā-sthānam : der Ort (Sthana) des Halszäpfchens (Lambika)
bhrū-madhyam : die Mitte zwischen den Augenbrauen (Bhrumadhya)
ca  : und
nabho-bilam : das Himmelsloch (Nabhobila, d.h. Brahmarandhra)
kathitāni : werden gelehrt ("sind gelehrt worden", Kathita)
nava : neun (Navan)
etāni : diese (Etad)
dhyāna-sthānāni : Zentren ("Stellen", Sthana) der Meditation (Dhyana)
yogibhiḥ : durch die Yogis (Yogin)
upādhi-tattva-yuktāni : in Verbindung mit ("verbunden mit", Yukta) den begrenzenden Attributen (Upadhi) und dem Selbst ("Sosein", Tattva)
kurvanti : sie bewirken ("machen", kṛ)
aṣṭa-guṇodayam : die Entfaltung ("Aufgang", Udaya) der acht (Ashta, übernatürlichen) Fähigkeiten ("Eigenschaften", Guna)

Anmerkungen: Die beiden Verse 75 und 76 bilden eine syntaktische Einheit und müssen daher zusammen gelesen werden.

Vers 75 wird mit einigen Varianten sowie einer anderen syntaktischen Struktur aufgrund einer abweichenden Versanordnung (s. dort) als Vers 86 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt bhrū-madhyaṃ ca nabho-bilam im vierten Pada bhrū-madhye parameśvaram "(Indem der Yogi) auf den Höchsten Herrn (Parameshvara) in der Mitte zwischen den Augenbrauen (meditiert)".

Vers 76 erscheint in der Version 1 des Goraksha Shataka mit einigen Varianten als Vers 88, und damit losgelöst aus seinem (ursprünglichen) syntaktischen Zusammenhang mit Vers 86. Diese von der Paddhati abweichende Versfolge wurde durch die Lesung yathaitāni "wie diese" anstelle von navaitani "diese neun" im ersten Pada begünstigt, insofern so der wichtige Hinweis verloren gegangen ist, dass in GŚ 1.86 (~ GP 2.75) neun Zentren bzw. Konzentrationspunkte der Mediation (dhyāna-sthānāni) gelehrt werden.

Die beiden Begriffe ghaṇṭikā und lambikā sind eigentlich zwei Synonyme, die beide das Halszäpfchen (Uvula) bedeuten. Dennoch haben sie hier zwei verschiedene Bedeutungen, insofern sie als zwei der insgesamt neun Zentren der Mediation aufgezählt werden. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt hierzu lediglich, dass mit ghaṇṭikā genauer ghaṇṭikā-mūlam gemeint sei, d.h. "die Wurzel" oder "der Ursprung" der ghaṇṭikā.

Die Version des Divine Yoga Institute (Kathmandu) biete hier eine interessante Übersetzung an, indem sie ghaṇṭikā mit "Adam's apple" übersetzt und lambikā-sthānam mit "uvula in the throat". Dies scheint eine sinnvolle Möglichkeit zu sein, da im Text die Aufzählung der dhyāna-sthāna-s von unten nach oben erfolgt, und eine markante anatomische Stelle zwischen dem Vishuddha Chakra und dem Halszäpfchen (Uvula) tatsächlich der Kehlkopf bzw. der Adamsapfel ist.

Die bisher nirgends verzeichnete Bedeutung ghaṇṭikā = Adamsapfel geht vielleicht auf eine ähnlich lautende ursprüngliche Form kaṇṭhikā "Halsschmuck" zurück, was durchaus eine passende Umschreibung des - gleichsam poetischen Ausdrucks - "Adamsapfel" wäre. Das Wort kaṇṭhikā könnte im Verlaufe der Überlieferung unter dem Einfluss von lambikā "Halszäpfchen" irrtümlich zu ghaṇṭikā "korrigiert" worden sein.

Die als Siddhis bekannten acht übernatürlichen Fähigkeiten sind Animan, Mahiman, Gariman, Laghiman, Prapti, Prakamya, Ishita und Vashitva (vgl. auch Vers 2.49). Diese entstehen laut Vers 2.76 cd dann, wenn die genannten Zentren der Mediation - also Chakras - mit den begrenzenden Attributen (Upadhi) und dem Selbst (Tattva im Sinne von Atman, vgl. GP 2.81) in der Meditationspraxis "verbunden" werden (Yukta). Diese Interpretation passt ausgezeichnet zu der im Vibhutipada genannten dritten Kapitel des Yogasutra gelehrten Praxis des Samyama, d.h. der sich vertiefenden Konzentration, Meditation und Versenkung auf und in ein bestimmtes Meditationsobjekt, was auch ein Chakra sein kann (vgl. YS 3.29 u. 34).

Die hier zugrundegelegte Lesart upādhi-tattva-yuktāni entstammt allerdings dem Text des Kommentars (YTṬ) bzw. der im Goraksha Shataka (1.88) überlieferten Version dieses Verses. Die beiden Ausgaben der Goraksha Paddhati (Laxmi-Venkateshwar Press und die darauf basierende Version des Divine Yoga Institute) haben stattdesen für -yuktāni "verbunden mit" das PPP -muktāni "befreit, losgelöst von", was genau den gegenteiligen Sinn ergibt.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar erklärt, dass mit den Upadhi-s die (fünf) grobstofflichen Elemente Erde usw. (pṛthivyādi) gemeint sind (vgl. auch GP 2.81).

Shataka 2 Vers 77: Saguna und Nirguna Dhyana

Indem (der Yogi) in diesen (neun Zentren der Meditation auf die beschriebene Weise) meditiert und (so) das höchste Licht Shivas, das mit dem Absoluten identisch ist, erkannt hat, wird er erlöst - so hat es Goraksha gelehrt.


एषु ब्रह्मात्मकं तेजः शिवज्योतिरनुत्तमम् |
ध्यात्वा ज्ञात्वा विमुक्तः स्यादिति गोरक्षभाषितम् || ७७ ||
eṣu brahmātmakaṃ tejaḥ śiva-jyotir anuttamam |
dhyātvā jñātvā vimuktaḥ syād iti gorakṣa-bhāṣitam || 2.77 ||
eshu brahmatmakam tejah shiva-jyotir anuttamam |
dhyatva jnatva vimuktah syad iti goraksha-bhashitam || 2.77 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

eṣu : in diesen (Etad)
brahmātmakam : der mit dem Absoluten (Brahman) identisch ist (Atmaka)
tejaḥ : den Glanz (Tejas)
śiva-jyotiḥ : Licht (Jyotis) Shivas
anuttamam : das höchste, vorzüglichste (Anuttama)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
jñātvā : indem er erkennt ("erkannt habend", jñā)
vimuktaḥ : befreit, erlöst (Vimukta)
syāt : er ist, sei (as)
iti : so (Iti)
gorakṣa-bhāṣitam : wurde es von Goraksha gesagt (Bhashita)

Anmerkung: Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt, das die Meditation über das Licht Shivas noch "mit Form" (sākāram), d.h. also "mit Eigenschaften" (sa-guṇam) behaftet ist, während die Erkenntnis des Absoluten ((Brahman)) "ohne Form" (nir-ākāram), d.h. also "ohne Eigenschaften" (nir-guṇam) genannt wird.

Shataka 2 Vers 78: Das Durchstoßen der Chakras

Nachdem (der Yogi) den Geist im Nabel(zentrum) konzentriert hat, blockiere er sorgfältig die Bewegung des Lebensatems nach unten, indem er den Afterschließmuskel zusammenzieht, (und so Apana mit Prana und dem Geist vereint). Indem er den (Geist samt Prana und Apana) als einen feinen, feurigen Faden (visualisiert) und im Herzlostus festgehalten hat, (tut er dies) danach (auch) im Kehlzentrum, im Gaumen(zentrum) und im Tor zum Brahman. Nachdem diese (drei - d.h. der Geist samt Prana und Apana - das Brahmarandhra) durchstoßen haben, gelangen sie in die Leere, (und auch der Yogi) tritt (als reines Bewusstsein dort) ein, wo im Himmel Gott - der Große Herr (Mahesha) - (weilt).


नाभौ संयम्य चित्तं पवनगतिमधो रोधयेत्संप्रयत्ना-
दाकुञ्च्यापानमूलं हुतवहसदृशं तन्तुवत्सूक्ष्मरूपम्‌ |
तद्बद्ध्वा हृत्सरोजे तदनु दलणके तालुके ब्रह्मरन्ध्रे
भित्त्वा ते यान्ति शून्यं प्रविशति गगने यत्र देवो महेशः || ७८ ||
nābhau saṃyamya cittaṃ pavana-gatim adho rodhayet saṃprayatnād
ākuñcyāpāna-mūlaṃ huta-vaha-sadṛśaṃ tantu-vat sūkṣma-rūpam‌ |
tad baddhvā hṛt-saroje tad-anu dalaṇake tāluke brahma-randhre
bhittvā te yānti śūnyaṃ praviśati gagane yatra devo maheśaḥ || 2.78 ||
nabhau samyamyah cittam pavana-gatim adho rodhayet samprayatnad
akunchyapana-mulam huta-vaha-sadrisham tantu-vat sukshma-rupam‌ |
tad baddhva hrit-saroje tad-anu dalanake taluke brahma-randhre
bhittva te yanti shunyam pravishati gagane yatra devo maheshah || 2.78 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nābhau : im Nabel (Nabhi)
saṃyamya zur Ruhe bringend, konzentrierend : ("konzentriert habend", sam + yam)
cittam : den Geist (Chitta)
pavana-gatim : die Bewegung (Gati) des Lebensatems ("des Windes", Pavana)
adhaḥ : unterhalb, nach unten (Adhas)
rodhayet : man blockiere (rudh)
saṃprayatnāt : sorgfältig, nach besten Kräften (Samprayatna)
ākuñcya : zusammenziehend ("zusammengezogen habend", ā + kuch)
apāna-mūlam : den Afterschließmuskel ("den Ursprung von Apana", Apanamula)
huta-vaha-sadṛśam : ähnlich (Sadrisha) dem Feuer (Hutavaha)
tantu-vat : wie (vat) ein Faden (Tantu)
sūkṣma-rūpam‌ : von feiner, dünner (Sukshma) Gestalt (Rupa)
tat : diesen (Geist, Tad)
baddhvā : festhaltend ("festgehalten habend ", bandh)
hṛt-saroje : im Herzlotus (Hrid-Saroja)
tad-anu : dann, daraufhin (Tadanu)
dalaṇake : im Kehlzentrum (Dalanaka)
tāluke : im Gaumen (Taluka)
brahma-randhre  : im Scheitelzentrum (Brahmarandhra)
bhittvā : durchstoßend ("durchstoßen habend", bhid)
te : diese, sie (Tad)
yānti : sie gehen, gelangen ()
śūnyam : in die Leere, den leeren Raum (Shunya)
praviśati : er tritt ein (pra + viś)
gagane : im Himmel, im leeren Himmelsraum (Gagana)
yatra : wo (Yatra)
devaḥ : der Gott (Deva)
maheśaḥ : der große Herr (Mahesha)

Anmerkungen: Der anonyme Autor des Yoga Tarangini Tika genannten Kommentars bemerkt, dass dieser und der folgende Vers (2.79) spätere Einschübe sind (prakṣiptam). Die beiden Verse erscheinen auch nicht im Goraksha Shataka oder Viveka Martanda.

Der in den Editionen der Laxmi-Venkateshwar Press (Bombay) und des Divine Yoga Institute (Kathmandu) gedruckte Text unterscheidet sich an einigen Stellen von der Lesung der YTṬ, deren Kommentar zwar eine in sich stimmige Interpretation gibt, dabei jedoch einige syntaktische Schwierigkeiten des Textes zu übergehen scheint.

Im dritten Pada liest die YTṬ tad viddhvā "dieses durchbohrt habend" anstelle von GP tad baddhvā "diesen festgehalten habend", und der Kommentator setzt tad mit dem Nabelzentrum (nābhi-cakram) gleich, welches wie die darauffolgenden Chakras "durchbohrt" (bhittvā) wird: tan nābhi-cakram bhittvā ....

In der Lesung der Paddhati bezieht sich tad jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Geist (cittam, Pada 1), der erst im Nabelzentrum (nābhau) festgehalten (saṃyamya) wird, und dann sukzessive aufsteigend in den höher gelegenen Energiezentren in Verbindung mit Prana und Apana als ein feuriger Faden visualisiert wird, was auch besser zu den Lokativen der jeweiligen Chakras passt, während das Absolutivum viddhvā eher einen Akkusativ erwarten liese.

Diese Interpretation wird indirekt durch die YTṬ gestützt, wo es heißt, dass Apana (durch das Verschließen des Anus) nach oben (Urdhva) gezogen und mit dem Geist (Manas) und dem Prana vereint wird: ūrdhvam ... ānīya manaḥ-prāṇābhyām ekī-kuryāt. Diese Erklärung des Kommentators hilft zugleich, eine weitere abweichende Lesart der Paddhati zu verstehen:

Im vierten Pada heißt es im Text der YTṬ bhittvānte yāti "... durchstoßen habend gelangt er schließlich (ante)", wohingegen die hier übernommene Lesung der Ausgaben Bombay und Kathmandu an dieser Stelle lautet: bhittvā te yānti "... durchstoßen habend gelangen sie". Da das logische Subjekt in diesem Vers ja der (ungenannte) Yogi ist, scheint der Plural "gelangen sie" (te yānti) zunächst abwegig, was vielleicht zu einer "korrigierenden" Lesart in der YTṬ geführt hat.

Dennoch könnte man unter dem Nominativ Plural Maskulinum te "diese" die im Kommentar erwähnten drei, nämlich Apana (m.), Manas (n.) und Prana (m.) zusammenfassen, welche die einzelnen Chakren und schließlich das Brahmarandhra durchstoßen (bhittvā) haben, und dann in die Leere eingehen (yānti). Der Yogi, der in seiner Visualisierung den Weg dieser drei erlebt, tritt damit selbst ebenfalls in die Leere ein (praviśati), d.h. sein individuell begrenztes Bewusstsein löst sich ins universelle Bewusstsein hinein auf.

Die YTṬ kommentiert: tatraiva śūnyaṃ cid-ākāśaṃ viśati tatra līyata ity arthaḥ "Genau dort geht er in die Leere ein, den Raum des (reinen) Bewusstseins (Chidakasha), d.h. dort löst er sich auf (līyate) - so ist die Bedeutung (Artha)".

Der in diesem Vers verwendete Begriff für das Kehlzentrum bzw. Vishuddha Chakra ist bisher noch nirgends sonst bezeugt - er lautet dalaṇaka. Im Text der Yoga Tarangini Tika erscheint statt dessen das gleichfalls unbezeugte caraṇaka (YTṬ: caraṇake viśuddha-cakre).

Shataka 2 Vers 79: Meditation über Chinnamasta im Manipura Chakra

Im Nabel(zentrum befindet sich) ein weißer Lotus, darüber der makellose Kreis der Sonne. In deren Mitte, im dreifachen Pfad (der Sushumna), verehre ich die anbetungswürdige (Göttin) Chinnamasta, die eine Form der Welt der Erscheinungen, die Mutter der drei Welten, die Verleiherin der Gesetze der Menschen, die einen dreifachen Körper hat, die die Gesalt des Wissens ist, die die Furcht vor dem Sterben nimmt, die Yogini mit der Handgeste der Erkenntnis.


नाभौ शुभ्रारविन्दं तदुपरि विमलं मण्डलं चण्डरश्मेः
संसारस्यैकरूपां त्रिभुवनजननीं धर्मदात्रीं नराणाम्‌ |
तस्मिन्मध्ये त्रिमार्गे त्रितयतनुधरां छिन्नमस्तां प्रशस्तां
तां वन्दे ज्ञानरूपां मरणभयहरां योगिनीं ज्ञानमुद्राम्‌ || ७९ ||
nābhau śubhrāravindaṃ tad-upari vimalaṃ maṇḍalaṃ caṇḍa-raśmeḥ
saṃsārasyaika-rūpāṃ tri-bhuvana-jananīṃ dharma-dātrīṃ narāṇām‌ |
tasmin madhye tri-mārge tritaya-tanu-dharāṃ chinna-mastāṃ praśastāṃ
tāṃ vande jñāna-rūpāṃ maraṇa-bhaya-harāṃ yoginīṃ jñāna-mudrām‌ || 2.79 ||
nabhau shubhraravindam tad-upari vimalam mandalam chanda-rashmeh
samsarasyaika-rupam tri-bhuvana-jananim dharma-datrim naranam‌ |
tasmin madhye tri-marge tritaya-tanu-dharam chinna-mastam prashastam
tam vande jnana-rupam marana-bhaya-haram yoginīṃ jnana-mudram‌ || 2.79 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nābhau : im Nabel (Nabhi)
śubhrāravindam : eine weiße (Shubhra) Lotusblüte (Aravinda)
tad-upari : darüber (Tad-Upari)
vimalam : der reine, klare, makellose (Vimala)
maṇḍalam : Kreis (Mandala)
caṇḍa-raśmeḥ : der Sonne (Chandarashmi)
saṃsārasyaika-rūpām : die eine Form (Ekarupa) der Welt der Erscheinungen (Samsara)
tri-bhuvana-jananīm : die Mutter (Janani) der drei Welten (Tribhuvana)
dharma-dātrīm : die Verleiherin (Datri) der Ordnung, der Gesetze (Dharma)
narāṇām‌ : der Menschen (Nara)
tasmin : in der (Tad)
madhye : Mitte (Madhya)
tri-mārge : im dreifachen Pfad (Trimarga)
tritaya-tanu-dharām : die einen dreifachen (Tritaya) Körper (Tanu) trägt (Dhara)
chinna-mastām : Chinnamasta, "die ihren Kopf abgeschlagen hat"
praśastām : verehrungswürdige, anbetungswürdige (Prashasta)
tām : diese, die (Tad)
vande : ich verehre (vand)
jñāna-rūpām : die die Form, Gesalt (Rupa) des Wissens (Jnana) hat oder ist
maraṇa-bhaya-harām : die die Furcht (Bhaya) vor dem Sterben (Marana) nimmt (Hara)
yoginīm : die Yogini
jñāna-mudrām‌ : die die Geste der Weisheit ausführt (Jnanamudra)

Anmerkungen: Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt, dass es sich hierbei um eine Visualisierung der genannten Aspekte (weißer Lotus usw.) im Manipura Chakra handelt.

Mit dem "dreifachen Pfad" (Trimarga) ist die Öffnung (Vivara) bzw. das Innere der Sushumna gemeint. Diese sei "dreifach" (d.h. sie besteht aus drei Schichten bzw. feinstofflichen Strömungen), da sie mit den als Begrenzungen (Upadhi) fungierenden drei Gunas - also Sattva, Rajas und Tamas - verbunden sei: tri-mārge guṇa-trayopādhi-bhedena ... suṣumṇā-vivare.

Shataka 2 Vers 80: Der Wert der Meditation

Eintausend Rossopfer (Ashvamedha), und einhundert Vajapeya(-Opfer) wiegen nicht (einmal) den sechzehnten Teil einer einzigen Meditation auf.


अश्वमेध्सहस्राणि वाजपेयशतानि च |
एकस्य ध्यानयोगस्य तुलां नार्हन्ति षोडशीम् || ८० ||
aśva-medha-sahasrāṇi vājapeya-śatāni ca |
ekasya dhyāna-yogasya tulāṃ nārhanti ṣoḍaśīm || 2.80 ||
ashva-medha-sahasrani vajapeya-shatani ca |
ekasya dhyana-yogasya tulam narhanti shodashim || 2.80 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

aśva-medha-sahasrāṇi : ein Tausend (Sahasra) Rossopfer (Ashvamedha)
vājapeya-śatāni : ein Hundert (Shata) Vajapeya(-Opfer)
ca : und (Cha)
ekasya : einer einzigen (Eka)
dhyāna-yogasya : Meditation(sitzung) (Dhyanayoga)
tulām : Gewicht (Tula)
na : nicht (Na)
arhanti : sind wert, wiegen auf (arh)
ṣoḍaśīm  : ein Sechzehntel (Shodashi)

Shataka 2 Vers 81: Upadhi und Tattva

Diese beiden, das begrenzende Attribut und das Selbst, werden gelehrt. Das begrenzende Attribut wird Varna ("Farbe" bzw. "Laut") genannt, und das Selbst wird als Tattva ("Sosein") bezeichnet.


उपाधिश्च तथा तत्त्वं द्वयमेतदुदाहृतम् |
उपाधिः प्रोच्यते वर्णस्तत्त्वमात्माभिधीयते || ८१ ||
upādhiś ca tathā tattvaṃ dvayam etad udāhṛtam |
upādhiḥ procyate varṇas tattvam ātmābhidhīyate || 2.81 ||
upadhish cha tatha tattvam dvayam etad udahritam |
upadhih prochyate varnas tattvam atmabhidhiyate || 2.81 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

upādhiḥ : das begrenzende Attribut (Upadhi)
ca : und (Cha)
tathā : desgleichen, und (Tatha)
tattvam : das Selbst ("Sosein", Tattva)
dvayam : beiden ("Zweiheit", Dvaya)
etat : diese (Etad)
udāhṛtam : werden gelehrt ("wurden genannt", Udahrita)
upādhiḥ : das begrenzende Attribut
procyate : wird genannt (pra + vac)
varṇaḥ : Varna ("Farbe, Laut")
tattvam : (als) Tattva ("Sosein, Wirklichkeit")
ātmā : das Selbst (Atman)
abhidhīyate : wird bezeichnet (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu identisch als Vers 89 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt etad "diese" im zweiten Pada evam "in dieser Weise".

Für das Selbst (Atman) wird hier das Synonym Tattva und für das begrenzende Attribut (Upadhi) das Synonym Varna gebraucht, wodurch die Bedeutung dieser beiden aus der Philosophie des Advaita Vedanta stammenden Begriffe noch deutlicher wird:

Das Selbst ist die eigentliche, allem zugrunde liegende "Wirklichkeit", das "Sosein" (tattva) aller Dinge. Alles andere sind sogenannte begrenzende Attribute (Upadhi), die die unmittelbare Wahrnehmung dieser Realität trüben bzw. "einfärben", weshalb sie hier als "Farbe" (varṇa) bezeichnet werden.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt, dass mit Varna ("Farbe, Laut") hier die Buchstaben bzw. Laute des Alphabets, beginnend mit a (Akara), oder der Laut OM (Pranava) gemeint ist: upādhir a-kārādi-rūpaḥ praṇava-rūpo vā varṇaṃ procyate.

Eine weitere Bedeutung von varṇa ist "Aussehen, das Äußere, Erscheinungsform" (vgl. Rupa), also das, was das eigentliche, den Sinnen verborgene Wesen einer Sache überdeckt.

Vgl. varṇa auch in Bezug auf die Definition von sakala und niṣkala dhyāna in Vers 62 nebst Anmerkung.

Shataka 2 Vers 82: Upadhi und Tattva

Durch das begrenzende Attribut ist die Erkenntnis (der Dinge) anders (als es sich in Wirklichkeit verhält) - die Beschaffenheit der Wirklichkeit / des Selbst ist (ganz) anders. Durch beständige Übungspraxis vernichtet (der Yogi) sämtliche begrenzenden Attribute.


उपाधेरन्यथा ज्ञानं तत्त्वसंस्थितिरन्यथा |
समस्तोपाधिविध्वंसी सदाभ्यासेन जायते || ८२ ||
upādher anyathā jñānaṃ tattva-saṃsthitir anyathā |
samastopādhi-vidhvaṃsī sadābhyāsena jāyate || 2.82 ||
upadher anyatha jnanam tattva-samsthitir anyatha |
samastopadhi-vidhvamsi sadabhyasena jayate || 2.82 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

upādheḥ : durch das begrenzende Attribut (Upadhi)
anyathā : anders (als es sich in Wirklichkeit verhält, Anyatha)
jñānam : die Erkenntnis, Wahrnehmung (Jnana)
tattva-saṃsthitiḥ : die Beschaffenheit (Samsthiti) der Wirklichkeit / des Selbst ("Sosein", Tattva)
anyathā : anders (Anyatha)
samastopādhi-vidhvaṃsī : (einer, der) sämtliche (Samasta) begrenzenden Attribute (Upadhi) vernichtet (Vidhvamsin)
sadābhyāsena : durch eine beständige (Sada) Übungspraxis (Abhyasa)
jāyate : (man) wird (jan)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten als Vers 90 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Der Nominativ Singular Maskulinum vidhvaṃsī "vernichtend, einer der vernichtet" im dritten Pada steht in diesem Vers syntaktisch isoliert da und bezieht sich hier dem Kontext gemäß auf den praktizierenden yogī, was die YTṬ ergänzt: ... yogī samastopādhi-vidhvaṃsī jāyate.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers bringt zwei Beispiele zur Erläuterung der verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit (Tattva) unter dem Einfluss der Upadhis:

Ein Bergkristall (Sphatika) erscheint im Kontakt mit einer roten Hibiskusblüte (Japa) rot (Rakta), obwohl er in Wirklichkeit farblos bzw. transparent (Shukla) ist. Oder, das individuelle Selbst (Jiva) hält sich unter dem Einfluss der Sinne(seindrücke, Indriya) für glücklich (Sukhin) oder unglücklich (Duhkhin), obwohl es in Wirklichkeit das Wesen (Rupa) der Glückseligkeit (Ananda) des (reinen) Bewusstseins (Chid) hat, und keinerlei Verbindung (Sambandha) zu (äußerlich bedingtem) Glück (Sukha) oder Unglück (Duhkha) hat.

Möglicherweise hatte der Kommentator den folgenden Vers im Blick, der in diesem Kontext als Vers 91 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert wird (vgl. auch die dortigen Anmerkungen dazu):

ātma-varṇena bhedena dṛśyate sphāṭiko maṇiḥ |
mukto yaḥ śakti-bhedena so'yam ātmā praśasyate || 91 ||


"Ein Edelstein (Mani) aus Bergkristall (Sphatika) erscheint (erst) durch die Trennung (Bheda), von anderen farbigen Gegenständen) in seiner eigenen (Atman) Farbe (Varna). Ein solches Selbst (Atman) wird gepriesen, das durch das Hervorbrechen (Bheda) der (göttlichen) Energie (Shakti, von allen begrenzenden Attributen) befreit (Mukta) ist." (GŚ 1, 91)

Shataka 2 Vers 83: Dhyana und Samadhi

Solange aber der subtile Anteil der (Sinnesobjekte) Klang usw. sich noch in den Ohren usw. befindet (und folglich dort wahrgenommen wird), genau solange gilt dies als Meditation (Dhyana). Was darüber hinaus geht ist Versenkung (Samadhi).


शब्दादीनां च तन्मात्रं यावत्कर्णादिषु स्थितम्‌ |
तावदेव स्मृतं ध्यानं समाधिः स्यादतः परम्‌ || ८३ ||
śabdādīnāṃ ca tan-mātraṃ yāvat karṇādiṣu sthitam‌ |
tāvad eva smṛtaṃ dhyānaṃ samādhiḥ syād ataḥ param‌ || 2.83 ||
shabdadinam cha tan-matram yavat karnadishu sthitam‌ |
tavad eva smritam dhyanam samadhih syad atah param || 2.83 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śabdādīnām : der (Sinnesobjekte) Klang (Shabda) usw. (Adi)
ca : und, aber (Cha)
tan-mātram : der subtile Anteil, der Reinstoff (Tanmatra)
yāvat : solange wie (Yavat)
karṇādiṣu : in den Ohren (Karna) usw. (Adi)
sthitam‌ : sich befindet (Sthita)
tāvat : solange (Tavat)
eva : genau (Eva)
smṛtam : gilt als ("wird erinnert", Smrita)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
syāt : ist, sei (as)
ataḥ : darüber, davon (Atas)
param : hinaus, jenseits (Param)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten als Vers 93 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Die Lesung eva im dritten Pada wurde aus der Yoga Tarangini Tika übernommen (GŚ 1, 93 liest gleichfalls eva). Die Edition der Laxmi-Venkateshwar Press (Bombay), der die Version des Divine Yoga Institute (Kathmandu) folgt, hat an dessen Stelle (vermutlich versehentlich) evam "so, in dieser Weise".

Als die fünf Reinstoffe (Tanmatras) werden in der Regel Klang (Shabda), Berührung (Sparsha), Form und Farbe (Rupa), Geschmack (Rasa) und Geruch (Gandha) genannt, womit sie praktisch mit den "Sinnesobjekten" (Vishaya) identisch sind. Der in diesem Vers gemachte feine Unterschied bezieht sich darauf, dass nicht die (grobstofflichen) Sinnesobjekte selbst in den ihnen zugeordneten Sinnesorganen (Indriya) wahrgenommen werden, sondern ihre feinstofflichen Entsprechungen bzw. "feinstofflichen Elemente" (Tanmatra, vgl. hierzu YTṬ: karṇādīndriyeṣu śabdādīnāṃ viṣayānāṃ tan-mātraṃ yāvat sthitam‌ upalabdham ....

Die mit den jeweiligen (grobstofflichen) Sinnesobjekten (Vishaya) und deren feinstofflichen Entsprechungen (Tanmatra) in Verbindung stehenden Sinne bzw. Sinnesvermögen (Indriya) sind Ohr bzw. Hören/Hörvermögen, Haut bzw. Tasten/Tastvermögen, Auge bzw. Sehen/Sehvermögen, Zunge bzw. Schmecken/Geschmacksvermögen und Nase bzw. Riechen/Riechvermögen.

Hier sind speziell die "inneren" Sinne gemeint, da im Zustand tiefer Meditation (Dhyana) die äußeren Sinne ohnehin keinen Kontakt zur Außenwelt einschließlich des Körpers mehr haben. Statt dessen sind die inneren Sinne wie inneres Sehen, inneres Hören usw. aktiv (bereits im Abschnitt über Dharana gab es ausschließlich Anweisungen über innerliches Visualisieren, vgl. Verse 53-58).

Solange noch innere Bilder, Klänge, Düfte usw. wahrgenommen werden, spricht man von Meditation (Saguna Dhyana, vgl. Verse 64-70). Ist dies nicht mehr der Fall, beginnt die Versenkung (Samadhi, vgl. auch Vers 88).

Shataka 2 Vers 84: Dharana, Dhyana und Samadhi infolge von Pranasamyama

Konzentration (erwächst) aus Atemregulation über (eine Dauer von) 2 Stunden, Meditation (erwächst) aus Atemregulation über (eine Dauer von) 24 Stunden, und Versenkung (erwächst) aus Atemregulation über (eine Dauer von) 12 Tagen.


धारणा पञ्चनाडीभिर्ध्यानं च षष्ठिनाडिभिः |
दिनद्वादशकेन स्यात्समाधिः प्राणसंयमात् || ८४ ||
dhāraṇā pañca-nāḍībhir dhyānaṃ ca ṣaṣṭhi-nāḍibhiḥ |
dina-dvādaśakena syāt samādhiḥ prāṇa-saṃyamāt || 2.84 ||
dharana pancha-nadibhir dhyanam cha shashthi-nadibhih |
dina-dvadashakena syat samadhih prana-samyamat || 2.84 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dhāraṇā : Konzentration(sübung) (Dharana)
pañca-nāḍībhiḥ : für fünf (Pancha) Nadis (d.h. 5 x 24 min = 2 h lang)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
ca : und (Cha)
ṣaṣṭhi-nāḍibhiḥ : für sechzig (Shashthi) Nadikas (d.h. 60 x 24 min = 24 h lang)
dina-dvādaśakena : 12 (Dvadashaka) Tage (lang, Dina)
syāt : ist, sei (as)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
prāṇa-saṃyamāt : infolge von Atemkontrolle, Atemregulation (Pranasamyama, d.h. Pranayama)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten als Vers 96 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort steht im vierten Pada anstelle des Ablativs prāṇa-saṃyamāt der Nominativ prāṇa-saṃyamaḥ, was die Interpretation dieses Verses - wohl aufgrund eines Überlieferungsfehlers - erschwert.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt, dass Dharana, Dhyana und Samadhi infolge einer unterschiedlich langen Dauer von Pranasamyama, also Pranayama, entstehen.

Shataka 2 Vers 85: Samadhi

Die Einheit aller Gegensatzpaare, die Einheit von individuellem und universellem Selbst - das wird Versenkung genannt, in der Vorstellungen vollständig verschwunden sind.


यत्सर्वद्वन्द्वयोरैक्यं जीवात्मपरमात्मनोः |
समस्तनष्टसङ्कल्पः समाधि सोऽभिधीयते || ८५ ||
yat sarva-dvandvayor aikyaṃ jīvātma-paramātmanoḥ |
samasta-naṣṭa-saṅkalpaḥ samādhiḥ so'bhidhīyate || 2.85 ||
yat sarva-dvandvayor aikyam jivatma-paramatmanoh |
samasta-nashta-sankalpah samādhih so'bhidhiyate || 2.85 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yat : was, welche (Yad)
sarva-dvandvayoḥ : aller (Sarva) Gegensatzpaare (Dvandva)
aikyam : Einheit (Aikya)
jīvātma-paramātmanoḥ : von Individualseele, individualisiertem Selbst (Jivatman) und Allseele, universellem Selbst (Paramatman)
samasta-naṣṭa-saṅkalpaḥ : in der Vorstellungen, Ideen, Wünsche (Sankalpa) vollständig (Samasta) verschwunden sind (Nashta)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
saḥ : das (Tad)
abhidhīyate : wird genannt (abhi + dhā)

Anmerkung: Dieser Vers erscheint mit einigen Varianten in der Hatha Yoga Pradipika (HYP 4.7).

Die hier gegebene Definition entspricht dem asaṃprajñāta-samādhi (Asamprajnata Samadhi, vgl. Yogasutra 1.18).

Shataka 2 Vers 86: Samadhi

So wie die Einheit von Wasser und Salz durch deren Verbindung entsteht, genau so entsteht die Einheit von Selbst und Geist durch die Yogapraxis - das wird Versenkung genannt.


अम्बुसैन्धवयोरैक्यं यथा भवति योगतः |
तथात्ममनसोरैक्यं समाधिः सोऽभिधीयते || ८६ ||
ambu-saindhavayor aikyaṃ yathā bhavati yogataḥ |
tathātma-manasor aikyaṃ samādhiḥ so'bhidhīyate || 2.86 ||
ambu-saindhavayor aikyam yatha bhavati yogatah |
tathatma-manasor aikyam samadhih so'bhidhiyate || 2.86 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ambu-saindhavayoḥ : von Wasser (Ambu) und Salz (Saindhava)
aikyam : die Einheit (Aikya)
yathā : so wie (Yatha)
bhavati : entsteht ("wird", bhū)
yogataḥ : aufgrund deren Verbindung; durch die Yogapraxis (Yoga)
tathā : ebenso, genau so (Tatha)
ātma-manasoḥ : von Selbst (Atman) und Geist (Manas)
aikyam : Einheit
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
saḥ : das (Tad)
abhidhīyate : wird genannt (abhi + dhā)

Shataka 2 Vers 87: Samadhi

Wenn der Atem aufhört, und der Geist sich auflöst, und wenn es keine Unterscheidungen mehr gibt ("alles denselben Geschmack hat") - das wird Versenkung genannt.


यदा सङ्क्षीयते प्राणो मानसं च प्रलीयते |
यदा समरसत्वं च समाधिः सोऽभिधीयते || ८७ ||
yadā saṅkṣīyate prāṇo mānasaṃ ca pralīyate |
yadā sama-rasatvaṃ ca samādhiḥ so'bhidhīyate || 2.87 ||
yada sankshiyate prano manasam cha praliyate |
yada sama-rasatvam cha samadhih so'bhidhiyate || 2.87 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yadā : wenn (Yada)
saṅkṣīyate : aufhört (sam + kṣi)
prāṇaḥ  : der Atem (Prana)
mānasam : der Geist, das Denken (Manasa)
ca : und (Cha)
pralīyate : sich auflöst ()
yadā : wenn
sama-rasatvam : Identität, Nichtverschiedenheit ("das denselben Geschmack haben", Samarasatva)
ca : und
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
saḥ : das (Tad)
abhidhīyate : wird genannt (abhi + dhā)

Anmerkungen: Das Adjektiv sama-rasa bedeutet wörtlich "denselben (Sama) Geschmack (Rasa) empfindend oder habend", wovon ein abstraktes Substantiv sama-rasa-tva "das Denselben-Geschmack-Empfinden" bzw. "das Denselben-Geschmack-Haben" abgeleitet ist.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers nimmt Bezug auf den vorangehenden Vers 86 und erklärt, dass der Zustand des (Nirvikalpa)-Samadhi dann vorliegt, wenn die Einheit, d.h. die Identität bzw. "nichtverschiedene (Abhinna) Wesen (Svarupatva)" von individuellem Selbst (Jivatman) und universellem Selbst (Paramatman) erreicht ist, so wie Wasser (Jala) und Salz (Saindhava), wenn sie vermischt sind, denselben Geschmack haben (Samarasatva): yadā ca sama-rasatvaṃ jala-saindhavayor iva jīvātma-paramātmanor abhinna-sva-rūpatvaṃ sampadyate sa eva samādhir ity abhidhīyate.

Somit steht der Begriff sama-rasatva für die "Nichtdualität" (Advayatva, Advaita), die Einheit im höchsten Sinne (vgl. auch GP 1, 74).

Shataka 2 Vers 88: Samadhi

Ein Yogi, der im (Zustand) der Versenkung verweilt, (nimmt) weder Geruch, noch Geschmack, (weder) Form bzw. Farbe, noch Berührung, noch Klang, weder sich selbst noch das höchste Selbst (wahr).


न गन्धं न रसं रूपं न च स्पर्शं न निःस्वनम् |
नात्मानं न परस्वं च योगी युक्तः समाधिना || ८८ ||
na gandhaṃ na rasaṃ rūpaṃ na ca sparśaṃ na niḥsvanam |
nātmānaṃ na para-svaṃ ca yogī yuktaḥ samādhinā || 2.88 ||
na gandham na rasam rupam na sparsham na cha nihsvanam |
natmanam na para-svam cha yogi yuktah samadhina || 2.88 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

na : nicht (Na)
gandham : Geruch (Gandha)
na : nicht
rasam : Geschmack (Rasa)
rūpam : Form, Farbe (Rupa)
na : nicht
sparśam : Berührung (Sparsha)
na : nicht
ca : und, auch (Cha)
niḥsvanam : Klang (Nihsvana)
na : nicht
ātmānam : sich selbst (Atman)
na : nicht
para-svam : das höchste Selbst (Parasva)
ca : und, auch
yogī : ein Yogi (Yogin)
yuktaḥ : verweilend ("verbunden", Yukta)
samādhinā : in der Versenkung ("mit" Samadhi)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten als Vers 97 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es statt nātmānaṃ na para-svaṃ ca im dritten Pada ātmānaṃ na paraṃ vetti "er nimmt (weder) sich selbst noch einen anderen wahr". Ganz ähnlich heißt es an dieser Stelle in der Hatha Yoga Pradipika (HYP 4.109) sowie in der Lesung der Yoga Tarangini Tika nātmānaṃ na paraṃ vetti.

In all diesen Varianten ist das Verb vetti "er erkennt, nimmt wahr" enthalten, während in der Version der Paddhati ein solches Verb, auf das sich sämtliche Akkusative in diesem Vers beziehen, fehlt. Sollte es sich hierbei nicht um einen Überlieferungsfehler handeln, wäre ein entsprechendes Verb aus dem Gesamtkontext bzw. aus einem anderen - uns nicht überlieferten - Vers zu ergänzen.

Auch das Kompositum para-svam ist in diesem Zusammenhang interessant: Normalerweise bedeutet es "das Eigentum (Sva) eines anderen (Para)". Es ist aber durchaus möglich, das para-svam hier im Sinne von parmātmānam "das höchste Selbst" gebraucht wird, da para auch "das höchste" und sva "das Selbst, die Seele" bedeuten kann.

Diese Interpretation wird indirekt durch den in der Yoga Tarangini Tika gegebenen Kommentar gestützt, wo das Wort param mit paramātmānam erklärt wird: "(Der Yogi) nimmt weder sich selbst als Meditierenden (Dhyatri)- noch das höchste, (d.h.) das höchste Selbst, als Meditationsobjekt (Dhyeya) wahr" (ātmānaṃ dhyātṛtvena paraṃ paramātmānaṃ dhyeyatvena ... na vetti).

Mit dieser Interpretation wird auf Vers 2.85 Bezug genommen, wo von der Einheit (Aikya) des individuellen Selbst (Jivatman) und des universellen Selbst (Paramatman) die Rede war, die im Zustand des Samadhi besteht: aikyaṃ jīvātma-paramātmanoḥ. In dieser Einheit bzw. Nichtdualität existieren keine Unterscheidungen mehr, und auch die Subjekt-Objekt-Trennung zwischen dem Meditierenden und dem Meditationsobjekt ist aufgehoben.

Shataka 2 Vers 89: Samadhi

Ein Yogi, der im (Zustand) der Versenkung verweilt, ist undurchdringlich in Bezug auf alle Waffen, unverwundbar in Bezug auf alle verkörperten Wesen, und durch Zaubersprüche und magische Diagramme nicht zu manipulieren.


अभेद्यः सर्वशस्त्राणामवध्यः सर्वदेहिनाम् |
अग्राह्यो मन्त्रयन्त्राणां योगी युक्तः समाधिना || ८९ ||
abhedyaḥ sarva-śastrāṇām avadhyaḥ sarva-dehinām |
agrāhyo mantra-yantrāṇāṃ yogī yuktaḥ samādhinā || 2.89 ||
abhedyah sarva-shastranam avadhyah sarva-dehinam |
agrahyo mantra-yantranam yogi yuktah samadhina || 2.89 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

abhedyaḥ : ist undurchdringlich, nicht zu durchbohren (Abhedya)
sarva-śastrāṇām : (in Bezug auf) alle (Sarva) Waffen (Shastra)
avadhyaḥ : ist nicht zu töten, unverwundbar (Avadhya)
sarva-dehinām : (in Bezug auf) alle verkörperten Wesen (Dehin)
agrāhyaḥ : nicht zu manipulieren („nicht zu greifen“, Agrahya)
mantra-yantrāṇām : (in Bezug auf) Zaubersprüche (Mantra) (und) magische Diagramme (Yantra)
yogī : ein Yogi (Yogin)
yuktaḥ : verweilend ("verbunden", Yukta)
samādhinā : in der Versenkung ("mit" Samadhi)

Anmerkung: Dieser Vers wird sinngemäß in der Hatha Yoga Pradipika (HYP 4.113) überliefert.

Shataka 2 Vers 90: Samadhi

Ein Yogi in tiefer Versenkung wird weder vom Tod (der Zeit) geplagt, noch durch (das Gesetz der) Tat(vergeltung) verunreinigt, noch von irgend jemandem beherrscht.


बाध्यते न च कालेन लिप्यते न च कर्मणा |
साध्यते न स केनापि योगी युक्तः समाधिना || ९० ||
bādhyate na ca kālena lipyate na ca karmaṇā |
sādhyate na ca kenāpi yogī yuktaḥ samādhinā || 2.90 ||
badhyate na cha kalena lipyate na cha karmana |
sadhyate na cha kenapi yogi yuktah samadhina || 2.90 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

bādhyate : beeinträchtigt, geplagt (bādh)
na : nicht (Na)
ca : und, auch (Cha)
kālena : vom Tod ("Zeit", Kala)
lipyate : wird beschmutzt, verunreinigt (lip)
na : nicht
ca : und, auch
karmaṇā : durch Handlung, (das Gesetz der) Tat(vergeltung, Karman)
sādhyate : wird unterworfen, beherrscht ("zum gehorchen gebracht", sādh)
na : nicht
ca : und, auch
kenāpi : von irgend jemandem (Ka Api)
yogī : ein Yogi (Yogin)
yuktaḥ : verweilend ("verbunden", Yukta)
samādhinā : in der Versenkung ("mit" Samadhi)

Anmerkung: Dieser Vers wird sinngemäß in der Hatha Yoga Pradipika (HYP 4.108) überliefert.

Shataka 2 Vers 91: Yoga und ausgewogener Lebensstil

Desjenigen spirituelle Praxis vertreibt (alles) Leiden, dessen Nahrung und Erholung mäßig sind, dessen Einstellung hinsichtlich (seiner) Opfer-Verrichtungen gemäßigt ist, und dessen Schlafen und Wachen ausgewogen sind.


युक्ताहारविहारस्य युक्तचेष्टस्य कर्मसु |
युक्तस्वप्नावबोधस्य योगो भवति दुखहा || ९१ ||
yuktāhāra-vihārasya yukta-ceṣṭasya karmasu |
yukta-svapnāvabodhasya yogo bhavati dukhahā || 2.91 ||
yuktāhāra-vihārasya yukta-ceṣṭasya karmasu |
yukta-svapnāvabodhasya yogo bhavati dukhahā || 2.91 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yuktāhāra-vihārasya : für den, dessen Nahrung (Ahara) und Erholung (Vihara) mäßig, angemessen (Yukta) sind
yukta-ceṣṭasya : für den, dessen Einstellung ("Benehmen, Art und Weise", Cheshta) gemäßigt (Yukta) ist
karmasu : hinsichtlich (seiner) Opfer-Handlungen (Karman)
yukta-svapnāvabodhasya : für den, dessen Schlafen (Svapna) und Wachen (Avabodha) ausgewogen, angemessen (Yukta) sind
yogaḥ : spirituelle Praxis, Yoga (Yoga)
bhavati : wird (bhū)
duḥkha-hā : zum Zerstörer des Leidens (Duhkhahan)


Anmerkungen: Dieser Vers stammt Wort für Wort aus der Bhagavad Gita (BhG 6.17). Zur maßvollen Ernährung vgl. weiter oben GP 1.54.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebenen Kommentar zu diesem Vers erklärt, dass mit dem Wort Vihara hier die weltlichen (Laukika) Angelegenheiten (Vyapara) gemeint sind (yukta-vihāratvaṃ laukika-vyāpāram), und mit Karman die religiösen Verrichtungen, d.h. die regelmäßigen (Nitya) und die an spezielle Anlässe gebundenen (Naimittika) Opferhandlungen (karmasu nitya-naimittikeṣu).

In Bezug auf letztere sollte der Yogi frei (Rahita) von übermäßiger Anhaftung (Atyasakti) sein (yukta-ceṣṭasya atyāsakti-rahitasya).

Shataka 2 Vers 92: Die Wirklichkeit (Tattva)

Ein Kenner des Yoga erfährt die (höchste) Wirklichkeit als frei von Anfang und Ende, ohne Stütze, keiner Mannigfaltigkeit unterworfen, makellos, auf sich selbst beruhend und ohne Gestalt.


निराद्यन्तं निरालम्बं निष्प्रपञ्चं निरामयम् |
निराश्रयं निराकारं तत्त्वं जानाति योगवित् || ९२ ||
nirādyantaṃ nirālambaṃ niṣprapañcaṃ nirāmayam |
nirāśrayaṃ nirākāraṃ tattvaṃ jānāti yoga-vit || 2.92 ||
niradyantam niralambam nishprapancham niramayam |
nirashrayam nirakaram tattvam janati yoga-vit || 2.92 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nirādyantam : ohne Anfang und Ende (Niradyanta)
nirālambam : ohne Grundlage, ohne Stütze (Niralamba)
niṣprapañcam : keiner Mannigfaltigkeit unterworfen (Nishprapancha)
nirāmayam : makellos, fehlerfrei, woran nichts fehlt ("ohne Krankheit", Niramaya)
nirāśrayam : sich an nichts anlehnend, auf sich selbst beruhend (Nirashraya)
nirākāram : ohne Form, ohne Gestalt (Nirakara)
tattvam : die (höchste) Wirklichkeit, das Selbst ("Sosein", Tattva)
jānāti : erkennt, nimmt wahr, erfährt (jñā)
yoga-vit : ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Varianten als Vers 92 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Dort heißt es anstelle von tattvaṃ jānāti yoga-vit im vierten Pada tattvaṃ tattva-vido viduḥ "Die Kenner des Selbst (Tattvavid) erfahren das Selbst als ...".

Das Wort Tattva bedeutet sowohl die (höchste) Wirklichkeit, und wird in der Goraksha Paddhati sowie dem Goraksha Shataka auch als ein Synonym für das Selbst gebraucht (vgl. GP 2, 81). In diesem Sinner heißt es auch im in der Yoga Tarangini Tika gegebenen Kommentar tattvam ... ātma-svarūpam "die Wirklichkeit ist die Natur (Svarupa) des Selbst (Atman)".

Mit den "Kennern des Yoga" sind diejenigen gemeint, die das Selbst, das mit der höchsten Wirklichkeit (Tattva) identisch ist, in der genannten Weise unmittelbar erfahren, und nicht nur etwas "darüber wissen".

Shataka 2 Vers 93: Brahman

Die Kenner des Absoluten erfahren das Absolute als rein, unveränderlich, ewig, nicht handelnd, eigenschaftslos, (unermesslich) groß, als die (unmittelbare) Erkenntnis des (alldurchdringenden, leeren) Raumes, als Glückseligkeit.


निर्मलं निश्चलं नित्यं निष्क्रियं निर्गुणं महत् |
व्योमविज्ञानमानन्दं ब्रह्म ब्रह्मविदो विदुः || ९३ ||
nirmalaṃ niścalaṃ nityaṃ niṣkriyaṃ nirguṇaṃ mahat |
vyoma-vijñānam ānandaṃ brahma brahma-vido viduḥ || 2.93 ||
nirmalam nishchalam nityam nishkriyam nirgunam mahat |
vyoma-vijnanam anandam brahma brahma-vido viduh || 2.93 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nirmalam : (als) rein ("fleckenlos", Nirmala)
niścalam : bewegungslos (und daher still), unveränderlich, unwandelbar (Nishchala)
nityam : ewig (Nitya)
niṣkriyam : frei von Handlung, nicht aktiv (Nishkriya)
nirguṇam : eigenschaftslos, ohne Eigenschaften (Nirguna)
mahat : (unermesslich) groß, weit, ausgedehnt (Mahat)
vyoma-vijñānam : (als) die (unmittelbare) Erkenntnis, Wahrnehmung (Vijnana) des (alldurchdringenden, leeren) Raumes (Vyoman)
ānandam : (als) Glückseligkeit (Ananda)
brahma : das Absolute (Brahman)
brahma-vidaḥ : die Kenner des Absoluten (Brahmavid)
viduḥ : kennen, erkennen, erfahren (vid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 99 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Das, was als das Absolute (Brahman) erfahren bzw. "erkannt" wird, wird gern mit dem Wesen des Raumes (Vyoman bzw. Akasha) verglichen, der leer (Shunya, und insofern frei von allen Eigenschaften, Nirguna), alldurchdringend (Sarvaga) und unendlich (Ananta) ist. Auch die übrigen, im ersten Halbvers gegebenen Beschreibungen des Absoluten, gelten für den Raum: rein, bewegungslos bzw. still, ewig, nicht aktiv, (unermesslich) groß.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebenen Kommentar zu diesem Vers erklärt mahad "groß" dahingehend, dass das Absolute frei (Shunya) von jeglicher Differenzierung (Parichchheda) hinsichtlich Raum (Desha), Zeit (Kala) usw. ist: deśa-kālādi-kṛta-pariccheda-śūnyam.

Mit vyoma sei gemeint, das Brahman werde als der "Raum des Bewusstseins" (Chidakasha) wahrgenommen: cid-ākāśa-rūpam, und es zeige sich den Kennern des Absoluten als die Glückseligkeit (Ananda), die aus der Nichtdualität (Advaita) hervorgeht: advaitānanda-rūpaṃ brahma ... jānanti.

Die Erfahrung des Absoluten wird im Vedanta häufig als "Sein-Bewusstsein-Glückseligkeit" (Sat-Chid-Ananda) beschrieben. Etwas abweichend vom Kommentar der YTṬ liegt es daher nahe, den "Raum" (vyoma) im vorliegenden Vers dem Begriff sat gleichzustellen. Er bezeichnet dann gewissermaßen den "Raum allen Seins", außerhalb dessen nichts existiert.

Shataka 2 Vers 94: Brahman

Die Kenner des Absoluten erfahren das Absolute als jenseits von Argumenten und Analogien, als unzugänglich für das Denken und den Intellekt, als Raum, Bewusstsein, Glückseligkeit.


हेतुदृष्टान्तनिर्मुक्तं मनोबुद्ध्योरगोचरम् |
व्योम विज्ञानमानन्दं ब्रह्म ब्रह्मविदो विदुः || ९४ ||
hetu-dṛṣṭānta-nirmuktaṃ mano-buddhyor agocaram |
vyoma vijñānam ānandaṃ brahma brahma-vido viduḥ || 2.94 ||
hetu-drishtanta-nirmuktam mano-buddhyor agocharam |
vyoma vijnanam anandam brahma brahma-vido viduh || 2.94 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

hetu-dṛṣṭānta-nirmuktam : (als) jenseits ("frei", Nirmukta) von Argumentation, Logik (Hetu) und Beispiel, Analogie (Drishtanta)
mano-buddhyoḥ : für das Denken (Manas) und den Intellekt (Buddhi)
agocaram : (als) unzugänglich (Agochara)
vyoma : (als) Raum (Vyoman)
vijñānam : (als) Bewusstsein (Vijnana)
ānandam : (als) Glückseligkeit (Ananda)
brahma : das Absolute (Brahman)
brahma-vidaḥ : die Kenner des Absoluten (Brahmavid)
viduḥ : kennen, erkennen, erfahren (vid)

Anmerkungen: Mit "Denken" (Manas) und "Intellekt" (Buddhi) sind hier zwei der 25 Kategorien (Tattva) der Yoga- und Sankhya-Philosophie gemeint. Die Buddhi ist die erste und subtilste aus den drei Gunas der Prakriti hervorgehende Manifestation.

Obwohl der Wortlaut des zweiten Halbverses Silbe für Silbe mit dem des vorangehenden Verses (GP 2, 93) übereinstimmt, haben sich die Editoren der Laxmi-Venkateshwar Press (Bombay) sowie des Divine Yoga Institute (Kathmandu) in Vers 94 für eine kleine Variante der Worttrennung entschieden. Dies führt zu einer subtilen Bedeutungsveränderung.

Anstelle eines (Tatpurusha-)Kompositums vyoma-vijñānam "die Erkenntnis des Raumes" lesen sie hier zwei getrennte Substantive: vyoma vijñānam "Raum (und) Bewusstsein". Beide Varianten sind möglich, da in traditionellen Handschriften in der Regel (aus Platzersparnis) alle Silben (Akshara) ungeachtet der Wortgrenzen nahtlos aneinander geschrieben, und nur Halbverse durch (Doppel-)Danda voneinander getrennt werden: हेतुदृष्टान्तनिर्मुक्तंमनोबुद्ध्योरगोचरम् | व्योमविज्ञानमानन्दंब्रह्मब्रह्मविदोविदुः ||.

Shataka 2 Vers 95: Brahman

Durch die Methode(n) des Yoga löst sich der Yogin ins höchste Absolute auf, welches frei von Leid ist, ohne Grundlage, ohne Stütze und makellos.


निरातङ्के निरालम्बे निराधारे निरामये |
योगी योगविधानेन परे ब्रह्मणि लीयते || ९५ ||
nirātaṅke nirālambe nirādhāre nirāmaye |
yogī yoga-vidhānena pare brahmaṇi līyate || 2.95 ||
niratanke niralambe niradhare niramaye |
yogi yoga-vidhanena pare brahmani liyate || 2.95 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nirātaṅke : frei von Leid, kein Leiden verspürend (Niratanka)
nirālambe : ohne Grundlage, ohne Stütze (Niralamba)
nirādhāre : keine Stütze habend, auf sich selbst sich stützend (Niradhara)
nirāmaye : makellos, fehlerfrei, woran nichts fehlt ("ohne Krankheit", Niramaya)
yogī : der Yogi (Yogin)
yoga-vidhānena : durch die Methode, durch das Mittel (Vidhana) des Yoga
pare : im höchsten (Para)
brahmaṇi : Absoluten (Brahman)
līyate : löst sich auf ()

Shataka 2 Vers 96: Brahman

So wie Butterschmalz, das in Butterschmalz gegossen wird, eben nur Butterschmalz wird, und Milch, die in Milch (gegossen wird, Milch bleibt), genau so wird der Yogi zur (höchsten) Wirklichkeit.


यथा घृते घृतं क्षिप्तं घृतमेव हि जायते |
क्षीरे क्षीरं तथा योगी तत्त्वमेव हि जायते || ९६ ||
yathā ghṛte ghṛtaṃ kṣiptaṃ ghṛtam eva hi jāyate |
kṣīre kṣīraṃ tathā yogī tattvam eva hi jāyate || 2.96 ||
yatha ghrite ghritam kshiptam ghritam eva hi jayate |
kshire kshiram tatha yogi tattvam eva hi jayate || 2.96 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yathā : so wie (Yatha)
ghṛte : in Butterschmalz, Ghee (Ghrita)
ghṛtam : Butterschmalz
kṣiptam : gegossen (Kshipta)
ghṛtam : zu Butterschmalz
eva : nur (Eva)
hi : gewiss (Hi)
jāyate : wird (jan)
kṣīre : in Milch (Kshira)
kṣīram : Milch
tathā : ebenso, genau so (Tatha)
yogī : der Yogi (Yogin)
tattvam : zur Wirklichkeit, zum Selbst (Tattva)
eva : nur
hi : gewiss
jāyate : wird

Anmerkungen: Der in der Yoga Tarangini Tika gegebenen Kommentar zu diesem Vers vervollständigt den Satz im zweiten Halbvers: "Der Yogi, der sich im Absoluten (Brahman) in Form (Rupa) der (höchsten) Wirklichkeit (Tattva) aufgelöst (Lina) hat, wird genau zu dieser Wirklichkeit" (tattva-rūpe brahmaṇi līno yogī tattvam eva jāyate).

Anhand der hier gegebenen Vergleiche wird somit betont, dass ein jeder - ob Yogi oder nicht - in seiner Essenz bereits eins mit dem Absoluten ist.

Shataka 2 Vers 97: Brahman

Ein Yogi, (dessen Bewusstsein) im höchsten Zustand aufgelöst ist, geht in die Identität (mit dem Höchsten) ein, so wie Milch, die in Milch gegossen wird, oder wie Butterschmalz, das in Butterschmalz gegossen wird, oder wie Feuer, das dem Feuer übergeben wird.


दुग्धे क्षीरं घृते सर्पिरग्नौ वह्निरिवार्पितः |
तन्मयत्वं व्रजत्येवं योगी लीनः परे पदे || ९७ ||
dugdhe kṣīraṃ ghṛte sarpir agnau vahnir ivārpitaḥ |
tan-mayatvaṃ vrajaty evaṃ yogī līnaḥ pare pade || 2.97 ||
dugdhe kshiram ghrite sarpir agnau vahnir ivarpitah |
tan-mayatvam vrajaty evam yogi linah pare pade || 2.97 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dugdhe : in Milch (Dugdha)
kṣīram : Milch (Kshira)
ghṛte : in Butterschmalz, Ghee (Ghrita)
sarpiḥ : Butterschmalz (Sarpis)
agnau : ins Feuer (Agni)
vahniḥ : Feuer (Vahni)
iva : wie (Iva)
arpitaḥ : gegossen, gegeben ("übergeben", Arpita)
tan-mayatvam : in die Identität (das "Daraus-gemacht-Sein", Tanmayatva)
vrajati : geht ein ("gelangt", vraj)
evam : so, auf diese Weise (Evam)
yogī : der Yogi (Yogin)
līnaḥ : aufgelöst (Lina)
pare : im höchsten (Para)
pade : Zustand ("Ort", Pada)

Sanskrit Text Goraksha Paddhati

(Version Divine Yoga Institute, Kathmandu 2017, Druckfehler korrigiert nach der Edition der Laxmi-Venkateshwar Press, Bombay)


śrī-guruṃ paramānandaṃ vande svānanda-vigraham |

yasya sānnidhya-mātreṇa cid-ānandāyate tanuḥ || 1.1 ||

namas-kṛtya guruṃ bhaktyā gorakṣo jñānam uttamam |

abhīṣṭaṃ yogināṃ brūte paramānanda-kārakam || 1.2 ||

gorakṣa-saṃhitāṃ vakti yogināṃ hita-kāmyayā |

dhruvaṃ yasyāvabodhena jāyate paramaṃ padam || 1.3 ||

etad vimukti-sopānam etat kālasya vañcanam |

yad vyāvṛttaṃ mano bhogād āsaktaṃ paramātmani || 1.4 ||

dvija-sevita-śākhasya śruti-kalpa-taroḥ phalam |

śamanaṃ bhava-tāpasya yogaṃ bhajata sattamāḥ || 1.5 ||

āsanaṃ prāṇa-saṃrodhaḥ pratyāhāraś ca dhāraṇā |

dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni vadanti ṣaṭ || 1.6 ||

āsanāni ca tāvanti yāvanto jīva-jantavaḥ |

eteṣām akhilān bhedān vijānāti maheśvaraḥ || 1.7 ||

catur-āśīti-lakṣāṇām ekaikaṃ samudāhṛtam |

tataḥ śivena pīṭhānāṃ ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam || 1.8 ||

āsanebhyaḥ samastebhyo dvayam etad udāhṛtam |

ekaṃ siddhāsanaṃ proktaṃ dvitīyaṃ kamalāsanam || 1.9 ||

yoni-sthānakam aṅghri-mūla-ghaṭitaṃ kṛtvā dṛḍhaṃ vinyasen

meḍhre pādam athaikam eva hṛdaye kṛtvā hanuṃ su-sthiram |

sthāṇuḥ saṃyamitendriyo'cala-dṛśā paśyed bhruvor antaraṃ

hy etan mokṣa-kapāṭa-bheda-janakaṃ siddhāsanaṃ procyate || 1.10 ||

vāmorūpari dakṣiṇaṃ ca caraṇaṃ saṃsthāpya vāmaṃ tathā

dakṣorūpari paścimena vidhinā dhṛtvā karābhyāṃ dṛḍham |

aṅguṣṭhau hṛdaye nidhāya cibukaṃ nāsāgram ālokayed

etad vyādhi-vikāra-nāśana-karaṃ padmāsanaṃ procyate || 1.11 ||

ṣaṭ-cakraṃ ṣoḍaśādhāraṃ dvi-lakṣyaṃ vyoma-pañcakam |

sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 1.12 ||

eka-stambhaṃ nava-dvāraṃ gṛhaṃ pañcādhidaivatam |

sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 1.13 ||

catur-dalaṃ syād ādhāraṃ svādhiṣṭhānaṃ ca ṣaḍ-dalam |

nābhau daśa-dalaṃ padmaṃ sūrya-saṅkhyā-dalaṃ hṛdi || 1.14 ||

kaṇṭhe syāt ṣoḍaśa-dalaṃ bhrū-madhye dvi-dalaṃ tathā |

sahasra-dalam ākhyātaṃ brahma-randhre mahā-pathe || 1.15 ||

ādhāraṃ prathamaṃ cakraṃ svādhiṣṭhānaṃ dvitīyakam |

yoni-sthānaṃ dvayor madhye kāma-rūpaṃ nigadyate || 1.16 ||

ādhārākhye guda-sthāne paṅkajaṃ ca catur-dalam |

tan-madhye procyate yoniḥ kāmākhyā siddha-vanditā || 1.17 ||

yoni-madhye mahā-liṅgaṃ paścimābhimukha-sthitam |

mastake maṇi-vad bimbaṃ yo jānāti sa yoga-vit || 1.18 ||

tapta-cāmīkarābhāsaṃ taḍil-lekheva visphurat |

tri-koṇaṃ tat puraṃ vahner adho meḍhrāt pratiṣṭhitam || 1.19 ||

yat samādhau paraṃ jyotir anantaṃ viśvato-mukham |

tasmin dṛṣṭe mahā-yoge yātāyātaṃ na vindate || 1.20 ||

sva-śabdena bhavet prāṇaḥ svādhiṣṭhānaṃ tad-āśrayaḥ |

svādhiṣṭhānāśrayād asmān meḍhram evābhidhīyate || 1.21 ||

tantunā maṇi-vat proto yatra kandaḥ suṣumṇayā |

tan nābhi-maṇḍalaṃ cakraṃ procyate maṇi-pūrakam || 1.22 ||

dvādaśāre mahā-cakre puṇya-pāpa-vivarjite |

tāvaj jīvo bhramaty eva yāvat tattvaṃ na vindati || 1.23 ||

ūrdhvaṃ meḍhrād adho nābheḥ kando yoniḥ khagāṇḍa-vat |

tatra nāḍyaḥ samutpannāḥ sahasrāṇāṃ dvi-saptatiḥ || 1.24 ||

teṣu nāḍī-sahasreṣu dvi-saptatir udāhṛtāḥ |

pradhānāḥ prāṇa-vāhinyo bhūyas tāsu daśa smṛtāḥ || 1.25 ||

iḍā ca piṅgalā caiva suṣumṇā ca tṛtīyakā |

gāndhārī hasti-jihvā ca pūṣā caiva yaśasvinī || 1.26 ||

alambuṣā kuhūś caiva śaṅkhinī daśamī smṛtā |

etan nāḍī-mayaṃ cakraṃ jñātavyaṃ yogibhiḥ sadā || 1.27 ||

iḍā vāme sthitā bhāge piṅgalā dakṣiṇe sthitā |

suṣumṇā madhya-deśe tu gāndhārī vāma-cakṣuṣi || 1.28 ||

dakṣiṇe hasti-jihvā ca pūṣā karṇe ca dakṣiṇe |

yaśasvinī vāma-karṇe hy ānane cāpy alambuṣā || 1.29 ||

kuhūś ca liṅga-deśe tu mūla-sthāne ca śaṅkhinī |

evaṃ dvāraṃ samāśritya tiṣṭhanti daśa nāḍayaḥ || 1.30 ||

iḍā-piṅgalā-suṣumṇāḥ prāṇa-mārge samāśritāḥ |

satataṃ prāṇa-vāhinyaḥ soma-sūryāgni-devatāḥ || 1.31 ||

prāṇo'pānaḥ samānaś codāna-vyānau ca vāyavaḥ |

nāgaḥ kūrmo'tha kṛkaro deva-datto dhanañ-jayaḥ || 1.32 ||

hṛdi prāṇo vasen nityam apāno guda-maṇḍale |

samāno nābhi-deśe tu udānaḥ kaṇṭha-madhyagaḥ || 1.33 ||

vyāno vyāpī śarīreṣu pradhānāḥ pañca vāyavaḥ |

prāṇādyāḥ pañca vikhyātā nāgādyāḥ pañca vāyavaḥ || 1.34 ||

udgāre nāga ākhyātaḥ kūrma unmīlane smṛtaḥ |

kṛkaraḥ kṣuta-kṛj jñeyo deva-datto vijṛmbhaṇe || 1.35 ||

na jahāti mṛtaṃ cāpi sarva-vyāpi-dhanañ-jayaḥ |

ete sarvāsu nāḍīṣu bhramante jīva-rūpiṇaḥ || 1.36 ||

ākṣipto bhuja-daṇḍena yathoccalati kandukaḥ |

prāṇāpāna-samākṣiptas tathā jīvo na tiṣṭhati || 1.37 ||

prāṇāpāna-vaśo jīvo hy adhaś cordhvaṃ ca dhāvati |

vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa cañcalatvān na dṛśyate || 1.38 ||

rajju-baddho yathā śyeno gato'py ākṛṣyate punaḥ |

guṇa-baddhas tathā jīvaḥ prāṇāpānena kṛṣyate || 1.39 ||

apānaḥ karṣati prāṇaṃ prāṇo'pānaṃ ca karṣati |

ūrdhvādhaḥ saṃsthitāv etau saṃyojayati yoga-vit || 1.40 ||

ha-kāreṇa bahir yāti sa-kāreṇa viśet punaḥ |

haṃsa-haṃsety amuṃ mantraṃ jīvo japati sarvadā || 1.41 ||

ṣaṭ-śatāni tv aho-rātre sahasrāṇy eka-viṃśatiḥ |

etat-saṅkhyānvitaṃ mantraṃ jīvo japati sarvadā || 1.42 ||

ajapā nāma gāyatrī yogināṃ mokṣa-dāyinī |

asyāḥ saṅkalpa-mātreṇa sarva-pāpaiḥ pramucyate || 1.43 ||

anayā sadṛśī vidyā anayā sadṛśo japaḥ |

anayā sadṛśaṃ jñānaṃ na bhūtaṃ na bhaviṣyati || 1.44 ||

kuṇḍalinyāḥ samudbhūtā gāyatrī prāṇa-dhāriṇī |

prāṇa-vidyā mahā-vidyā yas tāṃ vetti sa yoga-vit || 1.45 ||

kandordhve kuṇḍalī śaktir aṣṭa-dhā kuṇḍalākṛtiḥ |

brahma-dvāra-mukhaṃ nityaṃ mukhenācchādya tiṣṭhati || 1.46 ||

yena dvāreṇa gantavyaṃ brahma-dvāram anāmayam |

mukhenācchādya tad dvāraṃ prasuptā parameśvarī || 1.47 ||

prabuddhā vahni-yogena manasā marutā saha |

sūcī-va guṇam ādāya vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā || 1.48 ||

prasupta-bhujagākārā padma-tantu-nibhā śubhā |

prabuddhā vahni-yogena vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā || 1.49 ||

udghāṭayet kapāṭaṃ tu yathā kuñcikayā haṭhāt |

kuṇḍalinyā tathā yogī mokṣa-dvāraṃ prabhedayet || 1.50 ||

kṛtvā sampuṭitau karau dṛḍhataraṃ baddhvā tu padmāsanaṃ

gāḍhaṃ vakṣasi sannidhāya cibukaṃ dhyānaṃ ca tac cetasi |

vāraṃ vāram apānam ūrdhvam anilaṃ proccārayet pūritaṃ

muñcan prāṇam upaiti bodham atulaṃ śakti-prabhāvād ataḥ || 1.51 ||

aṅgānāṃ mardanaṃ kṛtvā śrama-sañjāta-vāriṇā |

kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī kṣīra-bhojanam ācaret || 1.52 ||

brahma-cārī mitāhārī tyāgī yoga-parāyaṇaḥ |

abdād ūrdhvaṁ bhavet siddho nātra kāryā vicāraṇā || 1.53 ||

su-snigdhaṃ madhurāhāraṃ caturthāṃśa-vivarjitam |

bhuñjate sva-rasaṃ prītyai mitāhārī sa ucyate || 1.54 ||

kandordhvaṃ kuṇḍalī śaktiḥ śubha-mokṣa-pradāyinī |

bandhanāya ca mūḍhānāṃ yas tāṁ vetti sa veda-vit || 1.55 ||

mahā-mudrāṃ nabho-mudrām uḍḍīyānaṃ jalandharam |

mūla-bandhaṃ ca yo vetti sa yogī mukti-bhājanaḥ || 1.56 ||

vakṣo-nyasta-hanuḥ prapīḍya su-ciraṃ yoniṃ ca vāmāṅghriṇā

hastābhyām anudhārayet prasaritaṃ pādaṃ tathā dakṣiṇam |

āpūrya śvasanena kukṣi-yugalaṃ baddhvā śanai recayed

eṣā vyādhi-vināśinī su-mahatī mudrā nṛṇāṃ kathyate || 1.57 ||

candrāṅgena samabhyasya sūryāṅgenābhyaset punaḥ |

yāvat tulyā bhavet saṅkhyā tato mudrāṃ visarjayet || 1.58 ||

na-hi pathyam apathyaṃ vā rasāḥ sarve’pi nīrasāḥ |

api bhuktaṃ viṣaṃ ghoraṃ pīyūṣam iva jīryate || 1.59 ||

kṣaya-kuṣṭha-gudāvarta-gulmājīrṇa-purogamāḥ |

rogās tasya kṣayaṃ yānti mahā-mudrāṃ ca yo'bhyaset || 1.60 ||

kathiteyaṃ mahā-mudrā mahā-siddhi-karī nṛṇām |

gopanīyā prayatnena na deyā yasya kasya-cit || 1.61 ||

kapāla-kuhare jihvā praviṣṭā viparītagā |

bhruvor antar-gatā dṛṣṭir mudrā bhavati khe-carī || 1.62 ||

na rogo maraṇaṃ tasya na nidrā na kṣudhā tṛṣā |

na mūrcchā tu bhavet tasya yo mudrāṃ vetti khe-carīm || 1.63 ||

pīḍyate na ca śokena lipyate na ca karmaṇā |

bādhyate na sa kenāpi yo mudrāṃ vetti khe-carīm || 1.64 ||

cittaṃ calati no yasmāj jihvā carati khe-carī |

teneyaṃ khe-carī siddhā sarva-siddhair namas-kṛtā || 1.65 ||

bindu-mūlaṃ śarīrāṇāṃ śirās tatra pratiṣṭhitāḥ |

bhāvayanti śarīrāṇām ā-pāda-tala-mastakam || 1.66 ||

khe-caryā mudritaṃ yena vivaraṃ lambikordhvataḥ |

na tasya kṣarate binduḥ kāminyāliṅgitasya ca || 1.67 ||

yāvad binduḥ sthito dehe tāvan mṛtyor bhayaṃ kutaḥ |

yāvad baddhā nabho-mudrā tāvad bindur na gacchati || 1.68 ||

calito'pi yadā binduḥ samprāptaś ca hutāśanam |

vrajaty ūrdhvaṃ hṛtaḥ śaktyā niruddho yoni-mudrayā || 1.69 ||

sa punar dvi-vidho binduḥ pāṇḍuro lohitas tathā |

pāṇḍuraḥ śukram ity āhur lohitākhyo mahā-rajaḥ || 1.70 ||

sindūra-drava-saṅkāśaṃ nābhi-sthāne sthitaṃ rajaḥ |

śaśi-sthāne sthito bindus tayor aikyaṃ su-dur-labham || 1.71 ||

binduḥ śivo rajaḥ śaktiś candro bindū rajo raviḥ |

anayoḥ saṅgamād eva prāpyate paramaṃ padam || 1.72 ||

vāyunā śakti-cāreṇa preritaṃ tu yadā rajaḥ |

yāti bindoḥ sahaikatvaṃ bhaved divyaṃ vapus tadā || 1.73 ||

śukraṃ candreṇa saṃyuktaṃ rajaḥ sūryeṇa saṃyutam |

tayoḥ sama-rasaikatvaṃ yo jānāti sa yoga-vit || 1.74 ||

śodhanaṃ nāḍi-jālasya cālanaṃ candra-sūryayoḥ |

rasānāṃ śoṣaṇaṃ caiva mahā-mudrābhidhīyate || 1.75 ||

uḍyānaṃ kurute yasmād aviśrāntaṃ mahā-khagaḥ |

uḍḍīyānaṃ tad eva syān mṛtyu-mātaṅga-kesarī || 1.76 ||

udarāt paścime bhāge adho nābher nigadyate |

uḍḍiyāno hy ayaṃ bandhas tatra bandho nigadyate || 1.77 ||

badhnāti hi śiro-jālaṃ nādho yāti nabho-jalam |

tato jālandharo bandhaḥ kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ || 1.78 ||

jālandhare kṛte bandhe kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe |

na pīyūṣaṃ pataty agnau na ca vāyuḥ prakupyati || 1.79 ||

pārṣṇi-bhāgena sampīḍya yonim ākuñcayed gudam |

apānam ūrdhvam ākṛṣya mūla-bandho vidhīyate || 1.80 ||

apāna-prāṇayor aikyāt kṣayo mūtra-purīṣayoḥ |

yuvā bhavati vṛddho'pi satataṃ mūla-bandhanāt || 1.81 ||

padmāsanaṃ samāruhya sama-kāya-śiro-dharaḥ |

nāsāgra-dṛṣṭir ekānte japed oṅ-kāram avyayam || 1.82 ||

bhūr bhuvaḥ svar ime lokāḥ soma-sūryāgni-devatāḥ |

yasya mātrāsu tiṣṭhanti tat paraṃ jyotir om iti || 1.83 ||

trayaḥ kālās trayo vedās trayo lokās trayaḥ svarāḥ |

trayo devāḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 1.84 ||

kriyā icchā tathā jñānaṃ brāhmī raudrī ca vaiṣṇavī |

tridhā śaktiḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 1.85 ||

akāraś ca ukāraś ca makāro bindu-saṃjñakaḥ |

tisro mātrāḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 1.86 ||

vacasā taj jayed bījaṃ vapuṣā tat samabhyaset |

manasā tat smaren nityaṃ tat paraṃ jyotir om iti || 1.87 ||

śucir vāpy aśucir vāpi yo japet praṇavaṃ sadā |

na sa lipyati pāpena padma-pattram ivāmbhasā || 1.88 ||

cale vāte calo bindur niścale niścalo bhavet |

yogī sthāṇutvam āpnoti tato vāyuṃ nirundhayet || 1.89 ||

yāvad vāyuḥ sthito dehe tāvaj jīvaṃ na muñcati |

maraṇaṃ tasya niṣkrāntis tato vāyuṃ nirodhayet || 1.90 ||

yāvad baddho marud dehe yāvac cittaṃ nirāmayam |

yāvad dṛṣṭir bhruvor madhye tāvat kāla-bhayaṃ kutaḥ || 1.91 ||

ataḥ kāla-bhayād brahmā prāṇāyāma-parāyaṇaḥ |

yogino munayaś caiva tato vāyuṃ nirodhayet || 1.92 ||

ṣaṭ-triṃśad-aṅgulo haṃsaḥ prayāṇaṃ kurute bahiḥ |

vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa tataḥ prāṇo'bhidhīyate || 1.93 ||

śuddhim eti yadā sarvaṃ nāḍī-cakraṃ malākulam |

tadaiva jāyate yogī prāṇa-saṅgrahaṇe kṣamaḥ || 1.94 ||

baddha-padmāsano yogī prāṇaṃ candreṇa pūrayet |

dhārayitvā yathā-śakti bhūyaḥ sūryeṇa recayet || 1.95 ||

amṛtaṃ dadhi-saṅkāśaṃ go-kṣīra-dhavalopamam |

dhyātvā candramaso bimbaṃ prāṇāyāmī sukhī bhavet || 1.96 ||

dakṣiṇe śvāsam ākṛṣya pūrayed udaraṃ śanaiḥ |

kumbhayitvā vidhānena punaś candreṇa recayet || 1.97 ||

prajvalaj-jvalana-jvālā-puñjam āditya-maṇḍalam |

dhyātvā nābhi-sthitaṃ yogī prāṇāyāmī sukhī bhavet || 1.98 ||

prāṇaṃ ced iḍayā pibet parimitaṃ bhūyo'nyayā recayet

pītvā piṅgalayā samīraṇam atho baddhvā tyajed vāmayā |

sūrya-candramasor anena vidhinā bimba-dvayaṃ dhyāyatāṃ

śuddhā nāḍi-gaṇā bhavanti yamināṃ māsa-trayād ūrdhvataḥ || 1.99 ||

yatheṣṭaṃ dhāraṇaṃ vāyor analasya pradīpanam |

nādābhivyaktir ārogyaṃ jāyate nāḍi-śodhane || 1.100 ||
iti gorakṣa-yoga-śāstre pūrva-śatakam ||

prāṇo dehe sthito vāyur apānasya nirodhanāt |

eka-śvasana-mātreṇodghāṭayed gagane gatim || 2.1 ||

recakaḥ pūrakaś caiva kumbhakaḥ praṇavātmakaḥ |

prāṇāyāmo bhavet tredhā mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ || 2.2 ||

mātrā-dvādaśa-saṃyuktau divākara-niśākarau |

doṣa-jālam apaghnantau jñātavyau yogibhiḥ sadā || 2.3 ||

pūrake dvādaśī-kuryāt kumbhake ṣoḍaśī bhavet |

recake daśa om̐-kārāḥ prāṇāyāmaḥ sa ucyate || 2.4 ||

prathame dvādaśī mātrā madhyame dvi-guṇā matā |

uttame tri-guṇā proktā prāṇāyāmasya nirṇayaḥ || 2.5 ||

adhame codyate gharmaḥ kampo bhavati madhyame |

uttiṣṭhaty uttame yogī tato vāyuṃ nirodhayet || 2.6 ||

baddha-padmāsano yogī namas-kṛtya guruṃ śivam |

bhrū-madhye dṛṣṭir ekākī prāṇāyāmaṃ samabhyaset || 2.7 ||

ūrdhvam ākṛṣya cāpāna-vāyuṃ prāṇe niyojayet |

ūrdhvam ānīyate śaktyā sarva-pāpaiḥ pramucyate || 2.8 ||

dvārāṇāṃ navakaṃ nirudhya marutaṃ pītvā dṛḍhaṃ dhāritaṃ

nītvākāśam apāna-vahni-sahitaṃ śaktyā samuccālitam |

ātma-sthāna-yutas tv anena vidhivad vinyasya mūrdhni dhruvaṃ

yāvat tiṣṭhati tāvad eva mahatāṃ saṅghena saṃstūyate || 2.9 ||

prāṇāyāmo bhavaty evaṃ pātakendhana-pāvakaḥ |

bhavodadhi-mahā-setuḥ procyate yogibhiḥ sadā || 2.10 ||

āsanena rujaṃ hanti prāṇāyāmena pātakam |

vikāraṃ mānasaṃ yogī pratyāhāreṇa muñcati || 2.11 ||

dhāraṇābhimato dhairyaṃ dhyānāc caitanyam adbhutam |

samādhau mokṣam āpnoti tyaktvā karma śubhāśubham || 2.12 ||

prāṇāyāma-dvi-ṣaṭkena pratyāhāraḥ prakīrtitaḥ |

pratyāhāra-dvi-ṣaṭkena jñāyate dhāraṇā śubhā || 2.13 ||

dhāraṇā dvādaśa proktā dhyānaṃ dhyāna-viśāradaiḥ |

dhyāna-dvādaśakenaiva samādhir abhidhīyate || 2.14 ||

yat samādhau paraṃ jyotir anantaṃ viśvato-mukham |

tasmin dṛṣṭe kriyā karma yātāyātaṃ na vidyate || 2.15 ||

sambaddhāsana-meḍhram aṅghri-yugalaṃ karṇākṣi-nāsā-puṭa-

dvārāṇy aṅgulibhir niyamya pavanaṃ vaktreṇa sampūritam |

dhyātvā vakṣasi vahny-apāna-sahitaṃ mūrdhni sthitaṃ dhārayed

evaṃ yāti viśeṣa-tattva-samatāṃ yogīśvaras tan-mayaḥ || 2.16 ||

gaganaṃ pavane prāpte dhvanir utpadyate mahān |

ghaṇṭādīnāṃ pravādyānāṃ tadā siddhir adūrataḥ || 2.17 ||

prāṇāyāmena yuktena sarva-roga-kṣayo bhavet |

ayuktābhyāsa-yogena sarva-rogasya sambhavaḥ || 2.18 ||

hikkā kāsas tathā śvāsaḥ śiraḥ-karṇākṣi-vedanāḥ |

bhavanti vividhā rogāḥ pavanasya vyatikramāt || 2.19 ||

yathā siṃho gajo vyāghro bhaved vaśyaḥ śanaiḥ śanaiḥ |

anyathā hanti yoktāraṃ tathā vāyur asevitaḥ || 2.20 ||

yuktaṃ yuktaṃ tyajed vāyuṃ yuktaṃ yuktaṃ ca pūrayet |

yuktaṃ yuktaṃ ca badhnīyād evaṃ siddhir adūrataḥ || 2.21 ||

caratāṃ cakṣur-ādīnāṃ viṣayeṣu yathā-kramam |

yat pratyāharaṇaṃ teṣāṃ pratyāharaḥ sa ucyate || 2.22 ||

yathā tṛtīya-kāla-stho raviḥ pratyāharet prabhām |

tṛtīyāṅga-sthito yogī vikāraṃ mānasaṃ tathā || 2.23 ||

aṅga-madhye yathāṅgāni kūrmaḥ saṅkocayed dhruvam |

yogī pratyāhared evam indriyāṇi tathātmani || 2.24 ||

yaṃ yaṃ śṛṇoti karṇābhyām apriyaṃ priyam eva vā |

taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.25 ||

agandham athavā gandhaṃ yaṃ yaṃ jighrati nāsikā |

taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.26 ||

amedhyam athavā medhyaṃ yaṃ yaṃ paśyati cakṣuṣā |

taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.27 ||

aspṛśyam athavā spṛśyaṃ yaṃ yaṃ spṛśati carmaṇā |

taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.28 ||

lavaṇyam alavaṇyaṃ vā yaṃ yaṃ rasati jihvayā |

taṃ tam ātmeti vijñāya pratyāharati yoga-vit || 2.29 ||

candrāmṛta-mayīṃ dhārāṃ pratyāhārati bhāskaraḥ |

yat pratyāharaṇaṃ tasyāḥ pratyāhāraḥ sa ucyate || 2.30 ||

ekā strī bhujyate dvābhyām āgatā candra-maṇḍalāt |

tṛtīyo yo punas tābhyāṃ sa bhaved ajarāmaraḥ || 2.31 ||

nābhi-deśe bhavaty eko bhāskaro dahanātmakaḥ |

amṛtātmā sthito nityaṃ tālu-mūle ca candramāḥ || 2.32 ||

varṣaty adho-mukhaś candro grasaty ūrdhva-mukho raviḥ |

jñātavyā karaṇī tatra yayā pīyūṣam āpyate || 2.33 ||

ūrdhvaṃ nābhir adhas tālu ūrdhvaṃ bhānur adhaḥ śaśī |

karaṇī viparītākhyā guru-vākyena labhyate || 2.34 ||

tridhā baddho vṛṣo yatra roravīti mahā-svanaḥ |

anāhataṃ ca tac cakraṃ hṛdaye yogino viduḥ || 2.35 ||

anāhatam atikramya cākramya maṇi-pūrakam |

prāpte prāṇe mahā-padmaṃ yogī svam amṛtāyate || 2.36 ||

ūrdhvaṃ ṣoḍaśa-pattra-padma-galitaṃ prāṇād avāptaṃ haṭhād

ūrdhvāsyo rasanāṃ nidhāya vidhi-vac chaktiṃ parāṃ cintayet |

tat-kallola-kalā-jalaṃ su-vimalaṃ jihvākulaṃ yaḥ piben

nirdoṣaḥ sa mṛṇāla-komala-vapur yogī ciraṃ jīvati || 2.37 ||

kāka-cañcu-vad āsyena śītalaṃ salilaṃ pibet |

prāṇāpāna-vidhānena yogī bhavati nirjaraḥ || 2.38 ||

rasanā-tālu-mūlena yaḥ prāṇam anilaṃ pibet |

abdārdhena bhavet tasya sarva-rogasya saṅkṣayaḥ || 2.39 ||

viśuddhe pañcame cakre dhyātvāsau sakalāmṛtam |

unmārgeṇa hṛtaṃ yāti vañcayitvā mukhaṃ raveḥ || 2.40 ||

vi-śabdena smṛto haṃso nairmalyaṃ śuddhir ucyate |

ataḥ kaṇṭhe viśuddhākhyaṃ cakraṃ cakra-vido viduḥ || 2.41 ||

amṛtaṃ kandare kṛtvā nāsānta-suṣire kramāt |

svayam uccālitaṃ yāti varjayitvā mukhaṃ raveḥ || 2.42 ||

baddhaṃ soma-kalā-jalaṃ suvimalaṃ kaṇṭha-sthalād ūrdhvato

nāsānte suṣire nayec ca gagana-dvāraṃ tataḥ sarvataḥ |

ūrdhvāsyo bhuvi sannipatya nitarām uttāna-pādaḥ pibed

evaṃ yaḥ kurute jitendriya-gaṇo naivāsti tasya kṣayaḥ || 2.43 ||

ūrdhvaṃ jihvāṃ sthirī-kṛtya soma-panāṃ karoti yaḥ |

māsārdhena na sandeho mṛtyuṃ jayati yoga-vit || 2.44 ||

baddhaṃ mūla-bilaṃ yena tena vighno vidāritaḥ |

ajarāmaram āpnoti yathā pañca-mukho haraḥ || 2.45 ||

saṃpīḍya rasanāgreṇa rāja-danta-bilaṃ mahat |

dhyātvāmṛta-mayīṃ devīṃ ṣaṇ-māsena kavir bhavet || 2.46 ||

sarvādhārāṇi badhnāti tad ūrdhvaṃ dhāritaṃ mahat |

na muñcaty amṛtaṃ ko'pi sa panthāḥ pañca-dhārāṇāḥ || 2.47 ||

cumbantī yadi lambikāgram aniśaṃ jihvā rasa-syandinī

sa-kṣāraṃ kaṭukāmla-dugdha-sadṛśaṃ madhv-ājya-tulyaṃ tathā |

vyādhīnāṃ haraṇaṃ jarānta-karaṇaṃ śāstrāgamodgīraṇaṃ

tasya syād amaratvam aṣṭa-guṇitaṃ siddhāṅganākarṣaṇam || 2.48 ||

amṛtāpūrṇa-dehasya yogino dvi-tri-vatsarāt |

ūrdhvaṃ pravartate reto'py aṇimādi-guṇodayaḥ || 2.49 ||

indhanāni yathā vahnis taila-vartiṃ ca dīpakaḥ |

tathā soma-kalā-pūrṇaṃ dehaṃ dehī na muñcati || 2.50 ||

nityaṃ soma-kalā-pūrṇa-śarīraṃ yasya yoginaḥ |

takṣakeṇāpi daṣṭasya viṣaṃ tasya na sarpati || 2.51 ||

āsanena samāyuktaḥ prāṇāyāmena saṃyutaḥ |

pratyāhāreṇa sampanno dhāraṇāṃ ca samabhyaset || 2.52 ||

hṛdaye pañca-bhūtānāṃ dhāraṇā ca pṛthak pṛthak |

manaso niścalatvena dhāraṇā sābhidhīyate || 2.53 ||

yā pṛthvī hari-tāla-hema-rucirā pītā la-kārānvitā

saṃyuktā kamalāsanena hi catuṣ-koṇā hṛdi sthāyinī |

prāṇāṃs tatra vilīya pañca-ghaṭikaṃ cittānvitaṃ dhārayed

eṣā stambhakarī sadā kṣiti-jayaṃ kuryād bhuvo dhāraṇā || 2.54 ||

ardhendu-pratimaṃ ca kunda-dhavalaṃ kaṇṭhe'mbu-tattvaṃ sthitaṃ

yat pīyūṣa-va-kāra-bīja-sahitaṃ yuktaṃ sadā viṣṇunā |

prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikaṃ cittānvitaṃ dhārayed

eṣā duḥsaha-kāla-kūṭa-dahanī syād vāruṇī dhāraṇā || 2.55 ||

yat tālu-sthitam indra-gopa-sadṛśaṃ tattvaṃ tri-koṇānalaṃ

tejo repha-yutaṃ pravāla-ruciraṃ rudreṇa sat-saṅgatam |

prāṇaṃ tatra vilīya pañca-ghaṭikaṃ cittānvitaṃ dhārayed

eṣā vahni-jayaṃ sadā vitanute vaiśvānarī dhāraṇā || 2.56 ||

yad bhinnāñjana-puñja-sannibham idaṃ syūtaṃ (vṛttaṃ) bhruvor antare

tattvaṃ vāyu-mayaṃ ya-kāra-sahitaṃ yatreśvaro devatā |

prāṇaṃ tatra vilīya pañca-ghaṭikaṃ cittānvitaṃ dhārayed

eṣā khe gamanaṃ karoti yaminaḥ syād vāyavī dhāraṇā || 2.57 ||

ākāśaṃ su-viśuddha-vāri-sadṛśaṃ yad brahma-randhra-sthitaṃ

tan-nādena sadā-śivena sahitaṃ tattvaṃ ha-kārākṣaram |

prāṇaṃ tatra vilīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed

eṣā mokṣa-kapāṭa-pāṭana-paṭuḥ proktā nabho-dhāraṇā || 2.58 ||

stambhinī drāviṇī caiva dahanī bhrāmiṇī tathā |

śoṣiṇī ca bhavaty eṣā bhūtānāṃ pañca dhāraṇāḥ || 2.59 ||

karmaṇā manasā vācā dhāraṇāḥ pañca dur-labhāḥ |

vijñāya satataṃ yogī sarva-duḥkhaiḥ pramucyate || 2.60 ||

smr-ity eva sarva-cintāyāṃ dhātur ekaḥ prapadyate |

yac citte nirmalā cintā tad dhi dhyānaṃ pracakṣate || 2.61 ||

dvi-vidhaṃ bhavati dhyānaṃ sakalaṃ niṣkalaṃ tathā |

sakalaṃ caryā-bhedena niṣkalaṃ nirguṇaṃ bhavet‌ || 2.62 ||

antaś ceto bahiś cakṣur adhaḥ sthāpya sukhāsanaḥ |

[ samatvaṃ ca śarīrasya dhyāna-mudreti kathyate ] || 2.63 ||

ādhāraṃ prathamaṃ cakraṃ svarṇābhaṃ ca catur-dalam‌ |

kuṇḍalinyā samāyuktaṃ dhyātvā mucyeta kilbiṣaiḥ || 2.64 ||

svādhiṣṭhāne ca ṣaṭ-pattre san-māṇikya-sama-prabhe |

nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā yogī sukhī bhavet || 2.65 ||

taruṇāditya-saṅkāśe cakre ca maṇi-pūrake |

nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā saṅkṣobhayej jagat || 2.66 ||

hṛd-ākāśe sthitaṃ śambhuṃ pracaṇḍa-ravi-tejasam |

nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.67 ||

vidyut-prabhe ca hṛt-padme prāṇāyāma-vibhedataḥ |

nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.68 ||

satataṃ ghaṇṭikā-madhye viśuddhe dīpaka-prabhe |

nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.69 ||

bhruvor antar-gataṃ devaṃ san-māṇikya-śikhopamam |

nāsāgra-dṛṣṭir ātmānaṃ dhyātvānanda-mayo bhavet || 2.70 ||

dhyāyan nīla-nibhaṃ nityaṃ bhrū-madhye parameśvaram |

ātmānaṃ vijita-prāṇo yogī yogam avāpnuyāt || 2.71 ||

nirguṇaṃ ca śivaṃ śāntaṃ gagane viśvato-mukham |

nāsāgra-dṛṣṭir ekākī dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.72 ||

ākāśe yatra śabdaḥ syāt tad ājñā-cakram ucyate |

tatrātmānaṃ śivaṃ dhyātvā yogī muktim avāpnuyāt || 2.73 ||

nirmalaṃ gaganākāraṃ marīci-jala-sannibham |

ātmānaṃ sarvagaṃ dhyātvā yogī muktim avāpnuyāt || 2.74 ||

gudaṃ meḍhraṃ ca nābhiś ca hṛt-padmaṃ ca tad-ūrdhvataḥ |

ghaṇṭikā lambikā-sthānaṃ bhrū-madhyaṃ ca nabho-bilam || 2.75 ||

kathitāni navaitāni dhyāna-sthānāni yogibhiḥ |

upādhi-tattva-yuktāni kurvanty aṣṭa-guṇodayam || 2.76 ||

eṣu brahmātmakaṃ tejaḥ śiva-jyotir anuttamam |

dhyātvā jñātvā vimuktaḥ syād iti gorakṣa-bhāṣitam || 2.77 ||

nābhau saṃyamya cittaṃ pavana-gatim adho rodhayet saṃprayatnād

ākuñcyāpāna-mūlaṃ huta-vaha-sadṛśaṃ tantu-vat sūkṣma-rūpam‌ |

tad baddhvā hṛt-saroje tad-anu dalaṇake tāluke brahma-randhre

bhittvā te yānti śūnyaṃ praviśati gagane yatra devo maheśaḥ || 2.78 ||

nābhau śubhrāravindaṃ tad-upari vimalaṃ maṇḍalaṃ caṇḍa-raśmeḥ

saṃsārasyaika-rūpāṃ tri-bhuvana-jananīṃ dharma-dātrīṃ narāṇām‌ |

tasmin madhye tri-mārge tritaya-tanu-dharāṃ chinna-mastāṃ praśastāṃ

tāṃ vande jñāna-rūpāṃ maraṇa-bhaya-harāṃ yoginīṃ jñāna-mudrām‌ || 2.79 ||

aśva-medha-sahasrāṇi vājapeya-śatāni ca |

ekasya dhyāna-yogasya tulāṃ nārhanti ṣoḍaśīm || 2.80 ||

upādhiś ca tathā tattvaṃ dvayam etad udāhṛtam |

upādhiḥ procyate varṇas tattvam ātmābhidhīyate || 2.81 ||

upādher anyathā jñānaṃ tattva-saṃsthitir anyathā |

samastopādhi-vidhvaṃsī sadābhyāsena jāyate || 2.82 ||

śabdādīnāṃ ca tan-mātraṃ yāvat karṇādiṣu sthitam‌ |

tāvad eva smṛtaṃ dhyānaṃ samādhiḥ syād ataḥ param‌ || 2.83 ||

dhāraṇā pañca-nāḍībhir dhyānaṃ ca ṣaṣṭhi-nāḍibhiḥ |

dina-dvādaśakena syāt samādhiḥ prāṇa-saṃyamāt || 2.84 ||

yat sarva-dvandvayor aikyaṃ jīvātma-paramātmanoḥ |

samasta-naṣṭa-saṅkalpaḥ samādhiḥ so'bhidhīyate || 2.85 ||

ambu-saindhavayor aikyaṃ yathā bhavati yogataḥ |

tathātma-manasor aikyaṃ samādhiḥ so'bhidhīyate || 2.86 ||

yadā saṅkṣīyate prāṇo mānasaṃ ca pralīyate |

yadā sama-rasatvaṃ ca samādhiḥ so'bhidhīyate || 2.87 ||

na gandhaṃ na rasaṃ rūpaṃ na ca sparśaṃ na niḥsvanam |

ātmānaṃ na para-svaṃ ca yogī yuktaḥ samādhinā || 2.88 ||

abhedyaḥ sarva-śastrāṇām avadhyaḥ sarva-dehinām |

agrāhyo mantra-yantrāṇāṃ yogī yuktaḥ samādhinā || 2.89 ||

bādhyate na ca kālena lipyate na ca karmaṇā |

sādhyate na ca kenāpi yogī yuktaḥ samādhinā || 2.90 ||

yuktāhāra-vihārasya yukta-ceṣṭasya karmasu |

yukta-svapnāvabodhasya yogo bhavati dukhahā || 2.91 ||

nirādyantaṃ nirālambaṃ niṣprapañcaṃ nirāmayam |

nirāśrayaṃ nirākāraṃ tattvaṃ jānāti yoga-vit || 2.92 ||

nirmalaṃ niścalaṃ nityaṃ niṣkriyaṃ nirguṇaṃ mahat |

vyoma-vijñānam ānandaṃ brahma brahma-vido viduḥ || 2.93 ||

hetu-dṛṣṭānta-nirmuktaṃ mano-buddhyor agocaram |

vyoma vijñānam ānandaṃ brahma brahma-vido viduḥ || 2.94 ||

nirātaṅke nirālambe nirādhāre nirāmaye |

yogī yoga-vidhānena pare brahmaṇi līyate || 2.95 ||

yathā ghṛte ghṛtaṃ kṣiptaṃ ghṛtam eva hi jāyate |

kṣīre kṣīraṃ tathā yogī tattvam eva hi jāyate || 2.96 ||

Konkordanz der Verse der Goraksha Paddhati, des Goraksha Shataka (Version 1 und 2), der Yogachudamani Upanishad, der Hatha Yoga Pradipika und weiterer Texte

Diese Übersicht betrachtet die Verse der Goraksha Paddhati (Shataka 1 und 2) im Vergleich mit identischen oder ähnlich lautenden Versen der Versionen 1 und 2 des Goraksha Shataka, der Yogachudamani Upanishad, des Viveka Martanda, des im Yoga Tarangini Tika gannten Kommentar überlieferten Textes, der Hatha Yoga Pradipika, der Gheranda Samhita sowie der Siddha Siddhanta Paddhati.


Abkürzungen:

  • GP Goraksha Paddhati (Shataka 1 und 2)
  • GŚ 1 Goraksha Shataka (Version 1)
  • GŚ 2 Goraksha Shataka (Version 2)
  • YCU Yogachudamani Upanishad
  • VM Viveka Martanda
  • YTṬ Yoga Tarangini Tika
  • HYP Hatha Yoga Pradipika
  • GhS Gheranda Samhita
  • ŚS Shiva Samhita
  • SSP Siddha Siddhanta Paddhati
  • BhG Bhagavad Gita
  • ĀK Anandakanda
  • ab / cd erstes und zweites / drittes und viertes Versviertel (Pada)
  • ef fünftes und sechstes Versviertel
  • = ist identisch mit
  • ist nahezu identisch mit
  • ~ ist ähnlich, weicht mehr oder weniger stark ab von


GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
1.1 = 1 = 1 = 1.1
1.2 = 3 = 3 = 1.3
1.3 (ab) ~ 4 ~ 1 ab ~ 1.4
1.4 ~ 2 = 5 = 4 = 1.5
1.5 ~ 3 = 6 ~ 5 = 1.6
1.6 ~ 4 = 7 ~ 2 ~ 6 = 1.7
1.7 (ab) ~ 5 ~ 8 ~ 10 = 1.8 ~ 2.1 ab
1.8 (a / d) ~ 6 = 9 ~ 11 = 1.9 ~ 2.1 c / = 2.2 b
1.9 (cd) ~ 7 ~ 10 = 3 ab ~ 12 = 1.10
1.10 ~ 8 ~ 11 ~ 13 ~ 1.11 = 1.37 ~ 2.7
1.11 ~ 9 = 12 ~ 14 = 1.12 ~ 1.46 ~ 2.8
1.12 ~ 13 ~ 3 cd / 4 ab = 1.13 ~ SSP 2.31
1.13 ≃ 14 = 1.14
1.14 ≃ 15 ~ 4 cd / 5 ab ≃ 17 = 1.15
1.15 = 16 ~ 5 cd / 6 ab = 18 = 1.16
1.16 = 10 = 17 = 6 cd / 7 ab = 19 = 1.17
1.17 ~ 11 ~ 18 ~ 7 cd / 8 ab ~ 20 ~ 1.18
1.18 ~ 12 ≃ 19 ~ 8 cd / 9 ab ≃ 21 ≃ 1.19
1.19 ~ 13 = 20 = 9 cd / 10 ab = 22 = 1.20
1.20 ~ 21 ~ 10 cd / 11 ab ~ 23 ~ 1.21
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
1.21 ~ 14 ~ 22 ≃ 11 cd / 12 ab ~ 25 = 1.22
1.22 = 15 = 23 ≃ 12 cd / 13 ab = 26 = 1.23
1.23 = 24 ≃ 13 cd / 14 ab = 27 = 1.24
1.24 ~ 16 ≃ 25 ~ 14 cd / 15 ab ~ 28 ≃ 1.25
1.25 ~ 17 ≃ 26 ≃ 15 cd / 16 ab = 29 = 1.26
1.26 = 18 = 27 ≃ 16 cd / 17 ab = 30 = 1.27
1.27 = 19 = 28 ~ 17 cd / 18 ab = 31 = 1.28
1.28 ~ 20 = 29 ~ 18 cd / 19 ab ~ 32 = 1.29
1.29 ≃ 21 ≃ 30 ~ 19 cd / 20 ab ~ 33 = 1.30
1.30 ~ 22 ~ 31 ~ 20 cd / 21 ab = 34 ≃ 1.31
1.31 ~ 23 = 32 ~ 21 cd / 22 ab ~ 35 ≃ 1.32
1.32 ~ 24 = 33 ~ 22 cd / 23 ab ~ 36 ≃ 1.33
1.33 ~ 34 ~ 23 cd / 24 ab ~ 37 cd / 38 ab = 1.34
1.34 (ab) ~ 25 ab ~ 35 ~ 24 cd ~ 38 cd / 37 ab ≃ 1.35
1.35 = 36 ~ 25 ~ 39 ≃ 1.36
1.36 (cd) ~ 25 cd ≃ 37 ~ 26 ~ 40 ≃ 1.37
1.37 ~ 27 = 38 = 27 = 41 = 1.38
1.38 = 26 = 39 ≃ 28 = 42 = 1.39
1.39 = 28 = 40 ≃ 29 = 43 = 1.40
1.40 ~ 29 = 41 ~ 30 cd / 31 ab = 44 = 1.41
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
1.41 (ab / d) = 42 = 31 cd / 32 ab = 45 = 1.42 ~ 5.86 cd / = 5.87 d
1.42 = 43 ~ 32 cd / 33 ab ~ 46 = 1.43 ~ 5.87
1.43 (a) = 44 ~ 33 cd / 34 ab ~ 47 = 1.44 ~ 5.87 c
1.44 = 45 = 34 cd / 35 ab = 48 = 1.45
1.45 = 46 ≃ 35 cd / 36 ab = 51 = 1.46
1.46 ~ 30 ≃ 47 = 36 cd / 37 ab ~ 53 = 1.47
1.47 ~ 48 = 37 cd / 38 ab ~ 54 ~ 1.48 ~ 3.106
1.48 ~ 31 ≃ 49 ~ 38 cd / 39 ab ~ 55 ≃ 1.49
1.49 ~ 50 ~ 52 ~ 1.50
1.50 = 51 ~ 39 c-f = 56 = 1.51 ≃ 3.105 ~ 3.51
1.51 ~ 52 ~ 40 ~ 57 ~ 1.52 ~ 1.50
1.52 ~ 50 ~ 53 = 41 ~ 58 ~ 1.53
1.53 = 54 ~ 42 = 59 = 1.54 ~ 1.59
1.54 ≃ 55 ~ 43 ~ 60 ≃ 1.55 ~ 1.60
1.55 (a) ~ 56 ~ 44 ≃ 53 a ~ 1.56 ~ 3.107
1.56 ~ 32 ≃ 57 ≃ 45 ~ 61 ≃ 1.57 ~ 3.6 ~ 3.1 a-c
1.57 ~ 33 ≃ 59 ~ 66 = 82 ≃ 1.78
1.58 = 60 ~ 67 = 83 ≃ 1.79 ~ 3.15
1.59 ≃ 61 ~ 68 ≃ 84 ≃ 1.80 ≃ 3.16
1.60 ~ 62 ~ 69 ~ 85 = 1.81 ~ 3.17
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
1.61 ~ 63 = 70 = 86 = 1.82 = 3.18
1.62 = 34 = 64 = 52 = 68 = 1.64 = 3.32 ~ 3.27
1.63 ~ 65 ~ 53 ~ 70 ~ 1.65 ~ 3.39 vgl. 3.28
1.64 ~ 66 ~ 54 = 71 ~ 1.66 ~ 3.40
1.65 ~ 67 ~ 55 ~ 69 ~ 1.67 ~ 3.41
1.66 ~ 68 ~ 56 ~ 72 ~ 1.68 vgl. 3.90
1.67 = 69 ~ 57 = 73 = 1.69 ~ 3.42
1.68 (ab) ~ 70 ~ 58 = 74 ≃ 1.70 ~ 3.89 cd ~ ĀK 1.20.95
1.69 = 71 ~ 59 = 75 ≃ 1.71 ~ 3.43
1.70 ~ 72 ~ 60 ~ 76 ~ 1.72 vgl. ĀK 1.20.97 cd/98 cd
1.71 ~ 73 ~ 61 ~ 77 ~ 1.73
1.72 ~ 74 ~ 62 ~ 78 ~ 1.74
1.73 ~ 75 ~ 63 = 79 = 1.75 vgl. ĀK 1.20.100
1.74 = 76 ~ 64 ~ 60 = 1.76
1.75 = 58 = 65 ~ 81 = 1.77
1.76 (abc / d) / = 35 d ≃ 77 ≃ 48 ≃ 64 ≃ 1.60 ≃ 3.56 a-c/57 d ~ 3.10 c-f ~ ŚS 4.73 cd
1.77 (abc / d) ~ 78 ~ 49 ~ 65 ~ 1.61 ~ 3.57 ac/56 d ~ 3.10 ab
1.78 ~ 79 ~ 50 ~ 66 = 1.62 ~ 3.71
1.79 = 36 = 80 = 51 = 67 ≃ 1.63 = 3.72
1.80 ~ 37 = 81 ~ 46 ~ 63 = 1.58 ≃ 3.61
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
1.81 ≃ 82 ≃ 47 ≃ 62 ≃ 1.59 ≃ 3.65
1.82 = 83 = 51 = 87 = 1.83
1.83 = 84 = 85 ~ 88 = 1.84
1.84 = 85 = 89 = 1.85
1.85 ≃ 86 ~ 86 ~ 91 = 1.86
1.86 ~ 87 = 1.87
1.87 = 88 ~ 87 ~ 1.88
1.88 cd ≃ 89 = 88 = 92 = 1.89 ~ BhG 5.10 cd
1.89 ~ 39 ≃ 90 = 89 ~ 93 = 1.90
1.90 ~ 91 ~ 90 ~ 95 ~ 1.91
1.91 = 92 ~ 91 ~ 94 ≃ 1.92
1.92 ~ 38 = 93 ~ 92 ~ 96 ≃ 1.93 vgl. 2.39
1.93 = 40 = 94 ~ 93 = 1.94
1.94 = 95 ≃ 94 ~ 97 = 1.95
1.95 = 43 = 96 ~ 95 ~ 98 = 1.96 = 2.7
1.96 ~ 44 ~ 97 ~ 96 ~ 99 = 1.97
1.97 ~ 45 = 98 ~ 100 = 1.98 ~ 2.8
1.98 ≃ 46 = 99 ~ 97 ≃ 101 = 1.99
1.99 ≃ 100 ~ 98 = 102 = 1.100 ~ 2.10
1.100 ≃ 101 ≃ 99 = 103 ≃ 1.101 ≃ 2.20
GP (Shataka 2) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
2.1 ~ 42 ~ 100 = 104 = 2.1
2.2 = 47 ~ 101 = 105 = 2.2
2.3 ≃ 102 = 106 = 2.3
2.4 ~ 103 ~ 107 ≃ 2.4
2.5 ~ 48 ~ 104 ~ 108 ~ 2.5
2.6 ~ 49 ~ 105 ~ 109 ~ 2.6 vgl. 2.12 vgl. 5.57 vgl. ŚS 3.46-48
2.7 ~ 41 ~ 106 = 110 ~ 2.7 vgl. 2.1 vgl. 5.38
2.8 ~ 52 ~ 111 = 2.8
2.9 ~ 107 ~ 112 ~ 2.9
2.10 ~ 53 ≃ 108 = 113 = 2.10
2.11 ~ 54 = 109 = 115 = 2.11
2.12 ~ 110 ~ 116 ~ 2.12
2.13 ≃ 111 = 117 ≃ 2.13
2.14 ~ 112 ~ 118 ~ 2.14
2.15 ~ 21 ~ 113 ~ 23 = 2.15
2.16 ~ 114 ~ 119 ~ 2.16
2.17 ~ 115 ~ 120 = 2.17
2.18 ~ 116 = 121 = 2.18 ~ 2.16
2.19 ~ 117 ~ 122 = 2.19 ~ 2.17
2.20 ~ 118 ~ 123 = 2.20 ~ 2.15
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
2.21 ~ 119 ~ 124 ~ 2.21 ~ 2.18
2.22 ~ 120 = 125 = 2.22
2.23 ~ 121 = 126 = 2.23
2.24 = 127 ≃ 2.24 vgl. BhG 2.58
2.25 ~ 129 = 2.25
2.26 ~ 131 = 2.26
2.27 ~ 128 = 2.27
2.28 ~ 132 = 2.28
2.29 ~ 130 = 2.29
2.30 ~ 55 = 133 = 2.30
2.31 ~ 56 = 134 = 2.31
2.32 = 57 ~ 135 = 2.32 vgl. 3.33
2.33 ~ 58 ~ 136 = 2.33
2.34 ~ 59 ~ 137 = 2.34 ~ 3.79
2.35 ~ 60 = 138 = 2.35
2.36 ~ 61 ~ 139 ~ 2.36
2.37 ~ 140 ~ 2.37 ~ 3.51
2.38 = 141 ≃ 2.38 vgl. 3.86
2.39 ~ 142 = 2.39
2.40 ~ 63 ~ 143 ~ 2.40
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
2.41 ~ 62 ~ 144 = 2.41
2.42 = 145 = 2.42
2.43 ~ 146 ≃ 2.43
2.44 ~ 147 ~ 2.44
2.45 = 148 = 2.45
2.46 = 64 ~ 149 = 2.46
2.47 ~ 150 ~ 2.47 vgl. 1.48, 3.22
2.48 ~ 151 ≃ 2.48 ~ 3.50
2.49 = 65 ~ 153 = 2.49
2.50 ≃ 66 = 155 ≃ 2.50 = 3.46
2.51 ~ 154 ≃ 2.51 ≃ 3.45
2.52 ~ 67 = 156 = 2.52
2.53 ~ 68 = 157 ≃ 2.53
2.54 ~ 69 ~ 158 ≃ 2.54 ~ 3.70
2.55 ~ 70 = 159 = 2.55 ~ 3.72
2.56 ~ 71 ~ 160 ≃ 2.56 ~ 3.75
2.57 ~ 72 ~ 161 ~ 2.57 ~ 3.77
2.58 ~ 73 ~ 162 ≃ 2.58 ~ 3.80
2.59 ~ 74 = 163 ~ 2.59
2.60 ~ 75 = 164 = 2.60
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
2.61 vgl. 76 vgl. 165 ≃ 2.61
2.62 vgl. 77 vgl. 166 ~ 2.62
2.63 ~ 2.63
2.64 vgl. 78 vgl. 168 = 2.64
2.65 vgl. 79 vgl. 169 = 2.65
2.66 ~ 80 = 170 = 2.66
2.67 = 2.67
2.68 ~ 82 vgl. 171 = 2.68
2.69 ~ 83 ~ 172 ~ 2.69
2.70 ~ 84 = 2.70
2.71 = 174 ≃ 2.71
2.72 ~ 85 = 2.72
2.73 = 2.73
2.74 ~ 87 = 176 = 2.74
2.75 ~ 86 ~ 177 ≃ 2.75
2.76 ~ 88 ~ 178 ≃ 2.76
2.77 ≃ 183 = 2.79
2.78 ~ 2.77
2.79 ≃ 2.78
2.80 ~ 167 ~ 2.80
GP (Shataka 1) GŚ 1 GŚ 2 YCU VM YTṬ HYP GhS weitere Texte
2.81 ~ 89 = 179 = 2.81
2.82 ~ 90 vgl. 180 = 2.82
2.83 ~ 93 ~ 184 = 2.83
2.84 ~ 96 = 185 = 2.84
2.85 ~ 186 ≃ 2.85 ~ 4.7
2.86 ~ 187 ≃ 2.86 ≃ 4.6
2.87 ~ 188 = 2.87
2.88 ~ 97 ~ 191 ~ 2.88 ~ 4.109
2.89 = 192 = 2.89 ~ 4.113
2.90 ~ 98 = 2.90 ~ 4.108
2.91 = 193 = 2.91 = BhG 6.17
2.92 ~ 92 ~ 194 ~ 2.92
2.93 = 99 = 2.93
2.94 ~ 195 = 2.95
2.95 ~ 196 = 2.94
2.96
2.97
2.98
2.99
2.100
2.101

Zum Übersetzer

Die Übersetzung, Wort-für-Wort-Übersetzung und Anmerkungen stammen von dem Indologen Dr. phil. Oliver Hahn. Er ist unter anderem Autor für Yoga Wiki, Seminarleiter, Yogalehrer, Übersetzer, Lektor und Autor eines Online Sanskrit Kurses.

Siehe auch

Weblinks

Literatur

Seminare

Seminare zu Indische Schriften

Der RSS-Feed von https://www.yoga-vidya.de/seminare/interessengebiet/indische-schriften/?type=1655882548 konnte nicht geladen werden: Fehler beim Parsen von XML für RSS

Sanskrit und Devanagari

11.11.2022 - 13.11.2022 - Sanskrit

Du lernst die Grundprinzipien für die korrekte Aussprache von Mantras und von häufigen Yoga Fachbegriffen, den Aufbau des Sanskrit-Alphabets und die Schriftzeichen (Devanagari). So ist dieses Woc…
Dr. phil. Oliver Hahn

Bewusstseinstechniken aus dem Vijnana Bhairava Tantra

12.10.2022 - 14.10.2022 - Vijnana Bhairava Tantra

Tantra benutzt alle Sinne, um durch Achtsamkeits- und Meditationstechniken den Schleier der materiellen Welt zu lüften und hinter allen Erscheinungen reines Bewusstsein - unser wahres Selbst - zu…
Dr. phil. Oliver Hahn