Goraksha Shataka

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Pranayama praktizierender Yogi

Das Goraksha Shataka (Sanskrit: गोरक्षशतक gorakṣa-śataka n.) wörtl.: "die hundert Verse (Shataka) des Goraksha" ist vermutlich im 11. Jahrhundert verfasstes bekanntes Werk über Hatha Yoga von Goraksha (Gorakhnath). Es lehrt in 101 Shlokas die Quintessenz der Hatha Yoga Praxis. Viele dieser Verse werden in anderen Hatha Yoga Schriften zitiert bzw. in diese inkorporiert. So gibt es einige Verse in der Hatha Yoga Pradipika, die sich wortwörtlich bereits im Goraksha Shataka finden.

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Mehr zum Goraksha Shataka

Das Goraksha Shataka ist eine der vier klassischen Schriften des Hatha Yoga. Hatha Yoga ist hauptsächlich Praxis. Aber um Hatha Yoga zu verstehen, ist es auch hilfreich, die Grundlagentexte zu lesen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Goraksha Shataka ist einer dieser wichtigen Grundlagentexte. Goraksha Shataka wird auch geschrieben Gorakshashataka und Goraksasataka, Goraksha Sataka, Gorarakshasataka – und auch Goraksha Shatakam. Wörtlich heißt Goraksha Shatakam „Hundertheit des Goraksha“. Der folgende Video-Vortrag ist Teil des Yoga Vidya Lexikons zu Yoga, Meditation, Ayurveda, indischer Philosophie, indischer Mythologie und Spiritualität.

Goraksha Shataka गोरक्षशतक Gorakṣa-śataka Aussprache

Hier kannst du hören, wie das Sanskritwort Goraksha Shataka, गोरक्षशतक, Gorakṣa-śataka ausgesprochen wird:

Sukadev über das Goraksha Shataka

Goraksha Shataka, die Hundert Verse des Goraksha, ist einer der vier klassischen Hatha Yoga Schriften. Die anderen drei sind Hatha Yoga Pradipika, Gheranda Samhita und Shiva Samhita. In diesem Werk beschreibt Goraksha den Hatha Yoga, also den Yoga der Körperarbeit, als eine Leiter zur Befreiung.

Hatha Yoga hat drei Wurzeln:

  1. Ayurveda: Hatha Yoga als Übungssystem für Gesundheit: Vorbeugung, Gesunderhaltung, Heilung von Krankheiten
  2. Kundalini Yoga: Hatha Yoga als Übungssystem für die Erhöhung von Prana (Lebensenergie), Reinigung der Nadis (feinstoffliche Energiekanäle), Aktivierung der Chakras (Energiezentren), Erweckung der Kundalini, Erreichen höherer Bewusstseinsebenen bis zur Erleuchtung (Befreiung)
  3. Raja Yoga: Hatha Yoga als psychophysiologische Übungen zur Kontrolle des Geistes

Während der bekannteste Text des Hatha Yoga, die Hatha Yoga Pradipika von Svatmarama, alle drei Wurzeln des Hatha Yoga mit einbezieht und Shiva Samhita sogar noch die Vedanta Philosophie integriert, ist Goraksha Shataka eindeutig auf der Basis des Kundalini Yoga: Goraksha beschreibt die Chakras, die Nadis, die Vayus und die Kundalini sehr viel genauer als Svatmarama. Auf der Basis dieser Feinstoffphysiologie beschreibt er wenige Asanas, einige Mudras, Bandhas und Pranayamas. Vor allem aber beschreibt er Meditationen über die Elemente und die Chakras, welche in Samadhi münden. Man kann sagen: Goraksha Shataka ist ein systematischer Kurs in Kundalini Yoga, welcher bis zur Erleuchtung führt - unter Verzicht auf Erwähnung von Gesundheitswirkungen, Vedanta Philosophie. Sogar die sonst obligatorische Ethik und Lebensstilempfehlung der Yamas und Niyamas wird gänzlich ignoriert - vermutlich weil Goraksha deren Kenntnis voraussetzt.

Wir freuen uns, hier im Yoga Wiki erstmals den vollständigen Text von Goraksha Shataka auf Sanskrit (in Devanagari und Transliteration) und Deutsch zusammen mit einer Wort-für-Wort-Übersetzung und erläuternden Anmerkungen präsentieren zu können. Jeder ernsthaft Hatha Yoga Praktizierende, der über reine Entspannung und Wohlempfindung hinausgehen will, wird viele Anregungen erhalten.

Diese Ausgabe des Gheranda Samhita richtet sich nicht an Yoga Anfänger. Vielmehr ist dieses Werk gedacht für ernsthaft Übende, welche tiefer gehen und ihrer Praxis weitere Impulse geben wollen. Durch die zahlreichen Links ist das Werk aber auch für "fleißige Yoga Neulinge" zugänglich.

Einführende Bemerkungen zum Goraksha Shataka

Textgeschichte und Lehrinhalt

Das Goraksha Shataka (gorakṣa-śataka) - wörtl.: "die hundert Verse (Shataka) des Goraksha" - ist eine Sammlung von Versen über Hatha Yoga, als deren Autor der nordindische Yogameister Goraksha gilt. Es gehört zu einem umfangreichen, bisher nur wenig erforschten Textkorpus, der mehr oder weniger eng mit der Tradition der Nath Yogis, auch Kanphata Yogis genannt, in Zusammenhang steht, deren Begründer besagter Goraksha Natha (Hindi: Gorakhnath) war.

Unter dem Namen Goraksha Shataka kursieren mittlerweile zwei unterschiedliche, wenngleich in enger Beziehung stehende Sammlungen von jeweils 101 Versen, die auf der Grundlage einer Vielzahl von Handschriften in Buchform ediert und übersetzt wurden. Das erste Shataka gab 1938 George Weston Briggs in seinem umfassenden Buch "Gorakhnath and the Kanphata Yogis" heraus. Es handelt sich hierbei um den ersten Teil eines ebenfalls aus zwei Shatakas bestehenden Textes namens Goraksha Paddhati, der auch als Goraksha Samhita ("die Sammlung des Goraksha") bekannt ist. Diese Version erscheint hier als "Version 2".

Eine weitere Version des Goraksha Shataka mit ausführlichen textkritischen Anmerkungen edierten 1958 Swami Kuvalayananda und S. A. Shukla unter dem Namen "Gorakṣaśatakam". Hierfür legten sie 35 Handschriften zugrunde, mit der Zielstellung, den ursprünglichen Wortlaut des Goraksha Shataka so gut wie möglich wiederherzustellen. Sie bemängelten an Briggs Edition, dass diese Version nicht das vollständige Shataka sein könne, da in seinen 101 Versen nur die ersten beiden der insgesamt sechs "Glieder" (Anga) des Hatha Yoga behandelt werden. Dieses Glieder werden in Vers 7 der Version 2 des Goraksha Shataka aufgezählt:

āsanaṃ prāṇa-saṃrodhaḥ pratyāhāraś ca dhāraṇā |
dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni vadanti ṣaṭ || GŚ 2, 7 ||

"Körperstellung (Asana), Atemkontrolle (Pranasamrodha), das Zurückhalten (des inneren Nektars, Pratyahara), Konzentration (Dharana), Meditation (Dhyana) und Versenkung (Samadhi) - diese nennt man die sechs (Shash) Glieder (Anga) des Yoga."

Die beiden Editoren gingen folgerichtig davon aus, dass die vollständige und ursprüngliche Version des Textes all diese Glieder behandeln müsse, und wählten unter diesen Gesichtspunkten geeignete Handschriften aus. Sie fanden eine einzige Handschrift, die diesem Anspruch genügte, und nahmen sie zur Grundlage für ihre Edition, die hier als "Version 1" erscheint und ebenfalls 101 Verse umfasst.

Des weiteren sind Swami Kuvalayananda und S. A. Shukla der Ansicht, dass die von ihnen wiederhergestellte ursprüngliche Version im Laufe der Zeit durch weitere Verse ergänzt und erweitert wurde, so dass schließlich die Version der Goraksha Paddhati entstanden ist, eine Sammlung (Samhita) von mehr als 200 Versen, die entweder auf Goraksha selbst oder in seiner Tradition stehenden Schüler zurückgehen. Georg Feuerstein wiederum nimmt in seinem "Encyclopedic Dictionary of Yoga" (1990) an, das Goraksha Shataka sei ein Fragment der Goraksha Paddhati.

Ob es nun ein ursprünglich von Goraksha verfasstes Shataka gegeben hat oder nicht, in jedem Fall stellt die Goraksha Paddhati ein maßgebliches Werk zum Hatha Yoga dar, in dem zu allen wichtigen Bereichen dieser Praxis Verse zusammengetragen wurden, die in vielen anderen Hatha Yoga-Texten wiederzufinden sind, etwa in der Hatha Yoga Pradipika oder der Yogachudamani Upanishad. Letztere besteht zum allergrößten Teil aus Versen, die sämtlich in der Goraksha Paddhati zu finden sind. Ähnlich verhält es sich auch mit einem Werk namens Viveka Martanda, dessen sechstes Kapitel nahezu identisch mit dem Wortlaut der Goraksha Paddhati ist. So sind auch alle Verse beider Versionen des Goraksha Shataka in der Goraksha Paddhati zu finden, wobei der Inhalt der "Version 1" über den gesamten Text letzterer verteilt ist, wogegen sich der Inhalt der "Version 2" auf deren erstes Shataka beschränkt.

Aufgrund dessen, dass sich beide Versionen nur in den Bereichen Körperstellung (Asana) und Atemkontrolle (Pranasamrodha, d.h. Pranayama) überschneiden, sind der Großteil dieser Textstellen (insgesamt 42 Verse) identisch oder stellen Lesevarianten dar. Die übrigen vier Glieder des Hatha Yoga, nämlich das Zurückhalten (des inneren Nektars, Pratyahara), Konzentration (Dharana), Meditation (Dhyana) und Versenkung (Samadhi) werden nur in der "Version 1" behandelt, wobei ein gutes Drittel des Textes der Praxis der Konzentration, Meditation und Versenkung vorbehalten ist, also dem Bereich, der in der Hatha Yoga Pradipika als Rajayoga oder "Königs-Yoga" bezeichnet wird. Das höchste Ziel ist die Erkenntnis des Absoluten bzw. Brahman und die Erfahrung des Bewusstseinszustands der Nichtdualität (Advayatva): "Im höchsten Zustand geht ein Kenner des Yoga aufgrund des Mittels dieser Leiter zur Befreiung, die wie ein Feuer im Schreckenswald der weltlichen Existenz ist, in die immerwährende Nichtdualität ein" (Vers 101 der "Version 1").

Andererseits nimmt im Goraksha Shataka die Praxis der Körperstellungen (Asana) - ähnlich wie im Yogasutra - nur eine untergeordnete bzw. "grundlegende" Stellung ein: von den 84 Stellungen, die laut Vers 6 ("Version 1") von Shiva gelehrt wurden, wird nur auf zwei Sitzhaltungen näher eingegangen, nämlich auf den "perfekten Sitz" (Siddhasana) und den "Lotussitz" (Kamalasana bzw. Padmasana), die jeweils als Ausgangsstellungen für die verschiedenen Atem- und Meditationsübungen dienen. Der Praxis der Atemkontrolle und deren energetischer Basis, also der praktischen Kenntnis des feinstofflichen Energiesystems in Form der Chakras, Nadis, Vayus, der Kundalini sowie der damit verbundenen Mudras und Bandhas, ist wiederum die erste Hälfte des Goraksha Shataka ("Version 1") gewidmet.

Bemerkenswert ist auch, dass der Begriff des Pratyahara hier nicht, wie sonst üblich, im Sinne des "Zurückziehens (der Sinne von den äußeren Sinnesobjekten)" gebraucht wird (vgl. Yogasutra 2, 54), sondern das "Zurückhalten des inneren Nektars" bzw. "Mondnektars" (Chandramrita) bezeichnet, wie es in Vers 55 der "Version 1" heißt: "Die (in der Nabelgegend befindliche) Sonne zieht den Strom des Mondnektars an sich. Das Zurückhalten dieses (Nektarstroms) von der Sonne wird Pratyahara genannt." Als wichtige Technik wird in diesem Zusammenhang die Umkehrhaltung Viparita Karani genannt (Vers 59 der "Version 1"): "Der Nabel ist oben, der Gaumen ist unten. Die Sonne ist oben, der Mond ist unten. Diese als umgekehrt (Viparita) bezeichnete Stellung wird aus dem Munde des Meisters erlangt."

Schließlich sei noch auf die 2015 erschienene, von Jan K. Brzezinski (Jagadananada Das) edierte und übersetzte sowie ausführlich kommentierte Textausgabe "Yoga-Tarangini: A Rare Commentary on Goraksa-Sataka" verwiesen. Es handelt sich dabei um den Sanskrit-Kommentar eines unbekannten Autors zu den im Goraksha Shataka (Version 1 und 2) und der Goraksha Paddhati überlieferten (insgesamt 202) Versen. Die Yoga Tarangini (Tika) kommentiert zwei Shatakas von je 101 Versen, die in ihrer Gesamtheit im Kolophon der Handschriften als Goraksha Shataka bezeichnet werden. Der Kommentar zum ersten Teil endet mit den Worten iti gorakṣa-śataka-vyākhyāyāṃ yoga-taraṅginyāṃ prathama-śatakaṃ samāptam "Hiermit (Iti) ist in der Yoga Tarangini, dem Kommentar (Vyakhya) zum Goraksha Shataka, das erste (Prathama) Hundert (von Versen Shataka) vollendet (Samapta)."

Goraksha Natha und Matsyendra Natha

Goraksha Natha (Gorakhnath) gilt, wie bereits erwähnt, als der Begründer der Tradition der Nath Yogis, die auch als Kanphata Yogis bekannt sind. Obwohl an seiner Historizität nicht gezweifelt werden kann, so ist doch wenig Gesichertes von ihm bekannt, und seine Gestalt wird von einer Unmenge von Mythen und Legenden umwoben. Seine Lebenszeit wird in verschiedenen Quellen zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert angegeben, wobei das 10. Jahrhundert, nicht zuletzt aus den weiter unten zu erörternden Gründen, als ziemlich wahrscheinlich angesehen werden kann. Sein Wirkungsbereich erstreckte sich auf das nördliche Indien, möglicherweise auch auf das heutige Nepal und Tibet, wo er als Schutzgottheit bzw. buddhistischer Magier verehrt wurde. Sein Lehrer war Matsyendra Natha bzw. Mina Natha, der seinerseits ein mythenumwobener Yogi war, der von Shiva persönlich die Yogalehren erhalten haben soll.

Häufig wird davon ausgegangen, dass Minanatha und Matsyendranatha sich auf ein und denselben Yogameister beziehen, da beide Namen "Herr der Fische" bedeuten, der im 7. oder 10. Jahrhundert n. Chr. gelebt haben soll. Dagegen weist die in der Hatha Yoga Pradipika (HYP 1.5-9) gegebene Liste der Schülernachfolge darauf hin, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Meister der sogenannten Natha-Tradition handelt, die bis auf Adinatha, den "uranfänglichen Herrn" (ein Name Shivas), zurückgeht.

Als zweiter Meister nach Adinatha wird der legendäre Matsyendra ("Herr der Fische") genannt, der auch Matsyendranatha heißt, da an jeden Namen dieser Liste die Bezeichnung Natha "Herr, Meister" gehängt werden kann. Dieser habe als Fisch (oder im Bauch eines Fisches) Shivas Yogaunterweisung belauscht und sei dann von diesem als Yogameister initiiert worden. Dann folgen drei weitere Meister mit den Namen Shabara (Natha), Anandabhairava (Natha) und Chaurangin (Natha). Danach wird Mina ("Fisch"), d.h. Minanatha genannt, gefolgt von Goraksha ("Kuhhirt") bzw. Gorakshanatha, dem berühmten Verfasser des Goraksha Shataka:


śrī-ādinātha-matsyendra-śābarānanda-bhairavāḥ |
cauraṅgī-mīna-gorakṣa-virūpākṣa-bileśayāḥ || HYP 1.5 ||
...
ity ādayo mahā-siddhā haṭha-yoga-prabhāvataḥ |
khaṇḍayitvā kāla-daṇḍaṃ brahmāṇḍe vicaranti te || HYP 1.9 ||


"Adinatha (Shiva), Matsyendra, Shabara, Anandabhairava, Chaurangin, Mina, Goraksha, Virupaksha, Bileshaya, ... - diese und weitere vollendete Meister (Mahasiddha), die durch die Macht (Prabhava) des Hatha Yoga den Stab (Danda) des Todes ("der Zeit", Kala) zerbrochen haben, wandeln in der Welt (Brahmanda) umher."

Mina bzw. Minanatha wird nun im zweiten Vers der "Version 2" des Goraksha Shataka als der Meister des Goraksha (der im darauffolgenden Vers 3 genannt wird) gepriesen (śrī-mīna-nāthaṃ bhaje), was durch die unmittelbare Aufeinanderfolge dieser beiden Meister in der Liste der HYP (1.5) gestützt wird. Somit wären Matsyendra bzw. Matsyendranatha dem 7. Jahrhundert, und Mina bzw. Minanatha sowie dessen Schüler Goraksha Natha dem 10. Jahrhundert n. Chr. zuzuordnen.

Goraksha Shataka (Version 1) Übersetzung, Sanskrit Text Devanagari und Umschrift, Wort-für-Wort-Übersetzung

Verneigung vor dem Meister

Ehrerbietung dem allerhöchsten Lehrer und Meister, dem Herrn und Beschützer Goraksha Natha.


ॐ परमगुरवे गोरक्षनाथाय नमः |
oṃ parama-gurave gorakṣa-nāthāya namaḥ |
om parama-gurave goraksa-nathaya namah |


Wort-für-Wort-Übersetzung

oṃ : Segnung (kosmischer Urklang Om)
parama-gurave : dem allerhöchsten Meister, Lehrer (Paramaguru)
gorakṣa-nāthāya : dem Herrn und Beschützer Goraksha (Gorakshanatha)
namaḥ : Verneigung, Ehrerbietung (Namas)

Anmerkungen: Goraksha (go-rakṣa) bedeutet wörtlich "Kuhhirt". Er wird in der Hatha Yoga Pradipika (1.5) als einer der großen Siddhas und Meister des Hatha Yoga erwähnt (Hatha Yoga Pradipika 1.5). Parama-guru bedeutet auch den Lehrer eines Lehrers (Guru).

Vers 1: Einleitung

Om. Ich werde nun das Goraksha Shataka, die Hundert Verse des Goraksha, verkünden, für die Befreiung der Menschen von den Fesseln der weltlichen Existenz. Es bewirkt die Erkenntnis des Selbst, und ist ein Schlüssel zum Tor der Unterscheidungskraft.


ॐ गोरक्षशतकं वक्ष्ये भवपाशविमुक्तये |
आत्मबोधकरं पुंसां विवेकद्वारकुञ्चिकाम् || १ ||
oṃ gorakṣa-śatakaṃ vakṣye bhava-pāśa-vimuktaye |
ātma-bodha-karaṃ puṃsāṃ viveka-dvāra-kuñcikām || 1 ||
om gorakhsa-shatakam vakshye bhava-pasha-vimuktaye |
atma-bodha-karam pumsam viveka-dvara-kunchikam || 1 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

oṃ : Segnung (kosmischer Urklang Om)
gorakṣa-śatakam : das Goraksha Shataka, die hundert Verse (Shataka) des Goraksha
vakṣye : ich werde verkünden, lehren (vac)
bhava-pāśa-vimuktaye : für die Befreiung (Vimukti) von den Fesseln (Pasha) der weltlichen Existenz (Bhava)
ātma-bodha-kara : das die Erkenntnis des Selbst (Atmabodha) bewirkt (Kara)
puṃsām : der Menschen (Pums)
viveka-dvāra-kuñcikām : einen Schlüssel (Kunchika) zum Tor (Dvara) der Unterscheidungskraft (Viveka)

Vers 2: Einleitung

Dieses Goraksha Shataka ist eine Leiter zur Befreiung. Es bedeutet das Überlisten des Todes. Denn, wenn der Geist von der Täuschung abgewandt ist, richtet er sich auf das höchste Selbst.


एतद्विमुक्तिसोपानमेतत्कालस्य वञ्चनम् |
यद्व्यावृत्तं मनो मोहादासक्तं परमात्मनि || २ ||
etad vimukti-sopānam etat kālasya vañcanam |
yad vyāvṛttaṃ mano mohād āsaktaṃ paramātmani || 2 ||
etad vimukti-sopanam etat kalasya vanchanam |
yad vyavrittam mano mohad asaktam paramatmani || 2 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

etat : dies (Etad)
vimukti-sopānam : ist eine Leiter (Sopana) für die Befreiung (Vimukti)
etat : dies
kālasya : des Todes ("der Zeit", Kala)
vañcanam : ist das Täuschen ("Hintergehen, Entrinnen", Vanchana)
yat : weil (Yad)
vyāvṛttam : abgewandt (Vyavritta)
manas : der Geist, das Denken (Manas)
mohāt : von der Verblendung, Täuschung (Moha)
āsaktam : gerichtet ist ("hängend an", Asakta)
paramātmani : auf das höchste Selbst (Paramatman)

Anmerkungen: Die Wissenschaft des Hatha Yoga wird im ersten Vers der Hatha Yoga Pradipika ebenfalls als eine Leiter bezeichnet (Hatha Yoga Pradipika 1.1).

Dieser Vers erscheint mit einer Lesart als Vers 4 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, die auch als Goraksha Samhita, die "Sammlung (Samhita von Versen) des Goraksha" bekannt ist. Dort heißt es im 4. Pada bhogāt "von der Sinneserfahrung" statt mohāt "von der Täuschung". Derselben Lesung folgt Vers 5 der Version 2 des Goraksha Shataka.

Ein Überblick zu sämtlichen in der Goraksha Paddhati überlieferten Versen beider Versionen des Goraksha Shataka (nebst Verweisen zu weiteren relevanten Texten) findet sich [hier].

In der Übersicht "Konkordanz der Verse des Goraksha Shataka (Version 2 und 1), der Goraksha Paddhati, der Yogachudamani Upanishad und der Hatha Yoga Pradipika" sind alle in der Version 2 des Goraksha Shataka übernommenen Verse der vorliegenden 1. Version aufgelistet (s.u.).

Vers 3: Einleitung

Ein kluger Mensch praktiziert Yoga, den Vernichter des Leidens der weltlichen Existenz, der die Frucht des Wunschbaums der heiligen Überlieferung ist, dessen Zweige von den Vögeln, den Zweimalgeborenen, besucht werden.


द्विजसेवितशाखस्य श्रुतिकल्पतरोः फलम् |
शमनं भवतापस्य योगं भजति सज्जनः || ३ ||
dvija-sevita-śākhasya śruti-kalpa-taroḥ phalam |
śamanaṃ bhava-tāpasya yogaṃ bhajati saj-janaḥ || 3 ||
dvija-sevita-shakhasya shruti-kalpa-taroh phalam |
shamanam bhava-tapasya yogam bhajati saj-janah || 3 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvija-sevita-śākhasya : dessen Zweige (Shakha) von Vögeln, Zweimalgeborenen (Dvija) besucht (Sevita) werden
śruti-kalpa-taroḥ : des Wunschbaums (Kalpataru) der heiligen Überlieferung (Shruti)
phalam : die Frucht (Phala)
śamanam : den Vernichter ("Beruhiger", Shamana)
bhava-tāpasya : des Leidens (Tapa) der weltlichen Existenz (Bhava)
yogam : Yoga
bhajati : betreibt (bhaj)
saj-janaḥ : ein kluger, guter Mensch (Sajjana)

Anmerkungen: Dvija (dvi-ja) "zweimal geboren" bedeutet sowohl "Vogel" als auch die Mitglieder der drei oberen Kasten bzw. Stände (Varna). Shakha (śākhā) bedeutet auch einen "Zweig" im Sinne einer Schule bzw. Überlieferungstradition (Rezension) des Veda.

Dieser Vers wird mit zwei abweichenden Lesarten als Vers 5 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im 4. Pada bhajata sattamāḥ "ihr Besten (der Menschen), praktiziert!" statt bhajati saj-janaḥ.

Vers 4: Die sechs Glieder des Hatha Yoga

Körperstellung, Atemkontrolle, das Zurückhalten (des inneren Nektars), Konzentration, Meditation und Versenkung - dies sind die sechs Glieder des Yoga.


आसनं प्राणसंयामः प्रत्याहारोऽथ धारणा |
ध्यानं समाधिरेतानि योगाङ्गानि भवन्ति षट् || ४ ||
āsanaṃ prāṇa-saṃyāmaḥ pratyāhāro'tha dhāraṇā |
dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni bhavanti ṣaṭ || 4 ||
asanam prana-samyamaḥ pratyaharo'tha dharana |
dhyanam samadhir etani yogangani bhavanti shat || 4 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanam : Körperstellung, Sitzhaltung (Asana)
prāṇa-saṃyāmaḥ : Atemkontrolle (Pranasamyama)
pratyāhāraḥ : das Zurückhalten (des inneren Nektars, Pratyahara)
atha : und (Atha)
dhāraṇā : Konzentration (Dharana)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
etāni : dies (Etad)
yogāṅgāni : Bestandteile, Glieder des Yoga (Yoganga)
bhavanti : sind (bhū)
ṣaṭ : die sechs (Shat)

Anmerkungen: Pranasamyama (prāṇa-saṃyāma) ist ein Synonym für Pranayama. In den meisten Handschriften erscheint prāṇa-saṃrodhaḥ (Pranasamrodha), was ebenfalls soviel heißt wie "Kontrolle über den Atem bzw. die Lebensenergie Prana", wörtlich jedoch das "Anhalten (Samrodha) des Atems (Prana)" bedeutet, sich also insbesondere auf die Atemverhaltungen (Kumbhaka) bezieht. Zur Bedeutung von Pratyahara vgl. die in Vers 55 gegebene Definition.

In der Hatha Yoga Pradipika 1.58 werden vier Glieder bzw. Bestandteile der Hatha Yoga-Praxis genannt:

āsanaṃ kumbhakaṃ citraṃ mudrākhyaṃ karaṇaṃ tathā |
atha nādānusandhānam abhyāsānukramo haṭhe || 1.58 ||

"Körperstellungen (Asana), die verschiedenen Atemverhaltungen (Kumbhaka), ebenso die Mudra genannten Stellungen (Karana), sowie die Konzentration auf den (unangeschlagenen) Klang (Nada Anusandhana) - so lautet die Abfolge (Anukrama) der Übungspraxis (Abhyasa) im Hatha (Yoga)." (HYP 1.58)

In dieser Aufzählung erscheint Kumbhaka im Sinne von Pranayama bzw. Pranasamyama, und die Bezeichnungen Mudra und Karana beziehen sich im Goraksha Shataka auf die Praxis von Pratyahara (Vers 55 ff.). Die hier mit Nada Anusandhana erwähnte Meditationspraxis schließt die Schritte Dharana, Dhyana und Samadhi ein, so dass die im Goraksha Shataka aufgezählten sechs Glieder des Yoga (Yoganga) sich auch in der HYP wiederfinden.

Die im achtgliedrigen (Ashtanga) Yoga des Yogasutra gelehrten beiden Glieder Yama und Niyama werden somit im Goraksha Shataka nicht ausdrücklich erwähnt. In der Hatha Yoga Pradipika (1.17-18) werden wiederum zehn Yamas und zehn Niyamas gelehrt (bei Patanjali sind es jeweils nur fünf). Diese müssen allerdings textgeschichtlich als spätere Einschübe betrachtet werden (Hatha Yoga Pradipika 1.17).

Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 6 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im 1. Pada prāṇa-saṃrodhaḥ statt prāṇa-saṃyāmaḥ.

Vers 5: Anzahl der Asanas

Es gibt soviele Körperstellungen, wie es Arten von Lebewesen gibt. Maheshvara kennt all deren Unterscheidungen.


आसनानि तु तावन्ति यावत्यो जीवजातयः |
एतेषामखिलान्भेदान्विजानाति महेश्वरः || ५ ||
āsanāni tu tāvanti yāvatyo jīva-jātayaḥ |
eteṣām akhilān bhedān vijānāti maheśvaraḥ || 5 ||
asanani tu tavanti yavatyo jiva-jatayah |
etesham akhilan bhedan vijanati maheshvarah || 5 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanāni : Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
tu : aber (Tu)
tāvanti : (gibt es) soviele (Tavat)
yāvatyaḥ : wie (Yavat)
jīva-jātayaḥ : Arten (Jati) von Lebewesen (Jiva)
eteṣām : davon, von diesen (Etad)
akhilān : alle (Akhila)
bhedān : Arten, Unterscheidungen (Bheda)
vijānāti : kennt (vi + jñā)
maheśvaraḥ : Maheshvara, der große Herr (Shiva)

Anmerkung: Wieviele Arten von Lebewesen (und folglich Körperstellungen) es nach der traditionellen indischen Anschauung gibt, wird im nächsten Vers ausgeführt.

Der erste Halbvers kehrt mit einer geringfügigen Lesart Wort für Wort in der Gheranda Samhita (2.1) wieder (vgl. die Anm. zum folgenden Vers 6).

Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 7 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im 2. Pada im selben Sinne yāvanto jīva-jantavaḥ statt yāvatyo jīva-jātayaḥ.

Vers 6: Anzahl der Asanas

Aus diesen 8,4 Millionen Körperstellungen wurde von Shiva jeweils eine (stellvertretend für jeweils 100 000) ausgewählt, und somit 84 Körperstellungen zusammengestellt.


चतुराशीतिलक्षाणामेकमेकमुदाहृतम् |
ततः शिवेन पीठानां षोडशोनं शतं कृतम् || ६ ||
catur-āśīti-lakṣāṇām ekam ekam udāhṛtam |
tataḥ śivena pīṭhānāṃ ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam || 6 ||
catur-ashiti-lakshanam ekam ekam udahritam |
tatah shivena pithānām shodashonam shatam kritam || 6 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

catur-āśīti-lakṣāṇām : aus 8,4 Millionen ("84 x 100 000", Chaturashiti-Laksha)
ekam ekam : jeweils ein (100 000, Eka)
udāhṛtam : wurde als Beispiel ausgewählt ("genannt", Udahrita)
tataḥ : daraus, davon (Tatas)
śivena : von Shiva
pīṭhānām : der Körperstellungen, Sitzhaltungen (Pitha)
ṣoḍaśonam : um 16 (Shodasha) vermindert (Una)
śatam : ein Hundert (Shata)
kṛtam : wurde zusammengestellt ("gemacht", Krita)

Anmerkungen: In der Gheranda Samhita (2.1-2) wird dasselbe gesagt, wobei von den besagten 84 Stellungen dort lediglich 32 gelehrt werden:

āsanāni samastāni yāvanto jīva-jantavaḥ |
catur-aśīti lakṣāṇi śivena kathitaṃ purā || 2.1 ||
teṣāṃ madhye viśiṣṭāni ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam |
teṣāṃ madhye martya-loke dvā-triṃśad āsanaṃ śubham || 2.2 ||

"Sämtliche Körperstellungen (Asana) zusammengenommen sind soviele wie es (Arten von) lebenden (Jiva) Wesen (Jantu) gibt. 8,4 Millionen Körperstellungen wurden einst von Shiva gelehrt. Aus deren Mitte (Madhya) wurden die 84 hervorragendsten (Vishishta) Körperstellungen zusammengestellt. Von diesen sind in der Welt der Sterblichen (Martyaloka) 32 Körperstellungen von Nutzen (Shubha)." (GhS 2.1-2)

Die Zahl 84 heißt im Sanskrit catur-aśīti. Man kann sie aber auch indirekt ausdrücken, indem man von 100 (Shata) 16 (Shodasha) subtrahiert, was hier der Fall ist: ṣoḍaśonaṃ śatam, "ein um 16 vermindertes Hundert".

Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 8 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im 2. Pada im selben Sinne ekaikaṃ samudāhṛtam statt ekam ekam udāhṛtam.

Vers 7: Siddhasana und Kamalasana

Von allen Körperstellungen zeichnen sich zwei besonders aus: die eine wird perfekter Sitz (Siddhasana) genannt, die andere Lotussitz (Kamalasana).


आसनेभ्यः समस्तेभ्यो द्वयमेव विशिष्यते |
एकं सिद्धासनं प्रोक्तं द्वितीयं कमलासनम् || ७ ||
āsanebhyaḥ samastebhyo dvayam eva viśiṣyate |
ekaṃ siddhāsanaṃ proktaṃ dvitīyaṃ kamalāsanam || 7 ||
asanebhyah samastebhyo dvayam eva vishishyate |
ekam siddhasanam proktam dvitiyam kamalasanam || 7 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanebhyaḥ : Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
samastebhyaḥ : von allen (Samasta)
dvayam : zwei ("eine Zweiheit", Dvaya)
eva : nur (Eva)
viśiṣyate : zeichnen sich aus (vi + śiṣ)
ekam : die eine (Eka)
siddhāsanam : perfekter Sitz (Siddhasana)
proktam : wird genannt (Prokta)
dvitīyam : die andere ("zweite", Dvitiya)
kamalāsanam : Lotussitz (Kamalasana)

Anmerkungen: Kamalasana (kamalāsana) ist ein Synonym für Padmasana (padmāsana).

Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 9 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im 2. Pada dvayam etad udāhṛtam "werden zwei (besonders) genannt" statt dvayam eva viśiṣyate.

Vers 8: Siddhasana (perfekter Sitz)

Man lege eine Ferse fest an den Beckenboden und den anderen Fuß fest oberhalb des Genitals, und richte den Körper auf. Dann schaue man, unbeweglich und mit gesammelten Sinnen, mit unverwandtem Blick auf die Mitte zwischen beiden Augenbrauen. Diese Sitzhaltung, die das Öffnen der Tür zur Befreiung bewirkt, wird perfekter Sitz (Siddhasana) genannt.


योनिस्थानकमङ्घ्रिमूलघटितं कृत्वा दृढं विन्यसे-
न्मेढ्रे पादमथैकमेव नियतं कृत्वा समं विग्रहम् |
स्थाणुः संयमितेन्द्रियोऽचलदृशा पश्यन्भ्रुवोरन्तर-
मेतन्मोक्षकवाटभेदजनकं सिद्धासनं प्रोच्यते || ८ ||
yoni-sthānakam aṅghri-mūla-ghaṭitaṃ kṛtvā dṛḍhaṃ vinyasen
meḍhre pādam athaikam eva niyataṃ kṛtvā samaṃ vigraham |
sthāṇuḥ saṃyamitendriyo'cala-dṛśā paśyan bhruvor antaram
etan mokṣa-kavāṭa-bheda-janakaṃ siddhāsanaṃ procyate || 8 ||
yoni-sthanakam anghri-mula-ghatitaṃ kritva dridham vinyasen
medhre padam athaikam eva niyatam kritva samam vigraham |
sthanuh samyamitendriyo'chala-drisha pashyan bhruvor antaram
etan moksha-kavata-bheda-janakam siddhasanam prochyate || 8 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yoni-sthānakam : den Ort, die Stelle (Sthanaka) des Dammes, Beckenbodens ("des Ursprungs", Yoni)
aṅghri-mūla-ghaṭitam : an die Ferse ("Fuß-Wurzel, Ursprung des Fußes", Anghrimula) angelegt, verbunden Ghatita)
kṛtvā : habend ("machend", kṛ)
dṛḍham : fest (Dridha)
vinyaset : man lege (vi + ni + as)
meḍhre : oberhalb des Gliedes, über das Glied (Medhra)
pādam : Fuß (Pada)
atha : und, nun, dann (Atha)
ekam : einen (Eka)
eva : wahrlich, nur (Eva)
niyatam : fest (Niyata)
kṛtvā : machend
samam : aufrecht, ausgerichtet (Sama)
vigraham : den Körper (Vigraha)
sthāṇuḥ : aufrecht, unbeweglich (Sthanu)
saṃyamitendriyaḥ : mit gesammelten, kontrollierten ("bezwungenen", Samyamita) Sinnen (Indriya)
acala-dṛśā : mit unverwandtem, unbeweglichem (Achala) Blick ("Auge", Drish)
paśyan : man schaue (paś)
bhruvoḥ : beide Brauen (Bhru)
antaram : zwischen (Antara)
etat : diese (Sitzhaltung, Etad)
mokṣa-kavāṭa-bheda-janakam : die das Aufbrechen, Öffnen (Bheda) der) Tür (Kavata) zur Befreiung (Moksha) bewirkt, verursacht (Janaka)
siddhāsanam : Sitzhaltung der Vollkommenen, perfekter Sitz (Siddhasana)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkungen: In der Hatha Yoga Pradipika (1.37) erscheint dieser Vers in fast identischer Form. Die dortige Variante (statt niyataṃ kṛtvā samaṃ vigraham steht dort hṛdaye kṛtvā hanuṃ su-sthiram ) lehrt zusätzlich das Anlegen des Kinns an die Brust, also Jalandhara Bandha (Hatha Yoga Pradipika 1.37), ebenso Gheranda Samhita (2.7), deren Wortlaut im ersten Halbvers etwas stärker abweicht.

Die als Vers 10 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überlieferte Version dieses Verses liest im 2. Pada ebenfalls hṛdaye kṛtvā hanuṃ su-sthiram anstelle von niyataṃ kṛtvā samaṃ vigraham.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, ergänzt zur Ausführung von Siddhasana, dass die linke Ferse an den Beckenboden und der rechte Fuß über das Genital, wörtlich "über das Glied" (meḍhre), gelegt wird.

Das Kompositum mokṣa-kavāṭa-bheda-janakam versteht Brahmananda in dem Sinne, dass Siddhasana die Zerstörung (Nasha) der Hindernisse (Pratibandhaka) der Erlösung (Moksha) bewirkt (janayati): mokṣasya yat kapāṭaṃ pratibandhakaṃ tasya bhedaṃ nāśaṃ janayati. Man könnte unter der Tür zur Befreiung (Moksha-Kavata) auch die Sushumna verstehen, deren Öffnung durch die schlafende Kundalini versperrt wird.

Vers 9: Padmasana (Lotussitz)

Man lege den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel und den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel. Dann ergreife man mit beiden Händen, indem man diese hinter dem Rücken über Kreuz hält, fest die beiden großen Zehen. Dann schaue man, das Kinn auf die Brust drückend, auf die Nasenspitze. Diese Sitzhaltung, die bei den sich selbst beherrschenden Yogis körperliche Krankheiten und geistige Störungen vertreibt, wird Lotussitz (Padmasana) genannt.


वामोरूपरि दक्षिणं हि चरणं संस्थाप्य वामं तथा
दक्षोरूपरि पश्चिमेन विधिना धृत्वा कराभ्यां दृढम् |
अङ्गुष्ठौ हृदये निधाय चिबुकं नासाग्रमालोकये-
देतद्व्याधिविकारहारि यमिनां पद्मासनं प्रोच्यते || ९ ||
vāmorūpari dakṣiṇaṃ hi caraṇaṃ saṃsthāpya vāmaṃ tathā
dakṣorūpari paścimena vidhinā dhṛtvā karābhyāṃ dṛḍham |
aṅguṣṭhau hṛdaye nidhāya cibukaṃ nāsāgram ālokayed
etad vyādhi-vikāra-hāri yamināṃ padmāsanaṃ procyate || 9 ||
vamorupari dakshinam hi charanam samsthapya vamam tatha
dakshorupari pashchimena vidhina dhritva karabhyam dridham |
angushthau hridaye nidhaya chibukam nasagram alokayed
etad vyadhi-vikara-hari yaminam padmasanam prochyate || 9 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vāmorūpari : auf (Upari) den linken (Vama) Oberschenkel (Uru)
dakṣiṇam : den rechten (Dakshina)
hi : gewiss (Hi)
caraṇam : Fuß (Charana)
saṃsthāpya : legend ("gelegt habend", sam + sthā)
vāmam : den linken (Fuß, Vama)
tathā : und, ebenso (Tatha)
dakṣorūpari : auf (Upari) den rechten (Daksha) Oberschenkel (Uru)
paścimena : auf die hintere (hinter dem Rücken, Pashchima)
vidhinā : Art und Weise (Vidhi)
dhṛtvā : haltend, ergreifend (dhṛ)
karābhyām : mit beiden Händen (über Kreuz, Kara)
dṛḍham : fest (Dridha)
aṅguṣṭhau : beide großen Zehen (Angushtha)
hṛdaye : an die Brust (die "Herzgegend", Hridaya)
nidhāya : legend ("gelegt habend", ni + dhā)
cibukam : das Kinn (Chibuka)
nāsāgram : auf die Nasenspitze (Nasagra)
ālokayet : schaue man (ā + lok)
etat : das, diese (Sitzhaltung, (Etad)
vyādhi-vikāra-hāri : die (körperliche) Krankheiten (Vyadhi) und (geistige) Störungen (Vikara) vertreibt ("mit sich fortreißt", Harin)
yaminām : der sich selbst zügelnden, beherrschenden (Yogis, Yamin)
padmāsanam : Lotussitz (Padmasana)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkung: In der Hatha Yoga Pradipika (1.46) erscheint dieser Vers in nahezu identischer Form, ebenso in der Gheranda Samhita (2.8), deren Wortlaut im letzten Versviertel etwas abweicht.

Die als Vers 11 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überlieferte Version dieses Verses liest im 4. Pada vyādhi-vikāra-nāśana-karaṃ "die körperliche Krankheiten und geistige Störungen vernichtet" anstelle von vyādhi-vikāra-hāri yamināṃ.

Die hier gelehrte Variante des Lotussitzes entspricht bereits dem "gebundenen Lotussitz" (Baddha Padmasana), bei dem die hinter dem Rücken gekreuzten Arme bzw. Hände die großen Zehen festhalten.

Der Ausdruck "das Kinn auf die Brust drückend" (hṛdaye nidhāya cibukam) verweist auf das Setzen von Jalandhara Bandha und damit auf die Praxis der Atemverhaltung (Kumbhaka). Das Fixieren (Dharana) des Blickes (Dhrishti), dass der Sammlung des Geistes und damit der Einstimmung auf die Meditationspraxis dient, ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil der Beschreibung dieser beiden Sitzhaltungen. Während jedoch in Siddhasana der Blick auf die Mitte zwischen den Augenbrauen (Bhrumadhya) gerichtet wird, soll er in Padmasana auf die Nasenspitze gerichtet werden.

Vers 10: Adhara, Svadhishthana und Yonisthana

Adhara, "die Grundlage", ist das erste Energiezentrum (Chakra), Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", das zweite. Zwischen diesen beiden befindet sich Yonisthana, "der Ort des Ursprungs", der Kamarupa, "die Natur des Verlangens" (oder: "jede beliebige Gestalt annehmend"), genannt wird.


आधारं प्रथमं चक्रं स्वाधिष्ठानं द्वितीयकम् |
योनिस्थानं द्वयोर्मध्ये कामरूपं निगद्यते || १० ||
ādhāraṃ prathamaṃ cakraṃ svādhiṣṭhānaṃ dvitīyakam |
yoni-sthānaṃ dvayor madhye kāma-rūpaṃ nigadyate || 10 ||
adharam prathamam chakram svadhishthanam dvitiyakam |
yoni-sthanam dvayor madhye kama-rupam nigadyate || 10 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

ādhāram : die Grundlage, Stütze (Adhara)
prathamam : (ist) das erste (Prathama)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (Svadhishthana)
dvitīyakam : (ist) das zweite (Dvitiyaka)
yoni-sthānam : (ist) der Ort des Ursprungs (Yonisthana), die Stelle (Sthana) des Dammes, Beckenbodens ("des Ursprungs", Yoni)
dvayoḥ : dieser beiden (Dva)
madhye : in der Mitte (Madhya)
kāma-rūpam : die Natur ("Form") des Verlangens, jede beliebige Gestalt (Kamarupa)
nigadyate : der genannt wird (ni + gad)

Anmerkungen: Adhara ist ein Synonym für Muladhara, das Wurzelzentrum. Yonisthana bedeutet die Region des Beckenbodens, das Perineum, vgl. yoni-sthānakam in Vers 8. Kamarupa ist auch der Name einer Region im indischen Bundesstaat Assam, vgl. die Anm. zu Vers 11.

Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 16 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 11: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

In der Gegend des Anus, die die Grundlage (Adhara) genannt wird, ist ein vierblättriger Lotus. In dessen Mitte - so wird es gelehrt - befindet sich ein Dreieck (Yoni), das von den Vollkommenen als Name des Verlangens (Kamakhya) gepriesen wird.


आधाराख्ये गुदस्थाने पङ्कजं यच्चतुर्दलम् |
तन्मध्ये प्रोच्यते योनिः कामाख्या सिद्धवन्दिता || ११ ||
ādhārākhye guda-sthāne paṅkajaṃ yac catur-dalam |
tan-madhye procyate yoniḥ kāmākhyā siddha-vanditā || 11 ||
adharakhye guda-sthane pankajam yach chatur-dalam |
tan-madhye prochyate yonih kamakhya siddha-vandita || 11 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ādhārākhye : die die Bezeichnung (Akhya) Grundlage, Stütze (Adhara) hat
guda-sthāne : an der Stelle (Sthana) des Anus (Guda)
paṅkajam : Lotus (ist, Pankaja)
yat : wo ein ("welcher", Yad)
catur-dalam : vierblättriger (Chaturdala)
tan-madhye : in dessen (Tad) Mitte (Madhya)
procyate : wird erwähnt, gelehrt (pra + vac)
yoniḥ : ein (als Dreieck dargestelltes) weibliches Genital (Yoni)
kāmākhyā : das den Namen Verlangen hat, Name des Verlangens (Kamakhya)
siddha-vanditā : das von den Vollkommenen (Siddha) gepriesen, verehrt (Vandita) wird

Anmerkungen: Dieser Vers verweist auf die symbolische Darstellung des Wurzelchakras mit einem vierblättrigen Lotus, in dessen viereckiger Grundstruktur (vgl. Vers 13) ein die Yoni darstellendes, nach unten zeigendes Dreick erscheint. Ganz ähnlich heißt es in der Shiva Samhita (2.22) tasminn ādhāra-padme ca karṇikāyāṃ suśobhanā । trikoṇā vartate yoniḥ ...: "In diesem Basis-Lotus (Adhara-Padma), in der Samenkapsel (Karnika), befindet sich eine prächtige, dreieckige (Trikona) Yoni". Diese symbolisiert die als Schlangenkraft Kundalini verehrte Göttin Shakti.

Wertvolle Hinweise zu Symbolik und Bedeutung der Bezeichnung kāmākhyā (Kamakhya) finden sich in George Weston Briggs Gorakhnath and the Kanphata Yogis (1938, S. 166 ff.). Kamakhya ist ein lokaler Name der Göttin Durga, die in einem Tempel gleichen namens in der Kamarupa (vgl. Vers 10) genannten Region im indischen Bundesstaat Assam verehrt wird. Der Tempel steht auf auf einem Hügel namens Nilachal Hill ("Blauer Berg") im westlichen Teil der Stadt Guwahati (Gauhati) am Fluss Brahmaputra und ist das Zentrum der Shakti-Verehrung dieser Gegend. Im Innern des Tempels gibt es eine besondere Felsspalte, die als Yoni der Shakti gilt. Hügel und Tempel zählen zu den 51 heiligen Orten (Pitha), an denen der Legende nach die einzelnen Körperteile der von Gott Vishnu zerstückelten Göttin Parvati bzw. Sati herabgefallen sind. Am Kamakhya genannten Ort soll ihr Geschlechtsorgan (Yoni) herabgefallen sein.

In der Verortung von heiligen Plätzen (Pitha) der äußeren Welt im Körper des Yogis (die unteren fünf Chakras werden auch Pitha genannt) spiegelt sich die tantrische Vorstellung der Entsprechung von Makrokosmos (Brahmanda "Ei des Brahma") und Mikrokosmos (Pinda "Körper") wider. In diesem Sinne ist auch die Gleichsetzung der Ida und Pingala genannten Nadis mit den Flüssen Ganga und Yamuna zu verstehen (vgl. Hatha Yoga Pradipika 3.109-110).

Dieser Vers wird mit nahezu identischem Wortlaut als Vers 17 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 12: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

In der Mitte dieses Dreiecks (Yoni) befindet sich ein großes Linga, das nach Westen (d.h. in Richtung der Sushumna) ausgerichtet ist, und dessen Kopf wie ein Edelstein durchbohrt ist. Wer das weiß, der ist ein Kenner des Yoga.


योनिमध्ये महालिङ्गं पश्चिमाभिमुखं स्थितम् |
मस्तके मणिवद्भिन्नं यो जानाति स योगवित् || १२ ||
yoni-madhye mahā-liṅgaṃ paścimābhimukhaṃ sthitam |
mastake maṇi-vad bhinnaṃ yo jānāti sa yoga-vit || 12 ||
yoni-madhye maha-lingam pashchimabhimukham sthitam |
mastake mani-vad bhinnam yo janati sa yoga-vit || 12 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yoni-madhye : in der Mitte (Madhya) des (als Dreieck dargestellten) weiblichen Genitals (Yoni)
mahā-liṅgam : ein großes Linga ("männliches Glied", Mahalinga)
paścimābhimukham : das nach hinten ("Westen", Pashchima) ausgerichtet (Abhimukha) ist
sthitam : befindet sich (Sthita)
mastake : am Kopf, am oberen Teil (Mastaka)
maṇi-vat : wie (Vat) ein Edelstein (Mani)
bhinnam : durchbohrt ("durchstoßen", Bhinna)
yaḥ : wer (Yad)
jānāti : (das) weiß (jñā)
saḥ : der (Tad)
yoga-vit : (ist) ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkungen: Der Ausdruck paścimābhimukham, wörtl. "nach Westen (Pashchima) ausgerichtet", könnte auch im Sinne von "in Richtung der Sushumna ausgerichtet" interpretiert werden. Diese Bedeutung legt Brahmananda, der Kommentator der HYP, in seinem Kommentar zur Hatha Yoga Pradipika (1.31) nahe, wo er pavanaṃ paścima-vāhinam karoti "(Pashchimatana) lässt die Lebensenergie (pavanam = Prana) hinten entlang fließen" mit paścima-mārgeṇa = suṣumnā-mārgeṇa vahatīti erklärt, d.h. "(die Lebensenergie) fließt entlang der Sushumna" (Hatha Yoga Pradipika 1.31).

In der tantrischen Symbolik, die den klassischen Hatha Yoga-Texten zugrundeliegt, steht die Yoni, die häufig durch ein nach unten weisendes Dreieck dargestellt wird, für Shakti (Energie), und das Linga, das häufig durch ein nach oben weisendes Dreieck dargestellt wird, für Shiva (Bewusstsein).

Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 18 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im 3. Pada bimbaṃ "den Lichtkreis" statt bhinnaṃ.

Vers 13: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

Unterhalb des Linga befindet sich die viereckige Stätte des Feuers, die wie ein Blitzstrahl aufleuchtet und die Farbe glühenden Goldes hat.


तप्तचामीकराभासं तडिल्लेखेव विस्फुरत् |
चतुरस्रं पुरं वह्नेरधो मेढ्रात्प्रतिष्ठितम् || १३ ||
tapta-cāmīkarābhāsaṃ taḍil-lekheva visphurat |
catur-asraṃ puraṃ vahner adho meḍhrāt pratiṣṭhitam || 13 ||
tapta-chamikarabhasam tadil-lekheva visphurat |
chatur-asram puram vahner adho medhrat pratishthitam || 13 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

tapta-cāmīkarābhāsam : von der Farbe (Abhasa) glühenden (Tapta) Goldes (Chamikara)
taḍil-lekhā : ein Blitzstrahl (Tadillekha)
iva : wie (Iva)
visphurat : aufscheinend, leuchtend (vi + sphur)
catur-asram : die viereckige (Chaturasra)
puram : Stätte ("Stadt", Pura)
vahneḥ : des Feuers (Vahni)
adhaḥ  : unterhalb (Adhas)
meḍhrāt : vom männlichen Glied (Medhra)
pratiṣṭhitam : befindet sich (Pratishthita)

Anmerkungen: Die ikonographische Beschreibung des Wurzelchakras der beiden vorangehenden Verse 11 und 12 wird hier fortgesetzt. Der Ausdruck "unterhalb des Gliedes" könnte darauf verweisen, dass man sich das Symbol des Chakras dreidimensional vorzustellen bzw. an entsprechender Stelle im Körper zu visualieren hat, wobei das Linga senkrecht auf dem hier beschriebenen Viereck stünde. Verse 11-13 zusammengenommen beschreiben somit die häufig dargestellten Bestandteile der Symbolik des Wurzelchakras: vierblättriger Lotus, Viereck, Dreieck (Yoni) und Linga.

In der Shiva Samhita (2.23) heißt es im selben Kontext, dass sich dort (in der dreiecken Yoni, vgl. Anm. zu Vers 12), die Kundali (d.h. die Kundalini), die höchste Gottheit (Paradevata) befindet, die die Form (Akara) eines Blitzstrahls (Vidyullata) hat: tatra vidyul-latākārā kuṇḍalī para-devatā.

Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 19 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im 3. Pada tri-koṇaṃ tat "ein Dreieck (Trikona)" statt catur-asraṃ.

Vers 14: Svadhishthana Chakra

Mit dem Wort Selbst (Sva) wird die Lebensenergie (Prana) bezeichnet, und Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", ist deren Sitz. Daher wird mit der Bezeichnung Svadhishthana, "Stätte des Selbst bzw. des Prana", das männliche Glied (bzw. der Bereich oberhalb oder dahinter) benannt.


स्वशब्देन भवेत्प्राणः स्वाधिष्ठानं तदाश्रयः |
स्वाधिष्ठानाख्यया तस्मान्मेढ्रमेवाभिधीयते || १४ ||
sva-śabdena bhavet prāṇaḥ svādhiṣṭhānaṃ tad-āśrayaḥ |
svādhiṣṭhānākhyayā tasmān meḍhram evābhidhīyate || 14 ||
sva-shabdena bhavet pranah svadhishthanam tad-ashrayah |
svadhishthanakhyaya tasman medhram evabhidhiyate || 14 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sva-śabdena : mit dem Wort (Shabda) Selbst (Sva)
bhavet : sei (bezeichnet, bhū)
prāṇaḥ : der Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (das zweite Energiezentrum bzw. Chakra, Svadhishthana)
tad-āśrayaḥ : (ist) dessen/deren (Tad) Sitz (Ashraya)
svādhiṣṭhānākhyayā : mit dem Namen (Akhya) Stätte des Selbst / der Lebensenergie (Svadhishthana)
tasmāt : daher, deshalb (Tasmat)
meḍhram : das männliche Glied, Penis (Medhra)
eva : eben, genau, nur (Eva)
abhidhīyate : wird bezeichnet (abhi + dhā)

Anmerkung: Da in Vers 10 Svadhishthana bereits ausdrücklich als zweites Chakra bezeichnet wurde, erscheint hier seine bloße Gleichsetzung mit dem männlichen Glied widersprüchlich. Gemeint ist daher wohl die Region oberhalb bzw. hinter diesem, also der Bereich in Höhe des Scham- bzw. Kreuzbeins. Aus der ebenfalls dem Goraksha zugeschriebenen Siddha Siddhanta Paddhati (2.13) geht zudem hervor, dass Medhradhara (meḍhra + ādhāra, "Penis-Stütze") eine andere Bezeichnung für das Svadhishthana Chakra ist (vgl. auch Vers 22 der Version 2 des Goraksha Shataka). Adhishthana heißt wörtlich "Standort, Grundlage, Basis, Sitz".

In der Yogachudamani Upanishad, die diesen Vers nahezu identisch überliefert, lautet es in Vers 12 (desgleichen in Vers 22 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati) svādhiṣṭhānāśrayād asmān ... "Weil die Stätte des Selbst (bzw. des Prana) die Grundlage (Ashraya des männlichen Gliedes) ist, (wird dieses Energiezentrum auch nach dem männlichen Glied benannt)". Der Kommentator Upanishad Brahma Yogin erklärt, dass der Penis (Medhra) durch einen "Lebensnerv" (Prana-Nadi) mit dem Svadhishthana in Verbindung steht, und daher diese Benennung gerechtfertigt ist: meḍhrasya prāṇa-nāḍitvāt svādhiṣṭhānāśrayatvaṃ yujyate.

Vers 15: Manipuraka Chakra

Dort, wo der Kanda von Sushumna wie eine Perle von einem Faden durchzogen wird - dieses in der Nabelgegend befindliche Energiezentrum wird Nabelzentrum (Manipuraka) genannt.


तन्तुना मणिवत्प्रोतो यत्र कन्दः सुषुम्णया |
तन्नाभिमण्डलं चक्रं प्रोच्यते मणिपूरकम् || १५ ||
tantunā maṇi-vat proto yatra kandaḥ suṣumṇayā |
tan nābhi-maṇḍalaṃ cakraṃ procyate maṇi-pūrakam || 15 ||
tantuna mani-vat proto yatra kandah sushumnayā |
tan nabhi-mandalam chakram prochyate mani-purakam || 15 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

tantunā : von einem Faden (Tantu)
maṇi-vat : wie (Vat) eine Perle (Mani)
protaḥ : durchzogen wird (Prota)
yatra : wo (Yatra)
kandaḥ : der Kanda ("die Knolle, Zwiebel")
suṣumṇayā : von Sushumna
tat : dieses (Tad)
nābhi-maṇḍalam : (am) Nabelkreis (befindliche, Nabhi-Mandala)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
procyate : wird genannt (pra + vac)
maṇi-pūrakam : Nabelzentrum ("Edelsteinflut", Manipuraka)

Anmerkungen: Die Aussage, dass das Nabelzentrum, innerhalb dessen sich der Kanda befindet, von Sushumna durchzogen wird, verweist darauf, dass alle Energiezentren bzw. Chakras innerhalb der Wirbelsäule, durch die Sushumna verläuft, verortet sind. Bezeichnungen wie "Penis" (Vers 14) oder "Nabelkreis" geben somit in etwa die Höhe an, auf der sich ein Chakra innerhalb der Wirbelsäule befindet. In der Yogachudamani Upanishad, die diesen Vers nahezu identisch überliefert, lautet es in Vers 13 ganz in diesem Sinne tan nābhi-maṇḍale cakram "dieses Energiezentrum in der Nabelgegend ..." (nābhi-maṇḍale ist Lokativ).

Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 22 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 16: Kanda, der Ursprung der Nadis

Oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels befindet sich der Kanda (genannte), wie ein Vogelei geformte Ursprung (der Nadis). Dort entspringen 72 000 feinstoffliche Energiekanäle (Nadi).


ऊर्ध्वं मेढ्रादधो नाभेः कन्दयोनिः खगाण्डवत् |
तत्र नाड्यः समुत्पन्नाः सहस्राणि द्विसप्ततिः || १६ ||
ūrdhvaṃ meḍhrād adho nābheḥ kanda-yoniḥ khagāṇḍa-vat |
tatra nāḍyaḥ samutpannāḥ sahasrāṇi dvi-saptatiḥ || 16 ||
urdhvam medhrad adho nabheh kanda-yoniḥ khaganda-vat |
tatra nadyah samutpannah sahasrani dvi-saptatih || 16 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhvam : oberhalb (Urdhva)
meḍhrāt : vom männlichen Glied (Medhra)
adhaḥ : unterhalb (Adhas)
nābheḥ : des Nabels (Nabhi)
kanda-yoniḥ : der Kanda (genannte) Ursprung (der Nadis, Kanda-Yoni)
khagāṇḍa-vat : wie (Vat) ein Vogelei (geformt, Khaga-Anda)
tatra : dort (Tatra)
nāḍyaḥ : feinstoffliche Energiekanäle, Nerven (Nadi)
samutpannāḥ : entspringen ("werden geboren", Samutpanna)
sahasrāṇi dvi-saptatiḥ : 72 000 (Dvisaptati Sahasra)

Anmerkungen: In der Hatha Yoga Pradipika (3.113-114) wird die Lage des Kanda mit 12 Finger oberhalb des Muladhara Chakra angegeben, was in etwa der Mitte zwischen Penis und Nabel entspricht (Hatha Yoga Pradipika 3.113):

ūrdhvaṃ vitasti-mātraṃ tu vistāraṃ catur-aṅgulam |
mṛdulaṃ dhavalaṃ proktaṃ veṣṭitāmbara-lakṣaṇam || 3.113 ||

"(Der Yogi presse den Kanda, der sich) 12 Finger (Vitasti) oberhalb (des Muladhara Chakra befindet), vier Finger (Angula) breit (Vistara), weich (Mridula), weiß (Dhavala), wie in ein Baumwolltuch (Ambara) gewickelt." (HYP 3.113-114)

Brahmananda, der Kommentator der HYP, zitiert hierzu den vorliegenden Vers des Goraksha Shataka, sowie drei weitere Verse aus dem Yoga Yajnavalkya (4.14, 16-17), die Lage, Größe und Aussehen des Kanda beschreiben:

gudāt tu dvy-aṅgulād ūrdhvaṃ meḍhrāt tu dvy-aṅgulād adhaḥ
deha-madhyaṃ tayor madhyaṃ manujānām itīritam || 4.14 ||

"Zwei fingerbreit (Angula) oberhalb des Anus (Guda) und zwei fingerbreit unterhalb des männlichen Glieds (Medhra), in deren Mitte (Madhya), wird die Leibesmitte (Dehamadhya) der Menschen (Manuja) angegeben." (YY 4.14)

kanda-sthānaṃ manuṣyāṇāṃ deha-madhyān navāṅgulam |
catur-aṅgula-vistāram āyāmaṃ ca tathā-vidham || 4.16 ||

"Neun fingerbreit (oberhalb) der Leibesmitte befindet sich der Sitz des Kanda (Kandasthana) der Menschen (Manushya), vier fingerbreit hoch und ebenso lang." (YY 4.16)

Aus dem in der Yoga Tarangini Tika gegebenen Kommentar zu Goraksha Paddhati 1.28 (~ GŚ 1.20) geht hervor, dass die drei wichtigsten Nadis, also Ida, Pingala und Sushumna, dem Muladhara Chakra entspringen, und die übrigen Nadis (Gandhari usw.) vom Kanda des Nabelzentrums (Nabhi Chakra), d.h. dem Manipura Chakra ausgehen.

Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 24 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im 2. Pada kando yoniḥ "der Kanda, der Ursprung (der Nadis)" statt kanda-yoniḥ.

Vers 17: Die wichtigsten Nadis

Unter diesen Tausenden von feinstoffliche Energiekanälen (Nadi), die die Lebensenergie (Prana) transportieren, werden hauptsächlich 72 als bedeutsam erwähnt. Von diesen werden wiederum zehn am häufigsten gelehrt.


तेषु नाडिसहस्रेषु द्विसप्ततिरुदाहृताः |
प्राधान्यात्प्राणवाहिन्यो भूयस्तत्र दश स्मृताः || १७ ||
teṣu nāḍi-sahasreṣu dvi-saptatir udāhṛtāḥ |
prādhānyāt prāṇa-vāhinyo bhūyas tatra daśa smṛtāḥ || 17 ||
teshu nadi-sahasreshu dvi-saptatir udahritah |
pradhanyat prana-vahinyo bhuyas tatra dasha smritaḥ || 17 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

teṣu : unter diesen (Tad)
nāḍi-sahasreṣu : Tausenden (Sahasra) von feinstoffliche Energiekanälen, Nerven (Nadi)
dvi-saptatiḥ : 72 (Dvisaptati)
udāhṛtāḥ : werden erwähnt (Udahrita)
prādhānyāt : als von großer Wichtigkeit, hauptsächlich, vor allem (Pradhanya)
prāṇa-vāhinyaḥ : die die Lebensenergie ("den Lebensatem", Prana) mit sich führen, transportieren (Vahin)
bhūyaḥ : am häufigsten ("am meisten", Bhuyas)
tatra : unter diesen (Tatra)
daśa : zehn (Dasha)
smṛtāḥ : werden gelehrt ("erinnert", Smrita)

Anmerkungen: Das Wort nāḍī (auch nāḍi) bedeutet wörtlich "Röhre, hohler Stengel, röhrenartiges Gefäß". Innerhalb des physischen bzw. "grobstofflichen" Körpers (Annamaya Kosha) bedeutet Nadi auch Ader, Nerv. Innerhalb des "feinstofflichen" bzw. Energiekörpers (Pranamaya Kosha) bedeutet es die feinstofflichen Energiekanäle, die dem chinesischen Konzept der Meridiane vergleichbar sind.

Die Nadis werden hier als Träger der Lebensenergie (prāṇa-vāhinyaḥ) bezeichnet. Ganz ähnlich heißt es in der Shiva Samhita (2.31), die Nadis seien fähig (Daksha), die Körperwinde bzw. -Energien (Vayu, vgl. Vers 25) und Empfindungen (Bhoga) zu leiten (Vaha). Letzteres verweist deutlich auf die Funktion von Nerven: etā bhoga-vahā nāḍyo vāyu-sañcāra-dakṣakāḥ.

Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 25 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 18: Die zehn wichtigsten Nadis

(Diese zehn wichtigsten Nadis sind:) Ida, Pingala, und als dritte Sushumna, Gandhari, Hastijihva, Pusha und Yashasvini ...


इडा च पिङ्गला चैव सुषुम्णा च तृतीयका |
गान्धारी हस्तिजिह्वा च पूषा चैव यशस्विनी || १८ ||
iḍā ca piṅgalā caiva suṣumṇā ca tṛtīyakā |
gāndhārī hasti-jihvā ca pūṣā caiva yaśasvinī || 18 ||
ida cha pingala chaiva sushumna ca tritiyaka |
gandhari hasti-jihva cha pusha chaiva yashasvini || 18 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iḍā : Ida
ca : und (Cha)
piṅgalā : Pingala
ca : und
eva : ebenso ("so", Eva)
suṣumṇā : Sushumna
ca : und
tṛtīyakā : als dritte (Tritiyaka)
gāndhārī : Gandhari
hasti-jihvā : Hastijihva
ca : und
pūṣā : Pusha
ca : und
eva : ebenso
yaśasvinī : Yashasvini

Vers 19: Die zehn wichtigsten Nadis

... Alambusha, Kuhu, und als zehnte wird Shankhini gelehrt. Dieses aus den feinstofflichen Energiekanälen (Nadi) bestehende Netzwerk sollte den Yogis immer bekannt sein.


अलम्बुषा कुहूश्चैव शङ्खिनी दशमी स्मृता |
एतन्नाडिमयं चक्रं ज्ञातव्यं योगिभिः सदा || १९ ||
alambuṣā kuhūś caiva śaṅkhinī daśamī smṛtā |
etan nāḍi-mayaṃ cakraṃ jñātavyaṃ yogibhiḥ sadā || 19 ||
alambusha kuhush chaiva shankhini dashami smrita |
etan nadi-mayam chakram jnatavyam yogibhih sada || 19 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

alambuṣā : Alambusha
kuhūś : (Kuhu)
ca : und (Cha)
eva : ebenso ("so", Eva)
śaṅkhinī : Shankhini
daśamī : als zehnte (Dashama)
smṛtā : wird gelehrt ("erinnert", Smrita)
etat : dieses (Etad)
nāḍi-mayam : aus feinstofflichen Energiekanälen, Nerven (Nadi) bestehende ("gemachte", Maya)
cakram : Netzwerk ("Menge", Chakra)
jñātavyam : ist zu kennen, zu verstehen (Jnatavya)
yogibhiḥ : von den Yogis (Yogin)
sadā : jederzeit, immer (Sada)

Vers 20: Ida, Pingala, Sushumna und Gandhari

Ida befindet sich auf der linken Seite, und Pingala auf der rechten. Sushumna wiederum befindet sich in der Mitte, und Gandhari endet im linken Auge.


इडा वामे स्थिता भागे पिङ्गला दक्षिणे तथा |
सुषुम्णा मध्यदेशे तु गान्धारी वामचक्षुषि || २० ||
iḍā vāme sthitā bhāge piṅgalā dakṣiṇe tathā |
suṣumṇā madhya-deśe tu gāndhārī vāma-cakṣuṣi || 20 ||
ida vame sthita bhage pingala dakshine tatha |
sushumna madhya-deshe tu gandhari vama-cakshushi || 20 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iḍā : Ida
vāme : auf der linken (Vama)
sthitā : befindet sich (Sthita)
bhāge : Seite ("Teil", Bhaga)
piṅgalā : Pingala
dakṣiṇe : auf der rechten (Dakshina)
tathā : und (Tatha)
suṣumṇā : Sushumna
madhya-deśe : im mittleren Raum, in der Leibesmitte (Madhyadesha)
tu : aber, wiederum (Tu)
gāndhārī : Gandhari
vāma-cakṣuṣi : (endet) im linken (Vama) Auge (Chakshus)

Anmerkung: Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers ergänzt, dass die drei erstgenannten Nadis, also Ida, Pingala und Sushumna, aus den drei (Traya) Ecken (Kona) der im Muladhara Chakra befindlichen (dreieckigen) Yoni entspringen (vgl. Vers 11): etan nāḍī-trayaṃ mūlādhāra-gata-yonyāḥ koṇa-trayāt samudbhūtam. Die übrigen der zehn Haupt-Nadis (Gandhari usw.) entspringen (Udbhuta) dem Kanda des Nabelzentrums (Nabhi Chakra), d.h. dem Manipura Chakra (vgl. Vers 15): anyās tu nābhi-cakra-kandād udbhūtāḥ.

Vers 21: Hastijihva, Pusha, Yashasvini und Alambusha

Hastijihva endet im rechten Auge, und Pusha im rechten Ohr. Yashasvini endet im linken Ohr, und Alambusha im Mund.


दक्षिणे हस्तिजिह्वा च पूषा कर्णे च दक्षिणे |
यशस्विनी वामकर्णे चानने वाप्यलम्बुषा || २१ ||
dakṣiṇe hasti-jihvā ca pūṣā karṇe ca dakṣiṇe |
yaśasvinī vāma-karṇe cānane vāpy alambuṣā || 21 ||
dakshine hasti-jihva cha pusha karne cha dakshine |
yashasvini vama-karne chanane vapy alambusha || 21 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dakṣiṇe : (endet) im rechten (Auge, Dakshina)
hasti-jihvā : Hastijihva
ca : und (Cha)
pūṣā : Pusha
karṇe : Ohr (Karna)
ca : und
dakṣiṇe : im rechten
yaśasvinī : Yashasvini
vāma-karṇe : im linken (Vama) Ohr
ca : und
ānane : im Mund (Anana)
 : schließlich ("oder", Va)
api : auch (Api)
alambuṣā : Alambusha

Vers 22: Kuhu und Shankhini

Kuhu endet im Bereich des männlichen Gliedes, und Shankhini im Bereich des Wurzelzentrums (Anus). Auf diese Weise führen die zehn feinstofflichen Energiekanäle (Nadi) zu ihren jeweiligen Körperöffnungen.


कुहूश्च लिङ्गदेशे तु मूलस्थाने च शङ्खिनी |
एवं द्वारमुपाश्रित्य तिष्ठन्ति दश नाडिकाः || २२ ||
kuhūś ca liṅga-deśe tu mūla-sthāne ca śaṅkhinī |
evaṃ dvāram upāśritya tiṣṭhanti daśa nāḍikāḥ || 22 ||
kuhush cha linga-deshe tu mula-sthane cha shankhini |
evam dvaram upashritya tishthanti dasha nadikah || 22 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kuhūḥ : Kuhu
ca : und (Cha)
liṅga-deśe : (endet) im Bereich (Desha) des männlichen Gliedes (Linga)
tu : aber, wiederum (Tu)
mūla-sthāne : (endet) im Bereich des Wurzelzentrums (Mulasthana)
ca : und
śaṅkhinī : Shankhini
evam : so, auf diese Weise (Evam)
dvāram : zu der (jeweiligen) Körperöffnung ("Tür", Dvara)
upāśritya : indem sie hinführen ("sich begeben habend", upa + ā + śri)
tiṣṭhanti : existieren (sthā)
daśa : die zehn (Dasha)
nāḍikāḥ : feinstofflichen Energiekanäle, Nerven (Nadika)

Anmerkungen: Der Ursprung (Yoni) aller Nadis liegt laut Vers 16 im Kanda, von wo aus sie sich verzweigen und zu ihren jeweiligen Organen oder Körperöffnungen (Dvara) führen. In Vers 20 bis 21 werden die entsprechenden Nadis mit ihrem jeweiligen Zielorgan rechtes bzw. linkes Auge, rechtes bzw. linkes Ohr sowie der Mund aufgeführt. Daher liegt es nahe, das Kuhu im Bereich des Penis (Linga), d.h. in der Harnröhre endet, und Shankhini im Bereich des Anus. So heißt es auch in der Shiva Samhita (2.29), dass die einzelnen Nadis zum Penis (Medhra), Anus (Payu) usw. führen (dort wird als deren Ursprung allerdings nicht der Kanda, sondern Muladhara genannt).

Mit mūla-sthāne "im Bereich der Wurzel" ist wohl parallel zum Anus (vgl. guda-sthāne "im Bereich des Afters" in Vers 11) zugleich das Muladhara Chakra gemeint. Der Ausdruck liṅga-deśe "im Bereich des Penis" verweist möglicherweise auch auf das Svadhishthana Chakra (vgl. Vers 14 nebst Anm.). Aufgrund der notwendigerweise äußerst knappen Ausdrucksweise würde dann einmal mit einem Körperteil (liṅga-deśe, "Penisgegend") auf das dazugehörige Energiezentrum (Svadhishthana) verwiesen, und umgekehrt mit einem Chakra (mūla-sthāne) auf den damit in Verbindung stehenden Körperbereich (Anus).

Vers 23: Ida, Pingala und Sushumna

Drei dieser feinstofflichen Energiekanäle (Nadi), die fortwährend die Lebensenergie (Prana) transportieren, werden besonders gepriesen: Ida, Pingala und Sushumna. Ihre jeweiligen Gottheiten sind der Mond, die Sonne und das Feuer.


सततं प्राणवाहिन्यः सोमसूर्याग्निदेवताः |
इडापिङ्गलासुषुम्णास्तिस्रो नाड्य उदाहृताः || २३ ||
satataṃ prāṇa-vāhinyaḥ soma-sūryāgni-devatāḥ |
iḍā-piṅgalā-suṣumṇās tisro nāḍya udāhṛtāḥ || 23 ||
satatam prana-vahinyah soma-suryagni-devatah |
ida-pingala-sushumnas tisro nadya udahritah || 23 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

satatam : fortwährend, stets (Satata)
prāṇa-vāhinyaḥ : die die Lebensenergie ("den Lebensatem", Prana) mit sich führen, transportieren (Vahin)
soma-sūryāgni-devatāḥ : (deren) Gottheiten (Devata) der Mond (Soma), die Sonne (Surya) und das Feuer (Agni) sind
iḍā-piṅgalā-suṣumṇāḥ : Ida, Pingala und Sushumna
tisraḥ : die drei (Tri)
nāḍyaḥ : feinstofflichen Energiekanäle, Nerven (Nadi)
udāhṛtāḥ : werden gepriesen ("erwähnt", Udahrita)

Vers 24: Die zehn Haupt- bzw. Neben-Vayus

Prana, Apana, Samana, Udana und Vyana, sowie Naga, Kurma, Krikara, Devadatta und Dhananjaya (sind die Haupt- bzw. Neben-Vayus).


प्राणापानौ समानश्च ह्य् उदानो व्यान एव च |
नागः कूर्मश्च कृकरो देवदत्तो धनञ्जयः || २४ ||
prāṇāpānau samānaś ca hy udāno vyāna eva ca |
nāgaḥ kūrmaś ca kṛkaro deva-datto dhanañ-jayaḥ || 24 ||
pranapanau samanash cha hy udano vyana eva cha |
nagah kurmash cha krikaro deva-datto dhanan-jayaḥ || 24 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇāpānau : Prana ("Atem, Lebenshauch, Leben") und Apana
samānaḥ : Samana
ca : und (Cha)
hi : gewiss (Hi)
udānaḥ : Udana
vyānaḥ : Vyana
eva : ebenso ("so", Eva)
ca : und
nāgaḥ : Naga ("Schlange, Schlangendämon")
kūrmaḥ : Kurma ("Schildkröte")
ca : und
kṛkaraḥ : Krikara ("Rebhuhn")
deva-dattaḥ : Devadatta ("der Gottgegebene")
dhanañ-jayaḥ : Dhananjaya ("der Reichtümer gewinnt")

Vers 25: Die zehn Haupt- bzw. Neben-Vayus

Die fünf Naga usw. genannten und die fünf Prana usw. genannten Neben- bzw. Haupt-Vayus (Lebenswinde) zirkulieren in Form der Lebenskräfte in den Tausenden von feinstoffliche Energiekanälen (Nadi).


नागाद्याः पञ्च विख्याताः प्राणाद्याः पञ्च वायवः |
एते नाडिसहस्रेषु वर्तन्ते जीवरूपिणः || २५ ||
nāgādyāḥ pañca vikhyātāḥ prāṇādyāḥ pañca vāyavaḥ |
ete nāḍi-sahasreṣu vartante jīva-rūpiṇaḥ || 25 ||
nagadyah pancha vikhyatah pranadyah pancha vayavah |
ete nadi-sahasreshu vartante jiva-rupinah || 25 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nāgādyāḥ : Naga usw. (Adya)
pañca : fünf (Pancha)
vikhyātāḥ : genannten, bekannten (Vikhyata)
prāṇādyāḥ : Prana usw.
pañca : fünf
vāyavaḥ : Körperwinde, Lebenswinde ("Winde", Vayu)
ete : diese (Etad)
nāḍi-sahasreṣu : in den Tausenden (Sahasra) von feinstoffliche Energiekanälen, Nerven (Nadi)
vartante : befinden sich, fließen, verlaufen (vṛt)
jīva-rūpiṇaḥ : in Form, Gestalt (Rupin) des Lebens (Jiva)

Anmerkung: Mit "Naga usw." (nāgādyāḥ) und "Prana usw." (prāṇādyāḥ) werden hier die in Vers 24 einzeln aufgezählten jeweils fünf Neben- bzw. Haupt-Vayus zusammengefasst.

Vers 26: Das Lebensprinzip (Jiva), Prana und Apana

Weil das Lebensprinzip (Jiva) sich in der Gewalt von Prana und Apana befindet, bewegt es sich entlang der linken und rechten Energiebahn abwärts und aufwärts. Aufgrund seiner Unstetheit wird es nicht wahrgenommen.


प्राणापानवशो जीवो ह्यधश्चोर्ध्वं च धावति |
वामदक्षिणमार्गेण चञ्चलत्वान्न दृश्यते || २६ ||
prāṇāpāna-vaśo jīvo hy adhaś cordhvaṃ ca dhāvati |
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa cañcalatvān na dṛśyate || 26 ||
pranapana-vasho jivo hy adhash chordhvam cha dhavati |
vama-dakshina-margena chanchalatvan na drishyate || 26 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇāpāna-vaśaḥ : in der Gewalt (Vasha) von Prana und Apana
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
hi : gewiss, weil (Hi)
adhaḥ : nach unten (Adhas)
ca : und (Cha)
ūrdhvam : nach oben (Urdhva)
ca : und
dhāvati  : bewegt sich ("läuft", dhāv)
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa : entlang des linken (Vama) und rechten (Dakshina) Pfades (Marga)
cañcalatvāt : aufgrund seiner Unstetheit, Beweglichkeit (Chanchalatva)
na : nicht (Na)
dṛśyate : es wird wahrgenommen, bemerkt ("gesehen", dṛś)

Vers 27: Das Lebensprinzip (Jiva), Prana und Apana

So wie ein Ball, der mit einem Stock gegen den Boden geschleudert wird, wieder aufspringt, genauso wird das von Prana und Apana bewegte Lebensprinzip (Jiva) von diesen beiden hin und her gezogen.


आक्षिप्तो भुवि दण्डेन यथोच्चलति कन्दुकः |
प्राणापानसमाक्षिप्तस्तथा जीवोऽनुकृष्यते || २७ ||
ākṣipto bhuvi daṇḍena yathoccalati kandukaḥ |
prāṇāpāna-samākṣiptas tathā jīvo'nukṛṣyate || 27 ||
akshipto bhuvi dandena yathocchalati kandukah |
pranapana-samakshiptas tatha jivo'nukrishyate || 27 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ākṣiptaḥ : der geworfen, geschleudert wird ("geworfen wurde", Akshipta)
bhuvi : auf die Erde, gegen den Boden (Bhu)
daṇḍena : mit einem Stock (Danda)
yathā : so wie (Yatha)
uccalati : aufspringt, zurückprallt (ud + cal)
kandukaḥ : ein Ball, Spielball (Kanduka)
prāṇāpāna-samākṣiptaḥ : das von Prana und Apana geworfen, heftig bewegt wird wird ("geworfen wurde", Samakshipta)
tathā : genauso (Tatha)
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
anukṛṣyate : wird hinterhergezogen, angezogen (anu + kṛṣ)

Vers 28: Das Lebensprinzip (Jiva) und die Gunas

So wie ein mit einem Strick angebundener Falke wieder herangezogen wird, wenn er weggeflogen ist, genauso wird das Lebensprinzip (Jiva), solange es an die Stricke (Guna) der Urnatur gebunden ist, von Prana und Apana hin und her gezogen.


रज्जुबद्धो यथा श्येनो गतोऽप्याकृष्यते पुनः |
गुणबद्धस्तथा जीवः प्राणापानेन कृष्यते || २८ ||
rajju-baddho yathā śyeno gato'py ākṛṣyate punaḥ |
guṇa-baddhas tathā jīvaḥ prāṇāpānena kṛṣyate || 28 ||
rajjubaddho yatha shyeno gato'py akrishyate punah |
guna-baddhas tatha jivah pranapanena krishyate || 28 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

rajju-baddhaḥ : ein mit einem Strick (Rajju) angebundener (Baddha)
yathā : so wie (Yatha)
śyenaḥ : Falke (Shyena)
gataḥ : (wenn) er weggeflogen ist ("weggegangen", Gata)
api : auch, sogar (Api)
ākṛṣyate : herangezogen, mit sich fortgezogen wird (ā + kṛṣ)
punaḥ : wieder (Punar)
guṇa-baddhaḥ : (wenn) es an die Stricke (der Urnatur, Guna) gebunden (Baddha) ist
tathā : genauso (Tatha)
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
prāṇāpānena : von Prana und Apana
kṛṣyate : wird (hin und her) gezogen (kṛṣ)

Anmerkung: Der Vergleich zielt auf einen Jagdfalken ab, den der Falkner an einer Leine hält. Die Gunas sind Tamas, Rajas und Sattva, die drei Bestandteile bzw. "Eigenschaften" der Urnatur (Prakriti). Das Wort guṇa bedeutet auch "Schnur, Strick".

Vers 29: Prana und Apana

Der Apana zieht den Prana, und der Prana zieht den Apana. Wer diese beiden, die sich jeweils oben und unten befinden, kennt, der ist ein Kenner des Yoga.


अपानः कर्षति प्राणं प्राणोऽपानं च कर्षति |
ऊर्ध्वाधः संस्थितावेतौ यो जानाति स योगवित् || २९ ||
apānaḥ karṣati prāṇaṃ prāṇo'pānaṃ ca karṣati |
ūrdhvādhaḥ saṃsthitāv etau yo jānāti sa yoga-vit || 29 ||
apanah karshati pranam prano'panam cha karshati |
urdhvadhah samsthitav etau yo janati sa yoga-vit || 29 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

apānaḥ : der Apana
karṣati : zieht (kṛṣ)
prāṇam : den Prana
prāṇaḥ : der Prana
apānam : den Apana
ca : und (Cha)
karṣati : zieht
ūrdhvādhaḥ : oben (Urdhva) und (Unten)
saṃsthitau : befindlichen, gelegenen (Samsthita)
etau : diese beiden (Etad)
yaḥ : wer (Yad)
jānāti : kennt, weiß (jñā)
saḥ : der (Tad)
yoga-vit : (ist) ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Vers 30: Sitz der Kundali

Oberhalb des Kanda liegt Kundali, die Schlangenkraft. Achtfach geringelt, verschließt sie mit ihrem Maul stets die Öffnung des Tors zum Brahman.


कन्दोर्ध्वे कुण्डली शक्तिरष्टधा कुण्डलीकृता |
ब्रह्मद्वारमुखं नित्यं मुखेनावृत्य तिष्ठति || ३० ||
kandordhve kuṇḍalī śaktir aṣṭa-dhā kuṇḍalī-kṛtā |
brahma-dvāra-mukhaṃ nityaṃ mukhenāvṛtya tiṣṭhati || 30 ||
kandordhve kundali shaktir ashta-dha kundali-krita |
brahma-dvara-mukham nityam mukhenavritya tishthati || 30 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kandordhve : oberhalb (Urdhva) des Kanda
kuṇḍalī : die Kundali
śaktiḥ : die Kraft, Energie (Shakti)
aṣṭa-dhā : achtfach (Ashtadha)
kuṇḍalī-kṛtā : geringelt, in Kreise gelegt (Kundalikrita)
brahma-dvāra-mukham : die Öffnung, den Eingang (Mukha) des Tors zum Brahman, zum Absoluten (Brahmadvara)
nityam : immer, stets (Nitya)
mukhena : mit dem Maul (Mukha)
āvṛtya : verdeckend, verschließend (ā + vṛt)
tiṣṭhati : liegt ("befindet sich", sthā)

Anmerkungen: Kundali ist ein Synonym für Kundalini, die von den Yogis als "Schlangenkraft" verehrte Form der kosmischen Energie (Shakti). Sie wird hier als achtfach geringelt beschrieben, während es in der Shiva Samhita (2.23) sowie der Gheranda Samhita (3.49) heißt, sie sei dreieinhalbfach gewunden: sārdha-tri-karā kuṭilā suṣumṇā-mārga-saṃsthitā "dreieinhalbfach gewunden (Kutila), befindet sich (Kundali) an der Bahn (Marga) der Sushumna" (ShS 2.23).

mūlādhāra ātma-śaktiḥ kuṇḍalī para-devatā |
śayitā bhujagākārā sārdha-tri-valayānvitā || 3.49 ||

"Am Muladhara liegt die Kundali, die Energie (Shakti) des Selbst (Atman), die höchste Gottheit (Paradevata), in Form (Akara) einer Schlange (Bhujaga) mit dreieinhalb Windungen (Valaya)." (GhS 3.49)

Interessant ist, dass in der Gheranda Samhita der Sitz der Kundalini im Bereich des Muladhara Chakra angesiedelt wird, während es in der Hatha Yoga Pradipika (3.107-108) im Einklang mit dem Goraksha Shataka heißt: kandordhve kuṇḍalī śaktiḥ suptā ... kuṭilākarā sarpa-vat "Oberhalb des Kanda schläft (Supta) die Energie namens Kundali ... in gewundener Form, wie eine Schlange (Sarpa)" (Hatha Yoga Pradipika 3.107-108). Allerdings kann Muladhara auch "Nabel" bedeuten (in der GhS steht an dieser Stelle kein Wort im Sinne von Chakra) - dann befände sich der Sitz der Kundalini in der Nabelgegend (mūlādhāre), was wiederum dem Ausdruck "oberhalb des Kanda" (kandordhve), der "oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels" liegt (vgl. Vers 16), entspräche.

Für den Sitz der Kundalini in der Nabelgegend spricht eindeutig auch die Shandilya Upanishad (1.4.8), eine weitere Yoga Upanishad, die sowohl den Sitz der Individualseele bzw. des "Lebensprinzips" (Jiva), des Prana und der Kundalini im Nabelzentrum (Nabhichakra) verortet: "Der Sitz der Kundalini (Kundalinisthana) ist auf der Höhe des Nabels (Nabhi), unter und über ihm" (nābhes tiryag adhordhvaṃ kuṇḍalinī-sthānam). Der Text bezieht sich im folgenden mit nahezu denselben Worten wie das Goraksha Shataka auf das achtfache Geringeltsein der Kundalini: "Die (Schlangen-)Kraft (Shakti) ist gemäß ("in Form", Rupa) ihrer acht(fachen) Natur (Prakriti) achtfach (Ashtadha) geringelt" (aṣṭa-prakṛti-rūpā'aṣṭa-dhā kuṇḍalī-kṛtā śaktir bhavati).

Und schließlich wird auch im Yoga Yajnavalkya, einem weiteren autoritativen Text des Hatha Yoga, der Sitz der Kundalini mit fast demselben Wortlaut im Bereich des Nabelzentrums angegeben (YY 4.21):

tasyordhvaṃ kuṇḍalinī-sthānaṃ nābhes tiryag athordhvataḥ |
aṣṭa-prakṛti-rūpā sā aṣṭa-dhā kuṇḍalī-kṛtā || 3.49 ||

"Oberhalb des (Nabelzentrums) ist der Sitz der Kundalini (Kundalinisthana), um den Nabel (Nabhi) herum und darüber." Gemäß ("in Form", Rupa) ihrer acht(fachen) Natur (Prakriti) ist sie achtfach (Ashtadha) geringelt (YY 4.21).

Die allgemein verbreitete Ansicht ist heute jedoch die, dass sich die Kundalini im Muladhara Chakra befindet. So heißt es in der Shiva Samhita (2.21-23), die Kundali sitze im Adhara genannten Lotus (Padma), der sich zwei Fingerbreit (Angula) oberhalb des Anus (Guda) und zwei Fingerbreit unterhalb des männlichen Glieds (Medhra) befindet.

Mit "Öffnung des Tors zum Brahman" (brahma-dvāra-mukham) ist die untere Öffnung der Sushumna gemeint, die von der Kundalini verdeckt wird, solange sie "schläft". In der Gheranda Samhita (3.51) heißt es in diesem Zusammenhang: kuṇḍalinyāḥ prabodhena brahma-dvāraṃ vibhedayet "Durch das Erwecken (Prabodha) der Kundalini soll man das Tor zum Brahman öffnen".

Vers 31: Erweckung der Kundali

Ist die Kundali durch den Kontakt mit dem (inneren) Feuer erwacht, indem sie willentlich vermittels des Atems in Bewegung gesetzt wurde, wandert sie mit dem Lebensprinzip (Jiva-Guna, "Lebensfaden") entlang der Sushumna aufwärts.


प्रबुद्धा वह्नियोगेन मनसा मारुताहता |
प्रजीवगुणमादाय व्रजत्यूर्ध्वं सुषुम्णया || ३१ ||
prabuddhā vahni-yogena manasā mārutāhatā |
prajīva-guṇam ādāya vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā || 31 ||
prabuddha vahni-yogena manasa marutahata |
prajiva-gunam adaya vrajaty urdhvam sushumnaya || 31 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prabuddhā : (ist die Kundali) erwacht (Prabuddha)
vahni-yogena : durch den Kontakt (Yoga) mit dem (inneren) Feuer (Vahni)
manasā : willentlich, mit dem Willen (Manas)
mārutāhatā : vermittels des Atems ("Wind", Maruta) angestoßen, in Bewegung gesetzt (Ahata)
prajīva-guṇam lies sā jīva-guṇam ? (s. Anm.)
: sie (Tad)
jīva-guṇam: dem Seelen-Faden (Jiva-Guna)
ādāya : mit ("genommen habend", Adaya)
vrajati : bewegt sich, wandert (vraj)
ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
suṣumṇayā : entlang der Sushumna

Anmerkungen: Der erste Halbvers beschreibt in aller Kürze das Erwecken der Kundalini durch den "Kontakt mit dem Feuer (Agni)" und durch das "Anstoßen mit dem Atem". In diesem Zusammenhang sind zwei Verse aus der Hathayoga Pradipika (3.115-16) interessant, in denen die Erweckung der Kundalini durch die Atemtechnik Bhastrika und eine weitere Technik, die an Agnisara erinnert, gelehrt wird (Hatha Yoga Pradipika 3.115-16):

vajrāsane sthito yogī cālayitvā ca kuṇḍalīm |
kuryād anantaraṃ bhastrāṃ kuṇḍalīm āśu bodhayet || 3.115 ||
bhānor ākuñcanaṃ kuryāt kuṇḍalīṃ cālayet tataḥ ... || 3.116 ||

"Der Yogi, der sich in Vajrasana befindet und die Kundali in Bewegung gesetzt hat, führe kontinuierlich Bhastrika (Bhastra) aus. So kann er die Kundali rasch erwecken. Danach praktiziere er das Zusammenziehen (Akunchana) der Sonne (Bhanu, d.h. das Einziehen des Bauches) und bewege die Kundali dadurch weiter ..." (HYP 3.115-16)

Im übernächsten Vers (HYP 3.118) wird erklärt, das der Prana dann in die Sushumna eintritt (Hatha Yoga Pradipika 3.118):

tena kuṇḍalinī tasyāḥ suṣumṇāyā mukhaṃ dhruvam |
jahāti tasmāt prāṇo'yaṃ suṣumṇāṃ vrajati svataḥ || 3.118 ||

"Dadurch verlässt die Kundalini gewiss den Eingang (Mukha) der Sushumna. Danach tritt die Lebensenergie (Prana) von selbst in die Sushumna ein." (HYP 3.118)

Aus dem Gesamtkontext ist klar, das das Lebensprinzip (Jiva bzw. Prana) durch die Erweckung der Kundalini in die Sushumna eintritt und durch diese nach oben geleitet wird. So heißt es auch in Gheranda Samhita 3.39:

caitanyam ānayed devīṃ nidritā yā bhujaṅginī |
jīvena sahitāṃ śaktiṃ samutthāpya parāmbuje || 3.39 ||

"Man führe diese Energie (Shakti), die Göttin (Devi), nachdem man sie, die (zusammengerollt wie) eine Schlange (Bhujangini) schläft, erweckt hat, zusammen mit dem Lebensprinzip (Jiva) zum höchsten Bewusstsein (Chaitanya) im höchsten (Para) Lotus (Ambuja, dem Scheitel- bzw. Sahasrara Chakra)." (GhS 3.39)

Noch eine textkritische Anmerkung zur problematischen Lesung prajīva-guṇam ādāya, die von den Editoren des Goraksha Shataka aus den Handschriften übernommen wurde. Der Begriff prajīva, der in der Edition unübersetzt bleibt, ist weder in den Wörterbüchern belegt, noch in anderen Sanskrittexten zu finden. In der Yogachudamani Upanishad, die diesen Vers nahezu identisch überliefert, lautet es in Vers 39 sūcī-vad gātram ādāya, was soviel heißt wie "mit einem Körper (Gatra) wie eine Nadel (Suchi)", was vermutlich auf das "Durchstechen" der einzelnen Chakras bzw. Granthis verweist. Einige Handschriften des Goraksha Shataka lesen laut kritischem Apparat ganz ähnlich: sūcīva guṇam ādāya, was auch der Lesung in Vers 48 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati entspricht und hieße "wie (Iva) eine Nadel (Suchi) mit einem Faden (Guna)". Dies scheint auf das "Einfädeln" des Jiva bzw. Prana in die Sushumna hinzuweisen und stellt vielleicht die ursprünglichste Lesart dar, umso mehr, als sie durch die Lesung sūcī-vad guṇam ādāya in Vers 49 der 2. Version des Goraksha Shataka sowie Yoga Tarangini Tika 1.49 gestützt wird.

Da es hier wie gesagt um Jiva, das Lebensprinzip (das auch im Sinne von Prana verwendet wird) geht, wie die angeführten Parallelstellen anderer Yogatexte nahelegen, erscheint die Lesung sā jīva-guṇam ādāya zumindest denkbar. Das wörtlich mit "Lebensfaden" wiederzugebende jīva-guṇam greift vielleicht das Beispiel aus Vers 28 wieder auf, wo es heißt, das der Jiva von Prana und Apana gezogen wird wie ein Falke, der an einen Strick angebunden ist.

Vers 32: Mudras und Bandhas

Derjenige Yogi, der Mahamudra, Nabhomudra, Uddiyana Bandha, Jalandhara Bandha und Mula Bandha kennt, wird ein Gefäß für die übernatürlichen Fähigkeiten (Siddhi).


महामुद्रां नभोमुद्रामुड्डियानं जलन्धरम् |
मूलबन्धं च यो वेत्ति स योगी सिद्धिभाजनम् || ३२ ||
mahā-mudrāṃ nabho-mudrām uḍḍiyānaṃ jalandharam |
mūla-bandhaṃ ca yo vetti sa yogī siddhi-bhājanam || 32 ||
maha-mudram nabho-mudram uddiyanam jalandharam |
mula-bandham cha yo vetti sa yogi siddhi-bhajanam || 32 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

mahā-mudrām : Mahamudra (Maha Mudra)
nabho-mudrām : Nabhomudra (Nabho Mudra)
uḍḍiyānam : Uddiyana (Uddiyana Bandha)
jalandharam : Jalandhara (Jalandhara Bandha)
mūla-bandham : Mulabandha (Mula Bandha)
ca : und (Cha)
yaḥ : wer (Yad)
vetti : kennt (vid)
saḥ : dieser (Tad)
yogī : Yogi (Yogin)
siddhi-bhājanam : (wird) ein Gefäß (Bhajana) für die übernatürlichen Fähigkeiten, mystischen Kräfte (Siddhi)

Anmerkungen: Diese Aufzählung der Mudras und Bandhas erscheint in der gleichen Reihenfolge in der Gheranda Samhita (3.1), wo sie noch um Maha Bandha, Mahavedha und Khechari erweitert wird. In den Versen 3.2-3 der Gheranda Samhita werden weitere Mudras aufgeführt, so dass ihre Zahl dort insgesamt 25 erreicht: pañca-viṃśati-mudrāś ca siddhidā iha yoginām "... sind die 25 Mudras, die hier (gelehrt werden und) den Yogis übernatürliche Fähigkeiten (Siddhi) verleihen".

In der Hatha Yoga Pradipika 3.6-7 werden die folgenden zehn Mudras (Mudra-Dashaka) aufgezählt: Mahamudra, Mahabandha, Mahavedha, Khechari Mudra, Uddiyana Bandha, Mula Bandha, Jalandhara Bandha, Viparita Karani, Vajroli und Shaktichalana. Dieselben werden, in etwas veränderter Reihenfolge, in der Shiva Samhita (4.23-24) genannt. Diese verleihen die acht Siddhis, die auch als Aishvaryas bekannt sind (Hatha Yoga Pradipika 3.8). Brahmananda, der Kommentator der HYP, zählt diese auf und erklärt ihre Wirkungen. Es sind Animan, Mahiman, Gariman, Laghiman, Prapti, Prakamya, Ishita und Vashitva.

Vers 33: Maha Mudra

Man presse mit der linken Ferse kontinuierlich den Beckenboden und halte den ausgestreckten rechten Fuß mit beiden Händen. Man drücke das Kinn an die Brust, nachdem man eingeatmet hat, (halte den Atem an und) setze Jalandhara Bandha und Mula Bandha, und atme (ohne Bandhas) langsam aus. Dies wird das Große Siegel (Maha Mudra) genannt, das die Sünden der Menschen vernichtet.


वक्षोन्यस्तहनुर्निपीड्य सुचिरं योनिं च वामाङ्घ्रिणा
हस्ताभ्यामवधारितं प्रसरितं पादं तथा दक्षिणम् |
आपूर्य श्वसनेन कुक्षियुगलं बद्ध्वा शनै रेचये-
देषा पातकनाशिनी सुमहती मुद्रा नृणां प्रोच्यते || ३३ ||
vakṣo-nyasta-hanur nipīḍya su-ciraṃ yoniṃ ca vāmāṅghriṇā
hastābhyām avadhāritaṃ prasaritaṃ pādaṃ tathā dakṣiṇam |
āpūrya śvasanena kukṣi-yugalaṃ baddhvā śanai recayed
eṣā pātaka-nāśinī su-mahatī mudrā nṛṇāṃ procyate || 33 ||
vaksho-nyasta-hanur nipidya su-chiram yonim cha vamanghrina
hastabhyam avadharitam prasaritam padam tatha dakshinam |
apurya shvasanena kukshi-yugalam baddhva shanai rechayed
esha pataka-nashini su-mahati mudra nrinam prochyate || 33 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vakṣo-nyasta-hanuḥ : das Kinn (Hanu) auf die Brust (Vakshas) gedrückt (Nyasta)
nipīḍya : indem man presst ("gepresst habend", ni + pīḍ)
su-ciram : lange, kontinuierlich ("sehr lange", Suchira)
yonim : den Beckenboden, das Perineum (Yoni)
ca : und (Cha)
vāmāṅghriṇā : mit der linken (Vama) Ferse ("Fuß", Anghri)
hastābhyām : mit beiden Händen (Hasta)
avadhāritam : haltend, ergreifend ("ergriffen", Avadharita)
prasaritam : den ausgestreckten (Prasarita)
pādam : Fuß (Pada)
tathā : und ("ebenso", Tatha)
dakṣiṇam : rechten (Dakshina)
āpūrya : nachdem man (die Lungen) gefüllt hat ("gefüllt habend", ā + pṛ/pṝ)
śvasanena : mit dem Atem (Shvasana)
kukṣi-yugalam : die beiden (Yugala) Körperöffnungen ("Höhlungen", Kukshi)
baddhvā : (und) nachdem man verschlossen hat ("gebunden habend", badh)
śanaiḥ : langsam (Shanais)
recayet : man atme aus (ric)
eṣā : das (Etad)
pātaka-nāśinī : die Sünden ("Verbrechen", Pataka) vernichtende (Nashin)
su-mahatī : das überaus machtvolle (Sumahat)
mudrā : Siegel (Mudra)
nṛṇām : der Menschen (Nri)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkungen: Mahamudra, das "große Siegel", wird hier su-mahatī mudrā "das überaus machtvolle Siegel" genannt. Eine weitere Bedeutung von Mudra ist "Verschluss, Schloss", was auf die Verbindung mit den Bandhas wie Jalandhara Bandha ("Kehl-Verschluss") usw. hinweist.

Der Wortlaut āpūrya śvasanena kukṣi-yugalaṃ baddhvā śanai recayet im dritten Pada kann in zweierlei Weise verstanden werden: Entweder konstruiert man das Absolutivum āpūrya "gefüllt habend, füllend" mit kukṣi-yugalam "die zwei Höhlungen" (was im Sinne eines Duals einfach "Bauch" bedeutet), dann hieße es: "Nachdem man den Bauch mit Atem gefüllt hat, halte man (die Luft) an, und atme langsam aus." Man kann kukṣi-yugalam aber auch mit dem Absolutivum baddhvā "zubindend, verschließend" konstruieren, was hieße, dass die "zwei Höhlungen bzw. Körperöffnungen" (d.h. Kehle und Anus) verschlossen werden sollen, also dass zwei Bandhas gesetzt werden sollen: "Nachdem man eingeatmet hat, setze man die beiden Bandhas (wobei die Luft angehalten wird), und atme langsam aus".

Der erste Bandha ist Jalandhara Bandha, wobei das Kinn an die Brust gedrückt (vakṣo-nyasta-hanuḥ) und somit die Kehle bzw. Luftröhre verschlossen wird. Das Setzen von Jalandhara Bandha im Zusammenhang mit Mahamudra wird einhellig in der Shiva Samhita (4.17), der Hatha Yoga Pradipika (3.11), sowie der Gheranda Samhita (3.7) gelehrt. Nur in der HYP (3.11) wird indirekt auf einen zweiten Bandha, nämlich Mula Bandha (das Kontrahieren des Beckenbodens und Verschließen des Anus) verwiesen, wie Brahmananda, der Kommentator der HYP, nahelegt: der Ausdruck dhārayed vāyum ūrdhvataḥ "man ziehe den Lebenshauch (Vayu) nach oben" bedeute, diesen durch das Setzen von Mula Bandha in die Sushumna zu ziehen: vāyuṃ … suṣumnāyāṃ dhārayet; anena mūla-bandhaḥ sūcitaḥ.

Die Hatha Yoga Pradipika (3.15) fügt hinzu, dass danach Mahamudra seitenvertauscht (d.h. mit dem ausgestreckten linken Bein) für dieselbe Dauer erneut praktiziert werden soll. In der Gheranda Samhita (3.7) wir zusätzlich die Konzentration des Blickes auf die Mitte (Madhya) der Brauen (Bhru), also das "dritte Auge", empfohlen: bhruvor madhye nirīkṣayet.

Vers 34: Khechari Mudra

Die zurückgebogene Zunge wird in den Nasenrachenraum eingeführt, und der Blick wird zwischen die Brauen gerichtet. Dies ist Khechari Mudra.


कपालकुहरे जिह्वा प्रविष्टा विपरीतगा |
भ्रुवोरन्तर्गता दृष्टिर्मुद्रा भवति खेचरी || ३४ ||
kapāla-kuhare jihvā praviṣṭā viparītagā |
bhruvor antar-gatā dṛṣṭir mudrā bhavati khe-carī || 34 ||
kapala-kuhare jihva pravishta viparitaga |
bhruvor antar-gata drishtir mudra bhavati khe-chari || 34 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kapāla-kuhare : in die Höhlung (Kuhara) des Schädels (Kapala)
jihvā : Zunge (Jihva)
praviṣṭā : (wird) eingeführt (Pravishta)
viparītagā : die zurückgebogene (Viparitaga)
bhruvoḥ : beide Brauen (gerichtet, Bhru)
antar-gatā : zwischen ("im Innern befindlich", Antargata)
dṛṣṭiḥ : der Blick (Drishti)
mudrā : (dieses) Siegel (Mudra)
bhavati : ist (bhū)
khe-carī : Khechari

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.32) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 52) überliefert, gleichfalls in der Gheranda Samhita (3.27) in nahezu identischer Form.

Mit der "Höhlung des Schädels" (kapāla-kuhara) ist der Nasenrachenraum (Nasopharynx) gemeint, der hinter Gaumensegel und Gaumenzäpfchen liegt. Da die Zunge normalerweise nicht die nötige Länge hat, diese Höhlung zu verschließen, empfehlen Gheranda Samhita (3.25-26) und Hatha Yoga Pradipika (3.33-36) verschiedene Methoden zur Verlängerung derselben, bis sie so lang ist, dass sie bis zur Mitte (Madhya) zwischen beiden Augenbrauen (Bhru) reicht: yāvad gacched bhruvor madhye (GhS 3.26).

Die Bezeichnung khe-carī bedeutet wörtlich "die im Luftraum (Kha) wandelnde (car)". In der Hatha Yoga Pradipika (3.37) wird auch der alternative Name Vyomachakra "Himmelsrad, Ätherkreis" für Khechari Mudra genannt: sā bhavet khecarī mudrā vyoma-cakraṃ tad ucyate.

Eigentlich sollte gemäß der Aufzählung der Mudras und Bandhas in Vers 32 an dieser Stelle Nabho Mudra, das "Himmels-Siegel" beschrieben werden, statt dessen wird jedoch Khechari Mudra gelehrt, das wiederum in der Aufzählung in Vers 32 fehlt. Bei beiden Mudras handelt es sich um ein Zurückbiegen der Zunge. Dass es sich tatsächlich um zwei verschiedene Varianten handelt, zeigt die Gheranda Samhita (3.9), die beide Mudras einzeln aufführt und lehrt. Nabho Mudra wird dort wie folgt definiert:

yatra yatra sthito yogī sarva-kāryeṣu sarvadā |
ūrdhva-jihvaḥ sthiro bhūtvā dhārayet pavanaṃ sadā |
nabho-mudrā bhaved eṣā yogināṃ roga-nāśinī || 3.9 ||

"Wo auch immer sich der Yogi befindet Sthita), bei allen Tätigkeiten Karya), jederzeit, werde er (innerlich) bewegungslos (Sthira), mit nach oben gerichteter (Urdhva) Zunge (Jihva), und halte kontinuierlich den Atem (Pavana) an. Dies ist Nabho Mudra, die Vernichterin der Krankheiten (Roga) der Yogis." (GhS 3.9)

Nabho Mudra unterscheidet sich somit von Khechari Mudra in erster Linie dadurch, dass keine Anweisung für das Ausrichten des Blickes (Drishti) gegeben wird. Möglicherweise hat die oben erwähnte alternative Bezeichnung von khecarī mudrā - vyoma-cakra "Himmels-Rad" - zu einer Verwechslung oder Gleichsetzung mit nabho-mudrā "Himmels-Siegel" geführt, da Vyoman und Nabhas gleichermaßen "Himmel, Luftraum" bedeuten.

Vers 35: Uddiyana Bandha

Der Bereich oberhalb des männlichen Gliedes und unterhalb des Nabels wird "(Ort des) Auffliegens" genannt. Uddiyana Bandha, der Verschluss, der das Auffliegen kontrolliert, ist wie ein Löwe gegenüber dem Elefanten des Todes.


ऊर्ध्वं मेढ्रादधो नाभेरुड्डियानं प्रचक्षते |
उड्डियानजयो बन्धो मृत्युमातङ्गकेसरी || ३५ ||
ūrdhvaṃ meḍhrād adho nābher uḍḍiyānaṃ pracakṣate |
uḍḍiyāna-jayo bandho mṛtyu-mātaṅga-kesarī || 35 ||
urdhvam medhrad adho nabher uddiyanam prachakshate |
uddiyana-jayo bandho mrityu-matanga-kesari || 35 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhvam : (der Bereich) oberhalb (Urdhva)
meḍhrāt : des Gliedes (Medhra)
adhaḥ : unterhalb (Adhas)
nābheḥ : des Nabels (Nabhi)
uḍḍiyānam  : das Auffliegen (Uddiyana)
pracakṣate : heißt ("ist benannt", pra + cakṣ)
uḍḍiyāna-jayaḥ : der das Auffliegen (Uddiyana) kontrolliert ("besiegt", Jaya)
bandhaḥ : dieser Verschluss (Bandha)
mṛtyu-mātaṅga-kesarī  : (ist wie) ein Löwe (Kesarin, gegenüber) dem Elefanten (Matanga) des Todes (Mrityu)

Anmerkungen: Die zweite Hälfte dieses Verses wird nahezu wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.57) überliefert, gleichfalls in der Gheranda Samhita (3.10) sowie der Shiva Samhita (4.73). In diesen drei Yogatexten wird zudem die Ausführung von Uddiyana Bandha beschrieben, worüber im Goraksha Shataka nichts Genaueres gesagt wird. So heißt es in der Hatha Yoga Pradipika 3.57:

udare paścimaṃ tānaṃ nābher ūrdhvaṃ ca kārayet |
uḍḍīyāno hy asau bandho mṛtyu-mātaṅga-kesarī || 3.57 ||

"Man ziehe den Bauch zurück, und den Nabel nach oben. Dieser Verschluss (namens) Uddiyana Bandha ist wie ein Löwe gegenüber dem Elefanten des Todes." (HYP 3.57)

In der Hatha Yoga Pradipika (3.58-60) wird außerdem gesagt, durch die kontinuierliche Praxis von Uddiyana Bandha werde ein Greis (Vriddha) wieder jung (vṛddho'pi taruṇāyate), innerhalb von sechs Monaten besiege man den Tod (mṛtyuṃ jayaty eva), und die Erlösung (Mukti) werde zum natürlichen Zustand (muktiḥ svābhāvikī bhavet).

Vers 36: Jalandhara Bandha

Wenn Jalandhara Bandha ausgeführt wird, der Verschluss, der durch das Zusammenziehen der Kehle gekennzeichnet ist, fällt der Nektar nicht ins Feuer (der Verdauung), und auch der Lebenshauch (Vayu) wird nicht erregt.


जालन्धरे कृते बन्धे कण्ठसङ्कोचलक्षणे |
न पीयूषं पतत्यग्नौ न च वायुः प्रकुप्यति || ३६ ||
jālandhare kṛte bandhe kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe |
na pīyūṣaṃ pataty agnau na ca vāyuḥ prakupyati || 36 ||
jalandhare krite bandhe kantha-sankocha-lakshane |
na piyusham pataty agnau na cha vayuh prakupyati || 36 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

jālandhare : Jalandhara (das "Festhalten des Netzes, das Auffangen des Wassers")
kṛte : (wenn) ausgeführt wird (Krita)
bandhe : der Verschluss (Bandha)
kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe : der durch das Zusammenziehen (Sankocha) der Kehle (Kantha) gekennzeichnet (Lakshana) ist
na : nicht (Na)
pīyūṣam : der Nektar (Piyusha)
patati : fällt (pat)
agnau : ins Feuer (Agni)
na : nicht
ca : und, auch (Cha)
vāyuḥ : der Lebenshauch ("Wind", Vayu)
prakupyati : wird erregt ("erzürnt", pra + kup)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.72) überliefert. Dort gibt der vorangehende Vers (HYP 3.71) gleich zwei Erklärungen für die Bedeutung der Bezeichnung Jalandhara:

badhnāti hi sirā-jālam adho-gāmi nabho-jalam |
tato jālandharo bandhaḥ kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ || 3.71 ||

"Weil es das Netzwerk (Jala) der (feinstofflichen) Kanäle (Sira) unterbindet, und das herabfließende Wasser (Jala) des Himmels (Nabhas) auffängt, deshalb (heißt es) Jalandhara Bandha. Es ist (ein Mittel zum) Vertreiben einer Menge von Leiden (Duhkha) der Kehle (Kantha)." (HYP 3.71)

Mit dem "Wasser des Himmels" oder "himmlichen Wasser" (nabho-jalam) ist der "Nektar" (Piyusha) gemeint, der aus yogischer Sicht normalerweise vom Gaumen (Talu) bzw. dem "Mond" in das Verdauungsfeuer (Agni) bzw. die "Sonne", das in der Nabelgegend sitzt, hinabtropft und dort verbrennt, was zu Alter und Tod führt (vgl. auch Vers 79 der Version 2 des Goraksha Shataka).

Wo sich "Sonne" und "Mond" im Körper des Yogis befinden, wird in den Versen 57-58 des Goraksha Shataka erklärt, wo die Praxis von Viparita Karani als ein weiteres Mittel gelehrt wird, den herabfließenden "Mondnektar" bzw. "Unsterblichkeitsnektar" (Amrita) zu bewahren.

Die Kontraktion der Kehle in Jalandhara Bandha verhindert somit das Herabtropfen des himmlichen Nektars ins Verdauungsfeuer und wirkt so dem Alterungsprozess entgegen. Die in Hatha Yoga Pradipika 3.71 erwähnte heilsame Wirkung auf Krankheiten des Kehl- und Halsbereichs (s.o.) könnte auch ein Hinweis auf das Verständnis der Aussage des Goraksha Shatakas sein, der "Wind" (Vayu) würde durch Jalandhara Bandha nicht erregt bzw. "erzürnt" (prakupyati): aus ayurvedischer Sicht wird somit der Vata ("Wind") genannte Dosha nicht erregt, d.h. nicht aus dem Gleichgewicht gebracht bzw. besänftigt. Eine Störung von Vata kann sich etwa im Bereich der Atmungsorgane und der Kehle als Krankheit zeigen, Jalandhara Bandha wiederum verhindert oder heilt demnach solche Störungen.

Vayu kann sich zudem auf die Lebensenergie Prana beziehen, deren Verlauf durch Jalandhara Bandha in bestimmten Energiekanälen, insbesondere in Ida und Pingala, gehemmt wird. Hatha Yoga Pradipika 3.73 ist hierzu interessant: kaṇṭha-saṅkocanenaiva dve nāḍyau stambhayed dṛḍham "Allein durch das Kontrahieren (Sankochana) der Kehle (Kantha) unterbreche man dauerhaft die beiden Energiekanäle (Nadi, d.h. Ida und Pingala)".

Erwähnenswert ist noch, das in der Shiva Samhita (4.38) nicht der Gaumen, sondern das Sahasrara Chakra als Quelle bzw. Eintrittspunkt des himmlichen Nektars genannt wird:

nabhi-stha-vahnir jantūnāṃ sahasra-kamala-cyutam |
pibet pīyūṣa-vistāraṃ tad-arthaṃ bandhayed idam || 4.38 ||

"Das im (Bereich des) Nabels (Nabhi) befindliche Feuer (Agni) der Lebewesen (Jantu) trinkt den gesamten Nektar (Piyusha), der von dem tausend(blättrigen Sahasra) Lotus (Kamala) herabtropft. Daher soll man dieses (Jalandhara Bandha) setzen." (ŚS 4.38)

Vers 37: Mula Bandha

Man presse mit der Ferse gegen den Beckenboden, kontrahiere den Anus und ziehe so den Apana aufwärts. Das wird Mula Bandha genannt.


पार्ष्णिभागेन सम्पीड्य योनिमाकुञ्चयेद् गुदम् |
अपानमूर्ध्वमाकृष्य मूलबन्धो निगद्यते || ३७ ||
pārṣṇi-bhāgena sampīḍya yonim ākuñcayed gudam |
apānam ūrdhvam ākṛṣya mūla-bandho nigadyate || 37 ||
parshni-bhagena sampidya yonim akunchayed gudam |
apanam urdhvam akrishya mula-bandho nigadyate || 37 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

pārṣṇi-bhāgena : mit einem Teil (Bhaga) der Ferse (Parshni)
sampīḍya : während man presst ("gepresst habend", sam + pīḍ)
yonim : den Beckenboden, Damm, das Perineum (Yoni)
ākuñcayet : man kontrahiere, ziehe zusammen (ā + kuñc)
gudam : den Anus (Guda)
apānam : den Apana
ūrdhvam : aufwärts, nach oben (Urdhva)
ākṛṣya : während man zieht ("gezogen habend", ā + kṛṣ)
mūla-bandhaḥ : Mulabandha ("Wurzel-Verschluss", Mula Bandha)
nigadyate : (das) wird genannt (ni + gad)

Anmerkung: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.61) überliefert. Ein ausführlichere Behandlung von Praxis und Wirkung von Mula Bandha findet sich in Hatha Yoga Pradipika 3.61-69. Demzufolge führt Mula Bandha zur Vereinigung von Prana und Apana, steigert das innere Feuer (das Verdauungsfeuer), wirkt verjüngend und erweckt die schlafende Kundalini, welche daraufhin in die Sushumna bzw. Brahma Nadi eintritt.

Vers 38: Pranayama

Weil sogar der Gott Brahma, aus Furcht vor dem Tod, sich eifrig der Atemkontrolle (Pranayama) widmet, und ebenso die Yogis und Weisen, deshalb soll man den Atem kontrollieren.


यतः कालभयाद्ब्रह्मा प्राणायामपरायणः |
योगिनो मुनयश्चैव ततः प्राणं निबन्धयेत् || ३८ ||
yataḥ kāla-bhayād brahmā prāṇāyāma-parāyaṇaḥ |
yogino munayaś caiva tataḥ prāṇaṃ nibandhayet || 38 ||
yatah kala-bhayad brahma pranayama-parayanah |
yogino munayash chaiva tatah pranam nibandhayet || 38 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yataḥ : weil (Yatas)
kāla-bhayāt : aus Furcht (Bhaya) vor dem Tod ("der Zeit", Kala)
brahmā : (sogar der Gott) Brahma
prāṇāyāma-parāyaṇaḥ : sich eifrig der Atemkontrolle (Pranayama) widmet (Parayana)
yoginaḥ : die Yogis (Yogin)
munayaḥ : die Weisen (Muni)
ca : und (Cha)
eva : ebenso (Eva)
tataḥ : deshalb, daher (Tatas)
prāṇam : den Atem, die Lebensenergie (Prana)
nibandhayet : man soll kontrollieren ("zurückhalten, hemmen", ni + bandh)

Anmerkungen: Das Wort prāṇāyāma setzt sich aus prāṇa "Atem, Lebensenergie" (Prana) und āyāma "Ausdehnung, Erweiterung, Hemmung, Kontrolle" (Ayama) zusammen und bedeutet somit sowohl die Kontrolle über den Atem und damit über die Lebensenergie im weiteren Sinne, als auch die Ausdehnung bzw. das Anhalten des Atems im engeren Sinne. Das Wort kāla (Kala) bedeutet sowohl "Tod" als auch "Zeit".

Der Gott brahmā Brahma gilt in der hinduistischen Trinität zwar als Schöpfergott, doch unterliegt er wie alle anderen Götter und Daseinsformen gleichermaßen dem Gesetz des Karma und kann somit in eine niedrigere Daseinsebene zurückfallen. Umgekehrt kann nach der Vorstellung des Mantra Yoga auch ein Yogi dem Gott Brahma oder Vishnu gleich (Sama) werden, wenn er ein bestimmtes Bija Mantra 3 Millionen (30 Laksha) mal wiederholt (Japta), wie es in der Shiva Samhita (5.204) heißt: triṃśal-lakṣais tathā-japtair brahma-viṣṇu-samo bhavet. Wird das Mantra 10 Millionen (Koti) mal wiederholt, geht der Yogi diesem Text zufolge in das Absolute, den "höchsten Ort" (Parama Pada) ein: koṭyaikayā mahā-yogī līyate parame pade.

Vers 39: Pranayama

Ist der Atem unstet, ist alles unstet. (Ist der Atem) unbeweglich, ist (alles) unbeweglich, und der Yogi erlangt (innere und äußere) Bewegungslosigkeit. Darum soll er den Atem anhalten.


चले वाते चलं सर्वं निश्चले निश्चलं भवेत् |
योगी स्थाणुत्वमाप्नोति ततो वायुं निबन्धयेत् || ३९ ||
cale vāte calaṃ sarvaṃ niścale niścalaṃ bhavet |
yogī sthāṇutvam āpnoti tato vāyuṃ nibandhayet || 39 ||
chale vate chalam sarvam nishchale nishchalam bhavet |
yogi sthanutvam apnoti tato vayum nibandhayet || 39 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

cale : unstet, beweglich (Chala)
vāte : (ist der) Atem ("Wind", Vata)
calam : unstet, beweglich
sarvam : (ist) alles (Sarva)
niścale : (der Atem) unbeweglich (Nishchala)
niścalam : (alles) unbeweglich
bhavet : ist, wird (bhū)
yogī : (und) der Yogi (Yogin)
sthāṇutvam : Bewegungslosigkeit (Sthanutva)
āpnoti : erreicht (āp)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
vāyum : den Atem, ("Wind", Vayu)
nibandhayet : er soll kontrollieren, anhalten (ni + bandh)

Anmerkung: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (2.2) überliefert. Dort heißt es allerdings cale vāte calaṃ chittam... "Ist der Atem unstet, ist der Geist (Chitta) unstet. (Ist der Atem) unbeweglich, ist (auch der Geist) unbeweglich". Hiermit wird der enge Zusammenhang zwischen dem Anhalten bzw. der Kontrolle des Atems und der Kontrolle des Geistes bzw. dem Anhalten der Denkprozesse (Chittavritti) besonders deutlich gemacht (vgl. auch Vers 90 der Version 2 des Goraksha Shataka). Die Synonyme Vata und Vayu, die beide wörtlich "Wind" bedeuten, stehen hier gleichermaßen für Prana, den Lebensatem bzw. die Lebensenergie.

Die innere und äußere Bewegungslosigkeit (Sthanutva) ist zugleich Vorraussetzung und Folge des Vorgangs der Verinnerlichung bzw. des "Rückzugs der Sinne" (Pratyahara) und des Eintauchens in Meditation (Dhyana) und Versenkung (Samadhi).

Vers 40: Pranayama

Der Atem (Hamsa) geht durch den linken und rechten Nasengang 36 Fingerbreiten weit nach draußen. Daher wird er Atem (Prana) genannt.


षट्त्रिंशदङ्गुलं हंसः प्रयाणं कुरुते बहिः |
वामदक्षिणमार्गेण ततः प्राणोऽभिधीयते || ४० ||
ṣaṭ-triṃśad-aṅgulaṃ haṃsaḥ prayāṇaṃ kurute bahiḥ |
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa tataḥ prāṇo'bhidhīyate || 40 ||
shat-trimshad-angulam hamsaḥ prayanaṃ kurute bahih |
vama-dakshina-margena tatah prano'bhidhiyate || 40 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ṣaṭ-triṃśad-aṅgulam : (im Ausmaß von) 36 (Shattrimshat) Fingerbreiten (Angula)
haṃsaḥ : der Atem, die Individualseele ("Ganter", Hamsa)
prayāṇam : eine Bewegung ("Gang", Prayana)
kurute : macht (kṛ)
bahiḥ : nach draußen (Bahis)
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa : durch den linken (Vama) und rechten (Dakshina) Gang, Kanal ("Weg", Marga)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
prāṇaḥ : Atem (Prana)
abhidhīyate : wird er genannt (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers erklärt anhand eines Wortspiels, warum der Atem prāṇa heißt: nämlich anhand des ähnlich lautenden Wortes prayāṇa, das "Aufbruch, Abreise, Gang" bedeutet. Diese etymologisch nicht ganz korrekte Erklärung (prāṇa kommt von der Sanskrit Verbalwurzel an "atmen" mit Präfix pra) verweist auf die Länge bzw. Reichweite des Atems bei der Ausatmung, wobei hier die Entfernung, die der der Atem sich von der Nase wegbewegt, mit 36 Fingerbreiten angegeben wird.

In diesem Zusammenhang ist die Gheranda Samhita (5.89-90) besonders interessant, wo die unterschiedliche Reichweite (und damit die Intensität bzw. "Tiefe") des Atems bei der Ausatmung entsprechend bestimmter körperlicher Zustände bzw. Aktivitäten angegeben wird:

dehād bahir-gato vāyuḥ sva-bhāvād dvādaśāṅguliḥ || 5.89 ||
śayane ṣoḍaśāṅgulyo bhojane viṃśatis tathā |
catur-viṃśāṅguliḥ panthe nidrāyāṃ triṃśad-aṅguliḥ |
maithune ṣaṭ-triṃśad uktaṃ vyāyāme ca tato'dhikam || 5.90 ||

"Der aus dem Körper (Deha) ausgetretene Atem (Vayu, misst) im natürlichen Zustand (Svabhava) 12 Fingerbreiten (Anguli), beim Liegen (Shayana) 16 Fingerbreiten, und beim Essen (Bhojana) 20 Fingerbreiten. Beim Gehen (Pantha, misst) er 24 Fingerbreiten, im Schlaf (Nidra) 30 Fingerbreiten, beim Geschlechtsverkehr (Maithuna) wird er mit 36 (Fingerbreiten) angegeben, und bei körperlicher Anstrengung (Vyayama geht er noch) darüber hinaus." (GhS 5.89-90)

Ein weiteres Wort für Atem bzw. das damit in Verbindung stehende Lebensprinzip ist haṃsa, was wörtlich "Gans", im übertragenen Sinne auch die Individualseele (Jiva) bedeutet, denn für die von Leben zu Leben "wandernde" Seele stand im alten Indien symbolisch die wandernde Wildgans. Auch hier gibt die Gheranda Samhita (5.86-87) einen Hinweis, was es mit der Bezeichnung haṃsaḥ auf sich hat:

haṃ-kāreṇa bahir yāti saḥ-kāreṇa viśet punaḥ || 5.86 ||
ṣaṭ śatāni divā-rātrau sahasrāṇy ekaviṃśatiḥ |
ajapāṃ nāma gāyatrīṃ jīvo japati sarvadā || 5.87 ||

"Mit dem Laut ham geht das Leben hinaus, mit dem Laut sah tritt es wieder (in den Körper) ein. Innerhalb eines Tages (Diva) und einer Nacht (Ratri) rezitiert das Lebensprinzip (die Individualseele, Jiva) immer 21 600 mal dieses Ajapa genannte Gayatri-Mantra." (GhS 5.86-87)

Die Anzahl von 21 600 Atemzügen innerhalb von 24 Stunden bzw. 86 400 Sekunden entspricht einer durchschnittlichen Atemfrequenz von 4 Sekunden, d.h. 15 Zyklen von Ein- und Ausatmung pro Minute.

Vers 41: Pranayama

Der Yogi, der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen hat, soll, nachdem er seinen Lehrer und Shiva verehrt hat, allein und mit auf die Nasenspitze gerichtetem Blick die Atemkontrolle (Pranayama) praktizieren.


बद्धपद्मासनो योगी नमस्कृत्य गुरुं शिवम् |
नासाग्रदृष्टिरेकाकी प्राणायामं समभ्यसेत् || ४१ ||
baddha-padmāsano yogī namas-kṛtya guruṃ śivam |
nāsāgra-dṛṣṭir ekākī prāṇāyāmaṃ samabhyaset || 41 ||
baddha-padmasano yogi namas-kritya gurum shivam |
nasagra-drishtir ekaki pranayamam samabhyaset || 41 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

baddha-padmāsanaḥ : der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen ("gebunden", Baddha) hat
yogī : der Yogi (Yogin)
namas-kṛtya : nachdem er gegrüßt, verehrt hat (Namas-kṛ)
gurum : den Lehrer, Meister (Guru)
śivam : (und) Shiva (oder: als Shiva, wie Shiva)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : mit auf die Nasenspitze (Nasagra gerichtetem) Blick (Drishti)
ekākī : allein (Ekakin)
prāṇāyāmam : die Atemkontrolle, Verlängerung des Atems (Pranayama)
samabhyaset : soll praktizieren, üben (sam + abhi + as)

Anmerkung: Das Kompositum baddha-padmāsanaḥ bezieht sich hier als adjektivisches Kompositum (Bahuvrihi) auf yogī und bedeutet "(ein Yogi) der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen (Baddha) hat." Dessen Ausführung wurde bereits in Vers 9 beschrieben, wobei schon der auf die Nasenspitze gerichtete Blick erwähnt wurde, außerdem das auf die Brust gedrückte Kinn. Zudem sollen die hinter dem Rücken gekreuzten Arme bzw. Hände die großen Zehen festhalten, was wiederum Baddha Padmasana, dem "gebundenen Lotussitz" entspricht. Für die Ausführung von Atemtechniken, bei denen durch jeweils ein Nasenloch geatmet wird, kommt allerdings nur der einfache Lotussitz in Frage, vgl. die Anmerkung zu Vers 43.

Vers 42: Pranayama: Begriffsbestimmung und Maßeinheit

Der Atem (Prana) ist die im Körper befindliche Luft. Kontrolle (Ayama) ist das Zurückhalten des Atems. Die (dafür gebräuchliche) Maßeinheit bemisst sich nach einer (natürlichen) Ein- und Ausatmung. Der (richtige) Gebrauch dieser (Maßeinheit) führt zur Erfahrung des Höchsten.


प्राणो देहस्थितो वायुरायामस्तन्निबन्धनम् |
एकश्वासमयी मात्रा तद्योगो गगनायते || ४२ ||
prāṇo deha-sthito vāyur āyāmas tan-nibandhanam |
eka-śvāsa-mayī mātrā tad-yogo gaganāyate || 42 ||
prano deha-sthito vayur ayamas tan-nibandhanam |
eka-shvasa-mayi matra tad-yogo gaganayate || 42 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇaḥ : der Atem (Prana)
deha-sthitaḥ : die sich im Körper (Deha) befindet (Sthita)
vāyuḥ : (ist) die Luft ("der Wind", Vayu)
āyāmaḥ : Kontrolle (Ayama)
tan-nibandhanam : (ist) dessen (Tad) Zurückhalten, Hemmen ("Festbinden", Nibandhana)
eka-śvāsa-mayī : bemisst sich nach ("besteht aus", Maya) einer (Eka) Ein- und Ausatmung ("Atemzug", Shvasa)
mātrā : das Maß, die Maßeinheit (der Atemverhaltung, Matra)
tad-yogaḥ : deren (Tad) Anwendung, Gebrauch (Yoga)
gaganāyate : führt zur Erfahrung des Höchsten ("ist wie der Himmel", Gagana)

Anmerkungen: In diesem Vers wird zunächst die Bedeutung des Wortes prāṇāyāma, das sich aus prāṇa und āyāma zusammensetzt, erklärt. Demnach bedeutet Pranayama das Hemmen bzw. Zurückhalten des Atems, was insbesondere auf die Praxis der Atemverhaltung (Kumbhaka) nach der Einatmung - wenn sich die Luft (vāyuḥ) im Körper befindet (deha-sthitaḥ) - verweist.

Der Kommentator Brahmananda zitiert in seinem Kommentar zu Hatha Yoga Pradipika 2.12 eine ganze Reihe von Textstellen, die mehr Licht auf die Matra geanannte Maßeinheit der Pranayamapraxis werfen. Eine der von ihm angeführten Definitionen stammt aus der Yoga Chintamani, einem ebenfalls dem Goraksha Natha zugeordneten Text. Dort wird gesagt, dass ein mātrā als Maßeinheit des Pranayama die Zeit sei, in der ein schlafender Mann einmal aus- und einatmet. Brahmananda ergänzt, das 6 Atemzüge (Shvasa, d.h. 6 Atemzyklen von Ein- und Ausatmung) ein Pala ergeben. Ein pala entspricht wiederum 24 Sekunden, womit ein śvāsa genannter Atemzyklus eine Dauer von 4 Sekunden hat (vgl. auch die Anm. zu Vers 40).

Auch für das Verständnis des vierten Versviertels (tad-yogo gaganāyate "deren Anwendung führt zur Erfahrung des Höchsten") ist Brahmanandas Kommentar zu Hatha Yoga Pradipika 2.12 aufschlussreich. Dort heißt es, dass der Yogi auf der höchsten Stufe der Atemverhaltung (Kumbhaka) den (höchsten) Ort erreicht, womit laut Brahmananda das Brahmarandhra gemeint ist (mehr hierzu in der Anm. zu Vers 49).

Vers 43: Wechselatmung: Einatmung links

Der Yogi, der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen hat, soll durch das linke Nasenloch einatmen, und nachdem er (den Atem) nach Vermögen angehalten hat, durch das rechte Nasenloch wieder ausatmen.


बद्धपद्मासनो योगी प्राणं चन्द्रेण पूरयेत् |
धारयित्वा यथाशक्ति भूयः सूर्येण रेचयेत् || ४३ ||
baddha-padmāsano yogī prāṇaṃ candreṇa pūrayet |
dhārayitvā yathā-śakti bhūyaḥ sūryeṇa recayet || 43 ||
baddha-padmasano yogi pranam chandrena purayet |
dharayitva yatha-shakti bhuyah suryena rechayet || 43 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

baddha-padmāsanaḥ : der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen ("gebunden", Baddha) hat
yogī : der Yogi (Yogin)
prāṇam : den Atem (Prana)
candreṇa : durch den Mond(kanal, das linke Nasenloch, Chandra)
pūrayet : atme ein ("fülle", pṛ/pṝ)
dhārayitvā : nachdem er (den Atem) angehalten hat (dhṛ)
yathā-śakti : nach Vermögen ("wie es in seiner Macht steht", Yathashakti)
bhūyaḥ : wieder (Bhuyas)
sūryeṇa : durch den Sonne(nkanal, das rechte Nasenloch, Surya)
recayet : atme aus ("leere", ric)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (2.7) überliefert. Dort steht er im Kontext der Reinigung (Shuddhi) der feinstofflichen Energiekanäle (Nadi) von Verunreinigungen (Mala), also der Reinigungs- bzw. Wechselatmung (Nadi Shodhana, vgl. HYP 2.7-20). Der Ausdruck "Mond" (Chandra) steht für Ida, den im linken Nasenloch endenden "Mondkanal", der Ausdruck "Sonne" (Surya) steht für Pingala, den im rechten Nasenloch endenden "Sonnenkanal".

Das Kompositum baddha-padmāsanaḥ bezieht sich hier als adjektivisches Kompositum (Bahuvrihi) auf yogī und bedeutet "(ein Yogi) der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen (Baddha) hat" (vgl. die Anm. zu Ver 41). Obwohl laut der in Vers 9 gegebenen Beschreibung im vollständigen Padmasana die hinter dem Rücken gekreuzten Arme bzw. Hände die großen Zehen festhalten - was Baddha Padmasana, dem "gebundenen Lotussitz" entspricht - dürfte für die Ausführung von Atemtechniken wie der Reinigungsatmung dennoch der einfache Lotussitz gemeint sein, da zumindest die rechte Hand für das Verschließen des jeweiligen Nasenlochs benötigt wird. Dies bekräftigt auch ein Vers der Gheranda Samhita (5.38), der ebenfalls im Kontext der Reinigung der Nadis (Nadishuddhi) steht:

upaviśyāsane yogī padmāsanaṃ samācaret |
gurvādi-nyasanaṃ kṛtvā yathaiva guru-bhāṣitam |
nāḍī-śuddhiṃ prakurvīta prāṇāyāma-viśuddhaye || 5.38 ||

"Nachdem er sich auf seine Sitzunterlage (Asana) gesetzt hat, nehme der Yogi den Lotussitz (Padmasana) ein, rezitiere einen Gruß an (seinen eigenen) und andere Meister (Guru), so wie es vom Meister gelehrt wurde, und beginne mit der Reinigung (Shuddhi) der feinstofflichen Energiekanäle (Nadi) für die Vervollkommnung ("Reinheit", Vishuddhi) der Praxis der Atemregulation (Pranayama)." (GhS 5.38)

Vers 44: Wechselatmung: Einatmung links mit Visualisierung

Indem (der Yogi) während dieser (Art der) Atemregulierung (Pranayama) auf das (visualisierte) Abbild des Mondes, der dem Nektarmeer gleicht und den Glanz des blendend weißen Milchmeeres hat, meditiert, sei er voller Wonne.


अमृतोदधिसङ्काशं क्षीरोदधवलप्रभम् |
ध्यात्वा चन्द्रमयं बिम्बं प्राणायामे सुखी भवेत् || ४४ ||
amṛtodadhi-saṅkāśaṃ kṣīroda-dhavala-prabham |
dhyātvā candra-mayaṃ bimbaṃ prāṇāyāme sukhī bhavet || 44 ||
amritodadhi-sankasham kshiroda-dhavala-prabham |
dhyatva candra-mayam bimbam pranayame sukhi bhavet || 44 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

amṛtodadhi-saṅkāśam : der dem Nektarmeer (Amritodadhi) gleicht (Sankasha)
kṣīroda-dhavala-prabham : der den Glanz, die Pracht (Prabha) des blendend weißen (Dhavala) Milchmeeres (Kshiroda) hat
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
candra-mayam : des Mondes ("das ganz Mond ist", Chandramaya)
bimbam : auf das (visualisierte) Abbild (Bimba)
prāṇāyāme : bei dieser (Art der) Atemregulierung, während der Atemverhaltung (Pranayama)
sukhī : glücklich, voller Wohlbehagen (Sukhin)
bhavet : werde er, sei er (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers bezieht sich direkt auf den vorangehenden Vers 43, der den ersten Teil der Wechselatmung beschreibt: während man durch das linke Nasenloch, also den Mondkanal (Chandra bzw. Ida) einatmet, den Atem anhält, und dann wieder rechts ausatmet, soll man in der beschriebenen Weise den Mond visualisieren. In der Gheranda Samhita (5.43) wird ergänzt, das der Yogi den Mond (mit geschlossenen Augen) an der Nasenspitze visualisieren soll. Auch über die relative Dauer der Phasen der Ein- und Ausatmung sowie der Atemverhaltung macht die Gheranda Samhita (5.39-40) konkrete Angaben: die Einatmung soll 16 Matras dauern, die Atemverhaltung 64 Matras, und die Ausatmung 32 Matras. Dies entspricht dem häufig praktizieren Verhältnis von 1 : 4 : 2.

nāsāgre śaśadhṛg-bimbaṃ dhyātvā jyotsnā-samanvitam |
ṭhaṃ-bījaṃ ṣoḍaśenaiva iḍayā pūrayen marut || 5.43 ||

"Während (der Yogi) an der Nasenspitze (Nasagra) die Mondscheibe (Shashadhrik-Bimba), die vom Mondschein (Jyotsna) umgeben ist, visualisiert, atme er mit dem Bijamantra ṭhaṃ genau 16 (Zählzeiten lang) durch das linke Nasenloch (Ida) ein." (GhS 5.43)

Diese Form der Wechselatmung in Verbindung mit der Wiederholung eines Bijamantras wird in der Gheranda Samhita (5.36) sa-manur nāḍī-śuddhiḥ, d.h. "Reinigung der Nadis (Nadishuddhi) in Verbindung mit einem Mantra (Samanu)", genannt.

Die beiden folgenden Verse 45 und 46 beschreiben den zweiten Teil der Wechselatmung nebst Visualisierung.

Vers 45: Wechselatmung: Einatmung rechts

Dann soll (der Yogi) durch das rechte Nasenloch einatmend langsam den Bauch füllen, und nachdem er (den Atem) in der vorgeschriebenen Weise angehalten hat, durch das linke Nasenloch wieder ausatmen.


प्राणं सूर्येण चाकृष्य पूरयेदुदरं शनैः |
कुम्भयित्वा विधानेन भूयश्चन्द्रेण रेचयेत् || ४५ ||
prāṇaṃ sūryeṇa cākṛṣya pūrayed udaraṃ śanaiḥ |
kumbhayitvā vidhānena bhūyaś candreṇa recayet || 45 ||
pranam suryena chakrishya purayed udaram shanaih |
kumbhayitva vidhanena bhuyash chandrena recayet || 45 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇam : den Atem (Prana)
sūryeṇa : durch den Sonne(nkanal, das rechte Nasenloch, Surya)
ca : und (Cha)
ākṛṣya : einziehend ("eingezogen habend", ā + kṛṣ)
pūrayet : er fülle (pṛ/pṝ)
udaram : den Bauch (Udara)
śanaiḥ : langsam (Shanais)
kumbhayitvā : nachdem er (den Atem) angehalten hat ("angehalten habend", kumbhay)
vidhānena : in der vorgeschriebenen Weise (Vidhana)
bhūyaḥ : wieder (Bhuyas)
candreṇa : durch den Mond(kanal, das linke Nasenloch, Chandra)
recayet : er atme aus ("entleere", ric)

Anmerkung: Dieser Vers wird in etwas abweichendem Wortlaut in der Hatha Yoga Pradipika (2.8) überliefert. Der Ausdruck pūrayed udaram "er fülle den Bauch" verweist auf die sogenannte Bauchatmung, wobei das sich bei der Einatmung nach unten wölbende Zwerchfell die Bauchorgane nach unten und außen drückt.

Vers 46: Wechselatmung: Einatmung rechts mit Visualisierung

Indem der Yogi während dieser (Art der) Atemregulierung (Pranayama) auf die im Bereich des Nabels (visualisierte) Sonnenscheibe als ein intensives Licht eines brennenden Feuers meditiert, sei er voller Wonne.


प्रज्वलज्ज्वलनज्वालापुञ्जमादित्यमण्डलम् |
ध्यात्वा नाभिस्थितं योगी प्राणायामे सुखी भवेत् || ४६ ||
prajvalaj-jvalana-jvālā-puñjam āditya-maṇḍalam |
dhyātvā nābhi-sthitaṃ yogī prāṇāyāme sukhī bhavet || 46 ||
prajvalaj-jvalana-jvala-punjam aditya-mandalam |
dhyatva nabhi-sthitam yogi pranayame sukhi bhavet || 46 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prajvalaj-jvalana-jvālā-puñjam : als eine Menge (Punja) Licht (Jvala) eines brennenden (pra + jval) Feuers (Jvalana)
āditya-maṇḍalam : auf die (visualisierte) Sonnenscheibe (Adityamandala)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
nābhi-sthitaṃ : die sich am Nabel (Nabel) befindet (Sthita)
yogī : der Yogi (Yogin)
prāṇāyāme : bei dieser (Art der) Atemregulierung, während der Atemverhaltung (Pranayama)
sukhī : glücklich, voller Wohlbehagen (Sukhin)
bhavet : werde er, sei er (bhū)

Anmerkung: Dieser Vers bezieht sich direkt auf den vorangehenden Vers 45, der den zweiten Teil der Wechselatmung beschreibt: während man durch das rechte Nasenloch, also den Sonnenkanal (Surya bzw. Pingala) einatmet, den Atem anhält, und dann wieder links ausatmet, soll man in der beschriebenen Weise im Bereich des Nabels die Sonne visualisieren.

Vers 47: Drei Atemphasen des Pranayama

Die (Praxis der) Atemregulation, in Verbindung mit (einer Dauer von) zwölf Zählzeiten (pro Einatmung) in Form der heiligen Silbe OM, besteht aus drei Teilen: Ausatmung, Einatmung und Atemverhaltung.


रेचकः पूरकश्चैव कुम्भकः प्रणवात्मकः |
प्राणायामो भवेत्त्रेधा मात्राद्वादशसंयुतः || ४७ ||
recakaḥ pūrakaś caiva kumbhakaḥ praṇavātmakaḥ |
prāṇāyāmo bhavet tredhā mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ || 47 ||
rechakah purakash chaiva kumbhakah pranavatmakah |
pranayamo bhavet tredha matra-dvadasha-samyutah || 47 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

recakaḥ : Ausatmung (Rechaka)
pūrakaḥ : Einatmung (Puraka)
ca : und (Cha)
eva : ebenso ("so", Eva)
kumbhakaḥ : Atemverhaltung (Kumbhaka)
praṇavātmakaḥ : deren Wesen (Atmaka) die heilige Silbe ॐ (Pranava) ist
prāṇāyāmaḥ : die Atemkontrolle, Atemregulation (Pranayama)
bhavet : besteht ("sei", bhū)
tredhā : aus drei Teilen (Tredha)
mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ : verbunden (Samyuta) mit (einer Dauer von) zwölf (Dvadasha) Zählzeiten (Matra)

Anmerkungen: Dieser Vers benennt die drei Phasen eines vollständigen Pranayama, das aus Einatmung (Puraka), Atemverhaltung (Kumbhaka) und Ausatmung (Rechaka) besteht. Die beiden Adjektive praṇavātmakaḥ "deren Wesen die heilige Silbe OM ist" und mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ "verbunden mit (einer Dauer von) zwölf Zählzeiten" können sich syntaktisch sowohl auf prāṇāyāmaḥ, also den gesamten Zyklus, beziehen, oder aber auf jeweils eine der genannten drei Phasen recakaḥ, pūrakaḥ oder kumbhakaḥ.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt den Sinn (Artha) des Kompositums mātrā-dvādaśa-saṃyutaḥ dahingehend, dass es sich auf die Einatmung (pūrakaḥ) bezieht, und definiert ein mātrā als die Zeit (Kala), die für die einmalige (Sakrit) Rezitation (Japa) eines OM (Pranava) benötigt wird: sakṛt praṇava-japa-kālo mātrā. Die Einatmung (Purita) erstreckt sich folglich über die Zeitdauer der Rezitation von zwölf (Dvadasha) Pranava: dvādaśa-praṇava-japa-kālena pūrita ity arthaḥ.

Diese Interpretation bestätigt folgender Vers der Yogachudamani Upanishad (vgl. auch Goraksha Paddhati 2.4), worin die Dauer der einzelnen Atemphasen näher angegeben wird:

pūrakaṃ dvādaśaṃ kuryāt kumbhakaṃ ṣoḍaśaṃ bhavet |
recakaṃ daśa cauṅkaraḥ prāṇāyāmaḥ sa ucyate || 103 ||

"Die Einatmung (Puraka) führe man zwölf (OM lang) aus, die Atemverhaltung (Kumbhaka) sei 16 (OM lang), und die Ausatmung (Rechaka) zehn Omkara (lang) - dies wird Atemregulation (Pranayama) genannt." (YCU 103)

Eine weitere, in der Gheranda Samhita gelehrte Angabe zur Dauer der Phasen der Ein- und Ausatmung sowie der Atemverhaltung lautet wie folgt: die Einatmung soll 16 Matras dauern, die Atemverhaltung 64 Matras, und die Ausatmung 32 Matras (GhS 5.39-45, 50-52). Hiebei handelt es sich um das bekannte Verhältnis der drei Atemphasen von 1 : 4 : 2.

Vers 48: Drei Stufen des Pranayama: Dauer der Atemphasen

Zwölf Zählzeiten auf der niedrigsten Stufe, doppelt soviele Zählzeiten auf der mittleren Stufe und dreimal soviele Zählzeiten auf der höchsten Stufe - so lautet die Festlegung (der Dauer der Einatemphase) der Atemregulation.


द्वादशाधमके मात्रा मध्यमे द्विगुणास्ततः |
उत्तमे त्रिगुणा मात्राः प्राणायामस्य निर्णयः || ४८ ||
dvādaśādhamake mātrā madhyame dvi-guṇās tataḥ |
uttame tri-guṇā mātrāḥ prāṇāyāmasya nirṇayaḥ || 48 ||
dvadashadhamake matra madhyame dvi-gunas tatah |
uttame tri-guna matrah pranayamasya nirnayah || 48 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvādaśa : zwölf (Dvadasha)
adhamake : auf der niedrigsten (Stufe, Adhamaka)
mātrāḥ : Zählzeiten ("Maßeinheiten", Matra)
madhyame : auf der mittleren (Stufe, Madhyama)
dvi-guṇāḥ : das zweifache (Dviguna)
tataḥ : davon (Tatas)
uttame : auf der höchsten (Stufe, Uttama)
tri-guṇāḥ : dreimal soviele (Triguna)
mātrāḥ : Zählzeiten
prāṇāyāmasya : der Atemkontrolle, Atemregulation (Pranayama)
nirṇayaḥ : (das ist) die Festlegung (Nirnaya)

Anmerkungen: Da laut YCU 103 und GP 2, 4 (vgl. die Anm. zum vorangehenden Vers 47) die Einatmung mit einer Dauer von zwölf OM, die Atemverhaltung mit einer Dauer von 16 OM, und die Ausatmung mit einer Dauer von zehn OM angegeben wurde (was somit der niedrigsten Stufe entspricht), ergibt sich für die mittlere Stufe ein Verhältnis von 24 : 32 : 20 und für die höchste Stufe ein Verhältnis von 36 : 48 : 30 Zählzeiten bzw. Omkara.

In der Gheranda Samhita (5.56) wird ebenfalls zwischen drei Stufen des Pranayama bzw. der Länge der Atemverhaltung unterschieden, allerdings in einer Abstufung von 12, 16 und 20 Zählzeiten:

uttamā viṃśatir mātrā madhyamā ṣoḍaśī smṛtā |
adhamā dvādaśī mātrā prāṇāyāmās tridhā smṛtāḥ || 5.56 ||

"Die Atemkontrolle (Pranayama) wird als von dreierlei Art gelehrt: die höchste (Uttama, Stufe dauert) 20 Zählzeiten (pro Atemverhaltung), die mittlere (Madhyama, Stufe) wird mit 16 Zählzeiten angegeben, und die niedrigste (Adhama, Stufe dauert) 12 Zählzeiten (Matra)." (GhS 5.56)

Vers 49: Drei Stufen des Pranayama: Wirkungen

Auf der niedrigsten Stufe (der Atemregulierung) verspürt der im Lotussitz sitzende Yogi eine intensive Hitze, auf der mittleren Stufe verspürt er ein Zittern, und auf der höchsten Stufe erhebt er sich plötzlich (von seiner Unterlage, oder: zum Brahmarandhra).


अधमे च घनो घर्मः कम्पो भवति मध्यमे |
उत्तिष्ठत्युत्तमे योगी बद्धपद्मासनो मुहुः || ४९ ||
adhame ca ghano gharmaḥ kampo bhavati madhyame |
uttiṣṭhaty uttame yogī baddha-padmāsano muhuḥ || 49 ||
adhame ca ghano gharmah kampo bhavati madhyame |
uttishthaty uttame yogi baddha-padmasano muhuh || 49 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

adhame : auf der niedrigsten (Stufe, Adhama)
ca : aber (Cha)
ghanaḥ : eine intensive ("dicke", Ghana)
gharmaḥ : Hitze (Gharma)
kampaḥ : ein Zittern (Kampa)
bhavati : entsteht ("wird", bhū)
madhyame : auf der mittleren (Stufe, Madhyama)
uttiṣṭhati : erhebt sich (von seiner Unterlage, oder: zum Brahmarandhra, ud + sthā)
uttame : auf der höchsten (Stufe, Uttama)
yogī : der Yogi (Yogin)
baddha-padmāsanaḥ : der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen ("gebunden", Baddha) hat
muhuḥ : plötzlich, für einen Augenblick (Muhur)

Anmerkungen: Die Bedeutung des Verbs uttiṣṭhati (ud + sthā) "er steht auf, erhebt sich, steigt auf, springt auf" kann in diesem Vers in zweierlei Weise verstanden werden: in wörtlicher Bedeutung wäre gemeint, dass der Yogi von seiner Sitzunterlage "abhebt", d.h. es wird das Phänomen der Levitation oder spontanen in die Luft Hüpfens (vgl. Shiva Samhita 3.47) beschrieben. Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt uttiṣṭhati in diesem Sinne mit āsanād utthānaṃ labhate "er erlangt das Sicherheben, Aufspringen (Utthana) von seinem Sitz (Asana)". In übertragener Bedeutung wäre gemeint, dass der Yogi in seinem Bewusstsein entlang der Wirbelsäule zum höchsten Punkt, dem Brahmarandhra, aufsteigt.

Auch in der Hatha Yoga Pradipika 2.12, der Gheranda Samhita (5.57) sowie der Shiva Samhita (3.46-48) werden die Wirkungen der drei genannten Stufen der Atemverhaltung beschrieben, wobei jeweils eine der beiden genannten Verständnismöglichkeiten von uttiṣṭhati zum Tragen kommt. In der HYP heißt es dazu:

kanīyasi bhavet svedaḥ kampo bhavati madhyame |
uttame sthānam āpnoti tato vāyuṃ nibandhayet || 2.12 ||

"Auf der niedrigsten (Stufe) entsteht Schweiß (Sveda), auf der mittleren Zittern (Kampa), und auf der höchsten (Stufe) erreicht man den (höchsten) Ort (Sthana) - daher man soll den Atem (Vayu) anhalten." (HYP 2.12)

Brahmananda, der Kommentator der HYP erklärt hierzu, dass man auf der höchsten (Uttama) Stufe der Atemverhaltung das Brahmarandhra, den "Öffnung zum Brahman" genannten Ort (Sthana), erreicht: uttame prāṇāyāme sthānam brahma-randhram āpnoti. Eine weitere Bedeutung von sthāna ist "vollkommene Ruhe", d.h. das "Stillstehen" des Geistes.

In der Gheranda Samhita (5.57) heißt es wiederum:

adhamāj jāyate gharmo meru-kampaś ca madhyamāt |
uttamāc ca bhūmi-tyāgas tri-vidhaṃ siddhi-lakṣaṇam || 5.57 ||

"Die Erscheinungsformen (Lakshana) der (durch Atemverhaltung erlangten) übernatürlichen Fähigkeiten (Siddhi) sind von dreierlei Art: durch die niedrigste (Form) entsteht Hitze (Gharma), durch die mittlere das Zittern (Kampa) der Wirbelsäule ("des Berges Meru"), und durch die höchste (Form) entsteht das Verlassen (Tyaga) des Erdbodens (Bhumi)." (GhS 5.57)

Zur letzten und fortgeschrittensten Phase der Pranayamapraxis äußert sich Shiva Samhita (3.48) wie folgt:

yogī padmāsana-stho'pi bhuvam utsṛjya vartate |
vāyu-siddhis tadā jñeyā saṃsāra-dhvānta-nāśinī || 3.48 ||

"Ein Yogi, auch wenn er sich im Lotussitz (Padmasana) befindet, bleibt (in der Luft), nachdem er den Erdboden (Bhu) verlassen hat (d.h. er schwebt über dem Erdboden). Dann ist die Meisterschaft (Siddhi) über die Luft/den Atem/die Lebensenergie (Vayu) zu erkennen, welche die Dunkelheit (Dhvanta) des Daseinswandels (Samsara) zertört (Nashin)." (ŚS 3.48)

Zum Kompositum baddha-padmāsanaḥ vgl. die Anm. zu Vers 43.

Vers 50: Ernährungsrichtlinien für intensive Pranayamapraxis

Es wird empfohlen, sich mit dem durch die Anstrengung (des Pranayama) entstandenen Schweiß die Glieder einzureiben. Während (der so praktizierende Yogi) Scharfes, Saures und Salziges meidet, soll er Nahrung zu sich nehmen, die mit Milch(produkten) zubereitet ist.


अङ्गानां मर्दनं शस्तं श्रमसञ्जातवारिणा |
कट्वम्ललवणत्यागी क्षीरभोजनमाचरेत् || ५० ||
aṅgānāṃ mardanaṃ śastaṃ śrama-sañjāta-vāriṇā |
kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī kṣīra-bhojanam ācaret || 50 ||
anganam mardanam shastam shrama-sanjata-varina |
katv-amla-lavana-tyagi kshira-bhojanam acharet || 50 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

aṅgānām : der Glieder (Anga)
mardanam : das Einreiben (Mardana)
śastam : wird empfohlen (Shasta)
śrama-sañjāta-vāriṇā : mit dem durch die Anstrengung (Shrama) entstandenen (Sanjata) Schweiß ("Wasser", Vari)
kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī : (während er) Scharfes (Katu), Saures (Amla) und Salziges (Lavana) meidet ("aufgibt", Tyagin)
kṣīra-bhojanam : (mit) Milchprodukten ("Milch" zubereitete, Kshira) Nahrung (Bhojana)
ācaret : verzehre er (ā + car)

Anmerkungen: In der Hatha Yoga Pradipika (2.13-14) wird das hier in aller Kürze Gesagte noch weiter ausgeführt:

jalena śrama-jātena gātra-mardanam ācaret |
dṛḍhatā laghutā caiva tena gātrasya jāyate || 2.13 ||

"(Der Yogi) soll seinen Körper (Gatra) mit dem durch die Anstrengung (Shrama) entstandenen Schweiß ("Wasser", Jala) einreiben. Dadurch entsteht Festigkeit (Dridhata) und ebenso Leichtigkeit (Laghuta) des Körpers." (HYP 2.13)

abhyāsa-kāle prathame śastaṃ kṣīrājya-bhojanam |
tato'bhyāse dṛḍhī-bhūte na tādṛṅ-niyama-grahaḥ || 2.14 ||

"In der ersten Zeit (Kala) des Praktizierens (Abhyasa) wird Milch (Kshira) und geklärte Butter (Ajya) als Nahrung (Bhojana) empfohlen. Später, wenn die Übungspraxis sich gefestigt hat, ist das Festhalten (Graha) an einer solchen Beschränkung (Niyama) nicht mehr erforderlich." (HYP 2.14)

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt das Kompositum kṣīrājya-bhojanam als "Nahrung, die mit Milch und geklärter Butter (Ghrita) zubereitet wurde". Die Verwendung von (Kuh-)Milchprodukten ist aus ayurvedischer Sicht vor allem mit der kühlenden (Shita) Wirkung (Virya) derselben zu erklären, um die oben erwähnte, bei intensiver Pranayamapraxis entstehende Erhitzung des Körpers abzumildern. So erklärt sich auch der Verzicht auf Scharfes, Saures und Salziges, da diese drei Geschmacksrichtungen (Rasa) allesamt erhitzend (Ushna) wirken. Süßes (Madhura), das wiederum kühlend wirkt, ist dagegen zuträglich (vgl. HYP 1.66).

Brahmananda erklärt kaṭu, was wörtlich "scharf" bedeutet, interessanterweise mit "bitter", indem er hierfür die Bittergurke (Karavellka, Momordica charantia) als Beispiel anführt (ad HYP 1.61). Die bittere Geschmacksrichtung gilt aus ayurvedischer Sicht jedoch als kühlend.

Eine ausführlichere Auflistung von Nahrungsmitteln und Zubereitungsarten, die ein Yogi zu meiden hat, findet sich in Hatha Yoga Pradipika (1.61-62), empfohlene Nahrungsmittel werden wiederum in Hatha Yoga Pradipika (1.65-66) aufgezählt.

Vers 51: Pranayama

Man atme (in der Pranayamapraxis) ganz langsam ein und ganz langsam aus. Man halte die Luft nicht zu lange an und atme nicht schnell aus.


मन्दं मन्दं पिबेद्वायुं मन्दं मन्दं वियोजयेत् |
नाधिकं स्तम्भयेद्वायुं न च शीघ्रं विमोचयेत् || ५१ ||
mandaṃ mandaṃ pibed vāyuṃ mandaṃ mandaṃ viyojayet |
nādhikaṃ stambhayed vāyuṃ na ca śīghraṃ vimocayet || 51 ||
mandam mandam pibed vayum mandam mandam viyojayet |
nadhikam stambhayed vayum na cha shighram vimochayet || 51 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

mandaṃ mandam : ganz langsam (Manda)
pibet : man atme ein ("trinke", )
vāyum : die Luft (Vayu)
mandaṃ mandam : ganz langsam
viyojayet : man atme aus ("gebe frei", vi + yuj)
na : nicht (Na)
adhikam : zu lange ("übermäßig", Adhika)
stambhayet : man halte an (stambh)
vāyum : die Luft
na : nicht
ca : und, auch (Cha)
śīghram : schnell (Shighra)
vimocayet  : man atme aus ("gebe frei", vi + muc)

Anmerkung: Wenn man zu schnell oder ruckartig ausatmen muss, ist dies ein Zeichen dafür, das man die Luft zu lange (adhikam) angehalten hat. So heißt es auch in der Hatha Yoga Pradipika (2.9): recayet ... śanair eva na vegataḥ "man atme ganz langsam (Shanais) aus und nicht ruckartig (Vega)".

Vers 52: Vereinigung von Apana und Prana, Aufstieg der Kundalini

Indem man den Apana (genannten) Lebenswind (durch das Setzen von Mulabandha) nach oben zieht, soll man ihn mit Prana vereinigen. (Wenn) er durch die (Schlangen-)Kraft zum Schädel geleitet wird, befreit man sich von allen Leiden.


ऊर्ध्वमाकृष्य चापानं वातं प्राणे नियोजयेत् |
मूर्धानं नीयते शक्त्या सर्वपापैः प्रमुच्यते || ५२ ||
ūrdhvam ākṛṣya cāpānaṃ vātaṃ prāṇe niyojayet |
mūrdhānaṃ nīyate śaktyā sarva-pāpaiḥ pramucyate || 52 ||
urdhvam akrishya chapanam vatam prane niyojayet |
murdhanam niyate shaktya sarva-papaih pramuchyate || 52 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhvam : aufwärts, nach oben (Urdhva)
ākṛṣya : indem man zieht ("gezogen habend", ā + kṛṣ)
ca : und (Cha)
apānam : den Apana
vātam : (genannten) Lebenswind, Aspekt der Lebensenergie ("Wind", Vata)
prāṇe : mit (wörtl.: "in") dem Prana
niyojayet : man vereinige ("bringe, zwinge zu", ni + yuj)
mūrdhānam : zum Kopf, Schädel (Murdhan)
nīyate : wird er geführt, geleitet ()
śaktyā : zusammen mit der (Schlangen-)Kraft (Shakti, gemeint ist die Kundalini)
sarva-pāpaiḥ : von allen (Sarva) Übeln, Leiden, Sünden (Papa)
pramucyate : wird man befreit, befreit man sich (pra + muc)

Anmerkungen: Mit dem Hinaufziehen von Apana wird auf das Setzen von Mula Bandha (das Kontrahieren des Beckenbodens und Verschließen des Anus) verwiesen, vgl. Vers 33: apānam ūrdhvam ākṛṣya mūla-bandho nigadyate "... und ziehe so den Apana aufwärts. Das wird Mula Bandha genannt".

Auch in Hatha Yoga Pradipika 3.64 wird erklärt, dass das Setzen von Mula Bandha die Vereinigung von Apana und Prana bewirkt:

prāṇāpānau nāda-bindū mūla-bandhena caikatām |
gatvā yogasya saṁsiddhiṃ yacchato nātra saṃśayaḥ || 64 ||

"Wenn Prana und Apana sowie Nada und Bindu durch Mula Bandha vereinigt sind, dann verleihen sie Vollkommenheit (Samsiddhi) des Yoga - hierüber besteht kein Zweifel (Samshaya)." (HYP 3.64)

In diesem Zusammenhang ist auch Gheranda Samhita 3.54-55 interessant, wo das Vereinigen von Prana und Apana sowie das Eintreten dieser in die Sushumna durch die Praxis von Ashvini Mudra, das wiederholte Setzen und Lösen von Mula Bandha, beschrieben wird:

bhāsmanā gātra-saṃliptaṃ siddhāsanaṃ samācaret |
nāsābhyāṃ prāṇam ākṛṣya apāne yojayed balāt || 3.54 ||

"Man reibe den Körper (Gatra) mit Asche (Bhasman) ein und nehme den Lotussitz (Siddhasana) ein. Indem man Prana durch beide Nasenlöscher (Nasa) einzieht, vereinige man ihn gewaltsam mit Apana." (GhS 3.54)

tāvad ākuñcayed guhyaṃ śanair aśvini-mudrayā |
yāvad gacchet suṣumṇāyāṃ vāyuḥ prakāśayed dhaṭhāt || 3.55 ||

"Man kontrahiere den Anus (Guhya) solange langsam mit Ashvini Mudra, bis die Lebensenergie (Vayu) in die Sushumna eintritt und dort machtvoll aufleuchtet." (GhS 3.55)

Vers 53: Lob des Pranayama

Auf diese Weise wird Pranayama zu einem (reinigenden) Feuer, das den Brennstoff der Sünden verzehrt. Pranayama wird von den Yogis eine gewaltige Brücke über den Ozean der Sünden genannt.


प्राणायामो भवत्येवं पातकेन्धनपावकः |
एनोम्बुधिमहासेतुः प्रोच्यते योगिभिः सदा || ५३ ||
prāṇāyāmo bhavaty evaṃ pātakendhana-pāvakaḥ |
enombudhi-mahā-setuḥ procyate yogibhiḥ sadā || 53 ||
pranayamo bhavaty evam patakendhana-pavakah |
enombudhi-maha-setuh prochyate yogibhih sada || 53 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇāyāmaḥ : die Atemkontrolle, Atemregulierung (Pranayama)
bhavati : wird (bhū)
evam : auf diese Weise (Evam)
pātakendhana-pāvakaḥ : zu einem (reinigenden) Feuer (Pavaka) für den Brennstoff (Indhana) der Sünden (Pataka)
enombudhi-mahā-setuḥ : eine gewaltige (Maha) Brücke (Setu) über den Ozean (Ambudhi) der Sünden (Enas)
procyate : es wird genannt (pra + vac)
yogibhiḥ : von den Yogis (Yogin)
sadā : immer, stets (Sada)

Anmerkung: In der Yogachudamani Upanishad, die diesen Vers nahezu identisch überliefert, lautet es im dritten Pada bhavodadhi-mahā-setuḥ "eine gewaltige Brücke über den Ozean der weltlichen Existenz (Bhavodadhi)". Diese Lesung erscheint auch in vielen Handschriften des Goraksha Shataka.

Vers 54: Zweck von Asana, Pranayama und Pratyahara

Durch die Körperstellungen vernichtet der Yogi Krankheiten, durch die Atemkontrolle vernichtet er Sünde, und durch das Zurückhalten (des inneren Nektars) vernichtet er jederzeit geistige Ablenkungen.


आसनेन रुजो हन्ति प्राणायामेन पातकम् |
विकारं मानसं योगी प्रत्याहारेण सर्वदा || ५४ ||
āsanena rujo hanti prāṇāyāmena pātakam |
vikāraṃ mānasaṃ yogī pratyāhāreṇa sarvadā || 54 ||
asanena rujo hanti pranayamena patakam |
vikaram manasam yogi pratyaharena sarvada || 54 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanena : durch die Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
rujo : Krankheiten (Ruj)
hanti : vernichtet (han)
prāṇāyāmena : durch die Atemkontrolle (Pranayama)
pātakam : Sünde (Pataka)
vikāram : Störung, Aufregung ("Veränderung", Vikara)
mānasam : mentale, geistige (Manasa)
yogī : der Yogi (Yogin)
pratyāhāreṇa : durch das Zurückhalten (des inneren Nektars, Pratyahara)
sarvadā : jederzeit, immer (Sarvada)

Anmerkung: Wie die im folgenden Vers 55 gegebene Definition von Pratyahara zeigt, bezieht sich dieser Begriff hier nicht primär auf den "Rückzug der Sinne" (Indriya) von ihren äußeren Objekten (Vishaya).

Vers 55: Definition von Pratyahara

Die (in der Nabelgegend befindliche) Sonne zieht den Strom des Mondnektars an sich (und zehrt ihn auf). Das Zurückhalten dieses (Nektarstroms) von der Sonne wird Pratyahara genannt.


चन्द्रामृतमयीं धारां प्रत्याहारति भास्करः |
तत्प्रत्याहरणं तस्य प्रत्याहारः स उच्यते || ५५ ||
candrāmṛta-mayīṃ dhārāṃ pratyāhārati bhāskaraḥ |
tat-pratyāharaṇaṃ tasya pratyāhāraḥ sa ucyate || 55 ||
chandramrita-mayim dharam pratyaharati bhaskarah |
tat-pratyaharanam tasya pratyaharah sa uchyate || 55 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

candrāmṛta-mayīm : den aus dem Nektar (Amrita) des Mondes (Chandra) bestehenden, gemachten (Maya)
dhārām : Strom, Fluss (Dhara)
pratyāhārati : zieht an, macht zunichte (prati + ā + hṛ)
bhāskaraḥ  : die Sonne (in der Nabelgegend, Bhaskara)
tat-pratyāharaṇam : das Zurückhalten (Pratyaharana) dieses (Nektarstroms, Tad)
tasya : von dieser (Tad Sonne, Bhaskara)
pratyāhāraḥ : Zurückhalten (Pratyahara)
saḥ : das (Tad)
ucyate : wird genannt, heißt (vac)

Anmerkung: Näheres über die Bedeutung von "Sonne" (Bhaskara) und "Mond" (Chandra) in diesem Vers erläutern die Verse 57 und 58.

Vers 56: Der Mondnektar und die drei Hauptnadis

Eine Frau, die von der Mondscheibe kommt, wird von zwei (anderen Frauen) genossen. Ein dritter, der von diesen beiden (verschieden) ist, wird (durch den Genuss dieser Frau) alterslos und unsterblich.


एका स्त्री भुज्यते द्वाभ्यामागता सोममण्डलात् |
तृतीयो यो भवेत्ताभ्यां स भवत्यजरामरः || ५६ ||
ekā strī bhujyate dvābhyām āgatā soma-maṇḍalāt |
tṛtīyo yo bhavet tābhyāṃ sa bhavaty ajarāmaraḥ || 56 ||
eka stri bhujyate dvabhyam agata soma-mandalat |
tritiyo yo bhavet tabhyam sa bhavaty ajaramarah || 56 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ekā : eine (Eka)
strī : Frau (Stri)
bhujyate : wird genossen (bhuj)
dvābhyām : von zwei (anderen Frauen, Dvi)
āgatā : kommend ("gekommen", Agata)
soma-maṇḍalāt : von der Mondscheibe (Soma-Mandala)
tṛtīyaḥ : ein dritter (Tritiya)
yaḥ : der, welcher (Yad)
bhavet : könnte sein, könnte werden (bhū)
tābhyām : (außer) diesen beiden (Tad)
saḥ : dieser (Tad)
bhavati : existiert, wird (bhū)
ajarāmaraḥ : nicht alternd und nicht sterbend (Ajaramara)

Anmerkungen: Dieser Vers nimmt in poetisch-erotischer Ausdrucksweise, die aus den tantrischen Ursprüngen der Hatha Yoga-Praxis verständlich wird, auf den vorangehenden Vers 55 Bezug: die "eine Frau, die von der Mondscheibe kommt" (ekā strī ... āgatā soma-maṇḍalāt) ist der "Strom des Mond-Nektars" (candrāmṛta-mayīṃ dhārām). Die beiden anderen "Frauen" sind die beiden Ida und Pingala genannten Nadis, durch die dieser "Mond-Nektar" gewöhnlich fließt. Der "dritte" (m.) bezieht sich auf Sushumna, den mittleren Energiekanal, durch den die Kundalini aufsteigt, sobald diese erwacht ist.

In der Hatha Yoga Pradipika 3.4) werden sieben Synonyme für Sushumna aufgezählt, darunter auch das männliche Substantiv mahā-pathaḥ ("der große Weg"), auf das sich tṛtīyaḥ hier bezieht:

suṣumṇā śūnya-padavī brahma-randhraṃ mahā-pathaḥ |
śmaśānaṃ śāmbhavī madhya-mārgaś cety eka-vācakāḥ || 3.4 ||

"Sushumna ("die überaus Gnädige"), Shunyapadavi ("der Pfad der Leere"), Brahmarandhra ("die Öffnung zum Brahman"), Mahapatha ("der große Weg"), Shmashana ("der Verbrennungsplatz"), Shambhavi ("die zu Shambhu/Shiva gehörige") und Madhyamarga ("der mittlere Weg") - so lauten die Synonyme (Ekavachaka) für Sushumna." (HYP 3.4)

Vers 57: Viparita Karani - Sonne und Mond im Körper

In der Region des Nabels existiert eine immer brennende Sonne, und an der Basis des Gaumens befindet sich ein Mond, der stets voller Unsterblichkeitsnektar ist.


नाभिदेशे भवत्येको भास्करो दहनात्मकः |
अमृतात्मा स्थितो नित्यं तालुमूले च चन्द्रमाः || ५७ ||
nābhi-deśe bhavaty eko bhāskaro dahanātmakaḥ |
amṛtātmā sthito nityaṃ tālu-mūle ca candramāḥ || 57 ||
nabhi-deshe bhavaty eko bhaskaro dahanatmakah |
amritatma sthito nityam talu-mule cha chandramah || 57 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nābhi-deśe : in der Region (Desha) des Nabels (Nabhi)
bhavati : es gibt, es existiert (bhū)
ekaḥ : eine (Eka)
bhāskaraḥ : Sonne (Bhaskara)
dahanātmakaḥ : brennende ("deren Wesen (Atmaka) das Brennen (Dahana) ist")
amṛtātmā : voller Unsterblichkeitsnektar ("dessen Wesen (Atman) der Unsterblichkeitsnektar (Amrita) ist")
sthitaḥ : befindet sich (Sthita)
nityam : stets, immer (Nitya)
tālu-mūle : an der Basis ("Wurzel", Mula) des Gaumens (Talu)
ca : und (Cha)
candramāḥ : ein Mond (Chandramas)

Anmerkungen: Dieser Unsterblichkeitsnektar (Amrita) wurde bereits in Vers 36 unter dem Namen Piyusha im Zusammenhang mit der Praxis von Jalandhara Bandha erwähnt, das dazu dient, dessen Hinabfließen und Verbranntwerden in der "Sonne" zu verhindern.

In der Gheranda Samhita (3.33) heißt es im Kontext der Praxis von Viparita Karani ganz ähnlich:

nābhi-mūle vaset sūryas tālu-mūle ca candramāḥ |
amṛtaṃ grasate sūryas tato mṛtyu-vaśo naraḥ || 3.33 ||

"In der Gegend unmittelbar unter dem Nabel (Nabhimula) wohnt die Sonne (Surya), und an der Basis (Mula) des Gaumens (Talu) der Mond (Chandramas). Die Sonne verschlingt den Unsterblichkeitsnektar (des Mondes Amrita), daher unterliegt der Mensch (Nara) der Gewalt (Vasha) des Todes (Mrityu)." (GhS 3.33)

Vers 58: Viparita Karani - Sonne, Mond und Nektar

Der Mond regnet mit nach unten gerichtetem Gesicht (Nektar) herab, und die Sonne verschlingt (diesen Nektar) mit nach oben gerichtetem Gesicht. In diesem Zusammenhang sollte man eine Methode kennen, mit welcher dieser Nektar aufgefangen werden kann.


वर्षत्यधोमुखश्चन्द्रो ग्रसत्यूर्ध्वमुखो रविः |
ज्ञातव्यं करणं तत्र येन पीयूषमाप्यते || ५८ ||
varṣaty adho-mukhaś candro grasaty ūrdhva-mukho raviḥ |
jñātavyaṃ karaṇaṃ tatra yena pīyūṣam āpyate || 58 ||
varshaty adho-mukhash chandro grasaty urdhva-mukho ravih |
jnatavyam karanam tatra yena piyusham apyate || 58 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

varṣati : regnet herab (Nektar, vṛṣ)
adho-mukhaḥ : mit nach unten gerichtetem Gesicht, Mund (Adhomukha)
candraḥ : der Mond (Chandra)
grasati : verschlingt (den Nektar, gras)
ūrdhva-mukhaḥ : mit nach oben gerichtetem Gesicht, Mund (Urdhvamukha)
raviḥ : die Sonne (Ravi)
jñātavyam : man sollte kennen ("es ist zu kennen", Jnatavya)
karaṇam : eine Methode, Stellung (Karana)
tatra : in diesem Zusammenhang ("dort", Tatra)
yena : durch die, wodurch (Yad)
pīyūṣam : der Nektar (Piyusha)
āpyate : aufgefangen, erlangt, in Besitz genommen wird (āp)

Anmerkung: Die Hatha Yoga Pradipika (3.77) sagt in diesem Zusammenhang:

yat kiñ-cit sravate candrād amṛtaṃ divya-rūpiṇaḥ |
tat sarvaṃ grasate sūryas tena piṇḍo jarā-yutaḥ || 3.77 ||

"Welches bisschen Nektar (Amrita) auch immer vom Mond (Chandra) von himmlicher Gestalt herabfließt, diesen verzehrt die Sonne (Surya) ganz und gar, wodurch der Körper (Pinda) dem Alter (Jara) unterliegt." (HYP 3.77)

Vers 59: Viparita Karani

Der Nabel ist oben, der Gaumen ist unten. Die Sonne ist oben, der Mond ist unten. Diese als umgekehrt bezeichnete Stellung wird aus dem Munde des Meisters erlangt.


ऊर्ध्वनाभिरधस्तालु ऊर्ध्वभानुरधः शशी |
करणं विपरीताख्यं गुरुवक्त्रेण लभ्यते || ५९ ||
ūrdhva-nābhir adhas tālu ūrdhva-bhānur adhaḥ śaśī |
karaṇaṃ viparītākhyaṃ guru-vaktreṇa labhyate || 59 ||
urdhva-nabhir adhas talu urdhva-bhanur adhah shashi |
karanam viparitakhyam guru-vaktrena labhyate || 59 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhva-nābhiḥ : der Nabel (Nabhi) ist oben (Urdhva)
adhaḥ : unten (Adhas)
tālu : der Gaumen (Talu)
ūrdhva-bhānuḥ : die Sonne (Bhanu) ist oben (Urdhva)
adhaḥ : unten
śaśī : der Mond (Shashin)
karaṇam : Stellung (Karana)
viparītākhyam : (diese als) umgekehrt (Viparita) bezeichnete (Akhya)
guru-vaktreṇa : aus dem Munde (Vaktra) des Meisters (Guru)
labhyate : wird erlangt (labh)

Anmerkung:

Die Hatha Yoga Pradipika (3.79) überliefert diesen Vers mit einigen Varianten, die im ersten Halbvers eine grammatisch korrektere (und die Regeln des Sandhi beachtende) Lesart bieten:

ūrdhva-nābher adhas-tālor ūrdhvaṃ bhānur adhaḥ śaśī |
karaṇī viparītākhā guru-vākyena labhyate || 3.79 ||

"Bei wem der Nabel (Nabhi) oben und der Gaumen (Talu) unten ist, bei dem ist die Sonne (Bhanu) oben und der Mond (Shashin) unten. Diese als umgekehrt (Viparita) bezeichnete Stellung (Karani) wird durch die Worte (Vakya) des Meisters (Guru) erlangt." (HYP 3.79)

Genauere Details über die Ausführung dieser Technik sind - wie so oft - nicht aus dem Text, sondern nur aus dem Munde des Meisters bzw. Lehrers (guru-vaktreṇa) zu erfahren.

Laut der Definition von Pratyahara in Vers 55 als "das Zurückhalten des (Mond-Nektarstroms) von der Sonne (in der Nabelgegend)" fällt die Praxis von Viparita Karani, die in der Hatha Yoga Pradipika zu den Mudras bzw. Karanas zählt, im Goraksha Shataka somit unter die Rubrik Pratyahara (vgl. die Anm. zu Vers 4).

Vers 60: Anahata Chakra - das Energiezentrum des unangeschlagenen Tones

Die Yogis kennen das Energiezentrum des unangeschlagenen Tones (Anahata Chakra) im Herzen, da wo ein dreifach gebundener Stier laut schallend brüllt.


त्रिधा बद्धो वृषो यत्र रौरवीति महास्वनम् |
अनाहतं च तच्चक्रं हृदये योगिनो विदुः || ६० ||
tridhā baddho vṛṣo yatra rauravīti mahā-svanam |
anāhataṃ ca tac cakraṃ hṛdaye yogino viduḥ || 60 ||
tridha baddho vrisho yatra rauraviti maha-svanam |
anahatam cha tach chakram hridaye yogino viduh || 60 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

tridhā : dreifach (Tridha)
baddhaḥ : gebundener (Baddha)
vṛṣaḥ : ein Stier (Vrisha)
yatra : wo (Yatra)
rauravīti : brüllt (ru)
mahā-svanam : laut schallend (Mahasvana)
anāhatam : des unangeschlagenen (Tones, Anahata)
ca : aber (Cha)
tat : (Tad)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
hṛdaye : im Herzen (Hridaya)
yoginaḥ : die Yogis (Yogin)
viduḥ : kennen (vid)

Anmerkung: Die Metapher des "dreifach gebundenen, laut brüllenden Stieres im Herzen" bezieht sich möglicherweise auf die in der Hatha Yoga Pradipika beschriebenen drei Phasen während der Nada Anusandhana genannten Meditation auf den unangeschlagenen Ton (Anahata Nada]), nach dem das Herzchakra benannt ist. Hierbei verschließt der Yogi beide Ohren und lauscht auf die inneren Töne (Nada, Dhvani), bis der Geist (Chitta) still bzw. "unbeweglich" (Sthira) wird, und sich schließlich mit dem Verklingen aller Klänge (Shabda) im Absoluten (Brahman) auflöst (Hatha Yoga Pradipika 4.82-102).

In der ersten Phase werden innerlich sehr laute Geräusche wie das Donnern der Brandung des Ozeans (Jaladhi), der Donner von Gewitterwolken (Jimuta), oder der Klang von Kesselpauken (Bheri) oder Trommeln (Jharjhara) gehört (hierzu passt auch das laute Brüllen eines Stieres). In der mittleren Phase hört der Yogi den Klang von (kleinen) Trommeln (Mardala), Muschelhörnern (Shankha), Glocken (Ghanta) oder Hörnern (Kahala), und in der letzten Phase den leisen Klang von Glöckchen (Kinkini), Flöten (Vamshi), einer Vina oder von Bienen (Bhramara, Hatha Yoga Pradipika 4.85-86).

Diese genannten drei Phasen entsprechen wiederum den Lauten und Klängen, die im zweiten, dritten und vierten Zustand der als Avastha Chatushtaya bezeichneten vier yogischen Zustände gehört werden (Hatha Yoga Pradipika 4.73-76). Diese vier Zustände (Avastha) werden in der Hatha Yoga Pradipika im unmittelbaren Kontext der Meditation auf den unangeschlagenen Ton (Anahata Nada) erwähnt, der im ersten, Arambha Avastha genannten Zustand, erstmals hörbar wird, und zunächst einem Geklingel (Kvanaka) wie von Schmuckstücken ähnelt (Hatha Yoga Pradipika 4.70). Im Verlauf der folgenden drei Phasen Ghata Avastha, Parichaya Avastha und Nishpatti Avastha ähnelt er dann jeweils den Klängen von Kesselpauken (Bheri), kleinen Trommeln (Mardala) und schließlich von Flöten- und Vinatönen (Hatha Yoga Pradipika 4.70, 73 u. 76).

Im engen Zusammenhang mit dem Durchlaufen dieser vier Zustände steht das Durchbrechen (Bheda) von drei sogenannten "Knoten" (Granthi), die als Blockaden innerhalb des Herz-, Kehl- und Stirnchakras bzw. von Anahata Chakra (Brahma Granthi), Vishuddhi Chakra (Vishnu Granthi) und Ajna Chakra (Rudra Granthi) aufgefasst werden (Hatha Yoga Pradipika 4.70, 73 u. 76). Hieraus ergibt sich ein weiterer naheliegender Bezug zu dem "dreifach gebundenen, laut brüllenden Stier im Herzen", von dem in diesem Vers des Goraksha Shataka die Rede ist: "dreifach gebunden" bezieht sich dann auf die drei Knoten bzw. Granthis, die im Prozess der Meditationspraxis auf den unangeschlagenen Ton nacheinander aufglöst werden, was mit einer veränderten Klangqualität und Lautstärke der im Inneren der Sushumna (vgl. Hatha Yoga Pradipika 4.68) gehörten Klänge einhergeht.

Vers 61: Vishuddha Chakra

Wenn die Lebensenergie, nachdem sie das Manipuraka Chakra verlassen hat, über dem Anahata Chakra den (nächsten) großen Lotus (das Vishuddha Chakra) erreicht, dann wird der (Bewusstseins-)Zustand des Yogis unsterblich.


अनाहतमतिक्रम्य चाक्रम्य मणिपूरकम् |
प्राप्ते प्राणे महापद्मं योगित्वममृतायते || ६१ ||
anāhatam atikramya cākramya maṇi-pūrakam |
prāpte prāṇe mahā-padmaṃ yogitvam amṛtāyate || 61 ||
anahatam atikramya chakramya mani-purakam |
prapte prane maha-padmam yogitvam amritayate || 61 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

anāhatam : dem Anahata (Chakra)
atikramya : hinter, nach ("überschritten habend", ati + kram)
ca : und, aber (Cha)
ākramya : nachdem (sie) erstiegen, verlassen hat ("erstiegen habend", ā + kram)
maṇi-pūrakam : das Manipuraka (Chakra)
prāpte : erreicht hat (Prapta)
prāṇe : (wenn) die Lebensenergie ("der Atem", Prana)
mahā-padmam : den (nächsten) großen Lotus (Mahapadma)
yogitvam : der Zustand eines Yogin, das Yogi-Sein (Yogitva)
amṛtāyate : wird unsterblich (Amritay)

Anmerkungen: Die sieben Haupt-Chakras entlang der Wirbelsäule bzw. der Sushumna bis hinauf zum Scheitel werden auch als "großer Lotus" (Mahapadma) oder "großes Rad" (Mahachakra) bezeichnet, was ein Hinweis darauf ist, dass es noch viele weitere Neben-Chakras gibt. Der Aufstieg der Lebensenergie (Prana) durch die einzelnen Energiezentren bzw. Chakras ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg der Kundalini. Hat diese das Kehlzentrum (Vishuddha Chakra) erreicht, so fällt der Yogi nicht wieder in einen niedrigeren Bewusstseinszustand zurück, d.h. sein "Yogi-Sein wird unsterblich".

Vers 62: Vishuddha Chakra

Das Wort vi bedeutet den Lebenshauch, und shuddha bedeutet rein. Daher kennen diejenigen, die sich mit den feinstofflichen Energiezentren auskennen, das feinstoffliche Energiezentrum in der Kehle unter dem Namen Vishuddha Chakra.


विशब्दः संस्मृतो हंसो निर्मलः शुद्ध उच्यते |
अतः कण्ठे विशुद्धाख्यं चक्रं चक्रविदो विदुः || ६२ ||
vi-śabdaḥ saṃsmṛto haṃso nirmalaḥ śuddha ucyate |
ataḥ kaṇṭhe viśuddhākhyaṃ cakraṃ cakra-vido viduḥ || 62 ||
vi-shabdah samsmrito hamso nirmalah shuddha uchyate |
atah kanthe vishuddhakhye chakram chakra-vido viduh || 62 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vi-śabdaḥ : das Wort (Shabda) Vi ("Vogel")
saṃsmṛtaḥ : heißt, bedeutet ("wird erinnert", Samsmrita)
haṃsaḥ : Seele, Lebenshauch, Lebensenergie, Atem ("Gans", Hamsa)
nirmalaḥ : rein, fleckenlos (Nirmala)
śuddhaḥ : Shuddha ("rein, ungemischt, pur")
ucyate : bedeutet ("wird genannt", vac)
ataḥ : daher (Atas)
kaṇṭhe : in der Kehle, im Kehlbereich (Kantha)
viśuddhākhyam : unter dem Namen (Akhya) Vishuddha ("das Reine", oder: "die reine Seele bzw. Lebensenergie")
cakram : das feinstoffliche Energiezentrum (Chakra)
cakra-vidaḥ : (diejenigen), die sich mit den feinstofflichen Energiezentren auskennen (Chakra-Vid)
viduḥ : kennen (vid)

Anmerkung: Dieser Vers gibt eine Deutung der Bezeichnung Vishuddha Chakra: Das Wort vi-śuddha, das normalerweise als ein Adjektiv mit der Bedeutung "rein, vollkommen gereinigt, geläutert, klar" verstanden wird (śuddha mit Verbalpräfix vi), wird hier in zwei Substantive zerlegt: Vi "Vogel" bedeutet Hamsa, und Shuddha "rein, fleckenlos". Das Wort haṃsa (wörtl.: "Gans") wurde bereits in Vers 40 im Sinne von Prana "Lebensenergie, Lebensatem, Atem" verwendet (vgl. auch die Anm.). Die Bedeutung von vi-śuddha ist demnach "der reine Lebenshauch".

Vers 63: Zurückhalten des Mondnektars im Vishuddha Chakra

Wenn der Nektar der Mondsichel einen Monat lang in diesem vorzüglichen Vishuddha Chakra zurückgehalten wurde, dann kommt er nicht mehr zum Versiegen, weil er dem Mund der Sonne entgangen ist.


विशुद्धे परमे चक्रे धृत्वा सोमकलाजलम् |
मासेन न क्षयं याति वञ्चयित्वा मुखं रवेः || ६३ ||
viśuddhe parame cakre dhṛtvā soma-kalā-jalam |
māsena na kṣayaṃ yāti vañcayitvā mukhaṃ raveḥ || 63 ||
vishuddhe parame chakre dhritva soma-kala-jalam |
masena na kshayam yati vanchayitva mukham raveh || 63 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

viśuddhe : des reinen Lebenshauchs ("reinen", Vishuddha)
parame : in (diesem) vorzüglichen (Parama)
cakre : Energiezentrum (Chakra)
dhṛtvā : wenn zurückgehalten wurde (dhṛ)
soma-kalā-jalam : der Nektar ("Wasser", Jala) der Mondsichel (Somakala)
māsena : einen Monat lang (Masa)
na : nicht (Na)
kṣayam : zum Versiegen ("Niedergang", Kshaya)
yāti : er kommt ("geht", )
vañcayitvā : weil er entgangen ist ("entgangen seiend", vañc)
mukham : dem Mund (Mukha)
raveḥ : der Sonne (Ravi)

Anmerkung: Von der inneren "Sonne" in der Nabelgegend, die den Mondnektar verschlingt, war bereits in Vers 58 die Rede. Die Übersetzung dieses Verses geht von soma-kalā-jalam als logischem Subjekt in passiver Konstruktion aus. Man könnte auch aktivisch übersetzen und als logisches Subjekt den yogī ergänzen, dann hieße es: "Wenn (der Yogi) den Nektar der Mondsichel einen Monat lang in diesem vorzüglichen Vishuddha Chakra zurückgehalten hat, dann geht er nicht mehr zu Grunde, weil er den Mund der Sonne hintergangen hat."

In der Hatha Yoga Pradipika (3.78) ist im Zusammenhang mit der Praxis von Viparita Karani ebenfalls vom Täuschen bzw. Vermeiden "des Mundes der Sonne" die Rede:

tatrāsti karaṇaṃ divyaṃ sūryasya mukha-vañcanam |
gurūpadeśato jñeyaṃ na tu śāstrārtha-koṭibhiḥ || 3.78 ||

"In diesem Zusammenhang gibt es ein himmliches (Divya) Mittel (Karana) zum Vermeiden (Vanchana) des Mundes (Mukha) der Sonne (Surya). Dieses ist durch die Unterweisung (Upadesha) eines Meisters (Guru) zu erlernen, aber nicht durch (das Studium von) zehn Millionen (Koti) Dingen (Artha) in den Lehrbüchern (Shastra)." (HYP 3.78)

Vers 64: Jihva Bandha

Wenn man über die Göttin in Form des Unsterblichkeitsnektars meditiert, (während man diesen zurückhält,) indem man mit der Zungenspitze kräftig gegen die Basis der Schneidezähne drückt, wird man innerhalb von sechs Monaten zu einem Weisen.


सम्पीड्य रसनाग्रेण राजदन्तबिलं महत् |
ध्यात्वामृतमयीं देवीं षण्मासेन कविर्भवेत् || ६४ ||
sampīḍya rasanāgreṇa rāja-danta-bilaṃ mahat |
dhyātvāmṛta-mayīṃ devīṃ ṣaṇ-māsena kavir bhavet || 64 ||
sampidya rasanagrena raja-danta-bilam mahat |
dhyatvamrita-mayim devim shan-masena kavir bhavet || 64 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sampīḍya : während man drückt ("gedrückt habend", sam + pīḍ)
rasanāgreṇa : mit der Spitze (Agra) der Zunge (Rasana)
rāja-danta-bilam : gegen die Basis ("Höhlung", Bila) der Schneidezähne ("Königszähne", Rajadanta)
mahat : kräftig ("mächtig", Mahat)
dhyātvā : indem man meditiert, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
amṛta-mayīm : in Form ("bestehend aus", Maya) des Unsterblichkeitsnektars (Amrita)
devīm : über die Göttin (Devi)
ṣaṇ-māsena : innerhalb von sechs Monaten (Shanmasa)
kaviḥ : ein Weiser, Dichter (Kavi)
bhavet : wird, werde man (bhū)

Anmerkung: In der Hatha Yoga Pradipika wird der Jihva Bandha genannte Zungenverschluss, der ebenfalls das Fallen des Mondnektars in die Sonne im Nabelbereich verhindert, zweimal erwähnt - einmal in Vers 1.48 im Zusammenhang mit der Praxis von Padmasana, und einmal in Vers 3.22 im Zusammenhang mit der Praxis von Maha Bandha:

nāsāgre vinyased rāja-danta-mūle tu jihvayā |
uttambhya cibukaṃ vakṣasy utthāpya pavanaṃ śanaiḥ || 1.48 ||

"Man richte (beide Augen) auf die Nasenspitze (Nasagra), drücke mit der Zunge (Jihva) an die Basis (Mula) der Schneidezähne (Rajadanta), presse das Kinn (Chibuka) auf die Brust (Vakshas), und lenke den Lebensatem (Pavana, durch Mula Bandha) langsam aufwärts." (HYP 1.48)

matam atra tu keṣāñ-cit kaṇṭha-bandhaṃ vivarjayet
rāja-danta-stha-jihvāyā bandhaḥ śasto bhaved iti || 3.22 ||

"Hier (im Zusammenhang mit der Praxis von Maha Bandha) ist jedoch die Ansicht (Mata) einiger (Lehrer), dass man den Kehlverschluss (Kanthabandha, d.h. Jalandhara Bandha) vermeiden soll, (und dafür) wird der Verschluss (Bandha) empfohlen, bei dem sich die Zunge (Jihva an den Schneidezähnen (Rajadanta) befindet (Stha, d.h. Jihva Bandha)." (HYP 3.22)

Vers 65: Wirkungen der Bewahrung des Mondnektars

Der Samen eines Yogis, dessen Körper mit dem Unsterblichkeitsnektar gefüllt ist, steigt innerhalb von zwei-drei Jahren aufwärts, und es kommen auch die übernatürlichen Fähigkeiten wie das Winzigwerden usw. zur Entfaltung.


अमृतापूर्णदेहस्य योगिनो द्वित्रिवत्सरात् |
ऊर्ध्वं प्रवर्तते रेतोऽप्यणिमादिगुणोदयः || ६५ ||
amṛtāpūrṇa-dehasya yogino dvi-tri-vatsarāt |
ūrdhvaṃ pravartate reto'py aṇimādi-guṇodayaḥ || 65 ||
amritapurna-dehasya yogino dvi-tri-vatsarat |
urdhvam pravartate reto'py animadi-gunodayah || 65 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

amṛtāpūrṇa-dehasya : dessen Körper (Deha) mit dem Unsterblichkeitsnektar (Amrita) gefüllt, gesättigt (Apurna) ist
yoginaḥ : eines Yogis (Yogin)
dvi-tri-vatsarāt : nach, innerhalb von zwei (Dvi) drei (Tri) Jahren (Vatsara)
ūrdhvam : aufwärts (Urdhva)
pravartate : bewegt sich, steigt (pra + vṛt)
retaḥ : der Samen (Retas)
api : auch (Api)
aṇimādi-guṇodayaḥ : (es kommt zur) Entfaltung ("Aufgang", Udaya) der (übernatürlichen) Fähigkeiten ("Eigenschaften", Guna) wie dem Winzigwerden (Animan) usw. (Adi)

Anmerkung: Die acht Siddhis sind Animan, Mahiman, Gariman, Laghiman, Prapti, Prakamya, Ishita und Vashitva (vgl. auch die Anm. zu Vers 32).

Vers 66: Wirkungen der Bewahrung des Mondnektars

So wie das Feuer das Brennholz und die Flamme einer Lampe den mit Öl (gesättigten) Docht nicht verlässt, genauso verlässt auch die Seele nicht den Körper, (solange) er von dem Strahl des Mondnektars erfüllt ist.


इन्धनानि यथा वह्निस्तैलवर्तिं च दीपकः |
तथा सोमकलापूर्णं देही देहं न मुञ्चति || ६६ ||
indhanāni yathā vahnis taila-vartiṃ ca dīpakaḥ |
tathā soma-kalā-pūrṇaṃ dehī dehaṃ na muñcati || 66 ||
indhanani yatha vahnis taila-vartim cha dipakah |
tatha soma-kala-purnam dehi deham na munchati || 66 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

indhanāni : den Brennstoff, das Brennholz (Indhana)
yathā : so wie (Yatha)
vahniḥ : das Feuer (Vahni)
taila-vartim : den mit Öl (gesättigten, Taila) Docht (Varti)
ca : und (Cha)
dīpakaḥ : die Flamme einer Lampe (Dipaka)
tathā : genauso (Tatha)
soma-kalā-pūrṇam : den von dem Strahl (Kala) des Mondnektars (Soma) erfüllten (Purna)
dehī : der Verkörperte, die Seele (Dehin)
deham : Körper (Deha)
na : nicht (Na)
muñcati : verlässt (muc)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.46) überliefert, wo er im Kontext von Khechari Mudra steht.

Vers 67: Dharana

Vertraut mit der Sitzhaltung, mit der Atemkontrolle und mit dem Zurückhalten (des Mondnektars), soll man auch mit der Praxis der Konzentrationsübungen beginnen.


आसनेन समायुक्तः प्राणायामेन संयुतः |
प्रत्याहारेण संयुक्तो धारणाश्च समभ्यसेत् || ६७ ||
āsanena samāyuktaḥ prāṇāyāmena saṃyutaḥ |
pratyāhāreṇa saṃyukto dhāraṇāś ca samabhyaset || 67 ||
asanena samayuktah pranayamena samyutah |
pratyaharena samyukto dharanash cha samabhyaset || 67 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanena : mit der Sitzhaltung, Körperstellung (Asana)
samāyuktaḥ : ausgestattet, vertraut ("verbunden", Samayukta)
prāṇāyāmena : mit der Atemkontrolle, Atemverhaltung (Pranayama)
saṃyutaḥ : ausgestattet ("verbunden", Samyuta)
pratyāhāreṇa : mit dem Zurückhalten (des Mondnektars, Pratyahara)
saṃyuktaḥ : ausgestattet ("verbunden", Samyukta)
dhāraṇāḥ : die Konzentration(sübungen, Dharana)
ca : auch (Cha)
samabhyaset : man soll üben, praktizieren (sam + abhi + as)

Anmerkung: Hier werden einerseits die bisher gelehrten drei Glieder des Hatha Yoga, nämlich Asana, Pranayama und Pratyahara, als notwendige Voraussetzungen für die Konzentrations- bzw. Meditationspraxis (Dharana) angesehen, andererseits wird auch deutlich, dass letztere die folgerichtige Fortsetzung und das eigentliche Ziel der vorangehenden drei Glieder ist.

Vers 68: Dharanas über die fünf Elemente

Mann soll die einzelnen Konzentrationsübungen über die fünf Elemente, jede für sich, im Inneren üben. Die Konzentration wird in Form der Bewegungslosigkeit des Geistes praktiziert.


हृदये पञ्चभूतानां धारणाश्च पृथक्पृथक् |
मनसो निश्चलत्वेन धारणा च विधीयते || ६८ ||
hṛdaye pañca-bhūtānāṃ dhāraṇāś ca pṛthak pṛthak |
manaso niścalatvena dhāraṇā ca vidhīyate || 68 ||
hridaye pancha-bhutanam dharanash cha prithak prithak |
manaso nishchalatvena dharana cha vidhiyate || 68 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

hṛdaye : im Inneren, innerlich ("im Herzen", Hridaya)
pañca-bhūtānām : der fünf Elemente (Panchabhuta)
dhāraṇāḥ : die Konzentration(sübungen, Dharana)
ca : aber (Cha)
pṛthak pṛthak : jeweils, einzeln, jede für sich (Prithak)
manasaḥ : des Geistes (Manas)
niścalatvena : als, mit, in Form der Bewegungslosigkeit, Unbeweglichkeit (Nishchalatva)
dhāraṇā : die Konzentration
ca : aber
vidhīyate : wird ausgeführt, praktiziert (vi + dhā)

Anmerkungen: Das fehlende Verb (samabhyaset "man soll üben") im ersten Halbvers wird aus dem vorangehenden Vers 67 ergänzt. In den folgenden fünf Versen (69-73) werden die einzelnen Konzentrationsübungen über die fünf Elemente gelehrt, wobei die entsprechenden Visualisierungen in den jeweils zugeordneten Körperregionen bzw. Konzentrationspunkten (Adhara) vorgenommen werden. Daher ist hṛdaye "im Herzen" hier nicht wörtlich zu verstehen, sondern es verweist auf das "Innere, Geistige" im Allgemeinen. Im zweiten Halbvers wird mit manaso niścalatvena "in Form der Bewegungslosigkeit des Geistes" eine kurzgefasste Definition für Dharana (wörtl.: "das Festhalten") gegeben, vgl. hierzu Patanjalis Definition in Yogasutra 3.1: deśa-bandhaś cittasya dhāraṇā "Die Bindung (Bandha) des Bewusstseins (Chitta) an einen Ort (Desha) ist Konzentration (Dharana)".

In der Gheranda Samhita werden diese Konzentrationsübungen über die fünf Elemente unter der Bezeichnung pañca-dhāraṇā im Zusammenhang mit den Mudras gelehrt. In den Versen 3.68-69 werden ihre Wirkungen wie folgt gepriesen:

kathitā śāṃbhavī mudrā śṛṇuṣva pañca-dhāraṇām |
dhāraṇāni samāsādya kiṃ na sidhyati bhū-tale || 3.68 ||

"Höre nun, nachdem die Shambhavi Mudra gelehrt wurde, die fünf (Pancha) Konzentrationstechniken (über die fünf Elemente, Dharana). Was erreicht einer nicht auf Erden (Bhutala), der diese Konzentrationstechniken beherrscht?" (GhS 3.68)

anena nara-dehena svargeṣu gamanāgamam |
mano-gatir bhavet tasya khe-caratvaṃ na cānyathā || 3.69 ||

"(So) kann er mit diesem menschlichen (Nara) Körper (Deha) in den Himmeln (Svarga) ein- und ausgehen (Gamana-Agama), nach Belieben gehen, wohin er will (Manogati), sich durch die Luft bewegen (Khecharatva), nicht (aber) auf andere Weise." (GhS 3.69)

Vers 69: Dharana über das Element Erde

Man lenke seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist auf das im Herzen befindliche (Element) Erde, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Erde als ein) wie ein Stück Auripigment (gold-)gelb leuchtendes Viereck, darin den auf einer Lotusblüte sitzenden (Gott Brahma), zusammen mit dem Laut LA(M). Diese Konzentrationsübung auf (das Element) Erde macht unbeweglich und verleiht jederzeit die Meisterschaft über (das Element) Erde.


या पृथ्वी हरितालदेशरुचिरा पीता लकारान्विता
संयुक्ता कमलासनेन हि चतुष्कोणा हृदि स्थायिनी |
प्राणं तत्र विनीय पञ्चघटिकाश्चित्तान्वितं धारये-
देषा स्तम्भकरी सदा क्षितिजयं कुर्याद्भुवो धारणा || ६९ ||
yā pṛthvī hari-tāla-deśa-rucirā pītā la-kārānvitā
saṃyuktā kamalāsanena hi catuṣ-koṇā hṛdi sthāyinī |
prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed
eṣā stambhakarī sadā kṣiti-jayaṃ kuryād bhuvo dhāraṇā || 69 ||
ya prithvi hari-tala-desha-ruchira pita la-karanvita
samyukta kamalasanena hi catush-kona hridi sthayini |
pranam tatra viniya pancha-ghatikash chittanvitam dharayed
esha stambhakari sada kshiti-jayam kuryad bhuvo dharana || 69 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

 : (dort) wo ("was, welche", Yad)
pṛthvī : (das Element) Erde (Prithvi)
hari-tāla-deśa-rucirā : glänzend; prächtig, schön (Ruchira) wie ein Stück (Desha) Auripigment, Arsen(III)-sulfid (Haritala)
pītā : gelb, gelblich (Pita)
la-kārānvitā : versehen, zusammen (Anvita) mit dem Laut La (Lakara)
saṃyuktā : zusammen, verbunden (Samyukta)
kamalāsanena : mit (Gott) Brahma, ("dessen Sitz eine Lotusblüte ist", Kamalasana)
hi : gewiss (Hi)
catuṣ-koṇā : viereckig, in viereckiger Form (Chatushkona)
hṛdi : im Herzen, im Herzchakra (Hrid)
sthāyinī : sich befindet (Sthayin)
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vinīya : lenkend, richtend ("gelenkt habend", vi + )
pañca-ghaṭikāḥ : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : diese (Etad)
stambhakarī : unbeweglich machende (Stambhakara)
sadā : immer, jederzeit (Sada)
kṣiti-jayam : die Herrschaft, Meisterschaft ("Sieg", Jaya) über (das Element) Erde (Kshiti)
kuryāt : verleiht, bewirkt ("macht", kṛ)
bhuvaḥ : über (das Element) Erde (Bhu)
dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit geringen Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.70) überliefert. Es handelt sich (hier und in den folgenden vier Versen) um eine komplexe Konzentrations- und Visualisierungstechnik (Dharana), bei der Geist (Chitta) und Atmung (wörtl.: die Lebensenergie Prana) auf einen Konzentrationspunkt im Körper (bzw. auf ein feinstoffliches Energiezentrum, in diesem Fall das Herzchakra) gelenkt und da für längere Zeit gehalten werden. In diesem inneren Raum werden eine geometrische Form, eine Farbe, sowie die dazugehörige Gottheit visualisiert und das jeweilige, dem Element zugeordnete Bijamantra innerlich rezitiert bzw. "gehört".

Das dem Element Erde (Bhu) zugeordnete Bijamantra ist LAM, das in der Regel mit dem Muladhara Chakra in Verbindung gebracht wird. Die im Goraksha Shataka gelehrten Visualisierungstechniken über die fünf Elemente beginnen jedoch im Herzchakra (Anahata Chakra) und steigen mit jedem Element weiter aufwärts bis zum Brahmarandhra.

Das Wort stambha-karī "die unbeweglich machende" kann sich einerseits auf die unbewegliche, stabile Sitzhaltung sowie die angestrebte Unbeweglichkeit des Geistes des meditierenden Yogis beziehen (vgl. die Anm. zu Vers 68). In diesem Sinne wäre stambha-karī gleichbedeutend mit den Adjektiven sthira, niścala bzw. sthāṇu und deren Substantivierungen Sthairya, Nishchalatva bzw. Sthanutva, die alle "Unbeweglichkeit" bedeuten. Insofern diese Dharana über das Element Erde die Herrschaft bzw. den "Sieg" über dieses Element verleiht (kṣiti-jayam), könnte stambha-karī auch ein Verweis auf die als Stambhana bezeichnete magische Fähigkeit des "Festbannens, Lähmens, Unbeweglichmachens" verstanden werden, die in vielen tantrischen Texten erwähnt wird. Diese magische Fähigkeit wurde bspw. benutzt, um bestimmte Gottheiten festzubannen bzw. an der Ausübung ihrer (magischen) Kräfte zu hindern. Zu den Wirkungen der einzelnen Dharanas vgl. auch Vers 74.

In der Gheranda Samhita (3.71) heißt es in diesem Zusammenhang:

pārthivī-dhāraṇā-mudrāṃ yaḥ karoti ca nityaśaḥ |
mṛtyuṃ-jayaḥ svayaṃ so 'pi sa siddho vicared bhuvi || 3.71 ||

"Wer diese Mudra (in Form der) Konzentration (Dharana) auf das (Element) Erde (Parthiva) beständig praktiziert, der besiegt von selbst den Tod (Mrityumjaya), der wandelt als ein Vollkommener (Siddha) auf Erden (Bhu)." (GhS 3.71)

Vers 70: Dharana über das Element Wasser

Man lenke seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist auf das im (Bereich der) Kehle befindliche Element Wasser, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Wasser) in Form eines Halbmondes, blendend weiß wie Jasmin, zusammen mit der Keimsilbe VA(M) und dem (Mond-)Nektar, immer in Verbindung mit Vishnu (als Gottheit). Dies ist die zum (Element) Wasser gehörige Konzentrationsübung, die (sogar) das tödliche Gift Kalakuta verdaut.


अर्धेन्दुप्रतिमं च कुन्दधवलं कण्ठेऽम्बुतत्त्वं स्थितं
यत्पीयूषवकारबीजसहितं युक्तं सदा विष्णुना |
प्राणं तत्र विनीय पञ्चघटिकाश्चित्तान्वितं धारये-
एषा दुर्वहकालकूटजरणा स्याद्वारिणी धारणा || ७० ||
ardhendu-pratimaṃ ca kunda-dhavalaṃ kaṇṭhe'mbu-tattvaṃ sthitaṃ
yat pīyūṣa-va-kāra-bīja-sahitaṃ yuktaṃ sadā viṣṇunā |
prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed
eṣā durvaha-kāla-kūṭa-jaraṇā syād vāriṇī dhāraṇā || 70 ||
ardhendu-pratimam cha kunda-dhavalam kanthe'mbu-tattvam sthitam
yat piyusha-va-kara-bija-sahitam yuktam sada vishnuna |
pranam tatra viniya pancha-ghatikash chittanvitam dharayed
esha durvaha-kala-kuta-jarana syad varini dharana || 70 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ardhendu-pratimam : in Form, als Abbild (Pratima) des Halbmondes (Ardhendu)
ca : und (Cha)
kunda-dhavalam : blendend weiß (Dhavala) wie Jasmin (Kunda, Jasminum multiflorum)
kaṇṭhe : in der Kehle, im Kehlchakra (Kantha)
ambu-tattvam : das Element, Prinzip (Tattva) Wasser (Ambu)
sthitam : sich befindet (Sthita)
yat : (dort) wo ("was, welches", Yad)
pīyūṣa-va-kāra-bīja-sahitam : versehen, zusammen mit (Sahita) der Keimsilbe (Bija) Va (Vakara) und dem (Mond-)Nektar (Piyusha)
yuktam : verbunden (Yukta)
sadā : immer, jederzeit (Sada)
viṣṇunā : mit (dem Gott) Vishnu
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vinīya : lenkend, richtend ("gelenkt habend", vi + )
pañca-ghaṭikāḥ : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : dies (Etad)
durvaha-kāla-kūṭa-jaraṇā : die das tödliche ("schwer zu ertragende", Durvaha) Gift Kalakuta verdaut, auflöst, neutralisiert (Jarana)
syāt : ist (as)
vāriṇī : die zum (Element) Wasser gehört (Varin)
dhāraṇā : die Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.72) überliefert. In dieser Version wird allerdings kein Ort angegeben, wo das Element Wasser im Körper zu visualieren ist. Das dem Element Wasser (Vari) zugeordnete Bijamantra ist VAM, das in der Regel mit dem Svadhishthana Chakra in Verbindung gebracht wird.

In der Gheranda Samhita (3.73) heißt es über die Wirkung dieser Visualsierungstechnik:

āmbhasīṃ paramāṃ mudrāṃ yo jānāti sa yoga-vit |
jale ca gabhīre ghore maraṇaṃ tasya no bhavet || 3.73 ||

"Wer diese höchste Mudra (in Form der Konzentration) die zum (Element) Wasser gehört (Ambhasa) kennt, der ist ein Kenner des Yoga (Yogavid). Auch in tiefem (Gabhira), schrecklichem (Ghora) Wasser (Jala) findet er nicht den Tod (Marana)." (GhS 3.73)

Vers 71: Dharana über das Element Feuer

Man lenke seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist auf das in der Gaumengegend befindliche Element Feuer, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Feuer als) ein karminrot leuchtendes Dreieck, schön wie eine Koralle, zusammen mit (der Keimsilbe) RA(M und) Rudra (als Gottheit). Diese zum (Element) Feuer gehörige Konzentrationsübung verleiht jederzeit die Meisterschaft über das (Element) Feuer.


यत्तालस्थितमिन्द्रगोपसदृशं तत्त्वं त्रिकोणोज्ज्वलं
तेजो रेफमयं प्रवालरुचिरं रुद्रेण यत्सङ्गतम् |
प्राणं तत्र विनीय पञ्चघटिकाश्चित्तान्वितं धारये-
देषा वह्निजयं सदा विदधते वैश्वानरी धारणा || ७१ ||
yat tāla-sthitam indra-gopa-sadṛśaṃ tattvaṃ tri-koṇojjvalaṃ
tejo repha-mayaṃ pravāla-ruciraṃ rudreṇa yat saṅgatam |
prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed
eṣā vahni-jayaṃ sadā vidadhate vaiśvānarī dhāraṇā || 71 ||
yat tala-sthitam indra-gopa-sadrisham tattvam tri-konojjvalam
tejo repha-mayam pravala-ruchiram rudrena yat sangatam |
pranam tatra viniya pancha-ghatikash chittanvitam dharayed
esha vahni-jayam sada vidadhate vaishvanari dharana || 71 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yat : (dort) wo ("was, welches", Yad)
tāla-sthitam : sich in der Gaumen(gegend, Tala wörtl.: "Handfläche") befindet (Sthita)
indra-gopa-sadṛśam : (dem roten Farbstoff) Karmin (Indragopa) gleich (Sadrisha)
tattvam : das Element, Prinzip (Tattva)
tri-koṇojjvalam : (in Form eines) Dreiecks (Trikona) glänzend, strahlend, leuchtend (Ujjvala)
tejaḥ : Feuer (Tejas)
repha-mayam : versehen mit ("gebildet aus", Maya) dem (Laut) RA(M) (Repha)
pravāla-ruciram : prächtig, schön (Ruchira) wie eine Koralle (Pravala)
rudreṇa : mit Rudra (als Gottheit)
yat : das, welches (Yad)
saṅgatam : verbunden, in Verbindung (Sangata)
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vinīya : lenkend, richtend ("gelenkt habend", vi + )
pañca-ghaṭikāḥ : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : diese (Etad)
vahni-jayam : die Herrschaft, Meisterschaft ("Sieg", Jaya) über (das Element) Feuer (Vahni)
sadā : immer, jederzeit (Sada)
vidadhate : verleiht (vi + dhā)
vaiśvānarī : die zum (Element) Feuer gehört (Vaishvanara)
dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.75) überliefert. In dieser Version wird allerdings der Nabel (Nabhi) als der Ort angegeben, wo das Element Feuer im Körper zu visualisieren ist: yan nābhi-sthitam... Das dem Element Feuer (Vahni) zugeordnete Bijamantra ist RAM, das in der Regel mit dem Manipura Chakra in Verbindung gebracht wird. Im Goraksha Shataka heißte es dagegen yat tāla-sthitam, wobei tāla (wörtl.: "Handfläche") vermutlich ein Schreibfehler (in allen bekannten Manuskripten?) ist und wohl richtiger tālu "Gaumen" (Talu) zu lesen wäre (vgl. Goraksha Paddhati 2.56: yat tālu-sthitam). Die Editoren des Textes übersetzen auch in diesem Sinne, geben allerdings im kritischen Apparat keinerlei andere Lesart für tāla an.

In der Gheranda Samhita (3.76) heißt es über die Wirkung dieser Visualsierungstechnik:

pradīpte jvalite vahnau yadi patati sādhakaḥ |
etan-mudrā-prasādena sa jīvati na mṛtyu-bhāk || 3.76 ||

"Wenn der Praktizierende (Sadhaka) in ein heißes (Pradipta), loderndes (Jvalita) Feuer (Vahni) fällt, bleibt er durch die Gnade (Prasada) dieser Mudra (in Form der Konzentration auf das Element Feuer) am Leben und erleidet nicht den Tod (Mrityu)." (GhS 3.76)

Vers 72: Dharana über das Element Luft

Man lenke seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist auf das zwischen den Augenbrauen befindliche Element Luft, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Luft als) einen Kreis, (schwarz) wie mit Öl angemachte Augensalbe, zusammen mit (der Keimsilbe) YA(M und) Ishvara (als) Gottheit. Diese zum (Element) Luft gehörige Konzentrationsübung bewirkt, dass die sich zügelnden (Yogis) im Luftraum wandeln können.


यद्भिन्नाञ्जनपुञ्जसन्निभमिदं तत्त्वं भ्रुवोरन्तरे
वृत्तं वायुमयं यकारसहितं यत्रेश्वरो देवता |
प्राणं तत्र विनीय पञ्चघटिकाश्चित्तान्वितं धारये-
देषा खे गमनं करोति यमिनां स्याद्वायवी धारणा || ७२ ||
yad bhinnāñjana-puñja-sannibham idaṃ tattvaṃ bhruvor antare
vṛttaṃ vāyu-mayaṃ ya-kāra-sahitaṃ yatreśvaro devatā |
prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed
eṣā khe gamanaṃ karoti yamināṃ syād vāyavī dhāraṇā || 72 ||
yad bhinnanjana-punja-sannibham idam tattvam bhruvor antare
vrittam vayu-mayam ya-kara-sahitam yatreshvaro devata |
pranam tatra viniya pancha-ghatikash chittanvitam dharayed
esha khe gamanam karoti yaminam syad vayavi dharana || 72 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yat : (dort) wo ("was, welches", Yad)
bhinnāñjana-puñja-sannibham : (von schwarzer Farbe) gleich, ähnlich (Sannibha) einem Fleck ("Haufen", Punja) von mit Öl angemachter Augensalbe (Bhinnanjana)
idam : das (Idam)
tattvam : Element, Prinzip (Tattva)
bhruvoḥ : der Augenbrauen (Bhru)
antare : in der Mitte, zwischen (Antara)
vṛttam : Kreis (Vritta)
vāyu-mayam : bestehend aus ("gebildet aus", Maya) Luft ("Wind", Vayu)
ya-kāra-sahitam : versehen, zusammen mit (Sahita) dem Laut YA(M, Yakara)
yatra : wo (Yatra)
īśvaraḥ : Ishvara ("der Herr, Gebieter")
devatā : Gottheit (ist, Devata)
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vinīya : lenkend, richtend ("gelenkt habend", vi + )
pañca-ghaṭikāḥ : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : die (Etad)
khe : im Luftraum (Kha)
gamanam : das Gehen (Gamana)
karoti : sie bewirkt ("macht", kṛ)
yaminām : der sich zügelnden (Yogis, Yamin)
syāt : ist ("sei", as)
vāyavī : die zum (Element) Wind gehört (Vayava)
dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.77) überliefert. In dieser Version wird allerdings kein Ort angegeben, wo das Element Luft im Körper zu visualieren ist. Das dem Element Luft (Vayu) zugeordnete Bijamantra ist YAM, das in der Regel mit dem Anahata Chakra in Verbindung gebracht wird.

In der Gheranda Samhita (3.78) heißt es über die Wirkung dieser Visualsierungstechnik:

iyaṃ tu paramā mudrā jarāmṛtyu-vināśinī |
vāyunā mriyate nāpi khe ca gati-pradāyinī || 3.78 ||

"Diese höchste Mudra (in Form der Konzentration auf das Element Luft) vertreibt Alter (Jara) und Tod (Mrityu), und sie verleiht (die Fähigkeit), im Luftraum (Kha) zu wandeln (Gati). Man stirbt auch nicht durch Wind (Vayu)." (GhS 3.78)

Vers 73: Dharana über das Element Äther/Raum

Man lenke seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist auf das am Brahmarandhra befindliche (Element) Äther, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Äther als farblos) wie vollkommen reines Wasser, still, zusammen mit der (Keim-)Silbe HA(M und) dem uranfänglichen Sadashiva (als Gottheit). Diese Konzentrationsübung über (das Element) Äther gilt als geeignet, die Tür zur Befreiung aufbrechen.


आकाशं सुविशुद्धवारिसदृशं यद्ब्रह्मरन्ध्रे स्थितं
तत्राद्येन सदाशिवेन सहितं शान्तं हकाराक्षरम् |
प्राणं तत्र विनीय पञ्चघटिकाश्चित्तान्वितं धारये-
देषा मोक्षकवाटपाटनपटुः प्रोक्ता नभोधारणा || ७३ ||
ākāśaṃ suviśuddha-vāri-sadṛśaṃ yad brahma-randhre sthitaṃ
tatrādyena sadā-śivena sahitaṃ śāntaṃ ha-kārākṣaram |
prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed
eṣā mokṣa-kavāṭa-pāṭana-paṭuḥ proktā nabho-dhāraṇā || 73 ||
akasham suvishuddha-vari-sadrisham yad brahma-randhre sthitam
tatradyena sada-shivena sahitam shantam ha-karaksharam |
pranam tatra viniya pancha-ghatikash chittanvitam dharayed
esha moksha-kavata-patana-patuh prokta nabho-dharana || 73 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ākāśam : der Äther, Raum (Akasha)
suviśuddha-vāri-sadṛśam : (farblos) wie ("gleich", Sadrisha) vollkommen reines (Suvishuddha) Wasser (Vari)
yat : (dort) wo ("was, welches", Yad)
brahma-randhre : im Brahmarandhra ("Öffnung zum Brahman")
sthitam : sich befindet (Sthita)
tatra : dort (Tatra)
ādyena : mit dem uranfänglichen (Adya)
sadā-śivena : Sadashiva (als Gottheit)
sahitam : zusammen (Sahita)
śāntam : ruhig, still (Shanta)
ha-kārākṣaram : (zusammen mit) der Silbe (Akshara) HA(M, Hakara)
prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
tatra : dort, dorthin (Tatra)
vinīya : lenkend, richtend ("gelenkt habend", vi + )
pañca-ghaṭikāḥ : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
eṣā : diese (Etad)
mokṣa-kavāṭa-pāṭana-paṭuḥ  : (als) geeignet (Patu) für das Aufbrechen (Patana) der Tür (Kavata) zur Befreiung (Moksha)
proktā : gilt ("wird genannt", Prokta)
nabho-dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana über das Element) Äther, Raum (Nabhas)

Anmerkungen: Im Unterschied zu den vorangegangenen vier Dharanas über die anderen Elemente wird das Element Äther nicht in einer bestimmten (geometrischen) Form visualisiert, um die Formlosigkeit und Unbegrenztheit dieses Elements, das alle anderen Elemente durchdringt, zu betonen. Dieser Vers wird mit einigen Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.80) überliefert. In dieser Version wird allerdings kein Ort angegeben, wo das Element Äther im Körper zu visualieren ist. Das dem Element Äther (Akasha) zugeordnete Bijamantra ist HAM, das in der Regel mit dem Vishuddha Chakra in Verbindung gebracht wird.

In der Gheranda Samhita (3.81) heißt es über die Wirkung dieser Visualsierungstechnik:

ākāśī-dhāraṇāṃ mudrāṃ yo vetti sa ca yoga-vit |
na mṛtyur jāyate tasya pralaye nāvasīdati || 3.81 ||

"Wer diese Mudra (in Form der Konzentration auf das Element) Äther (Akasha) kennt, der ist ein Kenner des Yoga (Yogavid). Dem wiederfährt nicht der Tod (Mrityu), und bei der Auflösung (des Universums, Pralaya) geht er nicht zugrunde." (GhS 3.81)

Vers 74: Wirkungen der Dharanas über die fünf Elemente

In dieser Weise (praktiziert) wirken (diese) fünf Konzentrationsübungen über die Elemente (jeweils) fest machend, flüssig machend, verbrennend, verwirrend und absorbierend.


स्तम्भनी द्रावणी चैव दहनी भ्रामणी तथा |
शोषणी च भवन्त्येवं भूतानां पञ्च धारणाः || ७४ ||
stambhanī drāvaṇī caiva dahanī bhrāmaṇī tathā |
śoṣaṇī ca bhavanty evaṃ bhūtānāṃ pañca dhāraṇāḥ || 74 ||
stambhani dravani chaiva dahani bhramani tatha |
shoshani cha bhavanty evam bhutanam pancha dharanah || 74 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

stambhanī : steif machend, fest machend, lähmend, hemmend (Stambhana)
drāvaṇī : flüssig machend, weich machend, zum Laufen bringend, in die Flucht schlagend (Dravana)
ca : und (Cha)
eva : ebenso ("so", Eva)
dahanī : verbrennend, versengend (Dahana)
bhrāmaṇī : drehend, wirbelnd, Schwindel erzeugend, verwirrend (Bhramana)
tathā : ebenso (Tatha)
śoṣaṇī : austrocknend, verscheuchend, vernichtend, absorbierend (Shoshana)
ca : und
bhavanti : sind (bhū)
evam : so, in dieser Weise (Evam)
bhūtānām : der Elemente, über die Elemente (Bhuta)
pañca : die fünf (Pancha)
dhāraṇāḥ : Konzentration(sübung)en, Visualisierungstechniken (Dharana)

Anmerkungen: Hier werden noch einmal die (magischen) Wirkungsweisen der beschriebenen Konzentrationstechniken genannt. Sie verleihen die Herrschaft bzw. Meisterschaft (Jaya "Sieg") über die einzelnen Elemente, was nur in den Versen 69 (kṣiti-jayam) und 71 (vahni-jayam) in Bezug auf die Elemente Erde (Kshiti) und Feuer (Feuer) explizit gemacht wird. Je nach der physikalischen Beschaffenheit des jeweiligen Elements wirken sie entsprechend fest machend (Erde), flüssig machend (Wasser), verbrennend (Feuer), verwirrend (Luft bzw. "Wind") und absorbierend (wört.: "austrocknend", d.h. im Äther bzw. Raum zum Verschwinden bringend). Nur in Vers 69 wurde die entsprechende Eigenschaft bzw. Fähigkeit bereits genannt (stambhakarī für stambhanī "fest oder steif machend").

Die genannten Wirkungsweisen finden sich in ähnlicher Weise auch in den drei ayurvedischen Doshas wieder, die aus einer Kombination von jeweils zweien der fünf Elemente bestehen (Kapha aus Erde und Wasser, Pitta aus Wasser und Feuer und Vata aus Luft und Äther).

Vers 75: Wirkungen der Dharanas über die fünf Elemente

Ein Yogi, der diese schwer zu erlangenden fünf Konzentrationsübungen (über die Elemente auf der Ebene) des (körperlichen) Tuns, des Geistes und der Sprache regelmäßig praktiziert, befreit sich von allen Leiden.


कर्मणा मनसा वाचा धारणाः पञ्च दुर्लभाः |
विधाय सततं योगी सर्वपापैः प्रमुच्यते || ७५ ||
karmaṇā manasā vācā dhāraṇāḥ pañca durlabhāḥ |
vidhāya satataṃ yogī sarva-pāpaiḥ pramucyate || 75 ||
karmana manasa vacha dharanah pancha durlabhah |
vidhaya satatam yogi sarva-papaih pramuchyate || 75 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

karmaṇā : mit (körperlicher) Handlung (Karman)
manasā : mit dem Geist (Manas)
vācā : mit der Sprache (Vach)
dhāraṇāḥ : Konzentration(sübung)en, Visualisierungstechniken (Dharana)
pañca : die fünf (Pancha)
durlabhāḥ : die schwer zu erlangen sind (Durlabha)
vidhāya : (der) praktiziert ("praktiziert habend", vi + dhā)
satatam : stets, regelmäßig (Satata)
yogī : ein Yogi (Yogin)
sarva-pāpaiḥ : von allen (Sarva) Übeln, Leiden, Sünden (Papa)
pramucyate : wird befreit, befreit sich (pra + muc)

Anmerkung: Dieser Vers verweist noch einmal auf die Komplexität der als Dharana bezeichneten Konzentrations- und Visualisierungstechniken (die in der Gheranda Samhita auch Mudra genannt werden): Der Ausdruck "mit Handlung" (karmaṇā) bezieht sich zunächst auf die körperliche Ebene im Sinne der Sitzhaltung (Asana) und die Atemregulation (Pranayama) bzw. das "Festhalten" der Lebensenergie (Prana) auf den jeweiligen Konzentrationspunkt Adhara im Körper. "Mit dem Geist" (manasā) verweist auf die innerliche Visualisierung bzw. das "Festhalten" des jeweiligen Elements an ebendiesem Punkt mit einer konkreten geometrischen Form, einer Farbe und der zugeordneten Gottheit. "Mit der Sprache" (vācā) meint schließlich die (stille) Rezitation des jeweiligen Bijamantras. Vgl. auch Vers 67, der die drei Voraussetzungen Asana, Pranayama und Pratyahara für die erfolgreiche Praxis von Dharana nennt.

Vers 76: Dhyana

Im Geiste eines Yogis gehen allerlei Gedanken vor sich. Das entschlossene Ausrichten des Geistes auf die Wirklichkeit (des Selbst) wird Meditation genannt.


सर्वं चिन्तासमावर्ति योगिनो हृदि वर्तते |
यत्तत्त्वे निश्चितं चेतस्तत्तु ध्यानं प्रचक्षते || ७६ ||
sarvaṃ cintā-samāvarti yogino hṛdi vartate |
yat tattve niścitaṃ cetas tat tu dhyānaṃ pracakṣate || 76 ||
sarvam chinta-samavarti yogino hridi vartate |
yat tattve nishchitam chetas tat tu dhyanam prachakshate || 76 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sarvam : ein ganzer, allerlei, allerhand (Sarva)
cintā-samāvarti : Trubel ("Wiederkehr", Samavartin) von Gedanken (Chinta)
yogino : eines Yogis (Yogin)
hṛdi : im Herzen, im Geiste, im Sinne (Hrid)
vartate : geht vor sich, geht um (vṛt)
yat : das ("was" Yad)
tattve : auf das Selbst, die Wirklichkeit, das Sosein (Tattva)
niścitam : entschlossen, entschieden (gerichtet, Nishchita)
cetas : (ein) Bewusstsein, Sinn, Geist (Chetas)
tat : das (Tad)
tu : aber (Tu)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
pracakṣate : heißt ("ist benannt", pra + cakṣ)

Anmerkung: In Vers 89 wird erklärt, dass der Begriff tattva ("Prinzip, Sosein, Wirklichkeit") in diesem Text auch im Sinne von Atman ("Selbst") verwendet wird.

Vers 77: Zwei Arten von Dhyana

Es gibt zwei Arten von Meditation: mit Eigenschaften und ohne Eigenschaften. Meditation mit Eigenschaften erkennt man an den Unterscheidungen hinsichtlich der begrenzenden Attribute. Meditation ohne Eigenschaften erkennt man daran, dass sie frei (von solchen einschränkenden Unterscheidungen) ist.


द्विधा भवति तद्ध्यानं सगुणं निर्गुणं तथा |
सगुणं वर्णभेदेन निर्गुणं केवलं विदुः || ७७ ||
dvidhā bhavati tad dhyānaṃ sa-guṇaṃ nirguṇaṃ tathā |
sa-guṇaṃ varṇa-bhedena nirguṇaṃ kevalaṃ viduḥ || 77 ||
dvidha bhavati tad dhyanam sa-gunam nirgunam tatha |
sa-gunam varna-bhedena nirgunam kevalam viduh || 77 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvidhā : von zweierlei Art (Dvidha)
bhavati : ist (bhū)
tad : die (Tad)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
sa-guṇam : mit Eigenschaften (Saguna)
nirguṇam : ohne Eigenschaften (Nirguna)
tathā : und (Tatha)
sa-guṇam : (Meditation) mit Eigenschaften
varṇa-bhedena : an den Unterscheidungen (Bheda, hinsichtlich) der begrenzenden Attribute ("Farbe, Klang", Varna)
nirguṇam : (Meditation) ohne Eigenschaften
kevalam : (als) frei (von Unterscheidungen), rein, abstrakt, absolut (Kevala)
viduḥ : man erkennt ("sie kennen", vid)

Anmerkung: In Vers 89 wird erklärt, dass der Begriff varṇa ("Farbe, Klang") in diesem Text im Sinne von Upadhi ("begrenzendes Attribut") verwendet wird.

Vers 78: Saguna Dhyana über das Adhara (Muladhara Chakra)

Indem (der Yogi) auf die Grundlage (Adhara), das erste Energiezentrum (Chakra), das (an Farbe) glühendem Gold gleicht, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, befreit er sich von Sünde.


आधारं प्रथमं चक्रं तप्तकाञ्चनसन्निभम् |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वा मुञ्चति किल्बिषम् || ७८ ||
ādhāraṃ prathamaṃ cakraṃ tapta-kāñcana-sannibham |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā muñcati kilbiṣam || 78 ||
adharam prathamam chakram tapta-kanchana-sannibham |
nasagre drishtim adaya dhyatva munchati kilbisham || 78 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ādhāram : die Grundlage, Stütze Adhara)
prathamam : das erste (Prathama)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
tapta-kāñcana-sannibham : gleich, ähnlich (der Farbe, Sannibha) von glühendem ("erhitztem", Tapta) Gold (Kanchana)
nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
ādāya : richtend ("genommen habend", ā + )
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
muñcati : (man) befreit sich ("lässt los", muc)
kilbiṣam : von Sünde, Vergehen, Schuld (Kilbisha)

Anmerkung: Das Adhara bzw. Muladhara Chakra und seine symbolische Darstellung, die als Grundlage für Visualisierungs- und Meditationsübungen dient, wurde in den Versen 11-13 ausführlich beschrieben. Insbesondere in Vers 13 wurde ein das Element Erde symbolisierende Viereck erwähnt, das "die Farbe glühenden Goldes hat" (tapta-cāmīkarābhāsam). Auch im Vers 69 zur Dharana über das Element Erde ist von einem Viereck, das (gold)gelb wie Auripigment (Haritala) zu visualisieren ist, die Rede.

Vers 79: Saguna Dhyana über das Svadhishthana Chakra

Indem (der Yogi) aber auf Svadhishthana, das zweite (Energiezentrum), von prächtigem (Rot) wie Rubin, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, befreit er sich von Sünde.


स्वाधिष्ठानं द्वितीयं तु सन्माणिक्यसुशोभनम् |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वा मुञ्चति पातकम् || ७९ ||
svādhiṣṭhānaṃ dvitīyaṃ tu san māṇikya-su-śobhanam |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā muñcati pātakam || 79 ||
svadhishthanam dvitiyam tu san manikya-su-shobhanam |
nasagre drishtim adaya dhyatva munchati patakam || 79 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

svādhiṣṭhānam : Svadhishthana
dvitīyam : (das) zweite (Chakra, Dvitiya)
tu : aber, wiederum (Tu)
sat : ist ("seiend", sat)
māṇikya-su-śobhanam : äußerst schön, prächtig (Sushobhana) wie ein Rubin (Manikya)
nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
ādāya : richtend ("genommen habend", ā + )
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
muñcati : (man) befreit sich ("lässt los", muc)
pātakam : von Sünde ("Verbrechen", Pataka)

Anmerkung: Das Svadhishthana Chakra wurde in Vers 14 beschrieben.

Vers 80: Saguna Dhyana über das Manipuraka Chakra

Indem (der Yogi) auf das Manipuraka Chakra, das (der orange-roten Farbe) der aufgehenden Sonne gleicht, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, kann er die Welt ins Wanken bringen.


तरुणादित्यसङ्काशं चक्रं च मणिपूरकम् |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वा सङ्क्षोभयेज्जगत् || ८० ||
taruṇāditya-saṅkāśaṃ cakraṃ ca maṇi-pūrakam |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā saṅkṣobhayej jagat || 80 ||
tarunaditya-sankasham chakram cha mani-purakam |
nasagre drishtim adaya dhyatva sankshobhayej jagat || 80 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

taruṇāditya-saṅkāśam : das der aufgehenden ("jungen", Taruna) Sonne (Aditya) gleicht (Sankasha)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
ca : und, aber (Cha)
maṇi-pūrakam : das Nabelzentrum ("Edelsteinflut", Manipuraka)
nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
ādāya : richtend ("genommen habend", ā + )
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
saṅkṣobhayet : er kann erzittern lassen, zum Schwanken bringen, in Aufregung versetzen (sam + kṣubh)
jagat : die Welt (Jagat)

Anmerkung: Das Manipuraka Chakra wurde in Vers 15 beschrieben.

Vers 81: (in den Handschriften und Textausgaben nicht überlieferter Vers aus der Goraksha Paddhati)

Anmerkung: An dieser Stelle gibt es im internen Textfluss des Goraksha Shataka zunächst keinen Hinweis auf einenen "fehlenden" Vers, da die nach der Meditation über das Svadhishthana Chakra zu erwartende Meditation über das Anahata Chakra ja im folgenden Vers (1.82) erscheint. Allerdings wird im entsprechenden Abschnitt der Goraksha Paddhati ein zusätzlicher Vers überliefert (2.67, s. dort), der eine Meditation über Shambhu im Herzraum (Hridakasha) lehrt.

Dieser Vers ist möglicherweise eine späterer - wenngleich zum Thema passender - Einschub in die Paddhati, der die Anzahl der Verse auch im zweiten Shataka auf 101 bringt. Durch das Mitzählen dieses, in den Handschriften des Goraksha Shataka offensichtlich nicht überlieferten Verses, wächst auch die Verszahl des vorliegenden Shataka auf 101 Verse an. Im Viveka Martanda, einer weiteren Version des Goraksha Shataka, ist der Vers gleichfalls nicht überliefert.

Der von den Editoren des Goraksha Shataka als "fehlend" vermerkte Vers lautet wie folgt:

hṛd-ākāśe sthitaṃ śambhuṃ pracaṇḍa-ravi-tejasam |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā brahma-mayo bhavet || 2.67 ||

"Indem (der Yogi) über den im (leeren) Raum des Herzens (Hridakasha) befindlichen Shambhu, strahlend wie die grelle (Sommer-)Sonne (Ravi), meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, werde er eins mit dem Absoluten (Brahman)."

Vers 82: Saguna Dhyana über das Anahata Chakra

Indem (der Yogi) im Herzlotus (das Anahata Chakra, dessen Farbe) den Glanz des Blitzes (hat), in Verbindung mit Atemübungen zur Öffnung (des Herzens) meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, wird er zum Absoluten.


विद्युत्प्रभावहृत्पद्मे प्राणायामविभेदनैः |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वा ब्रह्ममयो भवेत् || ८२ ||
vidyut-prabhāva-hṛt-padme prāṇāyāma-vibhedanaiḥ |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā brahma-mayo bhavet || 82 ||
vidyut-prabhavam hrit-padme pranayama-vibhedanaih |
nasagre drishtim adaya dhyatva brahma-mayo bhavet || 82 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vidyut-prabhāva-hṛt-padme : im Herzlotus (Hritpadma) (vom) Glanz (Prabhava) des Blitzes (Vidyut)
prāṇāyāma-vibhedanaiḥ : (in Verbindung) mit Atemübungen ("Atemkontrolle", Pranayama) für (dessen) Öffnung ("Durchbohren", Bhedana)
nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
ādāya : richtend ("genommen habend", ā + )
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
brahma-mayaḥ : zum Brahman ("zu einem, der aus dem Absoluten besteht", Brahmamaya)
bhavet : man wird (bhū)

Anmerkung: Das Anahata Chakra wurde in Vers 60 beschrieben (vgl. auch die Anmerkungen). Der Ausdruck prāṇāyāma-vibhedanaiḥ "in Verbindung mit Atemübungen zur Öffnung (des Herzens)" deutet auf das Durchstoßen von Brahma Granthi hin. In der Hatha Yoga Pradipika 4.70 wird dies im Kontext der Meditation auf den unangeschlagenen Ton (Nada Anusandhana) erklärt. Dass dies durch die Pranayama-Praxis geschieht, hebt auch Brahmananda, der Kommentator der HYP, hervor: brahma-granther anāhata-cakre vartamānāyā bhedaḥ prāṇāyāmābhyāsena "das Durchbohren des im Anahata Chakra befindlichen Brahma Granthi (erfolgt) durch die Pranayama-Praxis."

brahma-granther bhaved bhedo hy ānandaḥ śūnya-sambhavaḥ |
vicitraḥ kvaṇako dehe'nāhataḥ śrūyate dhvaniḥ || 4.70 ||

"(Wenn im ersten, Arambha Avastha genannten Zustand), das Durchstoßen (Bheda) des Brahma-Knotens (Brahma Granthi) erfolgt, entsteht eine Glückseligkeit (Ananda), deren Ursprung (Sambhava) die Leere (Shunya, im Herzchakra) ist. (Dann) wird im Körper (Deha) der unangeschlagene (Anahata) Ton (Dhvani als) verschiedenartiges Geklingel (Kvanaka, von Glöckchen und ähnlichem Schmuck) gehört." (HYP 4.70)

Vers 83: Saguna Dhyana über das Vishuddha Chakra

Indem (der Yogi) auf das glänzend weiße Vishuddha (Chakra) in der Mitte der Kehle, den Ursprung der Unsterblichkeit, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, wird er zum Absoluten.


सन्ततं घण्टिकामध्ये विशुद्धं चामृतोद्भवम् |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वा ब्रह्ममयो भवेत् || ८३ ||
santataṃ ghaṇṭikā-madhye viśuddhaṃ cāmṛtodbhavam |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā brahma-mayo bhavet || 83 ||
santatam ghantika-madhye vishuddham chamritodbhavam |
nasagre drishtim adaya dhyatva brahma-mayo bhavet || 83 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

santatam : befindet sich (Santata)
ghaṇṭikā-madhye : in der Mitte (Madhya) der Kehle ("des Halszäpfchens", Ghantika)
viśuddham : das glänzend weiße Vishuddha (Chakra)
ca : und, aber (Cha)
amṛtodbhavam : der Ursprung, die Geburtsstätte (Udbhava) der Unsterblichkeit, des Unsterblichkeitsnektars (Amrita)
nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
ādāya : richtend ("genommen habend", ā + )
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
brahma-mayo : zum Brahman ("zu einem, der aus dem Absoluten besteht", Brahmamaya)
bhavet : man wird (bhū)

Anmerkung: Das Vishuddha Chakra wurde in den Versen 61-62 beschrieben. Das Adjektiv viśuddha bedeutet neben "rein, lauter" auch "glänzend weiß".

Vers 84: Saguna Dhyana über das Ajna Chakra

Indem (der Yogi) auf (Paramashiva,) die Gottheit in der Mitte beider Brauen, die (an Farbe) einer (perlmuttartig) glänzenden Perle gleicht, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, wird er zu reiner Wonne.


भ्रुवोर्मध्ये स्थितं देवं स्निग्धमौक्तिकसन्निभम् |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वानन्दमयो भवेत् || ८४ ||
bhruvor madhye sthitaṃ devaṃ snigdha-mauktika-sannibham |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvānanda-mayo bhavet || 84 ||
bhruvor madhye sthitam devam snigdha-mauktika-sannibham |
nasagre drishtim adaya dhyatvananda-mayo bhavet || 84 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

bhruvoḥ : beider Brauen (Bhru)
madhye : in der Mitte, zwischen (Madhya)
sthitam : der sich befindet (Sthita)
devam : auf den Gott, die Gottheit (Deva)
snigdha-mauktika-sannibham : gleich, ähnlich (Sannibha) einer glänzenden (Snigdha) Perle (Muktika)
nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
ādāya : richtend ("genommen habend", ā + )
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
ānanda-mayo : zu reiner Wonne, Glückseligkeit ("zu einem, der aus Wonne besteht", Anandamaya)
bhavet : man wird (bhū)

Anmerkung: Da Perlen in verschiedenen Farbschattierungen auftreten (weißlich, gelblich, rosa und grau) ist hier wohl die silbrig schimmernde Farbe des Perlmutts im Inneren der Perlmuschel gemeint. Die dem Ajna Chakra zugeordnete Gottheit ist Paramashiva bzw. Parameshvara (vgl. Vers 86).

Vers 85: Nirguna Dhyana

Und indem (der Yogi) im leeren Raum (in der Mitte der Augenbrauen) auf den eigenschaftslosen, (vollkommen) stillen Shiva, dessen Gesicht überallhin gewandt ist, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, wird er frei von Leid.


निर्गुणं च शिवं शान्तं गगने विश्वतोमुखम् |
नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वा दुःखाद्विमुच्यते || ८५ ||
nirguṇaṃ ca śivaṃ śāntaṃ gagane viśvato-mukham |
nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā duḥkhād vimucyate || 85 ||
nirgunam cha shivam shantam gagane vishvato-mukham |
nasagre drishtim adaya dhyatva duhkhad vimuchyate || 85 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nirguṇam : auf den eigenschaftslosen (Nirguna)
ca : und (Cha)
śivam : Shiva ("den Gütigen")
śāntam : (vollkommen) ruhigen, stillen (Shanta)
gagane : im Himmel, im leeren Raum (Gagana)
viśvato-mukham : dessen Gesicht überallhin gewandt ist (Vishvatomukha)
nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
ādāya : richtend ("genommen habend", ā + )
dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
duḥkhāt : von Leid (Duhkha)
vimucyate : wird man befreit, befreit sich (vi + muc)

Anmerkung: Der Ausdruck gagane ("im leeren Raum") bezieht sich möglicherweise auf Bhrumadhya Akasha, den leeren Raum in der Mitte der Augenbrauen bzw. im Ajna Chakra. In der Hatha Yoga Pradipika 4.74 wird vihāyas - ein Wort, das ebenfalls "Luftraum, Himmel" bedeutet - im Sinne von Bhrumadhya Akasha gebraucht, wie Brahmananda, der Kommentator der HYP, erläutert:

tṛtīyāyāṃ tu vijñeyo vihāyo-mardala-dhvaniḥ |
mahā-śūnyaṃ tadā yāti sarva-siddhi-samāśrayam || 4.74 ||

"Im dritten, (Parichaya Avastha genannten Zustand), wird im Raum (zwischen den Augenbrauen, Vihayas) der Klang (Dhvani) einer Trommel (Mardala) vernommen. Dann gelangt (der Prana) in die Große Leere (Mahashunya), den Sitz (Samashraya) aller übernatürlicher Fähigkeiten (Siddhi)." (HYP 4.74)

Dieser Vers steht im Kontext der Meditation auf den unangeschlagenen Ton (Nada Anusandhana). Auch Mahashunya, die "Große Leere", bezieht sich laut Brahmananda auf bhrū-madhyākāśa, den leeren Raum hinter der Stirn in der Mitte der Augenbrauen.

Shiva steht für das reine, inhalts- und eigenschaftslose Bewusstsein, den sogenannten Zeugen, der alles wahrnimmt (viśvato-mukha "dessen Gesicht überallhin gewandt ist"). Diesen erkennt der Yogi in tiefer "abstrakter" Meditation (Nirguna Dhyana), wenn alle geistigen Aktivitäten zur Ruhe gekommen sind, als sein wahres Selbst (Atman), das mit dem allumfassenden Brahman identisch ist.

Vers 86-87: Dhyana Sthana - die Zentren der Meditation

Indem der Yogi auf den Anus (das Muladhara Chakra), auf das Glied (das Svadhishthana Chakra), auf den Nabel (das Manipura Chakra), auf den Herzlotus (das Anahata Chakra) und oberhalb davon auf die Kehle, den Ort des Halszäpfchens (das Vishuddha Chakra), und auf den Höchsten Herrn in der Mitte zwischen den Augenbrauen (das Ajna Chakra) meditiert, sowie auf das reine, allgegenwärtige Selbst, das die Form des leeren Raumes hat und (an Substanzlosigkeit) dem Wasser einer Luftspiegelung gleicht, erreicht er den (Zustand des) Yoga.


गुदं मेढ्रं च नाभिं च हृत्पद्मं च तदूर्ध्वतः |
घण्टिकां लम्पिकास्थानं भ्रूमध्ये परमेश्वरम् || ८६ ||
निर्मलं गगनाकारं मरीचिजलसन्निभम् |
आत्मानं सर्वगं ध्यात्वा योगी योगमवाप्नुयात् || ८७ ||
gudaṃ meḍhraṃ ca nābhiṃ ca hṛt-padmaṃ ca tad-ūrdhvataḥ |
ghaṇṭikāṃ lampikā-sthānaṃ bhrū-madhye parameśvaram || 86 ||
nirmalaṃ gaganākāraṃ marīci-jala-sannibham |
ātmānaṃ sarvagaṃ dhyātvā yogī yogam avāpnuyāt || 87 ||
gudam medhram cha nabhim cha hrit-padmam cha tad-urdhvatah |
ghantikam lampika-sthanam bhru-madhye parameshvaram || 86 ||
nirmalam gaganakaram marichi-jala-sannibham |
atmanam sarvagam dhyatva yogi yogam avapnuyat || 87 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

gudam : auf den Anus (Guda)
meḍhram : auf das Glied (Medhra)
ca : und (Cha)
nābhim : auf den Nabel (Nabhi)
ca : und
hṛt-padmam : auf den Herzlotus (Hritpadma)
ca  : und
tad-ūrdhvataḥ : oberhalb (Urdhvatas) davon (Tad)
ghaṇṭikām : auf die Kehle ("das Halszäpfchen", Ghantika)
lampikā-sthānam : den Ort (Sthana) des Halszäpfchens (Lampika, eigentlich Lambika)
bhrū-madhye : in der Mitte zwischen den Augenbrauen (Bhrumadhya)
parameśvaram : auf den Höchsten Herrn (Parameshvara)
nirmalam : auf das reine, fleckenlose (Nirmala)
gaganākāram : vom Wesen ("der Form", Akara) des leeren Raumes ("Luftraums", Gagana)
marīci-jala-sannibham : gleich, ähnlich (Sannibha) dem Wasser einer Luftspiegelung (Marichijala)
ātmānam : Selbst (Atman)
sarvagam : allgegenwärtige, alldurchdringende (Sarvaga)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
yogī : der Yogi (Yogin)
yogam : den (Zustand des) Yoga
avāpnuyāt : er erreicht ("möge erreichen", ava + āp)

Anmerkung: Die beiden Verse 86 und 87 bilden eine syntaktische Einheit und müssen daher zusammen gelesen werden. Alles, was zunächst als das Selbst (Atman) erscheint, erweist sich schließlich als trügerisch wie das Wasser einer Luftspiegelung (marīci-jala), da das Selbst nichts als reines Bewusstsein ist und selbst nicht zum Objekt gemacht werden kann (vgl. Vers 85).

Vers 88: Dhyana Sthana

Diese Zentren der Meditation, so wie sie gelehrt worden sind, in Verbindung mit den begrenzenden Attributen und dem Selbst, bewirken die Entfaltung der acht übernatürlichen Fähigkeiten der Yogis.


कथितानि यथैतानि ध्यानस्थानानि योगिनाम् |
उपाधितत्त्वयुक्तानि कुर्वन्त्यष्टगुणोदयम् || ८८ ||
kathitāni yathaitāni dhyāna-sthānāni yoginām |
upādhi-tattva-yuktāni kurvanty aṣṭa-guṇodayam || 88 ||
kathitani yathaitani dhyana-sthanani yoginam |
upadhi-tattva-yuktani kurvanty ashta-gunodayam || 88 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kathitāni : gelehrt worden sind (Kathita)
yathā : (so) wie (Yatha)
etāni : diese (Etad)
dhyāna-sthānāni : Zentren ("Stellen", Sthana) der Meditation (Dhyana)
yoginām : der Yogis (Yogin)
upādhi-tattva-yuktāni : in Verbindung mit ("verbunden mit", Yukta) den begrenzenden Attributen (Upadhi) und dem Selbst ("Sosein", Tattva)
kurvanti : bewirken ("machen", kṛ)
aṣṭa-guṇodayam : die Entfaltung ("Aufgang", Udaya) der acht (Ashta, übernatürlichen) Fähigkeiten ("Eigenschaften", Guna)

Anmerkung: Die als Siddhis bekannten acht übernatürlichen Fähigkeiten sind Animan, Mahiman, Gariman, Laghiman, Prapti, Prakamya, Ishita und Vashitva (vgl. auch Vers 65).

Vers 89: Upadhi und Tattva

Diese beiden, das begrenzende Attribut und das Selbst, werden in dieser Weise gelehrt: Das begrenzende Attribut wird Varna ("Farbe" oder "Laut") genannt, und das Selbst wird als Tattva ("Sosein") bezeichnet.


उपाधिश्च तथा तत्त्वं द्वयमेवमुदाहृतम् |
उपाधिः प्रोच्यते वर्णस्तत्त्वमात्माभिधीयते || ८९ ||
upādhiś ca tathā tattvaṃ dvayam evam udāhṛtam |
upādhiḥ procyate varṇas tattvam ātmābhidhīyate || 89 ||
upadhish cha tatha tattvam dvayam evam udahritam |
upadhih prochyate varnas tattvam atmabhidhiyate || 89 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

upādhiḥ : das begrenzende Attribut (Upadhi)
ca : und (Cha)
tathā : desgleichen, und (Tatha)
tattvam : das Selbst ("Sosein", Tattva)
dvayam : diese beiden ("Zweiheit", Dvaya)
evam : so, in dieser Weise (Evam)
udāhṛtam : werden gelehrt ("wurden genannt", Udahrita)
upādhiḥ : das begrenzende Attribut
procyate : wird genannt (pra + vac)
varṇaḥ : Varna ("Farbe, Laut")
tattvam : (als) Tattva ("Sosein, Wirklichkeit")
ātmā : das Selbst (Atman)
abhidhīyate : wird bezeichnet (abhi + dhā)

Anmerkung: Für das Selbst (Atman) wird hier das Synonym Tattva und für das begrenzende Attribut (Upadhi) das Synonym Varna gebraucht, wodurch die Bedeutung dieser beiden aus der Philosophie des Advaita Vedanta stammenden Begriffe noch deutlicher wird: Das Selbst ist die eigentliche, allem zugrunde liegende "Wirklichkeit", das "Sosein" (tattva) aller Dinge. Alles andere sind sogenannte begrenzende Attribute (Upadhi), die die unmittelbare Wahrnehmung dieser Realität trüben bzw. "einfärben", weshalb sie hier als "Farbe" (varṇa) bezeichnet werden. Vgl. auch die Definition von Saguna und Nirguna Dhyana in Vers 77.

Vers 90: Upadhi und Tattva

Das begrenzende Attribut beruht auf falscher Erkenntnis. Das Selbst ist anders beschaffen (insofern es auf richtiger Erkenntnis beruht. Diese wiederum) vernichtet in Verbindung mit einer beständigen Übungspraxis sämtliche begrenzenden Attribute der Yogis.


उपाधिरन्यथाज्ञानं तत्त्वं संस्थितमन्यथा |
समस्तोपाधिविध्वंसि सदाभ्यासेन योगिनाम् || ९० ||
upādhir anyathā-jñānaṃ tattvaṃ saṃsthitam anyathā |
samastopādhi-vidhvaṃsi sadābhyāsena yoginām || 90 ||
upadhir anyatha-jnanam tattvam samsthitam anyatha |
samastopadhi-vidhvamsi sadabhyasena yoginam || 90 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

upādhiḥ : das begrenzende Attribut (Upadhi)
anyathā-jñānam : falsche ("anders als in Wirklichkeit", Anyatha) Erkenntnis, Wahrnehmung (Jnana)
tattvam : das Selbst ("Sosein", Tattva)
saṃsthitam : ist beschaffen (Samsthita)
anyathā : anders (Anyatha)
samastopādhi-vidhvaṃsi : vernichtet (Vidhvamsin) sämtliche (Samasta) begrenzenden Attribute (Upadhi)
sadābhyāsena : durch eine beständige (Sada) Übungspraxis (Abhyasa)
yoginām : der Yogis (Yogin)

Anmerkung: Man könnte auch folgendermaßen übersetzen: "Das begrenzende Attribut (führt zu) falscher Erkenntnis (wörtl.: "ist" falsche Erkenntnis). Das Selbst ist anders (geartet, insofern es zu richtiger Erkenntnis führt und) in Verbindung mit einer beständigen Übungspraxis sämtliche begrenzenden Attribute der Yogis vernichtet." Mit der "beständigen Übungspraxis" (sadābhyāsena) ist wohl die Meditation auf das Selbst (tattvam) bzw. Nirguna Dhyana (vgl. Vers 85) gemeint.

Vers 91: Upadhi und Tattva

Ein Edelstein aus Bergkristall erscheint (erst) durch die Trennung (von anderen farbigen Gegenständen) in seiner eigenen Farbe. Ein solches Selbst wird gepriesen, das durch das Hervorbrechen der (göttlichen) Energie (von allen begrenzenden Attributen) befreit ist.


आत्मवर्णेन भेदेन दृश्यते स्फाटिको मणिः |
मुक्तो यः शक्तिभेदेन सोऽयमात्मा प्रशस्यते || ९१ ||
ātma-varṇena bhedena dṛśyate sphāṭiko maṇiḥ |
mukto yaḥ śakti-bhedena so'yam ātmā praśasyate || 91 ||
atma-varnena bhedena drishyate sphatiko manih |
mukto yah shakti-bhedena so'yam atma prashasyate || 91 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ātma-varṇena : in seiner eigenen (Atman) Farbe (Varna)
bhedena : durch die Trennung (von anderen Farben, Bheda)
dṛśyate : wird wahrgenommen, wird erkannt, erscheint ("wird gesehen", dṛś)
sphāṭikaḥ : aus Bergkristall (Sphatika)
maṇiḥ : ein Edelstein, Schmuckstück (Mani)
muktaḥ : frei, befreit ist (Mukta)
yaḥ : das ("welches", Yad)
śakti-bhedena : durch das Hervorbrechen (Bheda) der (göttlichen) Energie (Shakti)
so'yam : eben das, dieses (Tad Ayam)
ātmā : Selbst (Atman)
praśasyate : wird gepriesen (pra + śas)

Anmerkungen: Der Vergleich im ersten Halbvers hebt noch einmal auf die Bezeichnung varṇa "Farbe" für das begrenzende Attribut (Upadhi) ab (vgl. Vers 89): Solange ein Edelstein aus farblosem, durchscheinendem Bergkristall in Kontakt mit einer anderen Farbe ist, indem er bspw. auf ein rotes Blütenblatt gelegt wird, nimmt er scheinbar dessen Farbe an. Entfernt man das Blütenblatt, so erscheint der Bergkristall in "seiner eigenen Farbe" (ātma-varṇena), d.h. in seiner Farblosigkeit, die hier stellvertretend für die "Eigenschaftslosigkeit" des Selbst (Atman bzw. Tattva) steht. Diese Eigenschaftslosigkeit wurde bereits in Vers 85 mit den Worten "den eigenschaftslosen ... Shiva" (nirguṇaṃ ... śivam) angedeutet und wird im folgenden Vers 92 weiter ausgeführt.

Im zweiten Halbvers dieses Shloka wird die Erweckung der Kundalini bzw. Shakti (śakti-bhedena) als eine wesentliche Voraussetzung für die "Befreiung" (Mukti) des Selbst hervorgehoben, die im hier gelehrten System des Hatha Yoga in Verbindung mit den verschiedenen Übungspraktiken einschließlich der Meditation in der Erkenntnis des Selbst bzw. des Absoluten (Brahman) gipfelt.

Der Wortlaut dieser Passage ließe allerdings noch eine weitere Interpretation zu: Ausgehend von der tantrische Symbolik von Shiva und Shakti, in der Shiva im Sinne des Atman für das reine, absolute Bewusstsein steht, erfährt dieser in der Nirguna Dhyana genannten Meditation (vgl. Vers 85) infolge seiner Trennung (!) von Shakti, der schöpferischen Energie (śakti-bhedena), den Zustand der Freiheit. Die entsprechenden Begriffe des Yogasutra sind in diesem Zusammenhang der Purusha, der sich aus seiner irrtümlichen Identifikation mit den Gunas der Prakriti löst und Kaivalya, die absolute Freiheit, erfährt.

Vers 92: Tattva

Die Kenner des Selbst erfahren das Selbst als frei von Leid, ohne Stütze, keiner Mannigfaltigkeit unterworfen, auf sich selbst beruhend, makellos und ohne Gestalt.


निरातङ्कं निरालम्बं निष्प्रपञ्चं निराश्रयम् |
निरामयं निराकारं तत्त्वं तत्त्वविदो विदुः || ९२ ||
nirātaṅkaṃ nirālambaṃ niṣprapañcaṃ nirāśrayam |
nirāmayaṃ nirākāraṃ tattvaṃ tattva-vido viduḥ || 92 ||
niratankam niralambam nishprapancham nirashrayam |
niramayam nirakaram tattvam tattva-vido viduh || 92 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nirātaṅkam : frei von Leid, kein Leiden verspürend (Niratanka)
nirālambam : ohne Grundlage, ohne Stütze (Niralamba)
niṣprapañcam : keiner Mannigfaltigkeit unterworfen (Nishprapancha)
nirāśrayam : sich an nichts anlehnend, auf sich selbst beruhend (Nirashraya)
nirāmayam : makellos, fehlerfrei, woran nichts fehlt ("ohne Krankheit", Niramaya)
nirākāram : ohne Form, ohne Gestalt (Nirakara)
tattvam : das Selbst ("Sosein", Tattva)
tattva-vidaḥ : die Kenner des Selbst (Tattvavid)
viduḥ : kennen, erkennen, erfahren (vid)

Anmerkung: Mit den "Kennern des Selbst" sind diejenigen gemeint, die das Selbst in der genannten Weise unmittelbar erfahren, und nicht nur etwas "darüber wissen".

Vers 93: Dhyana und Samadhi

Solange wie die fünf Reinstoffe Klang usw. noch mit den Ohren usw. wahrgenommen werden, genau solange gilt dies als Meditation. Was darüber hinaus geht ist Versenkung.


शब्दाद्याः पञ्च या मात्रा यावत्कर्णादिषु स्मृताः |
तावदेव स्मृतं ध्यानं तत्समाधिरतः परम् || ९३ ||
śabdādyāḥ pañca yā mātrā yāvat karṇādiṣu smṛtāḥ |
tāvad eva smṛtaṃ dhyānaṃ tat samādhir ataḥ param || 93 ||
shabdadyah pancha ya matra yavat karnadishu smritah |
tavad eva smritam dhyanam tat samadhir atah param || 93 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śabdādyāḥ : Klang (Shabda) usw. (Adya)
pañca : fünf (Pancha)
 : die ("welche",Yad)
mātrā : Reinstoffe ("Grundstoffe", Matra, gemeint sind die Tanmatras)
yāvat : solange wie (Yavat)
karṇādiṣu : mit den Ohren ("in den Ohren", Karna) usw. (Adi)
smṛtāḥ : wahrgenommen werden, sich vergegenwärtigt werden ("erinnert werden", Smrita)
tāvat : solange (Tavat)
eva : genau (Eva)
smṛtam : gilt als ("wird erinnert", Smrita)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
tat : das, es (Tad)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
ataḥ : darüber, davon (Atas)
param : hinaus, jenseits (Param)

Anmerkung: Die fünf Reinstoffe (Tanmatras) sind Klang (Shabda), Berührung (Sparsha), Form und Farbe (Rupa), Geschmack (Rasa) und Geruch (Gandha). Die mit ihnen in Verbindung stehenden Sinne bzw. Sinnesvermögen (Indriya) sind Ohr bzw. Hören/Hörvermögen, Haut bzw. Tasten/Tastvermögen, Auge bzw. Sehen/Sehvermögen, Zunge bzw. Schmecken/Geschmacksvermögen und Nase bzw. Riechen/Riechvermögen. Hier sind speziell die "inneren" Sinne gemeint, da im Zustand tiefer Meditation (Dhyana) die äußeren Sinne ohnehin keinen Kontakt zur Außenwelt einschließlich des Körpers mehr haben. Statt dessen sind die inneren Sinne wie inneres Sehen, inneres Hören usw. aktiv (bereits im Abschnitt über Dharana gab es ausschließlich Anweisungen über innerliches Visualisieren, vgl. Verse 68-73). Solange noch innere Bilder, Klänge, Düfte usw. wahrgenommen werden, spricht man von Meditation (Saguna Dhyana, vgl. Verse 78-84). Ist dies nicht mehr der Fall, beginnt die Versenkung (Samadhi, vgl. auch Vers 97).

Vers 94: Samadhi

Wenn der Atem (in der Atemverhaltung) völlig verschwindet, und der Geist sich auflöst, dann wird die (daraus resultierende) Einheit (in Form) der Homogenität (von Geist und Selbst) als Versenkung bezeichnet.


यदा सङ्क्षीयते प्राणो मानसं च विलीयते |
तदा समरसैकत्वं समाधिरभिधीयते || ९४ ||
yadā saṅkṣīyate prāṇo mānasaṃ ca vilīyate |
tadā sama-rasaikatvaṃ samādhir abhidhīyate || 94 ||
yada sankshiyate prano manasam cha viliyate |
tada sama-rasaikatvam samadhir abhidhiyate || 94 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yadā : wenn (Yada)
saṅkṣīyate : (in der Atemverhaltung) völlig verschwindet (sam + kṣi)
prāṇaḥ : der Atem, Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
mānasam : der Geist (Manasa)
ca : und (Cha)
vilīyate : sich auflöst (vi + )
tadā : dann (Tada)
sama-rasaikatvam : die (daraus resultierende) Einheit (Ekatva, in Form) der Homogenität ("Geschmacks-Gleichheit", Samarasatva von Geist und Selbst)
samādhiḥ : (als) Versenkung (Samadhi)
abhidhīyate : wird bezeichnet (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit geringen Abweichnungen in der Hatha Yoga Pradipika (4.6) überliefert. Der Ausdruck sama-rasaikatvam, wörtlich "die Einheit in Form der Geschmacks-Gleichheit", erscheint in der HYP als sama-rasatvam und wird im Zusammenhang mit dem vorangehenden Vers (HYP 4.5) besser verständlich:

salile saindhavaṃ yad-vat sāmyaṃ bhajati yogataḥ |
tathātma-manasor aikyaṃ samādhir abhidhīyate || 4.5 ||

"So wie Salz (Saindhava) im Wasser (Salila) aufgrund der Vereinigung (Yoga, mit diesem) Gleichheit (Samya, mit diesem) erlangt, genau so (verhält es sich mit der) Einheit (Aikya) von Seele (Atman) und Geist (Manas), die Versenkung (Samadhi) genannt wird." (HYP 4.5)

Das Selbst wird hier mit Wasser bzw. dem Ozean verglichen, in den sich ein hineingeworfener Salzklumpen (der Geist, das Denken) vollkommen auflöst, sodass nichts als Salzwasser übrig bleibt.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt sama-rasa-tvam dahingehend, dass der völlig auf das Selbst (Atman) konzentrierte (Sthita) Geist (Manas) mit diesem identisch wird bzw. ein und (Eka) dieselbe Form (Akara) wie das Selbst annimmt: sama-rasa-tvam ekākāra-tvaṃ manasaś cātmani sthitasya.

Vers 95: fehlt

Vers 96: Samadhi infolge von Pranasamyama, Dharana und Dhyana

(Die erwähnten fünf) Konzentrationsübungen über (eine Dauer von jeweils) 2 Stunden, Meditation über (eine Dauer von) 24 Stunden, und Atemregulation über (eine Dauer von) 12 Tagen (hinweg - all das führt zur) Versenkung.


धारणाः पञ्चनाड्यस्तु ध्यानं च षष्ठिनाडिकाः |
दिनद्वादशकेनैव समाधिः प्राणसंयमः || ९६ ||
dhāraṇāḥ pañca-nāḍyas tu dhyānaṃ ca ṣaṣṭhi-nāḍikāḥ |
dina-dvādaśakenaiva samādhiḥ prāṇa-saṃyamaḥ || 96 ||
dharanah pancha-nadyas tu dhyanam cha shashthi-nadikah |
dina-dvadashakenaiva samadhih prana-samyamah || 96 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dhāraṇāḥ : Konzentration(sübung)en (Dharana)
pañca-nāḍyaḥ : (für) fünf (Pancha) Nadis (d.h. 5 x 24 min = 2 h lang)
tu : aber (Tu)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
ca : und (Cha)
ṣaṣṭhi-nāḍikāḥ : (für) sechzig (Shashthi) Nadikas (d.h. 60 x 24 min = 24 h lang)
dina-dvādaśakena : 12 (Dvadasha) Tage (lang, Dina)
eva : gewiss (Eva)
samādhiḥ : (ist, führt zu) Versenkung (Samadhi)
prāṇa-saṃyamaḥ : Atemkontrolle, Atemregulation (Pranasamyama, d.h. Pranayama)

Anmerkung: Die intensive Praxis von Atemregulation, Konzentrationsübungen und Meditation führen demnach allesamt zur Versenkung. Da Pranasamyama, Dharana und Dhyana als jeweils fortgeschrittenere Praxis betrachtet werden, wäre zu erwarten, dass Pranasamyama am längsten zu praktizieren ist (12 Tage), um Samadhi zu erreichen, und die Praxis von Dhyana am schnellsten zur Versenkung führt (innerhalb von 24 Stunden). Insofern erscheint die Angabe von nur 2 Stunden (fünf Nadis) für die Praxis von Dharana zum Erreichen von Samadhi überraschend kurz bemessen.

Daher scheint die Annahme angebracht, dass die in den Versen 69 - 73 gelehrten Konzentrationsübungen über die fünf Elemente, die jeweils zwei Stunden (fünf Ghatikas) dauern, alle nacheinander zu praktizieren sind, was die Gesamtzeitdauer auf zumindest 10 Stunden erhöht. Diese Interpretation wird auch durch den Plural dhāraṇāḥ gestützt, wogegen prāṇa-saṃyamaḥ und dhyānam jeweils im Singular stehen.

Demzufolge schließt die Dauer von insgesamt 24 Stunden für die Meditation (als Ganzes) vermutlich ebenso alle sieben Phasen ein, die in den Versen 78 - 85 gelehrt wurden, d.h. Saguna Dhyana über die sechs Chakren sowie Nirguna Dhyana über Shiva bzw. das Selbst (vgl. die Anm. zu Vers 85).

Vers 97: Samadhi

Ein Yogi, der im (Zustand) der Versenkung verweilt, nimmt weder Geruch, noch Geschmack, (weder) Form bzw. Farbe, noch Berührung, noch Klang, (weder) seinen eigenen (Körper) noch einen anderen wahr.


न गन्धं न रसं रूपं न च स्पर्शं न निःस्वनम् |
आत्मानं न परं वेत्ति योगी युक्तः समाधिना || ९७ ||
na gandhaṃ na rasaṃ rūpaṃ na ca sparśaṃ na niḥsvanam |
ātmānaṃ na paraṃ vetti yogī yuktaḥ samādhinā || 97 ||
na gandham na rasam rupam na sparsham na cha nihsvanam |
atmanam na param vetti yogi yuktah samadhina || 97 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

na : nicht (Na)
gandham : Geruch (Gandha)
na : nicht
rasam : Geschmack (Rasa)
rūpam : Form, Farbe (Rupa)
na : nicht
sparśam : Berührung (Sparsha)
na : nicht
ca : und, auch (Cha)
niḥsvanam : Klang (Nihsvana)
ātmānam : sich selbst (Atman)
na : nicht
param : einen anderen (Para)
vetti : nimmt wahr ("weiß, kennt", vid)
yogī : ein Yogi (Yogin)
yuktaḥ : verweilend ("verbunden", Yukta)
samādhinā : in der Versenkung ("mit" Samadhi)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer kleinen Variante in der Hatha Yoga Pradipika (4.109) überliefert. Dort heißt es am Anfang des zweiten Halbverses nātmānam (Sandhi für na ātmānam) anstelle von ātmānam, womit verdeutlich wird, dass auch in der Variante des Goraksha Shataka eine Verneinung impliziert ist: die Negation na bezieht sich demzufolge sowohl auf param als auch auf ātmānam, so wie sich das zweite na im ersten Pada sowohl auf rasam als auch auf rūpam bezieht.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt, dass mit Atman hier der Körper (Deha) des Yogi im Gegensatz zum Körper eines anderen (Para, Antara) Menschen (Purusha) gemeint ist: ātmānaṃ dehaṃ … paraṃ puruṣāntaram. Mit anderen Worten hört im Samadhi die Unterscheidung zwischen Selbst und Nichtselbst, dem Ich und dem Anderen, auf. Der Wortlaut ātmānaṃ na paraṃ vetti yogī des Goraksha Shataka könnte somit wörtlich auch folgendermaßen übersetzt werden: "Der Yogi nimmt (nur) das Selbst (ātmānam) wahr (und) nichts anderes na param", weil das "Selbst" alles einbegreift. Das Sanskritwort Atman kann je nach Kontext den Körper, den Geist, das individuelle Selbst und das universelle Selbst, das mit dem Absoluten (Brahman) identisch ist, bedeuten.

Das PPP yuktaḥ bedeutet wörtlich "verbunden, beschäftigt, gesammelt, teilhaftig geworden". Insofern im Samadhi jegliches Tun, selbst das bewusste Meditieren, aufhört, und der Yogi auf oder in das Selbst zurückgeworfen wird, bedeutet yogī yuktaḥ samādhinā soviel wie "ein Yogi, dem Samadhi zuteil geworden ist". Daher kann yuktaḥ hier im Sinne von sthitaḥ (befindlich, verweilend Sthita) verstanden werden. Dies ist der Zustand des Yoga, von dem es im Yogasutra (1.3) heißt: tadā draṣṭuḥ sva-rūpe 'vasthānam "Dann ruht der Seher (Drashtri) in seiner wahren Natur (Svarupa)".

Vers 98: Samadhi

Ein Yogi in tiefer Versenkung wird weder vom Tod (der Zeit) verschlungen, noch durch (das Gesetz der) Tat(vergeltung) beeinträchtigt, noch von irgend jemandem beherrscht.


खाद्यते न च कालेन बाध्यते न च कर्मणा |
साध्यते न स केनापि योगी युक्तः समाधिना || ९८ ||
khādyate na ca kālena bādhyate na ca karmaṇā |
sādhyate na ca kenāpi yogī yuktaḥ samādhinā || 98 ||
khadyate na cha kalena badhyate na cha karmana |
sadhyate na cha kenapi yogi yuktah samadhina || 98 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

khādyate : wird verschlungen ("gefressen", (khād)
na : nicht (Na)
ca : und, auch (Cha)
kālena : vom Tod ("Zeit", Kala)
bādhyate : beeinträchtigt, geplagt (bādh)
na : nicht
ca : und, auch
karmaṇā : durch Handlung, (das Gesetz der) Tat(vergeltung, Karman)
sādhyate : wird unterworfen, beherrscht ("zum gehorchen gebracht", sādh)
na : nicht
ca : und, auch
kenāpi : von irgend jemandem (Ka Api)
yogī : ein Yogi (Yogin)
yuktaḥ : verweilend ("verbunden", Yukta)
samādhinā : in der Versenkung ("mit" Samadhi)

Anmerkungen: Dieser Vers wird Wort für Wort in der Hatha Yoga Pradipika (4.108) überliefert. Die Verse 111 und 113 vervollständigen die Beschreibung eines in tiefer Versenkung verweilenden Yogis:

na vijānāti śītoṣṇaṃ na duḥkhaṃ na sukhaṃ tathā |
na mānaṃ nopamānaṃ ca yogī yuktaḥ samādhinā || 4.111 ||

"Ein Yogi in tiefer Versenkung (Samadhi) kennt weder Kälte (Shita) noch Hitze (Ushna), weder Leid (Duhkha) noch Freude (Sukha), weder Achtung (Mana) noch Verachtung (Apamana)." (HYP 4.111)

Das Verb vijānāti bedeutet sowohl "(er) erkennt, bemerkt, nimmt wahr" als auch "(er) unterscheidet, differenziert".

avadhyaḥ sarva-śastrāṇām aśakyaḥ sarva-dehinām |
agrāhyo mantra-yantrāṇāṃ yogī yuktaḥ samādhinā || 4.113 ||

"Ein Yogi in tiefer Versenkung (Samadhi) ist unverwundbar (Avadhya) hinsichtlich aller Waffen (Shastra), unbezwingbar (Ashakya) hinsichtlich aller verkörperten Wesen (Dehin), und durch Zaubersprüche (Mantra) und magische Diagramme (Yantra) nicht zu manipulieren (Agrahya)." (HYP 4.113)

Vers 99: Brahman

Die Kenner des Absoluten erfahren das Absolute als rein, unveränderlich, ewig, nicht handelnd, eigenschaftslos, (unermesslich) groß, als die (unmittelbare) Erkenntnis des (alldurchdringenden, leeren) Raumes, als Glückseligkeit.


निर्मलं निश्चलं नित्यं निष्क्रियं निर्गुणं महत् |
व्योमविज्ञानमानन्दं ब्रह्म ब्रह्मविदो विदुः || ९९ ||
nirmalaṃ niścalaṃ nityaṃ niṣkriyaṃ nirguṇaṃ mahat |
vyoma-vijñānam ānandaṃ brahma brahma-vido viduḥ || 99 ||
nirmalam nishchalam nityam nishkriyam nirgunam mahat |
vyoma-vijnanam anandam brahma brahma-vido viduh || 99 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

nirmalam : (als) rein ("fleckenlos", Nirmala)
niścalam : bewegungslos (und daher still), unveränderlich, unwandelbar (Nishchala)
nityam : ewig (Nitya)
niṣkriyam : frei von Handlung, nicht aktiv (Nishkriya)
nirguṇam : eigenschaftslos, ohne Eigenschaften (Nirguna)
mahat : (unermesslich) groß, weit, ausgedehnt (Mahat)
vyoma-vijñānam : (als) die (unmittelbare) Erkenntnis, Wahrnehmung (Vijnana) des (alldurchdringenden, leeren) Raumes (Vyoman)
ānandam : (als) Glückseligkeit (Ananda)
brahma : das Absolute (Brahman)
brahma-vidaḥ : die Kenner des Absoluten (Brahmavid)
viduḥ : kennen, erkennen, erfahren (vid)

Anmerkung: Das, was als das Absolute (Brahman) erfahren bzw. "erkannt" wird, wird gern mit dem Wesen des Raumes (Vyoman bzw. Akasha) verglichen, der leer (Shunya, und insofern frei von allen Eigenschaften, Nirguna), alldurchdringend (Sarvaga) und unendlich (Ananta) ist. Auch die übrigen, im ersten Halbvers gegebenen Beschreibungen des Absoluten, gelten für den Raum: rein, bewegungslos bzw. still, ewig, nicht aktiv, (unermesslich) groß. Die Erfahrung dieses "Raumes" wird im Vedanta häufig als "Sein-Bewusstsein-Glückseligkeit" (Sat-Chid-Ananda) beschrieben.

Vers 100: Advayatva

Im höchsten Zustand geht ein Kenner des Yoga in die immerwährende Nichtdualität ein, so wie Milch, die in Milch gegossen wird, oder wie Butterschmalz, das in Butterschmalz gegossen wird, oder wie Feuer, das dem Feuer übergeben wird.


दुग्धे क्षीरं घृते सर्पिरग्नौ वह्निरिवार्पितः |
अद्वयत्वं व्रजेन्नित्यं योगवित्परमे पदे || १०० ||
dugdhe kṣīraṃ ghṛte sarpir agnau vahnir ivārpitaḥ |
advayatvaṃ vrajen nityaṃ yoga-vit parame pade || 100 ||
dugdhe kshiram ghrite sarpir agnau vahnir ivarpitah |
advayatvam vrajen nityam yoga-vit parame pade || 100 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dugdhe : in Milch (Dugdha)
kṣīram : Milch (Kshira)
ghṛte : in Butterschmalz, Ghee (Ghrita)
sarpiḥ : Butterschmalz (Sarpis)
agnau : ins Feuer (Agni)
vahniḥ : Feuer (Vahni)
iva : wie (Iva)
arpitaḥ : gegossen, gegeben ("übergeben", Arpita)
advayatvam : Nichtdualität ("Nicht-Zweiheit-Sein", Advayatva)
vrajet : geht ein ("gelangt", vraj)
nityam : in die immerwährende, ewige, eingeborene (Nitya)
yoga-vit : ein Kenner des Yoga (Yogavid)
parame : im höchsten (Parama)
pade : Zustand ("Ort", Pada)

Anmerkung: Ein "Kenner des Yoga" (Yogavid) ist einer, der Samadhi, den höchsten Zustand des Yoga, erfährt. Er erkennt sich als ein "Selbst" (Atman), das in Wirklichkeit mit Brahman, dem Absoluten, identisch ist. Die drei Vergleiche dieses Shloka, die die Nichtdualität (Advayatva), in der es keine Unterscheidungen mehr gibt, veranschaulichen, tun dies durch die Betonung der Identität von Selbst und Absolutem, die ineinander "verschmelzen" wie in Butter gegossene Butter usw.

Vers 101: Advayatva

Im höchsten Zustand geht ein Kenner des Yoga aufgrund des Mittels dieser Leiter zur Befreiung, die wie ein Feuer im Schreckenswald der weltlichen Existenz ist, in die immerwährende Nichtdualität ein.


भवभयवने वह्निर्मुक्तिसोपानमार्गतः |
अद्वयत्वं व्रजेन्नित्यं योगवित्परमे पदे || १०१ ||
bhava-bhaya-vane vahnir mukti-sopāna-mārgataḥ |
advayatvaṃ vrajen nityaṃ yoga-vit parame pade || 101 ||
bhava-bhaya-vane vahnir mukti-sopana-margatah |
advayatvam vrajen nityam yoga-vit parame pade || 101 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

bhava-bhaya-vane : im Schreckens-Wald (Bhaya-Vana) der weltlichen Existenz (Bhava)
vahniḥ : (das wie) ein Feuer (ist, Vahni)
mukti-sopāna-mārgataḥ : aufgrund des Mittels ("Weg", Marga) dieser Leiter (Sopana) zur Befreiung (Mukti)
advayatvam : Nichtdualität ("Nicht-Zweiheit-Sein", Advayatva)
vrajet : geht ein ("gelangt", vraj)
nityam : in die immerwährende, ewige, eingeborene (Nitya)
yoga-vit : ein Kenner des Yoga (Yogavid)
parame : im höchsten (Parama)
pade : Zustand ("Ort", Pada)

Anmerkungen: Mit diesem Vers endet das Goraksha Shataka. Der zweite Halbvers ist identisch mit dem des vorangehenden Verses (100) - er wiederholt refrainartig das Ziel des Hatha Yoga: das Erreichen des höchsten Zustandes (parame pade, d.h. Samadhi), und somit der Erfahrung der Nichtdualität (Advayatva), der immerwährenden Identität von "Selbst" (Atman) und Brahman, dem "Absoluten" (vgl. die Anm. zu Vers 100).

Der Ausdruck mukti-sopāna-mārgataḥ ist ein Anklang an Vers 2, wo das Goraksha Shataka als vimukti-sopānam, "eine Leiter (Sopana) für die Befreiung (Vimukti)" bezeichnet wurde.

In diesem Zusammenhang sind zwei Verse der Hatha Yoga Pradipika interessant (HYP 4.3-4), in denen sechzehn Synonyme für den höchsten Zustand des Yoga, der identisch mit der Befreiung (Moksha) aus dem Daseinswandel (Samsara) ist, aufgezählt werden:

rāja-yogaḥ samādhiś ca unmanī ca manonmanī |
amaratvaṃ layas tattvaṃ śūnyāśūnyaṃ paraṃ padam || 4.3 ||
amanaskaṃ tathādvaitaṃ nirālambaṃ nirañjanam |
jīvan-muktiś ca sahajā turyā cety eka-vācakāḥ || 4.4 ||

"Königlicher Yoga (Rajayoga), Versenkung (Samadhi), (der Zustand) jenseits des Geistes ('Selbstvergessenheit', Unmani), (der Zustand) des Geistes jenseits des Geistes (Manonmani), Unsterblichkeit/Göttlichkeit (Amaratva), Auflösung (Laya), Wahrheit/Realität ('So-sein', Tattva), leere Nichtleere (Shunyashunya), höchster Zustand (Para Pada), der geistlose (Zustand, Amanaska), Nichtzweiheit/Nichtdualität (Advaita), (der Zustand) ohne Stütze (Niralamba), der reine/unbefleckte (Zustand, Niranjana), Erlösung zu Lebzeiten (Jivanmukti), der) natürliche/angeborene (Zustand, Sahaja), und der vierte (Zustand, Turya) - so (lauten die Begriffe, die alle) ein und dasselbe bedeuten (Ekavachaka)." (HYP 4.3-4)

Im Yogasutra werden für diesen höchsten Zustand des Yoga neben Samadhi die Begriffe Nirbija Samadhi ("keimlose Versenkung"), Asamprajnata Samadhi ("nichterkenntnishafte Versenkung") und Kaivalya ("absolute Freiheit") gebraucht.

Aus der in der HYP 4.3-4 gegebenen Liste wird deutlich, dass Rajayoga, Samadhi und Jivanmukti allesamt den höchsten Zustand des Yoga bezeichnen, und das dieser auch im Hatha Yoga angestrebt wird. Bereits in den ersten drei Versen der Hatha Yoga Pradipika (HYP 1.1-3) wird darauf verwiesen, dass die Wissenschaft des Hatha Yoga ausschließlich zum Erreichen des Rajayoga genannten Bewusstseinszustandes gelehrt wird. Dies wird in weiteren 12 Versen immer wieder betont (HYP 1.70, 2.75-77, 3.126 sowie 4.4, 8, 77-80 und 103). Stellvertretend sei hier nur HYP 4.79 zitiert:

rāja-yogam ajānantaḥ kevalaṃ haṭha-karmiṇaḥ |
etān abhyāsino manye prayāsa-phala-varjitān || 4.79 ||

"Diejenigen, die den Zustand der meditativen Versenkung (Rajayoga) nicht kennen und lediglich Hatha(-Yoga) praktizieren, diese halte ich für welche, die den Erfolg (Phala) ihrer Bemühungen (Abhyasa) verfehlen." (HYP 4.79)

So ist das gesamte vierte Kapitel der Hatha Yoga Pradipika (114 Verse) und ebenso das siebte und letzte Kapitel der Gheranda Samhita (23 Verse) der Meditationspraxis gewidmet, deren Ziel das Erreichen des Zustandes des Samadhi bzw. Rajayoga ist.

Sanskrit Text Goraksha Shataka Version 1

(Version Kaivalyadham Institute, nicht korrigierte Online-Fassung)


Gorakṣa-śatakam
oṃ parama-gurave gorakṣanāthāya namaḥ


oṃ gorakṣa-śatakaṃ vakṣye bhava-pāśa-vimuktaye /

ātma-bodha-karaṃ puṃsāṃ viveka-dvāra-kuñcikām // 1 //

etad vimukti-sopānam etat kālasya vañcanam /

yad vyāvṛttaṃ mano mohād āsaktaṃ paramātmani // 2 //

dvija-sevita-śākhasya śruti-kalpa-taroḥ phalam /

śamanaṃ bhava-tāpasya yogaṃ bhajati sajjanaḥ // 3 //

āsanaṃ prāṇa-saṃyāmaḥ pratyāhāro'tha dhāraṇā /

dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni bhavanti ṣaṭ // 4 //

āsanāni tu tāvanti yāvatyo jīva-jātayaḥ /

eteṣām akhilān bhedān vijānāti maheśvaraḥ // 5 //

caturāśīti-lakṣāṇāṃ ekam ekam udāhṛtam /

tataḥ śivena pīṭhānāṃ ṣoḍeśānaṃ śataṃ kṛtam // 6 //

āsanebhyaḥ samastebhyo dvayam eva viśiṣyate /

ekaṃ siddhāsanaṃ proktaṃ dvitīyaṃ kamalāsanam // 7 //

yoni-sthānakam aṅghri-mūla-ghaṭitaṃ kṛtvā dṛḍhaṃ vinyasen meḍhre pādam athaikam eva niyataṃ kṛtvā samaṃ vigraham /

sthāṇuḥ saṃyamitendriyo'cala-dṛśā paśyan bhruvor antaram etan mokṣa-kavāṭa-bheda-janakaṃ siddhāsanaṃ procyate // 8 //

vāmorūpari dakṣiṇaṃ hi caraṇaṃ saṃsthāpya vāmaṃ tathā dakṣorūpari paścimena vidhinā dhṛtvā karābhyāṃ dṛḍham /

aṅguṣṭhau hṛdaye nidhāya cibukaṃ nāsāgram ālokayed etad-vyādhi-vikāra-hāri yamināṃ padmāsanaṃ procyate // 9 //

ādhāraḥ prathamaṃ cakraṃ svādhiṣṭhānaṃ dvitīyakam /

yoni-sthānaṃ dvayor madhye kāma-rūpaṃ nigadyate // 10 //

ādhārākhye guda-sthāne paṅkajaṃ yac caturdalam /

tan-madhye procyate yoniḥ kāmākhyā siddha-vanditā // 11 //

yoni-madhye mahāliṅgaṃ paścimābhimukhaṃ sthitam /

mastake maṇivad bhinnaṃ yo jānāti sa yogavit // 12 //

tapta-cāmīkarābhāsaṃ taḍil-lekheva visphurat /

caturasraṃ puraṃ vahner adho-meḍhram evābhidhīyate // 13 //

sva-śabdena bhavet prāṇaḥ svādhiṣṭhānaṃ tad-āśrayaḥ /

svādhiṣṭhānākhyayā tasmān meḍhram evābhidhīyate // 14 //

tantunā maṇivat proto yatra kandaḥ suṣumṇayā /

tan-nābhi-maṇḍalaṃ cakraṃ procyate maṇi-pūrakam // 15 //

ūrdhvaṃ meḍhrād adho nābheḥ kanda-yoniḥ sva-gāṇḍavat /

tatra nāḍyaḥ samutpannāḥ sahasrāṇi dvisaptatiḥ // 16 //

teṣu nāḍi-sahasreṣu dvisaptatir udāhṛtāḥ /

prādhānyāt prāṇa-vāhinyo bhūyas tatra daśa smṛtāḥ // 17 //

iḍā ca piṅgalā caiva suṣumṇā ca tṛtīyakā /

gāndhārī hasti-jihvā ca pūṣā caiva yaśasvinī // 18 //

alambuṣā kuhūś caiva śaṅkhinī daśamī smṛtā /

etan nāḍi-mayaṃ cakraṃ jñātavyaṃ yogibhiḥ sadā // 19 //

iḍā vāme sthitā bhāge piṅgalā dakṣiṇe tathā /

suṣumṇā madhya-deśe tu gāndhārī vāma-cakṣuṣi // 20 //

dakṣiṇe hasti-jihvā ca pūṣā karṇe ca dakṣiṇe /

yaśasvinī vāma-karṇe cāsane vāpy alambuṣā // 21 //

kūhuś ca liṅga-deśe tu mūla-sthāne ca śaṅkhinī /

evaṃ dvāram upāśritya tiṣṭhanti daśa nāḍikāḥ // 22 //

satataṃ prāṇa-vāhinyaḥ soma-sūryāgni-devatāḥ /

iḍā-piṅgalā-suṣumṇā ca tisro nāḍya udāhṛtāḥ // 23 //

prāṇāpānau samānaś ca hy udāno vyāna eva ca /

nāgaḥ kūrmaś ca kṛkaro devadatto dhanañjayaḥ // 24 //

nāgādyāḥ pañca vikhyātāḥ prāṇādyāḥ pañca vāyavaḥ /

ete nāḍi-sahasreṣu vartante jīva-rūpiṇaḥ // 25 //

prāṇāpāna-vaśo jīvo hy adhaś cordhvaṃ ca dhāvati /

vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa cañcalatvān na dṛśyate // 26 //

ākṣipto bhuvi daṇḍena yathoccalati kandukaḥ /

prāṇāpāna-samākṣiptas tathā jīvo'nukṛṣyate // 27 //

rajju-baddho yathā śyeno gato'py ākṛṣyate(?) /

guṇa-baddhas tathā jīvaḥ prāṇāpānena kṛṣyate // 28 //

apānaḥ karṣati prāṇaḥ prāṇo'pānaṃ ca karṣati /

ūrdhvādhaḥ saṃsthitāv etau yo jānāti sa yogavit // 29 //

kandordhve kuṇḍalī-śaktir aṣṭadhā kuṇḍalī-kṛtā /

brahma-dvāra-mukhaṃ nityaṃ mukhenāvṛtya tiṣṭhati // 30 //

prabuddhā vahni-yogena manasā mārutā hatā /

prajīva-guṇam ādāya vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā // 31 //

mahāmudrāṃ namo-mudrām uḍḍiyānaṃ jalandharam /

mūla-bandhaṃ ca yo vetti sa yogī siddhi-bhājanam // 32 //

vakṣo-nyasta-hanur nipīḍya suciraṃ yoniṃ ca vāmāṅghriṇā hastābhyām avadhāritaṃ prasaritaṃ pādaṃ tathā dakṣiṇam /

āpūrya śvasanena kukṣi-yugalaṃ baddhvā śanai recayed eṣā pātaka-nāśinī sumahatī mudrā nṝṇāṃ procyate // 33 //

kapāla-kuhare jihvā praviṣṭā viparītagā /

bhruvor antargatā dṛṣṭir mudrā bhavati khecarī // 34 //

ūrdhvaṃ meḍhrād adho nābher uḍḍiyānaṃ pracakṣate /

uḍḍiyāna-jayo bandho mṛtyu-mātaṅga-kesarī // 35 //

jālandhare kṛte bandhe kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe /

na pīyūṣaṃ pataty agnau na ca vāyuḥ prakupyati // 36 //

pārṣṇi-bhāgena sampīḍya yonim ākuñcayed gudam /

apānam ūrdhvam ākṛṣya mūla-bandho nigadyate // 37 //

yataḥ kāla-bhayāt brahmā prāṇāyāma-parāyaṇaḥ /

yogino munayaś caiva tataḥ prāṇaṃ nibandhayet // 38 //

cale vāte calaṃ sarvaṃ niścale niścalaṃ bhavet /

yogī sthāṇutvam āpnoti tato vāyuṃ nibandhayet // 39 //

ṣaṭ-triṃśad-aṅgulaṃ haṃsaḥ prayāṇaṃ kurute bahiḥ /

vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa tataḥ prāṇo'bhidhīyate // 40 //

baddha-padmāsano yogī namaskṛtya guruṃ śivam /

nāsāgra-dṛṣṭir ekākī prāṇāyāmaṃ samabhyaset // 41 //

prāṇo deha-sthito vāyur āyāmas tan-nibandhanam /

eka-śvāsa-mayī mātrā tad yogī gaganāyate // 42 //

baddha-padmāsano yogī prāṇaṃ candreṇa pūrayet /

dhārayitvā yathā-śakti bhūyaḥ sūryeṇa recayet // 43 //

amṛtodadhi-saṅkāśaṃ kṣīroda-dhavala-prabham /

dhyātvā candramayaṃ bimbaṃ prāṇāyāme sukhī bhavet // 44 //

prāṇaṃ sūryeṇa cākṛṣya pūrayed udaraṃ śanaiḥ /

kumbhayitvā vidhānena bhūyaś candreṇa recayet // 45 //

prajvalaj-jvalana-jvālā- puñjam āditya-maṇḍalam /

dhyātvā nābhi-sthitaṃ yogī prāṇāyāme sukhī bhavet // 46 //

recakaḥ pūrakaś caiva kumbhakaḥ praṇavātmakaḥ /

prāṇāyāmo bhavet tredhā mātrā dvādaśa-saṃyutaḥ // 47 //

dvādaśādhamake mātrā madhyame dviguṇās tataḥ /

uttame triguṇā mātrāḥ prāṇāyāmasya nirṇayaḥ // 48 //

adhame ca ghano gharmaḥ kampo bhavati madhyame /

uttiṣṭhaty uttame yogī baddha-padmāsano muhuḥ // 49 //

aṅgānāṃ mardanaṃ śastaṃ śrama-saṃjāta-vāriṇā /

kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī kṣīra-bhojanam ācaret // 50 //

mandaṃ mandaṃ pibed vāyuṃ mandaṃ mandaṃ viyojayet /

nādhikaṃ stambhayed vāyuṃ na ca śīghraṃ vimocayet // 51 //

ūrdhvam ākṛṣya cāpānaṃ vātaṃ prāṇe niyojayet /

mūrdhānaṃ nīyate śaktyā sarva-pāpaiḥ pramucyate // 52 //

prāṇāyāmo bhavaty evaṃ pātakendhana-pātakaḥ /

enombudhi-mahā-setuḥ procyate yogibhiḥ sadā // 53 //

āsanena rujo hanti prāṇāyāmena pātakam /

vikāraṃ mānasaṃ yogī pratyāhāreṇa sarvadā // 54 //

candrāmṛta-mayīṃ dhārāṃ pratyāhārati bhāskaraḥ /

tat-pratyāharaṇaṃ tasya pratyāhāraḥ sa ucyate // 55 //

ekā strī bhujyate dvābhyām āgatā soma-maṇḍalāt /

tṛtīyo yo bhavet tābhyāṃ sa bhavaty ajarāmaraḥ // 56 //

nābhideśe bhavaty eko bhāskaro dahanātmakaḥ /

amṛtātmā sthito nityaṃ tālumūle ca candramāḥ // 57 //

varṣaty adhomukhaś candro grasaty ūrdhva-mukho raviḥ /

jñātavyaṃ karaṇaṃ tatra yena pīyūṣam āpyate // 58 //

ūrdhva-nābhir adhas tālu ūrdhva-bhānur adhaḥ śaśī /

karaṇaṃ viparītākhyaṃ guru-vaktreṇa labhyate // 59 //

tridhā baddho vṛṣo yatra rauravīti mahāsvanam /

anāhataṃ ca tac cakraṃ hṛdaye yogino viduḥ // 60 //

anāhatam atikramya cākramya maṇipūrakam /

prāpte prāṇaṃ mahāpadmaṃ yogitvam amṛtāyate // 61 //

viśabdaḥ saṃsmṛto haṃso nirmalaḥ śuddha ucyate /

ataḥ kaṇṭhe viśuddhākhye cakraṃ cakra-vido viduḥ // 62 //

viśuddhe parame cakre dhṛtvā soma-kalā-jalam /

māsena na kṣayaṃ yāti vañcayitvā mukhaṃ raveḥ // 63 //

sampīḍya rasanāgreṇa rāja-danta-bilaṃ mahat /

dhyātvāmṛtamayīṃ devīṃ ṣaṇ-māsena kavir bhavet // 64 //

amṛtāpūrṇa-dehasya yogino dvi-tri-vatsarāt /

ūrdhvaṃ pravartate reto'py aṇimādi-guṇodayaḥ // 65 //

indhanāni yathā vahnis taila-varti ca dīpakaḥ /

tathā somakalā-pūrṇaṃ dehī dehaṃ na muñcati // 66 //

āsanena samāyuktaḥ prāṇāyāmena saṃyutaḥ /

pratyāhāreṇa saṃyukto dhāraṇāṃ ca samabhyaset // 67 //

hṛdaye pañca-bhūtānāṃ dhāraṇāṃ ca pṛthak pṛthak /

manaso niścalatvena dhāraṇā ca vidhīyate // 68 //

yā pṛthvī hari-tāla-deśa-rucirā pītā lakārānvitā saṃyuktā kamalāsanena hi catuṣkoṇā hṛdi sthāyinī /

prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed eṣā stambhakarī sadā kṣitijayaṃ kuryād bhuvo dhāraṇā // 69 //

ardhendu-pratimaṃ ca kunda-dhavalaṃ kaṇṭhe'mbu-tattavṃ sthitaṃ yat pīyūṣa-va-kāra-bīja-sahitaṃ yuktaṃ sadā viṣṇunā /

prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed eṣā durvaha-kāla-kūṭa-jaraṇā syād vāriṇī dhāraṇā // 70 //

yat tāla-sthitam indra-gopa-sadṛśaṃ tattvaṃ trikoṇojjvalaṃ tejo-repha-mayaṃ pravāla-ruciraṃ rudreṇa yat saṅgatam /

prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed eṣā vahni-jayaṃ sadā vidadhate vaiśvānarī dhāraṇā // 71 //

yad bhinnāñjana-puñja-sānnibham idaṃ tattvaṃ bhruvor antare vṛttaṃ vāyumayaṃ ya-kāra-sahitaṃ yatreśvaro devatā /

prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed eṣā khe gamanaṃ karoti yamināṃ syād vāyavī dhāraṇā // 72 //

ākāśaṃ suviśuddha-vāri-sadṛśaṃ yad brahma-randhre sthitaṃ tatrādyena sadā-śivena sahitaṃ śāntaṃ ha-kārākṣaram /

prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed eṣā mokṣa-kavāṭa-pāṭana-paṭuḥ proktā nabho-dhāraṇā // 73 //

stambhanī drāvaṇī caiva dahanī bhrāmaṇī tathā /

śoṣaṇī ca bhavanty evaṃ bhūtānāṃ pañca dhāraṇāḥ // 74 //

karmaṇā manasā vācā dhāraṇāḥ pañca durlabhāḥ /

vidhāya satataṃ yogī sarva-pāpaiḥ pramucyate // 75 //

sarvaṃ cintā-samāvarti yogino hṛdi vartate /

yat tattve niścitaṃ cetas tat tu dhyānaṃ pracakṣate // 76 //

dvidhā bhavati tad dhyānaṃ sa-guṇaṃ nirguṇaṃ tathā /

saguṇaṃ varṇa-bhedena nirguṇaṃ kevalaṃ viduḥ // 77 //

ādhāraṃ prathamaṃ cakraṃ tapta-kāñcana-sannibham /

nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā muñcati kilbiṣam // 78 //

svādhiṣṭhānaṃ dvitīyaṃ tu san-māṇikya-suśobhanam /

nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā muñcati pātakam // 79 //

taruṇāditya-saṃkāśaṃ cakraṃ ca maṇipūrakam /

nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā saṃkṣobhayej jagat // 80 //

[verse missing]

vidyut-prabhāvaṃ hṛt-padme prāṇāyāma-vibhedanaiḥ /

nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā brahma-mayo bhavet // 82 //

santataṃ ghaṇṭikā-madhye viśuddhaṃ cāmṛtodbhavam /

nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā brahma-mayo bhavet // 83 //

bhruvor madhye sthitaṃ devaṃ snigdha-mauktika-sannibham /

nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā'nandamayo bhavet // 84 //

nirguṇaṃ ca śivaṃ śāntaṃ gagane viśvatomukham /

nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā duḥkhād vimucyate // 85 //

gudaṃ meḍhraṃ ca nābhiṃ ca hṛt-padme ca tad-ūrdhvataḥ /

ghaṇṭikāṃ lampikā-sthānaṃ bhrū-madhye parameśvaram // 86 //

nirmalaṃ gaganākāraṃ marīci-jala-sannibham /

ātmānaṃ sarvagaṃ dhyātvā yogī yogam avāpnuyāt // 87 //

kathitāni yathaitāni dhyāna-sthānāni yoginām /

upādhi-tattva-yuktāni kurvanty aṣṭa-guṇodayam // 88 //

upādhiś ca tathā tattvaṃ dvayam evam udāhṛtam /

upādhiḥ procyate varṇas tattvam ātmābhidhīyate // 89 //

upādhir anyathā-jñānaṃ tattvaṃ saṃsthitam anyathā /

samastopādhi-vidhvaṃsi sadābhyāsena yoginām // 90 //

ātma-varṇena bhedena dṛśyate sphāṭiko maṇiḥ /

mukto yaḥ śakti-bhedena so'yam ātmā praśasyate // 91 //

nirātaṅkaṃ nirālambaṃ niṣprapañcaṃ nirāśrayam /

nirāmayaṃ nirākāraṃ tattvaṃ tattvavido viduḥ // 92 //

śabdādyāḥ pañca yā mātrā yāvat karṇādiṣu smṛtāḥ /

tāvad eva smṛtaṃ dhyānaṃ tat-samādhir ataḥ param // 93 //

yadā saṃkṣīyate prāṇo mānasaṃ ca vilīyate /

tadā sama-rasaikatvaṃ samādhir abhidhīyate // 94 //

[verse missing]

dhāraṇāḥ pañca-nāḍyas tu dhyānaṃ ca ṣaṣṭhi-nāḍikāḥ /

dina-dvādaśakenaiva samādhiḥ prāṇa-saṃyamaḥ // 96 //

na gandhaṃ na rasaṃ rūpaṃ na sparśaṃ na ca niḥsvanam /

ātmānaṃ na paraṃ vetti yogī yuktaḥ samādhinā // 97 //

khādyate na ca kālena bādhyate na ca karmaṇā /

sādhyate na ca kenāpi yogī yuktaḥ samādhinā // 98 //

nirmalaṃ niścalaṃ nityaṃ niṣkriyaṃ nirguṇaṃ mahat /

vyoma-vijñānam ānandaṃ brahma brahma-vido viduḥ // 99 //

dugdhe kṣīraṃ dhṛte sarpir agnau vahnir ivārpitaḥ /

advayatvaṃ vrajen nityaṃ yogavit parame pade // 100 //

bhava-bhaya-vane vahnir mukti-sopāna-mārgataḥ /

advayatvaṃ vrajen nityaṃ yogavit parame pade // 101 //


gorakṣa-śatakaṃ samāptam

Goraksha Shataka (Version 2) Übersetzung, Sanskrit Text Devanagari und Umschrift, Wort-für-Wort-Übersetzung

Das Werk beginnt

(Nun) beginnt (das Werk über) Hatha Yoga (namens) Goraksha Shataka, die hundert Verse des Goraksha.


ॐ हठयोगगोरक्षशतकप्रारम्भः |
oṃ haṭha-yoga-gorakṣa-śataka-prārambhaḥ |
om hatha-yoga-goraksha-shataka-prarambhah |


Wort-für-Wort-Übersetzung

oṃ : Segnung (kosmischer Urklang Om)
haṭha-yoga-gorakṣa-śataka-prārambhaḥ : Anfang (Prarambha) des Hatha-Yoga(-Textes namens) die hundert Verse (Shataka) des Goraksha

Vers 1: Verehrung des Meisters

Ich verehre den ehrwürdigen Lehrer, der die höchste Glückseligkeit ist, dessen Natur die Wonne im Selbst ist, und in dessen bloßer Anwesenheit der Körper zu Bewusstsein und Wonne wird.


श्रीगुरुं परमानन्दं वन्दे स्वानन्दविग्रहम् |
यस्य सान्निध्यमात्रेण चिदानन्दायते तनुः || १ ||
śrī-guruṃ paramānandaṃ vande svānanda-vigraham |
yasya sānnidhya-mātreṇa cid-ānandāyate tanuḥ || 1 ||
shri-gurum paramanandam vande svananda-vigraham |
yasya sannidhya-matrena cid-anandayate tanuh || 1 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śrī-gurum : den ehrwürdigen (Shri) Lehrer, Meister (Guru)
paramānandam : die höchste Glückseligkeit, Wonne (Paramananda)
vande : ich verehre (vand)
svānanda-vigraham : dessen Natur ("Gestalt", Vigraha) die Wonne im Selbst (Svananda) ist
yasya : (in) dessen (Yad)
sānnidhya-mātreṇa : bloßer (Matra) Anwesenheit, in der Nähe Sein (Sannidhya)
cid-ānandāyate : zu Bewusstsein und Wonne wird (Chidananday)
tanuḥ : der Körper (Tanu)

Anmerkung: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 1 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, die auch als Goraksha Samhita, die "Sammlung (Samhita von Versen) des Goraksha" bekannt ist.

Vers 2: Verehrung des Meisters Minanatha

Ich verehre ohne Unterlass den ehrwürdigen Minanatha, den Yogi im Glanz des inneren unbewegten Lichtes des Selbst, (das er) durch (die Praxis von) Wurzelverschluss usw. (erlangt hat), ihn, in dem sich der ursprüngliche Herr selbst verkörpert hat, der infolge (seiner) Erschaffung der Zeit (in Form) der Weltzeitalter und Weltschöpfungszyklen als das Grundprinzip gepriesen wird, diesen Ozean der Wonne der Erkenntnis, der gegenüber den Eigenschaften des Manifesten und Unmanifesten erhaben ist.


अन्तर्निश्चलितात्मदीपकलिकास्वाधारबन्धादिभि-
र्यो योगी युगकल्पकालकलनातत्त्वं च जेगीयते |
ज्ञानामोदमहोदधिः समभवद्यत्रादिनाथः स्वयं
व्यक्ताव्यक्तगुणाधिकं तमनिशं श्रीमीननाथं भजे || २ ||
antar-niścalitātma-dīpa-kalikāsv ādhāra-bandhādibhir
yo yogī yuga-kalpa-kāla-kalanā-tattvaṃ ca jegīyate |
jñānāmoda-mahodadhiḥ samabhavad yatrādi-nāthaḥ svayaṃ
vyaktāvyakta-guṇādhikaṃ tam aniśaṃ śrī-mīna-nāthaṃ bhaje || 2 ||
antar-nishchalitatma-dipa-kalikasv adhara-bandhadibhir
yo yogi yuga-kalpa-kala-kalana-tattvam cha jegiyate |
jnanamoda-mahodadhih samabhavad yatradi-nathaḥ svayam
vyaktavyakta-gunadhikam tam anisham shri-mina-natham bhaje || 2 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

antar-niścalitātma-dīpa-kalikāsu : in den Strahlen (Kalika) des inneren (Antar) unbewegten (Nishchalita) Lichtes (Dipa) des Selbst (Atman)
ādhāra-bandhādibhiḥ : durch (die Praxis von) Wurzelverschluss (Adharabandha, d.h. Mulabandha) usw. (Adi)
yaḥ : dieser ("welcher", Yad)
yogī : Yogi (Yogin)
yuga-kalpa-kāla-kalanā-tattvam : als die wahre Natur, das Grundprinzip, das Selbst (Tattva) infolge (seiner) Erschaffung (Kalana) der Zeit (Kala) in Form der Weltzeitalter (Yuga) und Weltschöpfungszyklen (Kalpa)
ca : und (Cha)
jegīyate : der gepriesen wird (gai)
jñānāmoda-mahodadhiḥ : ein Ozean (Mahodadhi) der Wonne (Amoda) der Erkenntnis (Jnana)
samabhavat : sich verkörpert hat ("geboren wurde", sam + bhū)
yatra : in welchem ("wo", Yatra)
ādi-nāthaḥ : der ursprüngliche Herr (Adinatha), d.h. Shiva
svayam : selbst, persönlich (Svayam)
vyaktāvyakta-guṇādhikam : der erhaben ist ("höher stehend", Adhika) gegenüber den Eigenschaften (Guna) des Manifesten (Vyakta) und des Unmanifesten (Avyakta)
tam : den (Tad)
aniśam : ununterbrochen, ohne Unterlass (Anisha)
śrī-mīna-nātham : ehrwürdigen (Shri) Minanatha ("Herrn der Fische")
bhaje : ich verehre (bhaj)

Anmerkungen: Häufig wird davon ausgegangen, dass der in diesem Vers erwähnte Minanatha und Matsyendranatha sich auf ein und denselben Yogameister beziehen, der im 7. oder 10. Jahrhundert n. Chr. gelebt haben soll, da beide Namen "Herr der Fische" bedeuten. Dagegen weist die in der Hatha Yoga Pradipika (HYP 1.5-9) gegebene Liste der Schülernachfolge darauf hin, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Meister der sogenannten Natha-Tradition handelt, die bis auf Adinatha, den hier ebenfalls erwähnten "uranfänglichen Herrn" (ein Name Shivas), zurückgeht.

Als zweiter Meister nach Adinatha wird in der HYP der legendäre Matsyendra ("Herr der Fische") genannt, der auch Matsyendranatha heißt, da an jeden Namen dieser Liste die Bezeichnung Natha "Herr, Meister" gehängt werden kann. Dieser habe als Fisch (oder im Bauch eines Fisches) Shivas Yogaunterweisung belauscht und sei dann von diesem als Yogameister initiiert worden. Dann folgen drei weitere Meister mit den Namen Shabara (Natha), Anandabhairava (Natha) und Chaurangin (Natha). Dann wird Mina ("Fisch"), d.h. Minanatha genannt, gefolgt von Goraksha ("Kuhhirt") bzw. Gorakshanatha, dem Verfasser des Goraksha Shataka:


śrī-ādinātha-matsyendra-śābarānanda-bhairavāḥ |
cauraṅgī-mīna-gorakṣa-virūpākṣa-bileśayāḥ || HYP 1.5 ||
...
ity ādayo mahā-siddhā haṭha-yoga-prabhāvataḥ |
khaṇḍayitvā kāla-daṇḍaṃ brahmāṇḍe vicaranti te || HYP 1.9 ||


"Adinatha (Shiva), Matsyendra, Shabara, Anandabhairava, Chaurangin, Mina, Goraksha, Virupaksha, Bileshaya, ... - diese und weitere vollendete Meister (Mahasiddha), die durch die Macht (Prabhava) des Hatha Yoga den Stab (Danda) des Todes ("der Zeit", Kala) zerbrochen haben, wandeln in der Welt (Brahmanda) umher."

Mina bzw. Minanatha wird im vorliegenden Vers des Goraksha Shataka als der Meister des Goraksha (vgl. Vers 3) gepriesen (śrī-mīna-nāthaṃ bhaje), was durch die unmittelbare Aufeinanderfolge dieser beiden Meister in der Liste der HYP (1.5) gestützt wird. Somit wären Matsyendra bzw. Matsyendranatha dem 7. Jahrhundert, und Mina bzw. Minanatha sowie dessen Schüler Goraksha Natha dem 10. Jahrhundert n. Chr. zuzuordnen.

Dieser Vers ist einer der wenigen Verse dieser "Version 2" des Goraksha Shataka, die nicht in der Goraksha Paddhati erscheinen. Die Lesung °kalanā-tattvaṃ ca im 2. Pada folgt der Ausgabe der Yoga Tarangini Tika.

Vers 3: Verehrung des Meisters

Nachdem er hingebungsvoll (seinen) Meister verehrt hat, verkündet Goraksha das höchste Wissen, das von den Yogis ersehnt wird, das die höchste Glückseligkeit bewirkt.


नमस्कृत्य गुरुं भक्त्या गोरक्षो ज्ञानमुत्तमम् |
अभीष्टं योगिनां ब्रूते परमानन्दकारकम् || ३ ||
namas-kṛtya guruṃ bhaktyā gorakṣo jñānam uttamam |
abhīṣṭaṃ yogināṃ brūte paramānanda-kārakam || 3 ||
namas-kritya gurum bhaktya goraksho jnanam uttamam |
abhishtam yoginam brute paramananda-karakam || 3 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

namas-kṛtya : nachdem er verehrt hat (Namas-Kritya)
gurum : den Lehrer, Meister (Guru)
bhaktyā : hingebungsvoll, mit Hingabe (Bhakti)
gorakṣaḥ : Goraksha
jñānam : Wissen (Jnana)
uttamam : das höchste (Uttama)
abhīṣṭam : das ersehnt wird ("gewünscht", Abhishta)
yoginām : von den Yogis (Yogin)
brūte : verkündet, lehrt (brū)
paramānanda-kārakam : das die höchste Glückseligkeit (Paramananda) bewirkt (Karaka)

Anmerkung: Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 2 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati. Der Meister Gorakshas war Minanatha bzw. Matsyendranatha (vgl. die Anm. zu Vers 2).

Vers 4: Einleitung

Goraksha lehrt (nun) mit dem Wunsch den Yogis zu nützen (eine Sammlung von) einhundert (Versen), durch deren Verständnis der höchste Zustand (des Yoga) gewiss entsteht.


गोरक्षः शतकं वक्ति योगिनां हितकाम्यया |
ध्रुवं यस्यावबोधेन जायते परमं पदम् || ४ ||
gorakṣaḥ śatakaṃ vakti yogināṃ hita-kāmyayā |
dhruvaṃ yasyāvabodhena jāyate paramaṃ padam || 4 ||
gorakshah shatakam vakti yoginam hita-kamyaya |
dhruvam yasyavabodhena jayate paramam padam || 4 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

gorakṣaḥ : Goraksha
śatakam : ein Hundert (Verse, Shataka)
vakti : lehrt, verkündet (vac)
yoginām : der Yogis (Yogin)
hita-kāmyayā : mit dem Wunsch für den Nutzen (Hitakamya)
dhruvam : gewiss, sicherlich (Dhruva)
yasya : dessen (Yad)
avabodhena : durch das Verständnis (Avabodha)
jāyate : entsteht (jan)
paramam : der höchste (Parama)
padam : Zustand, Bewusstseinszustand ("Ort", Pada)

Anmerkungen: Der "höchste Zustand" (paramaṃ padam) ist laut Hatha Yoga Pradipika (4.3-4) identisch mit dem Rajayoga, Samadhi oder Jivanmukti genannten Bewusstseinszustand und somit gleichbedeutend mit der Erfahrung der Nichtdualität (Advayatva), der immerwährenden Identität von "Selbst" (Atman) und Brahman, dem "Absoluten" (vgl. die Anm. zu Vers 101 der Version 1 des Goraksha Shataka).

Dieser Vers erscheint mit einer bemerkenswerten Lesart im ersten Pada als Vers 3 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, die auch als Goraksha Samhita bekannt ist: gorakṣa-saṃhitāṃ vakti ... "(Goraksha) lehrt (nun) die Sammlung (Samhita) des Goraksha ...".

Auch die übrigen Verse (5-101) der Version 2 des Goraksha Shataka werden, mit wenigen Abweichungen, Einschüben und Auslassungen, in derselben Reihenfolge im ersten Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 5: Einleitung

Dieses (Goraksha Shataka) ist eine Leiter zur Befreiung. Es bedeutet das Überlisten des Todes. Denn, wenn der Geist von der Sinneserfahrung abgewandt ist, richtet er sich auf das höchste Selbst.


एतद्विमुक्तिसोपानमेतत्कालस्य वञ्चनम् |
यद्व्यावृत्तं मनो भोगादासक्तं परमात्मनि || ५ ||
etad vimukti-sopānam etat kālasya vañcanam |
yad vyāvṛttaṃ mano bhogād āsaktaṃ paramātmani || 5 ||
etad vimukti-sopanam etat kalasya vanchanam |
yad vyavrittam mano bhogad asaktam paramatmani || 5 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

etat : dies (Etad)
vimukti-sopānam : ist eine Leiter (Sopana) für die Befreiung (Vimukti)
etat : dies
kālasya : des Todes ("der Zeit", Kala)
vañcanam : ist das Täuschen ("Hintergehen, Entrinnen", Vanchana)
yat : weil (Yad)
vyāvṛttam : abgewandt (Vyavritta)
manas : der Geist, das Denken (Manas)
bhogāt : von der Sinneserfahrung, vom Genuss (der Sinnesobjekte, Bhoga)
āsaktam : gerichtet ist ("hängend an", Asakta)
paramātmani : auf das höchste Selbst (Paramatman)

Anmerkungen: Die Wissenschaft des Hatha Yoga wird im ersten Vers der Hatha Yoga Pradipika ebenfalls als eine Leiter bezeichnet (Hatha Yoga Pradipika 1.1).

Dieser Vers erscheint wortwörtlich als Vers 4 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati. Er und die folgenden sieben Verse (6-12) werden mit geringfügigen Lesarten als Verse 2-9 in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. In Vers 2 heißt es dort im 4. Pada mohāt "von der Täuschung" statt bhogāt "von der Sinneserfahrung". Der Geist, der sich in der Meditation von der äußerlichen Erfahrung (Bhoga) abwendet, erreicht den Zustand des Yoga, die Erfahrung der Identität mit dem höchste Selbst.

Vers 6: Einleitung

Ihr Besten (der Menschen), praktiziert Yoga! - den Vernichter des Leidens der weltlichen Existenz, der die Frucht des Wunschbaums der heiligen Überlieferung ist, dessen Zweige von den Vögeln, den Zweimalgeborenen, besucht werden.


द्विजसेवितशाखस्य श्रुतिकल्पतरोः फलम् |
शमनं भवतापस्य योगं भजत सत्तमाः || ६ ||
dvija-sevita-śākhasya śruti-kalpa-taroḥ phalam |
śamanaṃ bhava-tāpasya yogaṃ bhajata sattamāḥ || 6 ||
dvija-sevita-shakhasya shruti-kalpa-taroh phalam |
shamanam bhava-tapasya yogam bhajata sattamah || 6 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvija-sevita-śākhasya : dessen Zweige (Shakha) von Vögeln, Zweimalgeborenen (Dvija) besucht (Sevita) werden
śruti-kalpa-taroḥ : des Wunschbaums (Kalpataru) der heiligen Überlieferung (Shruti)
phalam : die Frucht (Phala)
śamanam : den Vernichter ("Beruhiger", Shamana)
bhava-tāpasya : des Leidens (Tapa) der weltlichen Existenz (Bhava)
yogam : Yoga
bhajata : betreibt (bhaj)
sattamāḥ : ihr Besten (der Menschen, Sattama)

Anmerkungen: Dvija (dvi-ja) "zweimal geboren" bedeutet sowohl "Vogel" als auch die Mitglieder der drei oberen Kasten bzw. Stände (Varna). Shakha (śākhā) bedeutet auch einen "Zweig" im Sinne einer Schule bzw. Überlieferungstradition (Rezension) des Veda.

Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 5 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einer geringfügigen Lesart in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. In Vers 3 heißt es dort im 4. Pada bhajati saj-janaḥ "ein guter Mensch praktiziert" statt bhajata sattamāḥ "ihr Besten (der Menschen), praktiziert ... !".

Vers 7: Die sechs Glieder des Hatha Yoga

Körperstellung, Atemkontrolle, das Zurückhalten (des inneren Nektars), Konzentration, Meditation und Versenkung - diese nennt man die sechs Glieder des Yoga.


आसनं प्राणसंरोधः प्रत्याहारश्च धारणा |
ध्यानं समाधिरेतानि योगाङ्गानि वदन्ति षट् || ७ ||
āsanaṃ prāṇa-saṃrodhaḥ pratyāhāraś ca dhāraṇā |
dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni vadanti ṣaṭ || 7 ||
asanam prana-samrodhah pratyaharash cha dharana |
dhyanam samadhir etani yogangani vadanti shat || 7 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanam : Körperstellung, Sitzhaltung (Asana)
prāṇa-saṃrodhaḥ : Atemkontrolle (Pranasamrodha)
pratyāhāraḥ : das Zurückhalten (des inneren Nektars, Pratyahara)
ca : und (Cha)
dhāraṇā : Konzentration (Dharana)
dhyānam : Meditation (Dhyana)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi)
etāni : diese (Etad)
yogāṅgāni : Bestandteile, Glieder des Yoga (Yoganga)
vadanti : nennt man (vad)
ṣaṭ : die sechs (Shash)

Anmerkungen: Pranasamrodha (prāṇa-saṃrodhaḥ) ist ein Synonym für Pranayama. Es bedeutet soviel wie "Kontrolle über den Atem bzw. die Lebensenergie Prana", wörtlich jedoch das "Anhalten (Samrodha) des Atems (Prana)", und bezieht sich folglich insbesondere auf die Atemverhaltungen (Kumbhaka) .

Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 6 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einigen Varianten in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. In Vers 4 heißt es dort im 1. Pada prāṇa-saṃyāmaḥ statt prāṇa-saṃrodhaḥ, und im 4. Pada bhavanti "sind" statt vadanti "man nennt". Vgl. auch die Anm. zu diesem Vers (Version 1). In der Yogachudamani Upanishad erscheint dieser Vers in nahezu identischer Form als Vers 2.

Vers 8: Anzahl der Asanas

Es gibt soviele Körperstellungen, wie es Arten von Lebewesen gibt. Maheshvara kennt all deren Unterscheidungen.


आसनानि च तावन्ति यावत्यो जीवजातयः |
एतेषामखिलान्भेदान्विजानाति महेश्वरः || ८ ||
āsanāni ca tāvanti yāvatyo jīva-jātayaḥ |
eteṣām akhilān bhedān vijānāti maheśvaraḥ || 8 ||
asanani cha tavanti yavatyo jiva-jatayah |
etesham akhilan bhedan vijanati maheshvarah || 8 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanāni : Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
ca : und (Cha)
tāvanti : (gibt es) soviele (Tavat)
yāvatyaḥ : wie (Yavat)
jīva-jātayaḥ : Arten (Jati) von Lebewesen (Jiva)
eteṣām : davon, von diesen (Etad)
akhilān : alle (Akhila)
bhedān : Arten, Unterscheidungen (Bheda)
vijānāti : kennt (vi + jñā)
maheśvaraḥ : Maheshvara, der große Herr (Shiva)

Anmerkung: Wieviele Arten von Lebewesen (und folglich Körperstellungen) es nach der traditionellen indischen Anschauung gibt, wird im nächsten Vers ausgeführt.

Dieser Vers wird mit geringfügigen Lesarten als Vers 7 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und als Vers 5 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Vers 9: Anzahl der Asanas

Aus diesen 8,4 Millionen Körperstellungen wurde von Shiva jeweils eine (stellvertretend für jeweils 100 000) ausgewählt, und somit 84 Körperstellungen zusammengestellt.


चतुराशीतिलक्षाणामेकैकं समुदाहृतम् |
ततः शिवेन पीठानां षोडशोनं शतं कृतम् || ९ ||
catur-āśīti-lakṣāṇām ekaikaṃ samudāhṛtam |
tataḥ śivena pīṭhānāṃ ṣoḍaśonaṃ śataṃ kṛtam || 9 ||
catur-ashiti-lakshanam ekaikam samudahritam |
tatah shivena pithānām shodashonam shatam kritam || 9 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

catur-āśīti-lakṣāṇām : aus 8,4 Millionen ("84 x 100 000", Chaturashiti-Laksha)
ekaikam : jeweils ein (100 000, Eka)
samudāhṛtam : wurde als Beispiel ausgewählt ("genannt", Samudahrita)
tataḥ : daraus, davon (Tatas)
śivena : von Shiva
pīṭhānām : der Körperstellungen, Sitzhaltungen (Pitha)
ṣoḍaśonam : um 16 (Shodasha) vermindert (Una)
śatam : ein Hundert (Shata)
kṛtam : wurde zusammengestellt ("gemacht", Krita)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 8 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit einer geringfügigen Lesart in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert (Vers 6, vgl. auch die Anm. dazu).

Vers 10: Siddhasana und Kamalasana

Von allen Körperstellungen zeichnen sich zwei besonders aus: die eine dieser beiden ist der perfekte Sitz (Siddhasana), die andere der Lotussitz (Kamalasana).


आसनेभ्यः समस्तेभ्यो द्वयमेव विशिष्यते |
एकं सिद्धासनं तत्र द्वितीयं कमलासनम् || १० ||
āsanebhyaḥ samastebhyo dvayam eva viśiṣyate |
ekaṃ siddhāsanaṃ tatra dvitīyaṃ kamalāsanam || 10 ||
asanebhyah samastebhyo dvayam eva vishishyate |
ekam siddhasanam tatra dvitiyam kamalasanam || 10 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

āsanebhyaḥ : Körperstellungen, Sitzhaltungen (Asana)
samastebhyaḥ : von allen (Samasta)
dvayam : zwei ("eine Zweiheit", Dvaya)
eva : nur (Eva)
viśiṣyate : zeichnen sich aus (vi + śiṣ)
ekam : die eine (Eka)
siddhāsanam : (ist) der perfekte Sitz (Siddhasana)
tatra : dieser beiden ("unter diesen", Tatra)
dvitīyam : die andere ("zweite", Dvitiya)
kamalāsanam : der Lotussitz (Kamalasana)

Anmerkungen: Kamalasana (kamalāsana) ist ein Synonym für Padmasana (padmāsana).

Dieser Vers wird mit einer geringfügigen Lesart als Vers 7 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie mit einer weiteren Lesart im 2. Pada als Vers 9 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 11: Siddhasana (perfekter Sitz)

Man lege eine Ferse fest an den Beckenboden und den anderen Fuß fest oberhalb des Genitals, und richte den Körper auf. Dann schaue man, unbeweglich und mit gesammelten Sinnen, mit unverwandtem Blick auf die Mitte zwischen beiden Augenbrauen. Diese Sitzhaltung, die das Öffnen der Tür zur Befreiung bewirkt, wird perfekter Sitz (Siddhasana) genannt.


योनिस्थानकमङ्घ्रिमूलघटितं कृत्वा दृढं विन्यसे-
न्मेढ्रे पादमथैकमेव नियतं कृत्वा समं विग्रहम् |
स्थाणुः संयमितेन्द्रियोऽचलदृशा पश्यन्भ्रुवोरन्तर-
मेतन्मोक्षकपाटभेदजनकं सिद्धासनं प्रोच्यते || ११ ||
yoni-sthānakam aṅghri-mūla-ghaṭitaṃ kṛtvā dṛḍhaṃ vinyasen
meḍhre pādam athaikam eva niyataṃ kṛtvā samaṃ vigraham |
sthāṇuḥ saṃyamitendriyo'cala-dṛśā paśyan bhruvor antaram
etan mokṣa-kapāṭa-bheda-janakaṃ siddhāsanaṃ procyate || 11 ||
yoni-sthanakam anghri-mula-ghatitaṃ kritva dridham vinyasen
medhre padam athaikam eva niyatam kritva samam vigraham |
sthanuh samyamitendriyo'chala-drisha pashyan bhruvor antaram
etan moksha-kapata-bheda-janakam siddhasanam prochyate || 11 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yoni-sthānakam : den Ort, die Stelle (Sthanaka) des Dammes, Beckenbodens ("des Ursprungs", Yoni)
aṅghri-mūla-ghaṭitam : an die Ferse ("Fuß-Wurzel, Ursprung des Fußes", Anghrimula) angelegt, verbunden Ghatita)
kṛtvā : habend ("machend", kṛ)
dṛḍham : fest (Dridha)
vinyaset : man lege (vi + ni + as)
meḍhre : oberhalb des Gliedes, über das Glied (Medhra)
pādam : Fuß (Pada)
atha : und, nun, dann (Atha)
ekam : einen (Eka)
eva : wahrlich, nur (Eva)
niyatam : fest (Niyata)
kṛtvā : machend
samam : aufrecht, ausgerichtet (Sama)
vigraham : den Körper (Vigraha)
sthāṇuḥ : aufrecht, unbeweglich (Sthanu)
saṃyamitendriyaḥ : mit gesammelten, kontrollierten ("bezwungenen", Samyamita) Sinnen (Indriya)
acala-dṛśā : mit unverwandtem, unbeweglichem (Achala) Blick ("Auge", Drish)
paśyan : man schaue (paś)
bhruvoḥ : beide Brauen (Bhru)
antaram : zwischen (Antara)
etat : diese (Sitzhaltung, Etad)
mokṣa-kapāṭa-bheda-janakam : die das Aufbrechen, Öffnen (Bheda) der) Tür (Kapata) zur Befreiung (Moksha) bewirkt, verursacht (Janaka)
siddhāsanam : Sitzhaltung der Vollkommenen, perfekter Sitz (Siddhasana)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert (Vers 8, vgl. die dortige Anm.). In der Hatha Yoga Pradipika (1.37) erscheint dieser Vers in fast identischer Form, ebenso als Vers 10 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Gheranda Samhita (2.7).

Vers 12: Padmasana (Lotussitz)

Man lege den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel und den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel. Dann ergreife man mit beiden Händen, indem man diese hinter dem Rücken über Kreuz hält, fest die beiden großen Zehen. Dann schaue man, das Kinn auf die Brust drückend, auf die Nasenspitze. Diese Sitzhaltung, die körperliche Krankheiten und geistige Störungen vernichtet, wird Lotussitz (Padmasana) genannt.


वामोरूपरि दक्षिणं च चरणं संस्थाप्य वामं तथा
दक्षोरूपरि पश्चिमेन विधिना धृत्वा कराभ्यां दृढम् |
अङ्गुष्ठौ हृदये निधाय चिबुकं नासाग्रमालोकये-
देतद्व्याधिविकारनाशनकरं पद्मासनं प्रोच्यते || १२ ||
vāmorūpari dakṣiṇaṃ ca caraṇaṃ saṃsthāpya vāmaṃ tathā
dakṣorūpari paścimena vidhinā dhṛtvā karābhyāṃ dṛḍham |
aṅguṣṭhau hṛdaye nidhāya cibukaṃ nāsāgram ālokayed
etad vyādhi-vikāra-nāśana-karaṃ padmāsanaṃ procyate || 12 ||
vamorupari dakshinam cha charanam samsthapya vamam tatha
dakshorupari pashchimena vidhina dhritva karabhyam dridham |
angushthau hridaye nidhaya chibukam nasagram alokayed
etad vyadhi-vikara-nashana-karam padmasanam prochyate || 12 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vāmorūpari : auf (Upari) den linken (Vama) Oberschenkel (Uru)
dakṣiṇam : den rechten (Dakshina)
ca : und, aber (Cha)
caraṇam : Fuß (Charana)
saṃsthāpya : legend ("gelegt habend", sam + sthā)
vāmam : den linken (Fuß, Vama)
tathā : und, ebenso (Tatha)
dakṣorūpari : auf (Upari) den rechten (Daksha) Oberschenkel (Uru)
paścimena : auf die hintere (hinter dem Rücken, Pashchima)
vidhinā : Art und Weise (Vidhi)
dhṛtvā : haltend, ergreifend (dhṛ)
karābhyām : mit beiden Händen (über Kreuz, Kara)
dṛḍham : fest (Dridha)
aṅguṣṭhau : beide großen Zehen (Angushtha)
hṛdaye : an die Brust (die "Herzgegend", Hridaya)
nidhāya : legend ("gelegt habend", ni + dhā)
cibukam : das Kinn (Chibuka)
nāsāgram : auf die Nasenspitze (Nasagra)
ālokayet : schaue man (ā + lok)
etat : das, diese (Sitzhaltung, (Etad)
vyādhi-vikāra-nāśana-karam : die (körperliche) Krankheiten (Vyadhi) und (geistige) Störungen (Vikara) vernichtet ("zunichte macht", Nashanakara)
padmāsanam : Lotussitz (Padmasana)
procyate : wird genannt (pra + vac)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 11 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit geringfügigen Lesarten in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert (Vers 9). In der Gheranda Samhita (2.8) erscheint dieser Vers in nahezu identischer Form, ebenso in Hatha Yoga Pradipika (1.46), deren Wortlaut im letzten Versviertel etwas abweicht. Die hier gelehrte Variante des Lotussitzes entspricht bereits dem "gebundenen Lotussitz" (Baddha Padmasana), bei dem die hinter dem Rücken gekreuzten Arme bzw. Hände die großen Zehen festhalten.

Vers 13: Kenntnis des feinstofflichen Körpers

Wie können diejenigen Yogis, die die sechs Energiezentren, die sechzehn Stützen, die drei Arten von Meditationsobjekten, und die fünf Räume in ihrem Körper nicht kennen, ans Ziel gelangen?


षट्चक्रं षोडशाधारं त्रिलक्षं व्योमपञ्चकम् |
स्वदेहे ये न जानन्ति कथं सिध्यन्ति योगिनः || १३ ||
ṣaṭ-cakraṃ ṣoḍaśādhāraṃ tri-lakṣaṃ vyoma-pañcakam |
sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 13 ||
shat-chakram shodashadharam tri-laksham vyoma-panchakam |
sva-dehe ye na jananti katham sidhyanti yoginah || 13 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ṣaṭ-cakram : die sechs (Shash) Energiezentren ("Räder", Chakra)
ṣoḍaśādhāram : die sechzehn (Shodasha) Stützen, Konzentrationspunkte Adhara)
tri-lakṣam : die drei (Tri, Arten von) Meditationsobjekten ("Zielpunkt", Laksha hier im Sinne von Trilakshya)
vyoma-pañcakam : die fünf Räume (Vyoma Panchaka)
sva-dehe : im eigenen (Sva) Körper (Deha)
ye : die (Yad)
na : nicht (Na)
jānanti : kennen (jñā)
katham : wie (Katham)
sidhyanti : sind erfolgreich, gelangen ans Ziel (sidh)
yoginaḥ : (diejenigen) Yogis (Yogin)

Anmerkungen: Die sechzehn "Stützen" (Adhara) bzw. Konzentrationspunkte werden in der Hatha Yoga Pradipika (3.73) im Zusammenhang mit dem Vishuddha Chakra, das auch Madhya Chakra genannt wird, erwähnt:

kaṇṭha-saṃkocanenaiva dve nāḍyau stambhayed dṛḍham |
madhya-cakram idaṃ jñeyaṃ ṣoḍaśādhāra-bandhanam || 3.73 ||

"Allein durch das Kontrahieren (Sankochana) der Kehle (Kantha, d.h. Jalandhara Bandha) unterbreche man fest die beiden feinstofflichen Energiekanäle (Nadi, d.h. Ida und Pingala). Dieses mittlere Zentrum (Madhya Chakra) soll man (als ein Mittel zum) Kontrollieren (Bandhana) der sechzehn Stützen (Adhara) kennen." (HYP 3.73)

Brahmananda, der Kommentator der HYP, zitiert hierzu die folgenden beiden Verse aus einem Goraksha zugeschriebenen Werk ("gorakṣa-siddhāntāt"), in denen die 16 Adharas genannt werden:

aṅguṣṭha-gulpha-jānūru-sīvanī-liṅga-nābhayaḥ |
hṛd grīvā kaṇṭha-deśaś ca lambika nāsikā tathā ||
bhrū-madhyaṃ ca lalāṭaṃ ca mūrdhā ca brahma-randhrakam |
ete hi ṣoḍaśādhārāḥ kathitā yogi-puṃgavaiḥ ||

"Großer Zeh (Angushtha), Fußknöchel/Ferse (Gulpha), Knie (Janu), Oberschenkel (Uru), Damm/Perineum (Sivani) männliches Glied (Linga), Nabel (Nabhi), Herz (Hrid), Nacken (Griva), Kehle (Kantha), Zunge (oder Gaumenzäpfchen bzw. weicher Gaumen, Lambika), Nase (Nasika), Mitte der Augenbrauen/drittes Auge (Bhrumadhya), Stirn (Lalata ), Kopf/Scheitel (Murdhan), Fontanelle (Brahmarandhra) - diese 16 Stützen werden von den Vorzüglichsten unter den Yogis gelehrt."

Im Zusammenhang mit der vorliegenden Version des Goraksha Shataka ist ein ganz ähnlicher Vers aus der ebenfalls dem Goraksha zugeschriebenen Siddha Siddhanta Paddhati (2.31) besonders interessant:

nava-cakraṃ kalādhāraṃ tri-lakṣyaṃ vyoma-pañcakam |
samyag etan na jānāti sa yogī nāma-dhārakaḥ ||

"Einer, der die neun (Nava) Energiezentren (Chakra), die sechzehn (Kala) Stützen (Adhara), die drei Arten von Meditationsobjekten (Trilakshya, und die fünf Räume (Vyoma Panchaka) nicht vollständig kennt, der ist nur dem Namen nach (Namadharaka) ein Yogi."

Die einzelnen Energiezentren (Chakra) und Konzentrationspunkte (Adhara) werden im zweiten Kapitel (Upadesha) der Siddha Siddhanta Paddhati näher erläutert. Von besonderem Interesse für das Verständnis des Goraksha Shataka sind die Begriffe tri-lakṣyam und vyoma-pañcakam.

Im Falle von tri-lakṣyam (statt tri-lakṣam) handelt sich um drei Arten von Meditationsobjekten bzw. Visualisierungsweisen: "innerlich", innerhalb des Körpers (antar-lakṣyam Antarlakshya), "äußerlich", außerhalb des Körpers (bahir-lakṣyam Bahirlakshya) und "neutral, mittel" (madhyamaṃ lakṣyam Madhyama Lakshya), d.h. weder innerlich noch äußerlich: man visualisiere im Geiste eine bestimmte Farbe bzw. Form, ohne sie im Körper oder außerhalb desselben zu verorten.

Die "fünf Räume" (Vyoma Panchaka) werden wie folgt benannt: ākāśa (Akasha), parākāśa (Parakasha), mahākāśa (Mahakasha), tattvākāśa (Tattvakasha) und suryākāśa (Suryakasha). Es handelt sich dabei nicht um die im Advaita Vedanta bekannten "fünf Hüllen" (Pancha Kosha), sondern um bestimmte Weisen der Visualisierung des Raumes, der sowohl das Innere als auch das Äußere umfasst.

Die Lesung tri-lakṣyam wird auch von der Yogachudamani Upanishad (3cd-4ab), die diesen Vers in einer weiteren Variante überliefert, bestätigt:

ṣaṭ-cakraṃ ṣoḍaśādhāraṃ tri-lakṣyaṃ vyoma-pañcakam |
sva-dehe yo na jānāti tasya siddhiḥ kathaṃ bhavet ||

"Wie kann einem (Yogi), der die sechs Energiezentren, die sechzehn Stützen, die drei Arten von Meditationsobjekten, und die fünf Räume in seinem Körper nicht kennt, Erfolg (Siddhi) zuteil werden?"

Schließlich erscheint dieser Vers mit der interessanten Lesung dvi-lakṣyam "die zwei (Dvi) Arten von Meditationsobjekten" (statt tri-lakṣyam) im 2. Pada als Vers 12 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati.

Vers 14: Kenntnis des feinstofflichen Körpers

Wie können diejenigen Yogis, die ihren eigenen Körper nicht als ein auf einem Pfeiler ruhendes Haus kennen, mit neun Türen und fünf Schutzgottheiten, ans Ziel gelangen?


एकस्तम्भं नवद्वारं गृहं पञ्चाधिदैवतम् |
स्वदेहं ये न जानन्ति कथं सिध्यन्ति योगिनः || १४ ||
eka-stambhaṃ nava-dvāraṃ gṛhaṃ pañcādhidaivatam |
sva-dehaṃ ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ || 14 ||
eka-stambham nava-dvaram griham panchadhidaivatam |
sva-deham ye na jananti katham sidhyanti yoginah || 14 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

eka-stambham : ein auf einem Pfeiler ruhendes (Ekastambha)
nava-dvāram : mit neun (Nava) Türen (Dvara)
gṛham : Haus (Griha)
pañcādhidaivatam : mit fünf (Pancha) Schutzgottheiten (Adhidaivata)
sva-deham : ihren eigenen (Sva) Körper (Deha)
ye : die (Yad)
na : nicht (Na)
jānanti : kennen (jñā)
katham : wie (Katham)
sidhyanti : sind erfolgreich, gelangen ans Ziel (sidh)
yoginaḥ : (diejenigen) Yogis (Yogin)

Anmerkung: Der Körper wird gern mit einem Haus mit neun "Türen" bzw. Öffnungen verglichen, womit die beiden Augen, die beiden Ohren, die beiden Nasenlöcher, der Mund, der Anus und die Geschlechtsöffnung bzw. Harnröhre gemeint sind. Der "eine Pfeiler", auf dem das Haus ruht, könnte sich auf die Wirbelsäule beziehen und die fünf "Schutzgottheiten" auf die fünf Sinne bzw. Wahrnehmungsorgane (Jnanendriya) Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers gibt allerdings eine andere Erklärung: Der "eine Pfeiler" ist der Geist bzw. das Denken (Manas), der Ort aller Wünsche und latenten Prägungen (Vasana). Die fünf "Schutzgottheiten" sind den (grobstofflichen) Elementen (Mahabhuta) zugeordnet: Brahma (Erde), Vishnu (Wasser), Rudra (Feuer), Ishvara (Luft) und Sadashiva (Äther/Raum). Der Kommentator zitiert in diesem Zusammenhang die folgenden Verse aus einem Werk namens Yoga Sara, wobei sich die zitierte Passage nahezu wortwörtlich auch in der Yoga Shikha Upanishad (1, 176-78) findet:

catur-asra[ṃ] dharaṇy-ādau brahmā tatrādhidevatā |
ardha-candrākṛtir jalaṃ viṣṇus tatrādhidevatā ||
tri-koṇa-maṇḍalaṃ vahnī rudras tatrādhidevatā |
vāyor bījaṃ tu ṣaṭ-koṇam īśas tatrādhidevatā |
ākāśa-maṇḍalaṃ vṛttaṃ devatāsya sadā-śivaḥ ||

"Beim ersten (Element) - Erde (Dharani - repräsentiert durch) ein Viereck (Chaturasra), ist Brahma die Schutzgottheit (Adhidevata).

Das (Element) Wasser (Jala wird repräsentiert durch) die Form (Akriti) eines Halbmonds (Ardhachandra) - dort ist Vishnu die Schutzgottheit.

Das (Element) Feuer (Vahni wird repräsentiert durch) das Symbol (Mandala) des Dreiecks (Trikona) - dort ist Rudra die Schutzgottheit.

Die Keimsilbe (Bija) des Windes (Vayu wird repräsentiert durch) ein Sechseck (Shatkona aus zwei ineinander verschränkten Dreiecken) - dort ist Isha die Schutzgottheit.

Das Symbol (Mandala) des Äthers/Raumes (Akasha) ist ein Kreis (Vritta) - dessen Gottheit (Devata) ist Sadashiva." (YS ~ YŚU 1, 176-178 ab)

Die genannten geometrischen Figuren Viereck, Halbmond, Dreieck, Sechseck und Kreis finden sich auch in den symbolischen Darstellungen der Elemente in den unteren fünf Chakras, beginnend mit dem Muladhara Chakra bis hinauf zum Vishuddha Chakra, wieder.

Dieser Vers wird mit einer geringfügigen Variante im 3. Pada als Vers 13 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 15: Die Chakras - Anzahl der Blütenblätter

Adhara, "die Grundlage", hat vier Blütenblätter, und Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", hat sechs Blütenblätter. In der Nabelgegend ist ein Lotus mit zehn Blütenblättern, und in der Herzgegend ein Lotus mit einer Anzahl von zwölf Blütenblättern.


चतुर्दलं स्यादाधारः स्वाधिष्ठानं च षड्दलम् |
नाभौ दशदलं पद्मं सूर्यसङ्ख्यदलं हृदि || १५ ||
catur-dalaṃ syād ādhāraḥ svādhiṣṭhānaṃ ca ṣaḍ-dalam |
nābhau daśa-dalaṃ padmaṃ sūrya-saṅkhya-dalaṃ hṛdi || 15 ||
chatur-dalam syad adharah svadhishthanam cha shad-dalam |
nabhau dasha-dalam padmam surya-sankhya-dalam hridi || 15 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

catur-dalam : vierblättrig (Chaturdala)
syāt : ist ("sei", as)
ādhāraḥ : die Grundlage, Stütze (Adhara)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (Svadhishthana)
ca : und (Cha)
ṣaḍ-dalam : sechsblättrig (Shaddala)
nābhau : in der Nabelgegend ("am Nabel", Nabhi)
daśa-dalam : zehnblättriger (Dashadala)
padmam : (ist ein) Lotus (Padma)
sūrya-saṅkhya-dalam : mit einer Anzahl von zwölf ("Sonnen-Zahl", Surya-Sankhya) Blütenblättern (Dala)
hṛdi : in der Herzgegend ("im Herzen", Hrid)

Anmerkungen: Es handelt sich der Reihe nach um das Muladhara Chakra, Svadhishthana Chakra, Manipura Chakra und Anahata Chakra. Die Sonne (Surya) steht symbolisch für die Zahl zwölf, weil das Sonnenjahr zwölf Monate (Masa) bzw. zwölf Tierkreiszeichen (Rashi) hat.

Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 14 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit einigen Lesarten im vierten Pada als Vers 4cd-5ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Vers 16: Die Chakras - Anzahl der Blütenblätter

Im Kehlbereich (ist ein Lotus) mit sechzehn Blütenblättern, und in der Mitte der Augenbrauen ein zweiblättriger (Lotus). An der Öffnung zum Absoluten (Brahmarandhra), am großen Weg (d.h. an Sushumna gelegen), wird ein tausendblättriger (Lotus) gelehrt.


कण्ठे स्यात्षोडशदलं भ्रूमध्ये द्विदलं तथा |
सहस्रदलमाख्यातं ब्रह्मरन्ध्रे महापथे || १६ ||
kaṇṭhe syāt ṣoḍaśa-dalaṃ bhrū-madhye dvi-dalaṃ tathā |
sahasra-dalam ākhyātaṃ brahma-randhre mahā-pathe || 16 ||
kanthe syat shodasha-dalam bhru-madhye dvi-dalam tatha |
sahasra-dalam akhyatam brahma-randhre maha-pathe || 16 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kaṇṭhe : im Kehlbereich ("in der Kehle", Kantha)
syāt : ist ("sei", as)
ṣoḍaśa-dalam : (ein) sechzehnblättriger (Lotus, Shodashadala)
bhrū-madhye : in der Mitte der Augenbrauen (Bhrumadhya)
dvi-dalam : (ein) zweiblättriger (Lotus, (Dvidala)
tathā : und (Tatha)
sahasra-dalam : (ein) tausendblättriger (Lotus, Sahasradala)
ākhyātam : wird gelehrt ("angegeben", Akhyata)
brahma-randhre : an der Öffnung zum Absoluten, an der Fontanelle (Brahmarandhra)
mahā-pathe : am großen Weg (Mahapatha); oder: an bzw. entlang der Sushumna

Anmerkungen: Das Wort padmam "Lotus" (Padma) wird im Einklang mit der syntaktischen Konstruktion (Anvaya) des vorangehenden Verses (15) mitverstanden.

Es handelt sich um das Vishuddha Chakra, Ajna Chakra und Sahasrara Chakra. Damit wurden in diesem und dem vorangehenden Vers die sieben Haupt-Chakras genannt. Interressanterweise hieß es in Vers 13 "Wer die sechs Energiezentren ... in seinem Körper nicht kennt ...", was möglicherweise ein Hinweis darauf ist, dass das Sahasrara Chakra genannte siebte Chakra sich außerhalb bzw. oberhalb des physischen Körpers befindet.

Mahapatha ist hier möglicherweise nur ein Synonym für Brahmarandhra. In der Hatha Yoga Pradipika (3.4) werden brahma-randhra und mahā-patha allerdings auch als zwei Synonyme für die Sushumna erwähnt (vgl. die Anm. zu Vers 56 der 1. Version des Goraksha Shataka). Man könnte daher mahā-pathe auch als "am großen Weg" im Sinne von "entlang der Sushumna" verstehen und auf beide Verse 15 und 16 beziehen. Dies wäre ein Hinweis darauf, dass sich alle Chakras entlang der Sushumna befinden, die am Brahmarandhra endet.

Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 15 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit einigen Lesarten als Vers 5cd-6ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Vers 17: Adhara, Svadhishthana und Yonisthana

Adhara, "die Grundlage", ist das erste Energiezentrum (Chakra), Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", das zweite. Zwischen diesen beiden befindet sich Yonisthana, "der Ort des Ursprungs", der Kamarupa, "die Natur des Verlangens" (oder: "jede beliebige Gestalt annehmend"), genannt wird.


आधारः प्रथमं चक्रं स्वाधिष्ठानं द्वितीयकम् |
योनिस्थानं द्वयोर्मध्ये कामरूपं निगद्यते || १७ ||
ādhāraḥ prathamaṃ cakraṃ svādhiṣṭhānaṃ dvitīyakam |
yoni-sthānaṃ dvayor madhye kāma-rūpaṃ nigadyate || 17 ||
adharah prathamam chakram svadhishthanam dvitiyakam |
yoni-sthanam dvayor madhye kama-rupam nigadyate || 17 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ādhāraḥ : die Grundlage, Stütze (Adhara)
prathamam : (ist) das erste (Prathama)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (Svadhishthana)
dvitīyakam : (ist) das zweite (Dvitiyaka)
yoni-sthānam : (ist) der Ort des Ursprungs (Yonisthana), die Stelle (Sthana) des Dammes, Beckenbodens ("des Ursprungs", Yoni)
dvayoḥ : dieser beiden (Dva)
madhye : in der Mitte (Madhya)
kāma-rūpam : die Natur ("Form") des Verlangens, jede beliebige Gestalt (Kamarupa)
nigadyate : der genannt wird (ni + gad)

Anmerkung: Dieser Vers und die folgenden drei Verse (18-20) werden mit geringfügigen Lesarten als Verse 10-13 in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. In der Yogachudamani Upanishad erscheint er wortwörtlich als Vers 6cd-7ab, ebenso als Vers 16 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati.

Adhara ist ein Synonym für Muladhara, das Wurzelzentrum. Yonisthana bedeutet die Region des Beckenbodens, das Perineum. Kamarupa ist auch der Name einer Region im indischen Bundesstaat Assam, in der sich ein bedeutender Tempelkomplex der Shakti-Verehrung befindet.

Vers 18: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

Die Gegend des Anus, die Grundlage (Adhara) genannt, wo ein vierblättriger Lotus ist - in dessen Mitte, so wird es gelehrt, befindet sich ein Dreieck (Yoni), das von den Vollkommenen als Auge des Verlangens (Kamaksha) gepriesen wird.


आधाराख्यं गुदस्थानं पङ्कजं यच्चतुर्दलम् |
तन्मध्ये प्रोच्यते योनिः कामाक्षा सिद्धवन्दिता || १८ ||
ādhārākhyaṃ guda-sthānaṃ paṅkajaṃ yac catur-dalam |
tan-madhye procyate yoniḥ kāmākṣā siddha-vanditā || 18 ||
adharakhyam guda-sthanam pankajam yach chatur-dalam |
tan-madhye prochyate yonih kamaksha siddha-vandita || 18 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ādhārākhyam : die die Bezeichnung (Akhya) Grundlage, Stütze (Adhara) hat
guda-sthānam : die Stelle (Sthana) des Anus (Guda)
paṅkajam : Lotus (ist, Pankaja)
yat : wo ("welcher", Yad)
catur-dalam : ein vierblättriger (Chaturdala)
tan-madhye : in dessen (Tad) Mitte (Madhya)
procyate : wird erwähnt, gelehrt (pra + vac)
yoniḥ : ein (als Dreieck dargestelltes) weibliches Genital (Yoni)
kāmākṣā : (als) Auge des Verlangens (Kamaksha)
siddha-vanditā : das von den Vollkommenen (Siddha) gepriesen, verehrt (Vandita) wird

Anmerkung: Dieser Vers wird mit zwei abweichenden Lesarten (Lokativ ādhārākhye guda-sthāne im 1. Pada und kāmākhyā im 4. Pada) als Vers 11 in der Version 1 des Goraksha Shataka sowie als Vers 17 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. In der Yogachudamani Upanishad erscheint er mit ein paar Varianten als Vers 7cd-8ab.

Zur Bedeutung und Symbolik der im Muladhara Chakra befindlichen Kamaksha bzw. Kamakhya genannten Yoni vgl. die Anm. zu Vers 11 der Version 1 des Goraksha Shataka.

Vers 19: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

In der Mitte dieses Dreiecks (Yoni) befindet sich ein großes Linga, das nach Westen (d.h. in Richtung der Sushumna) ausgerichtet ist. Wer den Lichtkreis an dessen Kopf, (leuchtend) wie ein Edelstein, kennt, der ist ein Kenner des Yoga.


योनिमध्ये महालिङ्गं पश्चिमाभिमुखं स्थितम् |
मस्तके मणिवद्बिम्बं यो जानाति स योगवित् || १९ ||
yoni-madhye mahā-liṅgaṃ paścimābhimukhaṃ sthitam |
mastake maṇi-vad bimbaṃ yo jānāti sa yoga-vit || 19 ||
yoni-madhye maha-lingam pashchimabhimukham sthitam |
mastake mani-vad bimbam yo janati sa yoga-vit || 19 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yoni-madhye : in der Mitte (Madhya) des (als Dreieck dargestellten) weiblichen Genitals (Yoni)
mahā-liṅgam : ein großes Linga ("männliches Glied", Mahalinga)
paścimābhimukham : das nach hinten ("Westen", Pashchima) ausgerichtet (Abhimukha) ist
sthitam : befindet sich (Sthita)
mastake : am Kopf, am oberen Teil (Mastaka)
maṇi-vat : wie (Vat) ein (leuchtender) Edelstein (Mani)
bimbam : den Lichtkreis ("Mondscheibe", Bimba)
yaḥ : wer (Yad)
jānāti : kennt (jñā)
saḥ : der (Tad)
yoga-vit : (ist) ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einer Lesart (bhinnaṃ statt bimbaṃ im 3. Pada) als Vers 12 in der Version 1 des Goraksha Shataka sowie als Vers 18 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. In der Yogachudamani Upanishad erscheint er mit der Lesart nābhau tu "im (Bereich des) Nabels" statt mastake als Vers 8cd-9ab.

Vers 20: Symbolik des Adhara (Muladhara Chakra)

Unterhalb des Linga befindet sich ein Dreieck, die Stätte des Feuers, die wie ein Blitzstrahl aufleuchtet und die Farbe glühenden Goldes hat.


तप्तचामीकराभासं तडिल्लेखेव विस्फुरत् |
त्रिकोणं तत्पुरं वह्नेरधो मेढ्रात्प्रतिष्ठितम् || २० ||
tapta-cāmīkarābhāsaṃ taḍil-lekheva visphurat |
tri-koṇaṃ tat puraṃ vahner adho meḍhrāt pratiṣṭhitam || 20 ||
tapta-chamikarabhasam tadil-lekheva visphurat |
tri-konam tat puram vahner adho medhrat pratishthitam || 20 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

tapta-cāmīkarābhāsam : von der Farbe (Abhasa) glühenden (Tapta) Goldes (Chamikara)
taḍil-lekhā : ein Blitzstrahl (Tadillekha)
iva : wie (Iva)
visphurat : aufscheinend, leuchtend (vi + sphur)
tri-konam : ein Dreieck (Trikona)
tat : das (Tad)
puram : (ist) die Stätte ("Stadt", Pura)
vahneḥ : des Feuers (Vahni)
adhaḥ  : unterhalb (Adhas)
meḍhrāt : vom männlichen Glied (Medhra)
pratiṣṭhitam : befindet sich (Pratishthita)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 19 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie als Vers 9cd-10ab der Yogachudamani Upanishad überliefert, ebenso mit ein paar Varianten und der wichtigen Lesart catur-asraṃ (statt tri-koṇaṃ tat im 3. Pada) als Vers 13 in der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. auch die dortige Anm.).

Die Verse 11-13 zusammengenommen beschreiben die häufig dargestellten Bestandteile der Symbolik des Wurzelchakras: vierblättriger Lotus, Viereck (Chaturasra), Dreieck (Yoni) und Linga. In der vorliegenden Version ist allerdings von einem (weiteren) Dreieck (Trikona) die Rede, das sich (statt des Vierecks in Version 1) unterhalb des Linga (Medhra) befindet, was von der üblichen Symbolik des Wurzelchakras abweicht.

Vers 21: Das höchste Licht

Wenn dieses höchste, unendliche, nach allen Richtungen strahlende Licht (im Zustand) der Versenkung erblickt wird, dann gibt es (für den Yogi) in der (endgültigen) großen Vereinigung keinen (erneuten) Daseinswandel mehr.


यत्समाधौ परं ज्योतिरनन्तं विश्वतोमुखम् |
तस्मिन्दृष्टे महायोगे यातायातं न विद्यते || २१ ||
yat samādhau paraṃ jyotir anantaṃ viśvato-mukham |
tasmin dṛṣṭe mahā-yoge yātāyātaṃ na vidyate || 21 ||
yat samadhau param jyotir anantam vishvato-mukham |
tasmin drishte maha-yoge yatayatam na vidyate || 21 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yat : dieses ("welches", Yad)
samādhau : in der Versenkung (Samadhi)
param : (erscheinende) höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
anantam : unendliche, grenzenlose (Ananta)
viśvato-mukham : das überallhin strahlt ("nach allen Seiten gewandt ist", Vishvatomukha)
tasmin : (wenn) es (Tad)
dṛṣṭe : gesehen, wahrgenommen wird (Drishta)
mahā-yoge : in der großen Vereinigung (Mahayoga)
yātāyātam : Entstehen und Vergehen, Daseinswandel ("Kommen und Gehen", Yatayata)
na : nicht (Na)
vidyate : es gibt (vid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 20 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit kleineren Varianten als Vers 10cd-11ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Das Kompositum mahā-yoge "im großen Yoga" (Mahayoga), könnte hier ein Synonym für Mahasamadhi sein, d.h. das willentliche endgültige Verlassen des Körpers und Eingehens ins Absolute. Für einen solchen Yogi gibt es keine Wiedergeburt mehr.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem Vers erklärt mahā-yoge einerseits als "in (der Praxis) der drei (Traya) Glieder (Anga) Konzentration (Dharana) usw." (dhāraṇādy-aṅga-traye), wobei mit "usw." (Adi) die beiden Glieder Dhyana "Meditation" und Samadhi "Versenkung" gemeint sind. In diesem Sinne entspräche Mahayoga hier dem Terminus Samyama des Yogasutra (vgl. YS 3.4: trayam ekatra saṃyamaḥ). Die zweite Deutung der YTṬ von mahā-yoge lautet śakti-cālanadvārā sādhane vā: "oder in der Praxis (Sadhana) des in Bewegung Setzens der (göttlichen) Energie (Shakti Chalana)".

Vers 22: Svadhishthana Chakra

Mit dem Wort Selbst (Sva) wird die Lebensenergie (Prana) bezeichnet, und Svadhishthana, "die Stätte des Selbst", ist deren Sitz. (Abgesehen) von dem Wort Svadhishthana, "Stätte des Selbst bzw. des Prana", wird (dieses Energiezentrum) ebenso als (Grundlage des) Penis bezeichnet.


स्वशब्देन भवेत्प्राणः स्वाधिष्ठानं तदाश्रयः |
स्वाधिष्ठानात्पदादस्मान्मेढ्रमेवाभिधीयते || २२ ||
sva-śabdena bhavet prāṇaḥ svādhiṣṭhānaṃ tad-āśrayaḥ |
svādhiṣṭhānāt padād asmān meḍhram evābhidhīyate || 22 ||
sva-shabdena bhavet pranah svadhishthanam tad-ashrayah |
svadhishthanat padat asman medhram evabhidhiyate || 22 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sva-śabdena : mit dem Wort (Shabda) Selbst (Sva)
bhavet : sei (bezeichnet, bhū)
prāṇaḥ : der Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
svādhiṣṭhānam : die Stätte des Selbst (das zweite Energiezentrum bzw. Chakra, Svadhishthana)
tad-āśrayaḥ : (ist) dessen/deren (Tad) Sitz (Ashraya)
svādhiṣṭhānāt : Stätte des Selbst/der Lebensenergie (Svadhishthana)
padāt : Wort (Pada)
asmāt : (abgesehen) von dem (Idam)
meḍhram : (als) männliches Glied, Penis (Medhra)
eva : ebenso (Eva)
abhidhīyate : wird bezeichnet (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer Lesart (svādhiṣṭhānākhyayā tasmān statt svādhiṣṭhānāt padād asmān im 3. Pada) als Vers 14 in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert (vgl. auch die dortige Anm.). In Vers 21 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie in Ver 11cd-12ab der Yogachudamani Upanishad heißt es an dieser Stelle svādhiṣṭhānāśrayād asmān "Weil die Stätte des Selbst (bzw. des Prana) die Grundlage (des männlichen Gliedes) ist, deshalb ...".

Aus der ebenfalls dem Goraksha zugeschriebenen Siddha Siddhanta Paddhati (2.13) geht hervor, dass Medhradhara (meḍhra + ādhāra, "Penis-Stütze", "Grundlage des Penis") eine andere Bezeichnung für das Svadhishthana Chakra ist.

Im Widerspruch zur hier getroffenen Aussage, dass der (durch das Wort Sva bezeichnete) Prana seinen Sitz im Svadhishthana Chakra hat, heißt es in GŚ 2.34, er sitze im Herzen (Hrid), was der allgemein verbreiteten Ansicht entspricht: hṛdi prāṇo vasen nityam "Prana befindet sich stets in der Brust".

Vers 23: Manipuraka Chakra

Dort, wo der Kanda von Sushumna wie eine Perle von einem Faden durchzogen wird - dieses in der Nabelgegend befindliche Energiezentrum wird "Edelsteinflut" (Manipuraka) genannt.


तन्तुना मणिवत्प्रोतो यत्र कन्दः सुषुम्णया |
तन्नाभिमण्डलं चक्रं प्रोच्यते मणिपूरकम् || २३ ||
tantunā maṇi-vat proto yatra kandaḥ suṣumṇayā |
tan nābhi-maṇḍalaṃ cakraṃ procyate maṇi-pūrakam || 23 ||
tantuna mani-vat proto yatra kandah sushumnayā |
tan nabhi-mandalam chakram prochyate mani-purakam || 23 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

tantunā : von einem Faden (Tantu)
maṇi-vat : wie (Vat) eine Perle, ein Edelstein (Mani)
protaḥ : durchzogen wird (Prota)
yatra : wo (Yatra)
kandaḥ : der Kanda ("die Knolle, Zwiebel")
suṣumṇayā : von Sushumna
tat : dieses (Tad)
nābhi-maṇḍalam : (am) Nabelkreis (befindliche, Nabhi-Mandala)
cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
procyate : wird genannt (pra + vac)
maṇi-pūrakam : Nabelzentrum ("Edelsteinflut", Manipuraka)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 15 in der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. auch die dortige Anm.) sowie als Vers 22 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 24: Anahata Chakra

Die Individualseele wandert solange (im Daseinswandel) umher, wie sie in dem zwölfspeichigen großen Energiezentrum, das frei von Verdienst und Schuld ist, die (eigene) Wirklichkeit nicht findet.


द्वादशारे महाचक्रे पुण्यपापविवर्जिते |
तावज्जीवो भ्रमत्येव यावत्तत्त्वं न विन्दति || २४ ||
dvādaśāre mahā-cakre puṇya-pāpa-vivarjite |
tāvaj jīvo bhramaty eva yāvat tattvaṃ na vindati || 24 ||
dvadashare maha-cakre punya-papa-vivarjite |
tavaj jivo bhramaty eva yavat tattvam na vindati || 24 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dvādaśāre : in dem zwölfspeichigen (Dvadashara)
mahā-cakre : großen Energiewirbel, Energiezentrum ("großem Rad", Mahachakra)
puṇya-pāpa-vivarjite : frei (Vivarjita) von Verdienst (Punya) und Schuld (Papa)
tāvat : solange (Tavat)
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
bhramati : wandert, irrt umher (bhram)
eva : nur (Eva)
yāvat : wie (Yavat)
tattvam : das Selbst, die Wirklichkeit ("Sosein", Tattva)
na : nicht (Na)
vindati : sie findet (vid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 23 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit einer minimalen Lesart (evam statt eva) in der Yogachudamani Upanishad (13cd-14ab) überliefert.

Die Anzahl 12 der "Speichen" des "großen Rades" sowie die Stellung dieses Verses im Text zeigen, dass hier vom Herzzentrum bzw. Anahata Chakra die Rede ist.

Upanishad Brahma Yogin, der Kommentator der YCU, erklärt, dass die Individualseele (Jiva), die ihren Sitz (Asana) im Herzen (Hrid) hat, nur solange (Avadhi) existiert (Sat) und im Kreislauf (Mandala) des Daseinswandel (Samsara) herumirrt, wie in ihr Unwissenheit (Ajnana) über das eigene Selbst (Sva) herrscht: svājñānāvadhi jīvo hṛd-āsanaḥ san saṃsāra-maṇḍale paribhramati.

Vers 25: Kanda, der Ursprung der Nadis

Oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels befindet sich der Kanda genannte, wie ein Vogelei geformte (Ursprung der Nadis). Dort entspringen 72 000 feinstoffliche Energiekanäle (Nadi).


ऊर्ध्वं मेढ्रादधो नाभेः कन्दयोनिः खगाण्डवत् |
तत्र नाड्यः समुत्पन्नाः सहस्राणां द्विसप्ततिः || २५ ||
ūrdhvaṃ meḍhrād adho nābheḥ kanda-yoniḥ khagāṇḍa-vat |
tatra nāḍyaḥ samutpannāḥ sahasrāṇāṃ dvi-saptatiḥ || 25 ||
urdhvam medhrad adho nabheh kanda-yoniḥ khaganda-vat |
tatra nadyah samutpannah sahasranam dvi-saptatih || 25 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ūrdhvam : oberhalb (Urdhva)
meḍhrāt : vom männlichen Glied (Medhra)
adhaḥ : unterhalb (Adhas)
nābheḥ : des Nabels (Nabhi)
kanda-yoniḥ : der Kanda (genannte) Ursprung (der Nadis, Kanda-Yoni)
khagāṇḍa-vat : wie (Vat) ein Vogelei (geformt, Khaga-Anda)
tatra : dort (Tatra)
nāḍyaḥ : feinstoffliche Energiekanäle, Nerven (Nadi)
samutpannāḥ : entspringen ("werden geboren", Samutpanna)
sahasrāṇāṃ dvi-saptatiḥ : 72 000 (Dvisaptati Sahasra)

Anmerkung: Dieser Vers und die folgenden acht Verse (26-33) werden mit geringfügigen Lesarten als Verse 16-24 in der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.) sowie als Verse 24-32 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. In GŚ 1.16 steht die Lesart sahasrāṇi statt sahasrāṇāṃ (genau so liest Yogachudamani Upanishad 14cd-15ab).

Vers 26: Die wichtigsten Nadis

Unter diesen Tausenden von feinstoffliche Energiekanälen (Nadi), die die Lebensenergie (Prana) transportieren, werden hauptsächlich 72 als bedeutsam erwähnt. Von diesen werden wiederum zehn am häufigsten gelehrt.


तेषु नाडिसहस्रेषु द्विसप्ततिरुदाहृताः |
प्रधानं प्राणवाहिन्यो भूयस्तासु दश स्मृताः || २६ ||
teṣu nāḍi-sahasreṣu dvi-saptatir udāhṛtāḥ |
pradhānaṃ prāṇa-vāhinyo bhūyas tāsu daśa smṛtāḥ || 26 ||
teshu nadi-sahasreshu dvi-saptatir udahritah |
pradhanam prana-vahinyo bhuyas tasu dasha smritaḥ || 26 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

teṣu : unter diesen (Tad)
nāḍi-sahasreṣu : Tausenden (Sahasra) von feinstoffliche Energiekanälen, Nerven (Nadi)
dvi-saptatiḥ : 72 (Dvisaptati)
udāhṛtāḥ : werden erwähnt (Udahrita)
pradhānam : als Wichtigstes, hauptsächlich, vor allem (Pradhana)
prāṇa-vāhinyaḥ : die die Lebensenergie ("den Lebensatem", Prana) mit sich führen, transportieren (Vahin)
bhūyaḥ : am häufigsten ("am meisten", Bhuyas)
tāsu : unter diesen (Tad)
daśa : zehn (Dasha)
smṛtāḥ : werden gelehrt ("erinnert", Smrita)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit geringen Abweichungen im zweiten Halbvers als Vers 17 in der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. auch die dortige Anm.), als Vers 25 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, sowie als Vers 15cd-16ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Vers 27: Die zehn wichtigsten Nadis

(Diese zehn wichtigsten Nadis sind:) Ida, Pingala, und als dritte Sushumna, Gandhari, Hastijihva, Pusha und Yashasvini ...


इडा च पिङ्गला चैव सुषुम्णा च तृतीयका |
गान्धारी हस्तिजिह्वा च पूषा चैव यशस्विनी || २७ ||
iḍā ca piṅgalā caiva suṣumṇā ca tṛtīyakā |
gāndhārī hasti-jihvā ca pūṣā caiva yaśasvinī || 27 ||
ida cha pingala chaiva sushumna ca tritiyaka |
gandhari hasti-jihva cha pusha chaiva yashasvini || 27 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iḍā : Ida
ca : und (Cha)
piṅgalā : Pingala
ca : und
eva : ebenso ("so", Eva)
suṣumṇā : Sushumna
ca : und
tṛtīyakā : als dritte (Tritiyaka)
gāndhārī : Gandhari
hasti-jihvā : Hastijihva
ca : und
pūṣā : Pusha
ca : und
eva : ebenso
yaśasvinī : Yashasvini

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 18 in der Version 1 des Goraksha Shataka und als Vers 26 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, sowie mit einer minimalen Lesart als Vers 16cd-17ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Vers 28: Die zehn wichtigsten Nadis

... Alambusha, Kuhu, und als zehnte wird Shankhini gelehrt. Dieses aus den feinstofflichen Energiekanälen (Nadi) bestehende Netzwerk sollte den Yogis immer bekannt sein.


अलम्बुषा कुहूश्चैव शङ्खिनी दशमी स्मृता |
एतन्नाडीमयं चक्रं ज्ञातव्यं योगिभिः सदा || २८ ||
alambuṣā kuhūś caiva śaṅkhinī daśamī smṛtā |
etan nāḍī-mayaṃ cakraṃ jñātavyaṃ yogibhiḥ sadā || 28 ||
alambusha kuhush chaiva shankhini dashami smrita |
etan nadi-mayam chakram jnatavyam yogibhih sada || 28 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

alambuṣā : Alambusha
kuhūś : (Kuhu)
ca : und (Cha)
eva : ebenso ("so", Eva)
śaṅkhinī : Shankhini
daśamī : als zehnte (Dashama)
smṛtā : wird gelehrt ("erinnert", Smrita)
etat : dieses (Etad)
nāḍī-mayam : aus feinstofflichen Energiekanälen, Nerven (Nadi) bestehende ("gemachte", Maya)
cakram : Netzwerk ("Menge", Chakra)
jñātavyam : ist zu kennen, zu verstehen (Jnatavya)
yogibhiḥ : von den Yogis (Yogin)
sadā : jederzeit, immer (Sada)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 19 in der Version 1 des Goraksha Shataka, als Vers 27 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, sowie mit einer Lesart als Vers 17cd-18ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Vers 29: Ida, Pingala, Sushumna und Gandhari

Ida befindet sich auf der linken Seite, und Pingala auf der rechten. Sushumna wiederum befindet sich in der Mitte, und Gandhari endet im linken Auge.


इडा वामे स्थिता भागे पिङ्गला दक्षिणे स्थिता |
सुषुम्णा मध्यदेशे तु गान्धारी वामचक्षुषि || २९ ||
iḍā vāme sthitā bhāge piṅgalā dakṣiṇe sthitā |
suṣumṇā madhya-deśe tu gāndhārī vāma-cakṣuṣi || 29 ||
ida vame sthita bhage pingala dakshine sthita |
sushumna madhya-deshe tu gandhari vama-cakshushi || 29 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iḍā : Ida
vāme : auf der linken (Vama)
sthitā : befindet sich (Sthita)
bhāge : Seite ("Teil", Bhaga)
piṅgalā : Pingala
dakṣiṇe : auf der rechten (Dakshina)
sthitā : befindet sich
suṣumṇā : Sushumna
madhya-deśe : im mittleren Raum, in der Leibesmitte (Madhyadesha)
tu : aber, wiederum (Tu)
gāndhārī : Gandhari
vāma-cakṣuṣi : (endet) im linken (Vama) Auge (Chakshus)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 28 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, mit der Lesart tathā statt sthitā im 2. Pada als Vers 20 in der Version 1 des Goraksha Shataka sowie mit einer veränderten Wortstellung im 2. Pada als Vers 18cd-19ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Vers 30: Hastijihva, Pusha, Yashasvini und Alambusha

Hastijihva endet im rechten Auge, und Pusha im rechten Ohr. Yashasvini endet im linken Ohr, und Alambusha im Mund.


दक्षिणे हस्तिजिह्वा च पूषा कर्णे च दक्षिणे |
यशस्विनी वामकर्णे ह्यानने वाप्यलम्बुषा || ३० ||
dakṣiṇe hasti-jihvā ca pūṣā karṇe ca dakṣiṇe |
yaśasvinī vāma-karṇe hy ānane vāpy alambuṣā || 30 ||
dakshine hasti-jihva cha pusha karne cha dakshine |
yashasvini vama-karne hy anane vapy alambusha || 30 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dakṣiṇe : (endet) im rechten (Auge, Dakshina)
hasti-jihvā : Hastijihva
ca : und (Cha)
pūṣā : Pusha
karṇe : Ohr (Karna)
ca : und
dakṣiṇe : im rechten
yaśasvinī : Yashasvini
vāma-karṇe : im linken (Vama) Ohr
hi : gewiss (Hi)
ānane : im Mund (Anana)
 : schließlich ("oder", Va)
api : auch (Api)
alambuṣā : Alambusha

Anmerkung: Dieser Vers wird mit ein paar die Partikeln betreffende Lesarten als Vers 21 in der Version 1 des Goraksha Shataka und als Vers 29 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie als Vers 19cd-20ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Vers 31: Kuhu und Shankhini

Kuhu endet im Bereich des männlichen Gliedes, und Shankhini im Bereich des Wurzelzentrums (Anus). Auf diese Weise führen die zehn feinstofflichen Energiekanäle (Nadi) zu ihren jeweiligen Körperöffnungen.


कुहूश्च लिङ्गदेशे तु मूलस्थाने च शङ्खिनी |
एवं द्वारं समाश्रित्य तिष्ठन्ति दश नाडिकाः || ३१ ||
kuhūś ca liṅga-deśe tu mūla-sthāne ca śaṅkhinī |
evaṃ dvāraṃ samāśritya tiṣṭhanti daśa nāḍikāḥ || 31 ||
kuhush cha linga-deshe tu mula-sthane cha shankhini |
evam dvaram samashritya tishthanti dasha nadikah || 31 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kuhūḥ : Kuhu
ca : und (Cha)
liṅga-deśe : (endet) im Bereich (Desha) des männlichen Gliedes (Linga)
tu : aber, wiederum (Tu)
mūla-sthāne : (endet) im Bereich des Wurzelzentrums (Mulasthana)
ca : und
śaṅkhinī : Shankhini
evam : so, auf diese Weise (Evam)
dvāram : zu der (jeweiligen) Körperöffnung ("Tür", Dvara)
samāśritya : indem sie hinführen ("sich hinbegeben habend", sam + ā + śri)
tiṣṭhanti : existieren (sthā)
daśa : die zehn (Dasha)
nāḍikāḥ : feinstofflichen Energiekanäle, Nerven (Nadika)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart upāśritya statt samāśritya im 3. Pada als Vers 22 in der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. auch die dortige Anm.), mit der Lesart nāḍayaḥ statt nāḍikāḥ im 4. Pada als Vers 30 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, sowie mit ein paar weiteren Lesarten als Vers 20cd-21ab der Yogachudamani Upanishad überliefert.

Vers 32: Ida, Pingala und Sushumna

Ida, Pingala und Sushumna, die fortwährend die Lebensenergie (Prana) transportieren, münden in (ihre zugehörige) Körperöffnung. Ihre jeweiligen Gottheiten sind der Mond, die Sonne und das Feuer.


इडापिङ्गलासुषुम्णाः प्राणमार्गे समाश्रिताः |
सततं प्राणवाहिन्यः सोमसूर्याग्निदेवताः || ३२ ||
iḍā-piṅgalā-suṣumṇāḥ prāṇa-mārge samāśritāḥ |
satataṃ prāṇa-vāhinyaḥ soma-sūryāgni-devatāḥ || 32 ||
ida-pingala-sushumnah prana-marge samashritah |
satatam prana-vahinyah soma-suryagni-devatah || 32 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iḍā-piṅgalā-suṣumṇāḥ : Ida, Pingala und Sushumna
prāṇa-mārge : in (ihre zugehörige) Körperöffnung ("Pfad der Lebensenergie" Prana-Marga)
samāśritāḥ : enden, münden, führen ("stehen an, fließen in" Samashrita)
satatam : fortwährend, stets (Satata)
prāṇa-vāhinyaḥ : die die Lebensenergie ("den Lebensatem", Prana) mit sich führen, transportieren (Vahin)
soma-sūryāgni-devatāḥ : (deren) Gottheiten (Devata) der Mond (Soma), die Sonne (Surya) und das Feuer (Agni) sind

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 31 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in einer stärker abweichenden Version als Vers 23 in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert, wobei die Abfolge beider Halbverse vertauscht ist. In der Yogachudamani Upanishad (Vers 21cd-22ab) erscheint er mit der Lesart prāṇa-marge ca saṃsthitāḥ im 2. Pada.

Das Kompositum prāṇa-mārga findet sich nicht in den Wörterbüchern, es bedeutet wörtlich soviel wie "Pfad (Marga) der Lebensenergie (Prana)", "Weg des Atems", oder auch "Lebensweg". Es gibt eine vergleichbare Bildung mit der Bedeutung "Sinnesorgan": prāṇāyana (Pranayana), wörtl. "Pfad (Ayana) der Lebensenergie (Prana)". Da im vorangehenden Vers 31 eine ähnliche Aussage gemacht wird, nämlich dass die zehn feinstofflichen Energiekanäle zu ihren jeweiligen Körperöffnungen (dvāram) bzw. Sinnesorganen führen (samāśritya), könnte man prāṇa-mārge samāśritāḥ auch in diesem Sinne interpretieren: Ida führt zum linken Nasenloch, Pingala führt zum rechten Nasenloch, und Sushumna führt zum Brahmarandhra, der Fontanelle am Scheitelpunkt des Kopfes.

Vers 33: Die zehn Haupt- bzw. Neben-Vayus

Prana, Apana, Samana, Udana und Vyana, sowie Naga, Kurma, Krikara, Devadatta und Dhananjaya (sind die Haupt- bzw. Neben-)Vayus ("Winde").


प्राणोऽपानः समानश्चोदानव्यानौ च वायवः |
नागः कूर्मोऽथ कृकरो देवदत्तो धनञ्जयः || ३३ ||
prāṇo'pānaḥ samānaś codāna-vyānau ca vāyavaḥ |
nāgaḥ kūrmo'tha kṛkaro deva-datto dhanañ-jayaḥ || 33 ||
prano'panah samanash chodana-vyanau cha vayavah |
nagah kurmo'tha krikaro deva-datto dhanan-jayaḥ || 33 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇaḥ : Prana ("Atem, Lebenshauch, Leben")
apānaḥ : Apana
samānaḥ : Samana
ca : und (Cha)
udāna-vyānau : Udana und Vyana
ca : und
vāyavaḥ : die Lebensenergien ("Winde", Vayu)
nāgaḥ : Naga ("Schlange, Schlangendämon")
kūrmaḥ : Kurma ("Schildkröte")
atha : und
kṛkaraḥ : Krikara ("Rebhuhn")
deva-dattaḥ : Devadatta ("der Gottgegebene")
dhanañ-jayaḥ : Dhananjaya ("der Reichtümer gewinnt")

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 32 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit kleineren Lesarten als Vers 24 in der Version 1 des Goraksha Shataka sowie nahezu wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 22cd-23ab) überliefert.

Vers 34: Sitz der fünf Haupt-Vayus

Prana befindet sich stets in der Brust, Apana in der Region des Anus, Samana ist in der Nabelgegend, und Udana befindet sich in der Kehle.


हृदि प्राणो वसेन्नित्यमपानो गुदमण्डले |
समानो नाभिदेशे स्यादुदानः कण्ठमध्यगः || ३४ ||
hṛdi prāṇo vasen nityam apāno guda-maṇḍale |
samāno nābhi-deśe syād udānaḥ kaṇṭha-madhyagaḥ || 34 ||
hridi prano vasen nityam apano guda-mandale |
samano nabhi-deshe syad udanah kantha-madhyagaḥ || 34 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

hṛdi : in der Brust, in der Herzgegend ("im Herzen", Hrid)
prāṇaḥ : Prana
vaset : befindet sich ("wohnt", vas)
nityam : stets, immer (Nitya)
apānaḥ : Apana
guda-maṇḍale : in der Region ("Umkreis", Mandala) des Anus (Guda)
samānaḥ : Samana
nābhi-deśe : in der Gegend (Desha) des Nabels (Nabhi)
syāt : ist ("sei", as)
udānaḥ : Udana
kaṇṭha-madhyagaḥ : befindet sich in ("geht inmitten", Madhyaga) der Kehle (Kantha)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart tu "aber" statt syāt im 3. Pada als Vers 33 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einer weiteren Lesart in der Yogachudamani Upanishad (Vers 23cd-24ab) überliefert.

Vers 35: Sitz der fünf Haupt-Vayus

Vyana wiederum durchdringt den (ganzen) Körper. Prana usw. werden hier die fünf Haupt-Vayus genannt. Naga usw. sind die fünf (Neben-)Vayus (Lebenswinde).


व्यानो व्यापी शरीरे तु प्रधानं पञ्च वायवः |
प्राणाद्याश्चात्र विख्याता नागाद्याः पञ्च वायवः || ३५ ||
vyāno vyāpī śarīre tu pradhānaṃ pañca vāyavaḥ |
prāṇādyāś cātra vikhyātā nāgādyāḥ pañca vāyavaḥ || 35 ||
vyano vyapi sharire tu pradhanam pancha vayavah |
pranadyash chatra vikhyata nagadyah pancha vayavah || 35 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vyāno : Vyana
vyāpī : durchdringt (Vyapin)
śarīre : den Körper (Sharira)
tu : aber, wiederum (Tu)
pradhānam : als Wichtigste ("als Hauptsache", Pradhana)
pañca : (die) fünf (Pancha)
vāyavaḥ : Körperwinde, Lebenswinde ("Winde", Vayu)
prāṇādyāḥ : Prana usw.
ca : und (Cha)
atra : hier (Atra)
vikhyātāḥ : werden genannt, sind bekannt (Vikhyata)
nāgādyāḥ : Naga usw. (Adya)
pañca : (sind die) fünf
vāyavaḥ : (Neben-)Körperwinde

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen kleineren Lesarten als Vers 34 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Der erste Halbvers dieses Shloka wird mit kleineren Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 24cd) überliefert: vyāno sarva-śarīre tu pradhānāḥ pañca vāyavaḥ "Vyana wiederum ist im ganzen (Sarva) Körper ...". Der zweite Halbvers entspricht mit einer Umstellung von prāṇādyāḥ und nāgādyāḥ dem 1. und 2. Pada von Vers 25 der Version 1 des Goraksha Shataka.

Der in der Yoga Tarangini Tika gegebene Kommentar zu diesem und dem vorangehenden Vers differenziert den Sitz der fünf Haupt-Vayus wie folgt:

  • Prana: zwischen Mund und Nase, im Herzen, in der Nabelgegend, um (den Sitz der) Kundali herum, in den großen Zehen
  • Apana: im Bereich von Anus, Genitalien, Oberschenkel, Knien, Bauch, Augen, Hüften und Nabel
  • Samana: im gesamten Körper
  • Udana: in allen Gelenken, in Händen und Füßen
  • Vyana: im Bereich von Ohren, Augen, Hüften, Fußgelenken, Nase und Kehle

Vers 36: Funktionen der fünf Neben-Vayus

Naga wird in Bezug auf das Aufstoßen gelehrt, Kurma in Bezug auf das Öffnen der Augen. Krikara bewirkt das Niesen, und Devadatta ist in Bezug auf das Gähnen zu kennen.


उद्गारे नाग आख्यातः कूर्म उन्मीलने स्मृतः |
कृकरः क्षुतकृज्ज्ञेयो देवदत्तो विजृम्भणे || ३६ ||
udgāre nāga ākhyātaḥ kūrma unmīlane smṛtaḥ |
kṛkaraḥ kṣuta-kṛj jñeyo deva-datto vijṛmbhaṇe || 36 ||
udgare naga akhyatah kurma unmilane smritah |
krikarah kshuta-krij jneyo deva-datto vijrimbhane || 36 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

udgāre : in Bezug auf das Aufstoßen (Udgara)
nāgaḥ : Naga ("Schlange, Schlangendämon")
ākhyātaḥ : wird gelehrt ("angegeben", Akhyata)
kūrmaḥ : Kurma ("Schildkröte")
unmīlane : in Bezug auf das Aufschlagen der Augen (Unmilana)
smṛtaḥ : wird gelehrt ("erinnert", Smrita)
kṛkaraḥ : Krikara ("Rebhuhn")
kṣuta-kṛt : bewirkt (Krit) das Niesen (Kshuta)
jñeyaḥ : ist zu kennen (Jneya)
deva-dattaḥ : Devadatta ("der Gottgegebene")
vijṛmbhaṇe : in Bezug auf das Gähnen (Vijrimbhana)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 35 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit kleineren Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 25) überliefert.

Vers 37: Funktionen der fünf Neben-Vayus

Dhananjaya durchdringt den ganzen (Körper) und verlässt diesen auch nicht, wenn er tot ist. Diese (Neben- bzw. Haupt-Vayus) zirkulieren in Form der Lebenskräfte in allen feinstofflichen Energiekanälen.


न जहाति मृतं चापि सर्वव्यापी धनञ्जयः |
एते सर्वासु नाडीषु भ्रमन्ते जीवरूपिणः || ३७ ||
na jahāti mṛtaṃ cāpi sarva-vyāpī dhanañ-jayaḥ |
ete sarvāsu nāḍīṣu bhramante jīva-rūpiṇaḥ || 37 ||
na jahati mritam chapi sarva-vyapi dhanan-jayah |
ete sarvasu nadishu bhramante jiva-rupinah || 37 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

na : nicht (Na)
jahāti : verlässt ()
mṛtam : den toten (Körper, Mrita)
ca' : und (Cha)
api : auch, sogar (Api)
sarva-vyāpī : der den ganzen (Körper, Sarva) durchdringt (Vyapin)
dhanañ-jayaḥ : Dhananjaya ("der Reichtümer gewinnt")
ete : diese (Körperwinde, Etad)
sarvāsu : in allen (Sarva)
nāḍīṣu : feinstofflichen Energiekanälen, Nerven (Nadi)
bhramante : fließen, verlaufen ("durchwandern", bhram)
jīva-rūpiṇaḥ : in Form, Gestalt (Rupin) des Lebens (Jiva)

Anmerkung: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 36 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit kleineren Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 26) überliefert. Der zweite Halbvers entspricht sinngemäß dem zweiten Halbvers von Vers 25 der Version 1 des Goraksha Shataka.

Vers 38: Das Lebensprinzip (Jiva), Prana und Apana

So wie ein Ball, der mit langem Arm (zu Boden) geschleudert wird, wieder aufspringt, genauso steht das von Prana und Apana bewegte Lebensprinzip (Jiva) nicht still.


आक्षिप्तो भुजदण्डेन यथोच्चलति कन्दुकः |
प्राणापानसमाक्षिप्तस्तथा जीवो न तिष्ठति || ३८ ||
ākṣipto bhuja-daṇḍena yathoccalati kandukaḥ |
prāṇāpāna-samākṣiptas tathā jīvo na tiṣṭhati || 38 ||
akshipto bhuja-dandena yathocchalati kandukah |
pranapana-samakshiptas tatha jivo na tishthati || 38 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ākṣiptaḥ : der geworfen, geschleudert wird ("geworfen wurde", Akshipta)
bhuja-daṇḍena : mit geradem, langem Arm ("Arm-Stock", Bhujadanda)
yathā : so wie (Yatha)
uccalati : aufspringt, zurückprallt (ud + cal)
kandukaḥ : ein Ball, Spielball (Kanduka)
prāṇāpāna-samākṣiptaḥ : das von Prana und Apana geworfen, heftig bewegt wird wird ("geworfen wurde", Samakshipta)
tathā : genauso (Tatha)
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
na : nicht (Na)
tiṣṭhati : bleibt stehen, steht still (sthā)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 37 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 27) sowie mit zwei Lesarten (bhuvi daṇḍena im 1. und jīvo'nukṛṣyate im 4. Pada) als Vers 27 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert.

Vers 39: Das Lebensprinzip (Jiva), Prana und Apana

Weil das Lebensprinzip (Jiva) sich in der Gewalt von Prana und Apana befindet, bewegt es sich entlang der linken und rechten Energiebahn abwärts und aufwärts. Aufgrund seiner Unstetheit wird es nicht wahrgenommen.


प्राणापानवशो जीवो ह्यधश्चोर्ध्वं च धावति |
वामदक्षिणमार्गेण चञ्चलत्वान्न दृश्यते || ३९ ||
prāṇāpāna-vaśo jīvo hy adhaś cordhvaṃ ca dhāvati |
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa cañcalatvān na dṛśyate || 39 ||
pranapana-vasho jivo hy adhash chordhvam cha dhavati |
vama-dakshina-margena chanchalatvan na drishyate || 39 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇāpāna-vaśaḥ : in der Gewalt (Vasha) von Prana und Apana
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
hi : gewiss, weil (Hi)
adhaḥ : nach unten (Adhas)
ca : und (Cha)
ūrdhvam : nach oben (Urdhva)
ca : und
dhāvati  : bewegt sich ("läuft", dhāv)
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa : entlang des linken (Vama) und rechten (Dakshina) Pfades (Marga)
cañcalatvāt : aufgrund seiner Unstetheit, Beweglichkeit (Chanchalatva)
na : nicht (Na)
dṛśyate : es wird wahrgenommen, bemerkt ("gesehen", dṛś)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 26 der Version 1 des Goraksha Shataka und als Vers 38 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit einer minimalen Lesart in der Yogachudamani Upanishad (Vers 28) überliefert.

Vers 40: Das Lebensprinzip (Jiva) und die Gunas

So wie ein mit einem Strick angebundener Falke wieder herangezogen wird, wenn er weggeflogen ist, genauso wird das Lebensprinzip (Jiva), solange es an die Stricke (Guna) der Urnatur gebunden ist, von Prana und Apana hin und her gezogen.


रज्जुबद्धो यथा श्येनो गतोऽप्याकृष्यते पुनः |
गुणबद्धस्तथा जीवः प्राणापानेन कृष्यते || ४० ||
rajju-baddho yathā śyeno gato'py ākṛṣyate punaḥ |
guṇa-baddhas tathā jīvaḥ prāṇāpānena kṛṣyate || 40 ||
rajjubaddho yatha shyeno gato'py akrishyate punah |
guna-baddhas tatha jivah pranapanena krishyate || 40 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

rajju-baddhaḥ : ein mit einem Strick (Rajju) angebundener (Baddha)
yathā : so wie (Yatha)
śyenaḥ : Falke (Shyena)
gataḥ : (wenn) er weggeflogen ist ("weggegangen", Gata)
api : auch, sogar (Api)
ākṛṣyate : herangezogen, mit sich fortgezogen wird (ā + kṛṣ)
punaḥ : wieder (Punar)
guṇa-baddhaḥ : (wenn) es an die Stricke (der Urnatur, Guna) gebunden (Baddha) ist
tathā : genauso (Tatha)
jīvaḥ : das Leben, das Lebensprinzip, die Individualseele (Jiva)
prāṇāpānena : von Prana und Apana
kṛṣyate : wird (hin und her) gezogen (kṛṣ)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 28 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.) und als Vers 39 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit einer Lesart in der Yogachudamani Upanishad (Vers 29) überliefert.

Vers 41: Prana und Apana

Der Apana zieht den Prana, und der Prana zieht den Apana. Ein Kenner des Yoga bringt diese beiden, die sich jeweils oben und unten befinden, zusammen.


अपानः कर्षति प्राणं प्राणोऽपानं च कर्षति |
ऊर्ध्वाधः संस्थितावेतौ संयोजयति योगवित् || ४१ ||
apānaḥ karṣati prāṇaṃ prāṇo'pānaṃ ca karṣati |
ūrdhvādhaḥ saṃsthitāv etau saṃyojayati yoga-vit || 41 ||
apanah karshati pranam prano'panam cha karshati |
urdhvadhah samsthitav etau samyojayati yoga-vit || 41 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

apānaḥ : der Apana
karṣati : zieht (kṛṣ)
prāṇam : den Prana
prāṇaḥ : der Prana
apānam : den Apana
ca : und (Cha)
karṣati : zieht
ūrdhvādhaḥ : oben (Urdhva) und (Unten)
saṃsthitau : befindlichen, gelegenen (Samsthita)
etau : diese beiden (Etad)
saṃyojayati : vereinigt, bringt zusammen (sam + yuj)
yoga-vit : ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 40 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einer abweichenden Lesart im vierten Pada (yo jānāti sa yoga-vit) als Vers 29 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Eine weitere, vermutlich verdorbene Lesart erscheint in der Yogachudamani Upanishad (Vers 30cd-31ab).

Laut Vers 35 befindet sich der Prana "oben" im Herzen (hṛdi) und der Apana "unten" im Anusbereich (guda-maṇḍale).

In der Hatha Yoga Pradipika 2.47 wird erklärt, dass die Vereinigung von Apana und Prana, die durch das gleichzeitige Setzen von Mula Bandha und Jalandhara Bandha erreicht wird, dem Alterungsprozess entgegenwirkt:

apānam ūrdhvam utthāpya prāṇaṁ kaṇṭhād adho nayet |
yogī jarā-vimuktaḥ san ṣoḍaśābda-vayā bhavet || 47 ||

"Indem der Yogi Apana (durch Mula Bandha) aufwärts zieht und Prana (durch Jalandhara Bandha) von der Kehle (Kantha) abwärts leitet, wird er vom Alter (Jara) befreit und einem Sechzehnjährigen gleich." (HYP 2.47)

Vers 42: Ajapa

Mit dem Laut HA(M) geht das Leben hinaus, mit dem Laut SA tritt es wieder (in den Körper) ein. "Ham-sa Ham-sa" - so rezitiert das Lebensprinzip dieses Mantra ohne Unterlass.


हकारेण बहिर्याति सकारेण विशेत्पुनः |
हंसहंसेत्यमुं मन्त्रं जीवो जपति सर्वदा || ४२ ||
ha-kāreṇa bahir yāti sa-kāreṇa viśet punaḥ |
haṃsa-haṃsety amuṃ mantraṃ jīvo japati sarvadā || 42 ||
ha-karena bahir yati sa-karena vishet punah |
hamsa-hamsety amum mantram jivo japati sarvada || 42 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ha-kāreṇa : mit (der Silbe) HA(M, Hakara)
bahiḥ : hinaus (Bahis)
yāti : geht ()
sa-kāreṇa : mit (der Silbe) SA(H, Sakara)
viśet : tritt ein (viś)
punaḥ : wieder (Punar)
haṃsa-haṃsa : Hamsa-Hamsa
iti : so (Iti)
amum : dieses (Adas)
mantram : Mantra
jīvaḥ : das Lebensprinzip (die Individualseele, Jiva)
japati : rezitiert (jap)
sarvadā : immer, stets (Sarvada)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 41 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 31cd-32ab) überliefert. Der erste Halbvers entspricht mit den Lesarten haṃ-kāreṇa und saḥ-kāreṇa der Gheranda Samhita (5.86cd), der 4. Pada erscheint in GhS 5.87d (vgl. die Anm. zu Vers 40 der Version 1 des Goraksha Shataka).

Die Anneinanderreihung der Verbindung dieser beiden Silben haṃ und saḥ ergibt nach den Lautregeln des Sandhi haṃ-so haṃ-so haṃ-so "Selbst, Selbst ... (Hamsa = Atman)" bzw. so'haṃ so'haṃ so'haṃ "Dieser (Tad) bin ich (Aham) ...", womit die Seele bzw. das Selbst (Atman) gemeint ist.

Vers 43: Ajapa

Innerhalb eines Tages und einer Nacht rezitiert das Lebensprinzip entsprechend der Anzahl von 21 600 (Ein- und Ausatmungen) dieses Mantra ohne Unterlass.


षट्शतानि त्वहोरात्रे सहस्राण्येकविंशतिः |
एतत्सङ्ख्यान्वितं मन्त्रं जीवो जपति सर्वदा || ४३ ||
ṣaṭ-śatāni tv aho-rātre sahasrāṇy eka-viṃśatiḥ |
etat-saṅkhyānvitaṃ mantraṃ jīvo japati sarvadā || 43 ||
shat shatani tv aho-ratre sahasrany eka-vimshatih |
etat-sankhyanvitam mantram jivo japati sarvada || 43 ||

Wort-für-Wort-Übersetzung

ṣaṭ-śatāni : sechshundert (Shatshata)
tu : aber (Tu)
aho-rātre : innerhalb eines Tages und einer Nacht, innerhalb von 24 Stunden (Ahoratra)
sahasrāṇy eka-viṃśatiḥ : 21 000 (Sahasra Ekavimshati)
etat-saṅkhyānvitaṃ : dieser (Etad) Anzahl (Sankhya) entsprechend (Anvita)
mantram : (dieses) Mantra
jīvaḥ : das Lebensprinzip (die Individualseele, Jiva)
japati : rezitiert (jap)
sarvadā : immer, stets (Sarvada)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 42 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit der Lesart divā-rātrau im ersten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 32cd-33ab) überliefert. Dieser Lesart folgt auch Gheranda Samhita (5.87), die im dritten Pada ajapāṃ nāma gāyatrīṃ liest, d.h. es handelt sich hierbei um die Ajapa genannte Gayatri (vgl. die Anm. zu Vers 40 der Version 1 des Goraksha Shataka).

Vers 44: Ajapa

Diese Ajapa genannte Gayatri verleiht den Yogis Befreiung. Durch den bloßen Vorsatz, dieser (Gayatri aufmerksam und dauerhaft zu lauschen), befreit man sich von allen Leiden.


अजपा नाम गायत्री योगिनां मोक्षदायिनी |
अस्याः सङ्कल्पमात्रेण सर्वपापैः प्रमुच्यते || ४४ ||
ajapā nāma gāyatrī yogināṃ mokṣa-dāyinī |
asyāḥ saṅkalpa-mātreṇa sarva-pāpaiḥ pramucyate || 44 ||
ajapa nama gayatri yoginam moksha-dayini |
asyah sankalpa-matrena sarva-papaih pramuchyate || 44 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ajapā : Ajapa
nāma : namens (Nama)
gāyatrī : Gayatri
yoginām : den Yogis (Yogin)
mokṣa-dāyinī : verleiht (Dayin) Befreiung, Erlösung (Moksha)
asyāḥ : dieser (Gayatri, Idam)
saṅkalpa-mātreṇa : durch den bloßen (Matra) Vorsatz (Sankalpa)
sarva-pāpaiḥ : von allen (Sarva) Übeln, Leiden, Sünden (Papa)
pramucyate : man wird befreit, befreit sich (pra + muc)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 43 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit der Lesart mokṣadā sadā ("verleiht allzeit Befreiung") im zweiten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 33cd-34ab) überliefert.

Ajapa (a-japā) bedeutet wörtlich "Nicht-Murmeln" (eines Gebetes) und bezieht sich auf das "natürliche Mantra", das durch den spontanen Prozess der Ein- und Ausatmung von selbst entsteht (vgl. den vorangehenden Vers 43).

Als Gayatri wird im Allgemeinen ein Versmaß (Chhandas) von dreimal acht Silben bezeichnet. Das bekannteste und beliebteste Gayatri-Mantra ist die an den Sonnengott Savitri gerichtete 10. Strophe der Hymne Rigveda 3,62 (tat savitur vareṇyaṃ...), der bei ihrer Rezitation die Formel (Vyahriti) oṃ bhūr bhuvaḥ svaḥ vorangestellt wird.

Vers 45: Ajapa

Ein Wissen, das dieser Ajapa gleicht, (oder) ein Gebet, das dieser Ajapa gleicht, (oder) eine Einsicht, die dieser Ajapa gleicht, gab es nie und wird es nie geben.


अनया सदृशी विद्या अनया सदृशो जपः |
अनया सदृशं ज्ञानं न भूतं न भविष्यति || ४५ ||
anayā sadṛśī vidyā anayā sadṛśo japaḥ |
anayā sadṛśaṃ jñānaṃ na bhūtaṃ na bhaviṣyati || 45 ||
anaya sadrishi vidya anaya sadrisho japah |
anaya sadrisham jnanam na bhutam na bhavishyati || 45 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

anayā : dieser (Ajapa, Idam)
sadṛśī : ähnlich, gleich (Sadrisha)
vidyā : ein Wissen (Vidya)
anayā : dieser (Ajapa)
sadṛśaḥ : ähnlich, gleich (Sadrisha)
japaḥ : ein Gebet, Mantra (Japa)
anayā : dieser (Ajapa)
sadṛśam : ähnlich, gleich (Sadrisha)
jñānam : eine Erkenntnis, Einsicht (Jnana)
na : nicht (Na)
bhūtam : es gab ("ist gewesen", Bhuta)
bhaviṣyati : es wird geben ("wird sein", bhū)
na : nicht

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 44 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 34cd-35ab) überliefert.

Vers 46: Ajapa

Die Gayatri ist aus der Kundalini hervorgegangen und erhält den Lebensatem. Diese Lehre vom Lebensatem ist eine große Wissenschaft. Wer sie kennt, ist ein Kenner des Yoga.


कुण्डलिन्याः समुद्-भूता गायत्री प्राणधारिणी |
प्राणविद्या महाविद्या यस्तां वेत्ति स योगवित् || ४६ ||
kuṇḍalinyāḥ samudbhūtā gāyatrī prāṇa-dhāriṇī |
prāṇa-vidyā mahā-vidyā yas tāṃ vetti sa yoga-vit || 46 ||
kundalinyah samudbhuta gayatri prana-dharini |
prana-vidya maha-vidya yas tam vetti sa yoga-vit || 46 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kuṇḍalinyāḥ : aus der Kundalini ("Schlangenkraft")
samudbhūtā : hervorgegangen, entstanden (Samudbhuta)
gāyatrī : die Gayatri
prāṇa-dhāriṇī : erhält, trägt den Lebensatem (Prana)
prāṇa-vidyā : die Lehre vom Lebensatem (Pranavidya)
mahā-vidyā : (ist) eine große Wissenschaft (Mahavidya)
yaḥ : wer (Yad)
tām : sie, diese (Tad)
vetti : kennt (vid)
saḥ : der (Tad)
yoga-vit : (ist) ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 45 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einer geringfügigen Lesart (Lokativ kuṇḍalinyāṃ statt Ablativ) in der Yogachudamani Upanishad (Vers 35cd-36ab) überliefert.

Vers 47: Sitz der Kundali

Oberhalb des Kanda liegt Kundali, die Schlangenkraft. Achtfach geringelt, verschließt sie mit ihrem Maul stets die Öffnung des Tors zum Brahman.


कन्दोर्ध्वं कुण्डली शक्तिरष्टधा कुण्डलाकृतिः |
ब्रह्मद्वारमुखं नित्यं मुखेनाच्छाद्य तिष्ठति || ४७ ||
kandordhvaṃ kuṇḍalī śaktir aṣṭa-dhā kuṇḍalākṛtiḥ |
brahma-dvāra-mukhaṃ nityaṃ mukhenācchādya tiṣṭhati || 47 ||
kandordhvam kundali shaktir ashta-dha kundalakritih |
brahma-dvara-mukham nityam mukhenachchhadya tishthati || 47 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kandordhvam : oberhalb (Urdhva) des Kanda
kuṇḍalī : die Kundali
śaktiḥ : die Kraft, Energie (Shakti)
aṣṭa-dhā : achtfach (Ashtadha)
kuṇḍalākṛtiḥ : in Kreise gelegt ("in der Form Akriti von Ringen Kundala")
brahma-dvāra-mukham : die Öffnung, den Eingang (Mukha) des Tors zum Brahman, zum Absoluten (Brahmadvara)
nityam : immer, stets (Nitya)
mukhena : mit dem Maul (Mukha)
ācchādya : verdeckend, verschließend (ā + chad)
tiṣṭhati : liegt ("befindet sich", sthā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer Lesart (Lokativ kandordhve im ersten Pada) als Vers 46 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 36cd-37ab) sowie mit drei abweichenden Lesarten als Vers 30 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.) sowie überliefert.

Laut Vers 25 (sowie Hatha Yoga Pradipika 3.107) befindet sich der Kanda oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels, d.h. der Sitz der Kundalini "oberhalb des Kanda" befände sich in der Nabelgegend. Dies widerspricht allerdings der allgemein verbreiteten Ansicht, dass sich die Kundalini im Muladhara Chakra befindet. So heißt es in der Shiva Samhita (2.21-23), die Kundali sitze im Adhara genannten Lotus (Padma), der sich zwei Fingerbreit oberhalb des Anus (Guda) und zwei Fingerbreit unterhalb des männlichen Glieds (Medhra) befindet.

Vers 48: Sitz der Kundali

Während sie mit ihrem Maul die Tür verschließt, durch welche der Ort des Brahmans, der frei von Leid ist, zu erreichen ist, schläft die höchste Herrin.


येन द्वारेण गन्तव्यं ब्रह्मस्थानमनामयम् |
मुखेनाच्छाद्य तद् द्वारं प्रसुप्ता परमेश्वरी || ४८ ||
yena dvāreṇa gantavyaṃ brahma-sthānam anāmayam |
mukhenācchādya tad dvāraṃ prasuptā parameśvarī || 48 ||
yena dvarena gantavyam brahma-sthanam anamayam |
mukhenachchhadya tad dvaram prasupta parameshvari || 48 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yena : durch welche (Yad)
dvāreṇa : Tür (Dvara)
gantavyam : zu erreichen ist ("zu begehen ist", Gantavya)
brahma-sthānam : der Ort des Brahmans (Brahmasthana)
anāmayam : der frei von Leid ist ("ohne Krankheit", Anamaya)
mukhena : mit (ihrem) Mund (Mukha)
ācchādya : verschließend ("bedeckend", ā + chad)
tat : diese (Tad)
dvāram : Tür (Dvara)
prasuptā : schläft (Prasupta)
parameśvarī : die höchste Herrin (Parameshvari, d.h. die Kundalini)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit der Lesart brahma-dvāram im zweiten Pada als Vers 47 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 37cd-38ab) überliefert. In der Hatha Yoga Pradipika (3.106) erscheint er ebenfalls in fast identischer Form, mit den Lesarten mārgeṇa (statt dvāreṇa) und nirāmayam (statt anāmayam) im ersten Halbvers.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt, dass mit brahma-sthānam das Brahmarandhra gemeint ist, der Ort (Sthana), der das Offenbarwerden (Avirbhava) des Brahmans bewirkt (Janaka): brahmāvir-bhāva-janakaṃ sthānaṃ brahma-sthānaṃ brahma-randhram.

Vers 49: Erweckung der Kundali

Ist die Kundali durch den Kontakt mit dem (inneren) Feuer erwacht, indem sie willentlich vermittels des Atems in Bewegung gesetzt wurde, wandert sie wie eine Nadel mit einem Faden entlang der Sushumna aufwärts.


प्रबुद्धा वह्नियोगेन मनसा मरुता सह |
सूचीवद् गुणमादाय व्रजत्यूर्ध्वं सुषुम्णया || ४९ ||
prabuddhā vahni-yogena manasā marutā saha |
sūcī-vad guṇam ādāya vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā || 49 ||
prabuddha vahni-yogena manasa maruta saha |
suchi-vad gunam adaya vrajaty urdhvam sushumnaya || 49 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prabuddhā : (ist die Kundali) erwacht (Prabuddha)
vahni-yogena : durch den Kontakt (Yoga) mit dem (inneren) Feuer (Vahni)
manasā : willentlich, mit dem Willen (Manas)
marutā : mit dem Atem ("Wind", Marut)
saha : zusammen, in Verbindung (Saha)
sūcī-vat: wie (Vat) eine Nadel (Suchi)
guṇam: einem Faden Guna)
ādāya : mit ("genommen habend", Adaya)
vrajati : bewegt sich, wandert (vraj)
ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
suṣumṇayā : entlang der Sushumna

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart sūcīva statt sūcī-vad im dritten Pada als Vers 48 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit der Lesart sūcī-vad gātram statt sūcī-vad guṇam im dritten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 38cd-39ab) überliefert. Er erscheint außerdem mit den Lesarten mārutāhatā (statt marutā saha) im zweiten Pada und prajīva-guṇam (statt sūcī-vad guṇam) im zweiten Pada als Vers 31 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.)

Vers 50: Erweckung der Kundali

Ist die Kundali durch den Kontakt mit dem (inneren) Feuer erwacht, wandert sie in Form einer zuckenden Schlange, verheißungsvoll, (dünn) wie die Faser eines Lotusstiels, entlang der Sushumna aufwärts.


प्रस्फुरद्-भुजगाकारा पद्मतन्तुनिभा शुभा |
प्रबुद्धा वह्नियोगेन व्रजत्यूर्ध्वं सुषुम्णया || ५० ||
prasphurad-bhujagākārā padma-tantu-nibhā śubhā |
prabuddhā vahni-yogena vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā || 50 ||
prasphurad-bhujagakara padma-tantu-nibha shubha |
prabuddha vahni-yogena urdhvam sushumnaya || 50 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prasphurad-bhujagākārā : in Form (Akara) einer zuckenden (pra + sphur) Schlange (Bhujaga)
padma-tantu-nibhā : (dünn) wie ("gleich", Nibha) die Faser eines Lotusstiels (Padmatantu)
śubhā : verheißungsvoll, prächtig, schön (Shubha)
prabuddhā : (ist die Kundali) erwacht (Prabuddha)
vahni-yogena : durch den Kontakt (Yoga) mit dem (inneren) Feuer (Vahni)
vrajati : bewegt sich, wandert (vraj)
ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
suṣumṇayā : entlang der Sushumna

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart prasupta-bhujagākārā "in Form einer schlafenden (Prasupta) Schlange" statt prasphurad-bhujagākārā als Vers 49 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Möglicherweise bestand der Vers ursprünglich nur aus dem ersten Halbvers, der im Anschluss an den vorangehenden Vers GŚ 1.49 eine weitere Analogie für den Aufstieg der Kundalini liefert. Der zweite Halbvers ist eine reine Wiederholung aus dem vorangehenden Vers, um den Vers komplett zu machen (Pada c = GŚ 1.49 a, Pada d = GŚ 1.49 d).

Vers 51: Erweckung der Kundali

So wie man eine Tür vermöge eines Schlüssels aufschließt, genau so öffnet der Yogi das Tor zur Befreiung mit Hilfe der Kundalini durch (die Praxis von) Hatha-Yoga.


उद्घाटयेत्कपाटं तु यथा कुञ्चिकया हठात् |
कुण्डलिन्या तथा योगी मोक्षद्वारं प्रभेदयेत् || ५१ ||
udghāṭayet kapāṭaṃ tu yathā kuñcikayā haṭhāt |
kuṇḍalinyā tathā yogī mokṣa-dvāraṃ prabhedayet || 51 ||
udghatayet kapatam tu yathā kunchikaya hathat |
kundalinya tatha yogi moksha-dvaram prabhedayet || 51 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

udghāṭayet : (man) aufschließen kann, aufschließt (ud + ghaṭ)
kapāṭam : eine Tür (Kapata)
tu : aber (Tu)
yathā : (so) wie (Yatha)
kuñcikayā : mit einem Schlüssel (Kunchika)
haṭhāt : unter Kraftaufwand, gewaltsam, durch (die Praxis von) Hatha(-Yoga)
kuṇḍalinyā : mit der Kundalini
tathā : (genau) so (Tatha)
yogī : der Yogi (Yogin)
mokṣa-dvāraṃ : das Tor zur Befreiung (Mokshadvara)
prabhedayet : kann öffnen, öffnet ("zerspalten", pra + bhid)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einer minimalen Lesart (vibhedayet statt prabhedayet im 4. Pada) in der Hatha Yoga Pradipika (3.105) überliefert. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 39c-f) liest kavāṭaṃ und gṛham (statt haṭhāt) im ersten Halbvers. In der Gheranda Samhita (3.51) erscheint dieser Vers mit ein paar weiteren Abweichungen im zweiten Halbvers:

udghāṭayet kavāṭaṃ ca yathā kuñcikayā haṭhāt |
kuṇḍalinyāḥ prabodhena brahma-dvāraṃ vibhedayet || 3.51 ||

"So wie man eine Tür (Kavata) vermöge eines Schlüssels (Kunchika) aufschließt, genau so öffnet man durch das Erwachen (Prabodha) der Kundalini das Tor (Dvara) zum Brahman." (GhS 3.51)

Mit dem "Tor zum Brahman" (brahma-dvāram) bzw. dem "Tor zur Befreiung" (mokṣa-dvāram) ist die Sushumna gemeint (vgl. die Anm. zur 1. Version des Goraksha Shataka Vers 30).

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt, dass in diesem Vers der Ablativ haṭhāt zweimal, d.h. in beiden (Ubhayatra) Halbversen zu verstehen bzw. zu konstruieren (sambadhyate) ist: im ersten Halbvers als Adverb im Sinne von balāt ("gewaltsam, vermöge" Bala) und im zweiten Halbvers als Substantiv im Sinne von Hatha-Yoga: haṭhād iti … ubhayatra sambadhyate.

Vers 52: Pranayama: Vereinigung von Prana und Apana

Ein Mensch, der einen stabilen Lotussitz eingenommen hat, beide Hände (auf dem Schoß) ineinander legt, das Kinn fest auf die Brust presst (und somit Jalandhara Bandha setzt), und über das (im Inneren) wahrgenommene meditiert, dabei immer wieder Apana, den nach unten fließenden Lebenshauch, aufwärts lenkt (indem er Mula Bandha setzt), und den eingeatmeten Lebenshauch (nachdem er ihn angehalten hat) wieder ausatmet, erlangt durch das Erwachen der göttlichen Energie (Shakti) eine unvergleichliche Einsicht (in die Wirklichkeit).


कृत्वा सम्पुटितौ करौ दृढतरं बद्ध्वा तु पद्मासनं
गाढं वक्षसि सन्निधाय चिबुकं ध्यात्वा च तत्प्रेक्षितम् |
वारं वारमपानमूर्ध्वमनिलं प्रोच्चारयेत्पूरितं
मुञ्चन्प्राणमुपैति बोधमतुलं शक्तिप्रबोधान्नरः || ५२ ||
kṛtvā sampuṭitau karau dṛḍhataraṃ baddhvā tu padmāsanaṃ
gāḍhaṃ vakṣasi sannidhāya cibukaṃ dhyātvā ca tat prekṣitam |
vāraṃ vāram apānam ūrdhvam anilaṃ proccārayet pūritaṃ
muñcan prāṇam upaiti bodham atulaṃ śakti-prabodhān naraḥ || 52 ||
kritva samputitau karau dridhataram baddhva tu padmasanam
gadham vakshasi sannidhaya chibukam dhyatva cha tat prekshitam |
varam varam apanam urdhvam anilam prochcharayet puritam
munchan pranam upaiti bodham atulam shakti-prabodhan narah || 52 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kṛtvā : legend ("machend", kṛ)
sampuṭitau : (in Form einer halbkugelförmigen Schale) ineinander ("zusammengefügt", Samputita)
karau : beide Hände (Kara)
dṛḍhataram : sehr fest, stabil (Dridha)
baddhvā : eingenommen habend ("gebunden, aufgebaut habend", badh)
tu : aber, jedoch, wiederum (Tu)
padmāsanam : den Lotussitz (Padmasana)
gāḍham : fest, kräftig (drückend, Gadha)
vakṣasi : auf die Brust (Vakshas)
sannidhāya : legend (sam + ni + dhā)
cibukam : das Kinn (Chibuka)
dhyātvā : nachsinnend, meditierend ("meditiert habend", dhyai)
ca : und (Cha)
tat : über jenes (Tad)
prekṣitam : Erschaute (Prekshita)
vāraṃ vāram : immer wieder, wiederholt (Vara)
apānam : Apana, den nach unten fließenden
ūrdhvam : aufwärts (Urdhva)
anilam : Atem, Lebenshauch ("Wind", Anila)
proccārayet : er lenke ("lasse ertönen", pra + ud + car)
pūritam : (nach der Atemverhaltung) den eingeatmenten ("gefüllten", Purita)
muñcan : ausatmend ("frei gebend", muc)
prāṇam : den nach oben fließenden Lebensatem (Prana)
upaiti : erlangt, erreicht (upa + i)
bodham : Erkenntnis, Einsicht, Wachheit (Bodha)
atulam : unvergleichliche (Atula)
śakti-prabodhāt : durch das Erwachen (Prabodha) der Energie (Shakti, d.h. der Kundalini)
naraḥ : ein Mensch (Nara)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen abweichenden Lesarten als Vers 51 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 40) sowie in der Hatha Yoga Pradipika (1.50) überliefert.

Die Ausführung von Padmasana bzw. Kamalasana wurde bereits in Vers 12 beschrieben. Hier geht es um die Vereinigung von Prana und Apana durch das Setzen von Jalandhara Bandha und Mula Bandha, also um die Praxis von Pranayama. Brahmananda, der Kommentator der HYP, erläutert in diesem Zusammenhang, dass durch die Vereinigung (Aikya "Einheit") von Prana und Apana die Kundalini erwacht, und aufgrund dessen die Lebensenergie (Prana) durch den Kanal der Sushumna zum Brahmarandhra aufsteigt. Wenn sie da anlangt, erfolgt die Bewegungslosigkeit (Sthairya) des Geistes (Chitta), und infolge dessen wird durch den sich ergebenden Samyama das Selbst (Atman) unmittelbar erfahren (Sakshatkara).

Das (Tad), worüber man meditieren soll, ist laut Brahmananda entweder die Form (Rupa) der jeweiligen eigenen (Sva) Gottheit (Ishtadevata) oder (vā) das Brahman: tat sva-sveṣṭa-devatā-rūpaṃ brahma vā.

Vers 53: Ernährungsrichtlinien für intensive Pranayamapraxis

Er reibe seine Glieder mit dem durch die Anstrengung (des Pranayama) entstandenen Schweiß ein. Während (der so praktizierende Yogi) Scharfes, Saures und Salziges meidet, soll er Nahrung zu sich nehmen, die mit Milch(produkten) zubereitet ist.


अङ्गानां मर्दनं कुर्याच्छ्रमजातेन वारिणा |
कट्वम्ललवणत्यागी क्षीरभोजनमाचरेत् || ५३ ||
aṅgānāṃ mardanaṃ kuryāc chrama-jātena vāriṇā |
kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī kṣīra-bhojanam ācaret || 53 ||
anganam mardanam kuryach chhrama-jatena varina |
katv-amla-lavana-tyagi kshira-bhojanam acharet || 53 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

aṅgānām : der Glieder (Anga)
mardanam : das Einreiben (Mardana)
kuryāt : er führe aus (kṛ)
śrama-jātena : der durch die Anstrengung (Shrama) entstandenen ist (Jata)
vāriṇā : mit dem Schweiß ("Wasser", Vari)
kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī : (während er) Scharfes (Katu), Saures (Amla) und Salziges (Lavana) meidet ("aufgibt", Tyagin)
kṣīra-bhojanam : (mit) Milchprodukten ("Milch" zubereitete, Kshira) Nahrung (Bhojana)
ācaret : verzehre er (ā + car)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit den Lesarten śastaṃ (statt kuryāt) im ersten Pada und śrama-sañjāta-vāriṇā im zweiten Pada als Vers 50 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.) sowie mit den Lesarten kṛtvā (statt kuryāt) im ersten Pada und śrama-sañjāta-vāriṇā im zweiten Pada als Vers 52 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 41) überliefert.

Vers 54: Yogische Lebensführung

Wer Enthaltsamkeit pflegt, maßvoll isst, sich im Loslassen übt, wessen höchstes Ziel der Yoga ist, der wird nach Ablauf eines Jahres ein Vollkommener - hierüber gibt es keinen Zweifel.


ब्रह्मचारी मिताहारी त्यागी योगपरायणः |
अब्दादूर्ध्वं भवेत्सिद्धो नात्र कार्या विचारणा || ५४ ||
brahma-cārī mitāhārī tyāgī yoga-parāyaṇaḥ |
abdād ūrdhvaṁ bhavet siddho nātra kāryā vicāraṇā || 54 ||
brahma-chari mitahari tyagi yoga parayanah |
abdad urdhvam bhavet siddho natra karya vicharana || 54 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

brahma-cārī : einer, der Enthaltsamkeit pflegt ("im Brahman wandelt", Brahmacharin)
mitāhārī : der maßvoll isst ("dessen Nahrung maßvoll ist", Mitaharin)
tyāgī : der Entsagung übt, sich im Loslassen übt, freigebig ist (Tyagin)
yoga-parāyaṇaḥ : dessen höchstes Ziel, Hauptzweck (Parayana) der Yoga ist
abdāt : einem Jahr (Abda)
ūrdhvam : nach (Urdhva)
bhavet : wird, ist (bhū)
siddhaḥ : ein Vollkommener (Siddha)
na : nicht (Na)
atra : hierüber (Atra)
kāryā  : ist angebracht ("ist zu tun", Karya)
vicāraṇā : ein Zweifeln ("Bedenken", Vicharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 53 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Hatha Yoga Pradipika (1.59) überliefert sowie mit der Lesart yogī (statt tyāgī) im zweiten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 42).

Brahmananda, der Kommentator der HYP, gibt die folgenden beiden Bedeutungen von Tyagin an: ein "Entsagender" (tyāgī) ist einer, der freigebig ist – "dessen Gewohnheit (Shila) das Geben (Dana) ist" – oder () einer, der (die Anhaftung an alle) Sinnesobjekte (Vishaya) aufgegeben hat (tyāgī dāna-śīlo viṣaya-parityāgī vā).

Vers 55: Definition von Mitahara

Schön milde (ölige), süße Nahrung, zur Freude der Götter [oder: die wohlschmeckend ist, mit Befriedigung] gegessen, wobei ein Viertel (des Magens) leer bleibt, das wird als maßvolle Ernährung bezeichnet.


सुस्निग्धं मधुराहारं चतुर्थांशविवर्जितम् |
भुज्यते सुरसम्प्रीत्यै मिताहारः स उच्यते || ५५ ||
su-snigdhaṃ madhurāhāraṃ caturthāṃśa-vivarjitam |
bhujyate sura-samprītyai mitāhāraḥ sa ucyate || 55 ||
su-snigdham madhuraharam chaturthamsha-vivarjitam |
bhujyate sura-samprityai mitaharah sa uchyate || 55 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

su-snigdham : schön milde, weiche, feuchte (Susnigdha)
madhurāhāram : süße (Madhura) Nahrung (Ahara)
caturthāṃśa-vivarjitam : (in der Weise, dass) der vierte (Chaturtha) Teil (Amsha des Magens) frei, leer (bleibt, Vivarjita)
bhujyate : die gegessen wird (bhuj)
sura-samprītyai : zur Freude (von), für die Befriedigung (von), aus Liebe (zu, Sampriti) den Göttern (Sura)
mitāhāraḥ : maßvolle Ernährung ("Nahrung", Mitahara)
saḥ : das, dies (Tad)
ucyate : wird genannt (vac)

Anmerkungen: Dieser Vers definiert, was "maßvolle Nahrung" (Mitahara) ist. Er wird mit einigen kleineren Lesarten als Vers 54 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 43) sowie in der Hatha Yoga Pradipika (1.60) überliefert, welche die grammatisch korrektere Version bietet: Die Verbform bhujyate "wird gegessen" erfordert eine passive Konstruktion, in der das logische Objekt (d.h. °āhāraḥ, die Nahrung) im Nominativ steht: su-snigdha-madhurāhāraś caturthāṁśa-vivarjitaḥ | bhujyate .... In der vorliegenden Version des Goraksha Shataka steht das logische Objekt im Akkusativ (madhurāhāram, °āhāraḥ ist Nom. Sg. Maskulinum), was ein Verb in aktiver Konstruktion verlangt. Dieses aktive Verb (bhuñjate im Sinne der 3. Pers. Sg. "isst") findet sich in der Version der Yogachudamani Upanishad, es bezieht sich dort allerdings auf das logische Subjekt mitāhārī (vgl. den vorangehenden Vers 54).

Im dritten Pada liest die HYP śiva-samprītyai "zur Freude Shivas" (gefolgt von YCU śiva-samprītyā) statt sura-samprītyai "zur Freude (Sampriti) der Götter (Sura)". Letztere Variante ließe durch eine andere Worttrennung eine weitere, durchaus in den Kontext passende Lesung zu, nämlich su-rasaṃ prītyai "wohlschmeckende (Nahrung, Surasa) zur (eigenen) Befriedigung (Priti)". An Stelle von su-rasaṃ liest die Version der Goraksha Paddhati sva-rasaṃ "(Nahrung) mit ihrem natürlichen Geschmack (d.h. ungewürzt, Svarasa)". Möglicherweise war dies die ursprünglichere Lesart (vgl. Briggs' Übersetzung, p. 295), die in den späteren Versionen der HYP und YCU durch das Ersetzen von sva° bzw. su-rasam mit śiva-sam° in das im yogischen Kontext scheinbar passendere śiva-samprītyai umgewandelt wurde.

Im Ayurveda bedeutet Snigdha "ölig, fetthaltig". Eine solche Nahrung sorgt für die nötige innere "Schmierung", die der Austrocknung des Körpers durch eine intensive, erhitzende Pranayama-Praxis entgegenwirkt. Die süße Geschmacksrichtung (Rasa) hat wiederum einen kühlenden (Shita) Effekt.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, zitiert in diesem Zusammenhang den folgenden Vers:

dvau bhāgau pūrayed annais toyenaikaṃ prapūrayet |
vāyoḥ sañcaraṇārthāya caturtham avaśeṣayet ||

"Zwei Teile (des Magens, Bhaga) fülle man mit (fester) Nahrung (Anna), einen (Teil) fülle man mit Wasser (Toya), und den vierten (Teil) lasse man für die Bewegungen (Sancharana) des Windes (Vayu) übrig."

Vers 56: Sitz der Kundali

Oberhalb des Kanda liegt Kundali, die Schlangenkraft, achtfach geringelt. Und es heißt, (sie führt) zur Gefangenschaft der Verwirrten, und schenkt den Yogis Befreiung.


कन्दोर्ध्वं कुण्डली शक्तिरष्टधा कुण्डलाकृतिः |
बन्धनाय च मूढानां योगिनां मोक्षदा स्मृता || ५६ ||
kandordhvaṃ kuṇḍalī śaktir aṣṭa-dhā kuṇḍalākṛtiḥ |
bandhanāya ca mūḍhānāṃ yogināṃ mokṣadā smṛtā || 56 ||
kandordhvam kundali shaktir ashta-dha kundalakritih |
bandhanaya cha mudhanam yoginam mokshada smrita || 56 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kandordhvam : oberhalb (Urdhva) des Kanda
kuṇḍalī : die Kundali
śaktiḥ : die Kraft, Energie (Shakti)
aṣṭa-dhā : achtfach (Ashtadha)
kuṇḍalākṛtiḥ : in Kreise gelegt ("in der Form Akriti von Ringen Kundala")
bandhanāya : (sie führt) zur Gefangenschaft ("Bindung" an die Wiedergeburt, Bandhana)
ca : und, aber (Cha)
mūḍhānām : der Verwirrten (Mudha)
yoginām : den Yogis (Yogin)
mokṣadā : schenkt () Befreiung, Erlösung (Moksha)
smṛtā : es heißt ("sie wird erinnert", Smrita)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit zwei Lesarten (Lokativ kandordhve im ersten Pada und sadā "immer" statt smṛtā im vierten Pada) in der Yogachudamani Upanishad (Vers 44) überliefert, sowie mit weiteren Lesarten als Vers 55 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati. Der Sitz der Kundali(ni) wurde bereits in Vers 47 beschrieben, dessen erster Halbvers identisch mit dem ersten Halbvers des vorliegenden Shloka ist (vgl. auch Vers 30 der Version 1 des Goraksha Shataka).

Die Aussage des vorliegenden Verses entspricht weitgehend der der Hatha Yoga Pradipika 3.107 (der erste und dritte Pada beider Verse sind identisch):

kandordhve kuṇḍalī śaktiḥ suptā mokṣāya yoginām |
bandhanāya ca mūḍhānāṁ yas tāṁ vetti sa yoga-vit || 3.107 ||

"Oberhalb des Kanda schläft Kundali, die Schlangenkraft. (Sie führt) zur Befreiung der Yogis und zur Gefangenschaft der Verwirrten. Wer sie kennt, der ist ein Kenner des Yoga." (HYP 3.107)

Der Kommentator Upanishad Brahma Yogin erklärt zu Vers 44 der Yogachudamani Upanishad, dass die Kundalini dann zur Gefangenschaft führt, wenn sie sich noch unterhalb des Kanda befindet, und zur Befreiung führt, wenn sie sich durch ihren Aufstieg entlang der Sushumna oberhalb des Kanda befindet, der laut Vers 16 der Version 1 des Goraksha Shataka "oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels" liegt. Der oben zitierte Vers der HYP (3.107) legt allerdings nahe, dass die Kundali "oberhalb des Kanda schläft", was ihren Sitz in der Nabelgegend zugrundelegen würde (vgl. auch die Anm. zu Vers 30 der Version 1 des Goraksha Shataka).

Hieraus wird deutlich, dass die Texte (scheinbar?) widersprüchliche Aussagen über den Sitz der Kundalini und die Lage des Kanda machen: Befindet sich der Kanda unterhalb des Nabels und die Kundali schläft oberhalb davon (wie in der HYP gelehrt), so hat sie ihren Sitz in der Nabelgegend (die Bezeichung Muladhara kann sowohl das Wurzelzentrum wie auch den Nabel bedeuten)! Oder die Kundalini schläft "oberhalb des Kanda" im Wurzelzentrum, wie die verbreitete Annahme lautet, dann befindet sich der Kanda unterhalb von ihr, d.h. ebenfalls im Bereich des Dammes (Yoni bzw. Adhara).

Eine dritte Möglichkeit wäre, dass an verschiedenen Stellen der Texte von zwei unterschiedlich gelegenen Kandas die Rede ist: In Bezug auf die Kundalini von einem Kanda in der Gegend des Dammes, durch dessen Pressen und Anregen mit verschiedenen Techniken die Kundalini erweckt werden soll. Diese Lage wird in der Regel im Zusammenhang mit der Shakti Chalana genannten Technik (vgl. Hatha Yoga Pradipika 3.114) angenommen. Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt diese Stelle jedoch so, dass hierbei die Stelle des Kanda unterhalb des Nabels (und nicht am Damm!) mit den Fersen gedrückt wird.

Als Ursprung der Nadis (vgl. Vers 25) läge dann ein zweiter Kanda "oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels", also in der Nabelgegend, oder wie es in Hatha Yoga Pradipika 3.113 heißt, "eine Spanne (12 fingerbreit) oberhalb (des Muladhara Chakra)".

Vers 57: Mudras und Bandhas

Derjenige Yogi, der Mahamudra, Nabhomudra, Uddiyana Bandha, Jalandhara Bandha und Mula Bandha kennt, ist eine Person, die der Erlösung würdig ist.


महामुद्रां नभोमुद्रामुड्डीयानं जलन्धरम् |
मूलबन्धं च यो वेत्ति स योगी मुक्तिभाजनम् || ५७ ||
mahā-mudrāṃ nabho-mudrām uḍḍīyānaṃ jalandharam |
mūla-bandhaṃ ca yo vetti sa yogī mukti-bhājanam || 57 ||
maha-mudram nabho-mudram uddiyanam jalandharam |
mula-bandham cha yo vetti sa yogi mukti-bhajanam || 57 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

mahā-mudrām : Mahamudra (Maha Mudra)
nabho-mudrām : Nabhomudra (Nabho Mudra)
uḍḍīyānam : Uddiyana (Uddiyana Bandha)
jalandharam : Jalandhara (Jalandhara Bandha)
mūla-bandham : Mulabandha (Mula Bandha)
ca : und (Cha)
yaḥ : wer (Yad)
vetti : kennt (vid)
saḥ : dieser (Tad)
yogī : Yogi (Yogin)
mukti-bhājanam : (ist) eine Person ("Gefäß", Bhajana), die der Erlösung, Befreiung (Mukti) würdig ist

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart siddhi-bhājanam "ein Gefäß für die übernatürlichen Fähigkeiten" (statt mukti-bhājanam) im vierten Pada als Vers 32 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. auch die dortige Anmerkung) sowie mit der Lesart oḍyāṇaṃ ca (statt uḍḍīyānaṃ) im zweiten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 45) überliefert. Vers 56 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati liest im vierten Pada mukti-bhājanaḥ "hat ein (geeignetes) Gefäß für die Erlösung".

Vers 58: Maha Mudra

Das Reinigen des Netzwerkes der feinstofflichen Energiekanäle, das Bewegen von Mond und Sonne, sowie das Austrocknen von (physischen, geistigen und emotionalen) Giften wird Maha Mudra genannt.


शोधनं नाडिजालस्य चालनं चन्द्रसूर्ययोः |
रसानां शोषणं चैव महामुद्राभिधीयते || ५८ ||
śodhanaṃ nāḍi-jālasya cālanaṃ candra-sūryayoḥ |
rasānāṃ śoṣaṇaṃ caiva mahā-mudrābhidhīyate || 58 ||
shodhanam nadi-jalasya chalanam chandra-suryayoh |
rasanam shoshanam chaiva maha-mudrabhidhiyate || 58 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śodhanam : das Reinigen (Shodhana)
nāḍi-jālasya : des Netzes (Jala) der feinstofflichen Energiekanäle (Nadi)
cālanam : das Bewegen, Inbewegungsetzen (Chalana)
candra-sūryayoḥ : von Mond (Chandra) und Sonne (Surya)
rasānām : der Gifte, Leidenschaften ("Säfte", Rasa)
śoṣaṇam : das Austrocknen (Shoshana)
ca : und (Cha)
eva : ebenso (Eva)
mahā-mudrā : Mahamudra (das "große Siegel")
abhidhīyate : wird genannt (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 75 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 65) überliefert.

Das Bewegen bzw. Inbewegungsetzen (Chalana) von Mond (Chandra) und Sonne (Surya) bezieht sich auf die wechselseitige Stimulierung von Ida und Pingala, vgl. Vers 60.

Mit dem Austrocknen der Gifte bzw. "Säfte" (rasānāṃ śoṣaṇam) ist möglicherweise neben der Neutralisierung physischer, d.h. in Nahrungsmitteln enthaltener Gifte (vgl. Vers 61) auch das Ausmerzen von Gelüsten, Begierden und Stimmungen gemeint, die sich im Gemüt des Yogi wie "Gifte" auswirken. Das Wort Rasa bedeutet u.a. "Saft, Geschmack(srichtung), Begierde, Gift", aber auch "Lebenselixier".

Upanishad Brahma Yogin, der Kommentator der YCU, versteht Rasa hier im Sinne von Dosha: śarīra-stha-duṣṭa-vāta-pittādi-rasānāṃ śoṣaṇa-karam "(Mahamudra) bewirkt das Austrocknen der im Körper (Sharira) befindlichen verdorbenen (Dushta) Säfte Vata, Pitta usw.".

Vers 59: Maha Mudra

Man presse mit der linken Ferse kontinuierlich den Beckenboden und halte den ausgestreckten rechten Fuß mit beiden Händen. Man drücke das Kinn an die Brust, nachdem man eingeatmet hat, (halte den Atem an und) setze Jalandhara Bandha und Mula Bandha, und atme (ohne Bandhas) langsam aus. Dies wird das Große Siegel (Maha Mudra) genannt, das die Krankheiten der Menschen vernichtet.


वक्षोन्यस्तहनुः प्रपीड्य सुचिरं योनिं च वामाङ्घ्रिणा
हस्ताभ्यामनुधारयन्प्रसरितं पादं तथा दक्षिणम् |
आपूर्य श्वसनेन कुक्षियुगलं बद्ध्वा शनै रेचये-
देषा व्याधिविनाशिनी सुमहती मुद्रा नृणां कथ्यते || ५९ ||
vakṣo-nyasta-hanuḥ prapīḍya su-ciraṃ yoniṃ ca vāmāṅghriṇā
hastābhyām anudhārayan prasaritaṃ pādaṃ tathā dakṣiṇam |
āpūrya śvasanena kukṣi-yugalaṃ baddhvā śanai recayed
eṣā vyādhi-vināśinī su-mahatī mudrā nṛṇāṃ kathyate || 59 ||
vaksho-nyasta-hanuh prapidya su-chiram yonim cha vamanghrina
hastabhyam anudharayan prasaritam padam tatha dakshinam |
apurya shvasanena kukshi-yugalam baddhva shanai rechayed
esha vyadhi-vinashini su-mahati mudra nrinam kathyate || 59 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vakṣo-nyasta-hanuḥ : das Kinn (Hanu) auf die Brust (Vakshas) gedrückt (Nyasta)
prapīḍya : indem man presst ("gepresst habend", pra + pīḍ)
su-ciram : lange, kontinuierlich ("sehr lange", Suchira)
yonim : den Beckenboden, das Perineum (Yoni)
ca : und (Cha)
vāmāṅghriṇā : mit der linken (Vama) Ferse ("Fuß", Anghri)
hastābhyām : mit beiden Händen (Hasta)
anudhārayan : haltend, ergreifend (anu + dhā, viell. irrtümlich für *avadhārayan)
prasaritam : den ausgestreckten (Prasarita)
pādam : Fuß (Pada)
tathā : und ("ebenso", Tatha)
dakṣiṇam : rechten (Dakshina)
āpūrya : nachdem man (die Lungen) gefüllt hat ("gefüllt habend", ā + pṛ/pṝ)
śvasanena : mit dem Atem (Shvasana)
kukṣi-yugalam : die beiden (Yugala) Körperöffnungen ("Höhlungen", Kukshi)
baddhvā : (und) nachdem man verschlossen hat ("gebunden habend", badh)
śanaiḥ : langsam (Shanais)
recayet : man atme aus (ric)
eṣā : das (Etad)
vyādhi-vināśinī : die Krankheiten, Leiden (Vyadhi) vernichtende (Vinashin)
su-mahatī : das überaus machtvolle (Sumahat)
mudrā : Siegel (Mudra)
nṛṇām : der Menschen (Nri)
kathyate : wird genannt (kath)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 57 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einigen Lesarten als Vers 33 in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert (vgl. die dortige Anm.) Die Yogachudamani Upanishad (Vers 66) überliefert den Vers bis auf die Varianten seyaṃ statt eṣā und procyate statt kathyate im 4. Pada Wort für Wort.

In Vers 62 werden einige Krankheiten (Vyadhi) aufgezählt, die durch die Praxis von Mahamudra vertrieben werden.

Vers 60: Maha Mudra

Nachdem man (Maha Mudra) auf der linken Seite praktiziert hat, übe man noch einmal auf der rechten Seite. Sobald die Anzahl (der auf beiden Seiten praktizierten Atemverhaltungen) gleich ist, löse man das Siegel auf.


चन्द्राङ्गेन समभ्यस्य सूर्याङ्गेनाभ्यसेत्पुनः |
यावत्तुल्या भवेत्सङ्ख्या ततो मुद्रां विसर्जयेत् || ६० ||
candrāṅgena samabhyasya sūryāṅgenābhyaset punaḥ |
yāvat tulyā bhavet saṅkhyā tato mudrāṃ visarjayet || 60 ||
chandrangena samabhyasya suryangenabhyaset punah |
yavat tulya bhavet sankhya tato mudram visarjayet || 60 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

candrāṅgena : auf der Seite (Anga) des Mondes (Chandra, d.h. links, wo Ida verläuft)
samabhyasya : nachdem man praktiziert hat (sam + abhi + as)
sūryāṅgena : auf der Seite (Anga) der Sonne (Surya), d.h. rechts, wo Pingala verläuft)
abhyaset : soll man üben (abhi + as)
punaḥ : wieder, noch einmal (Punar)
yāvat : sobald (Yavat)
tulyā : gleich (Tulya)
bhavet : ist ("sei", bhū)
saṅkhyā : die Anzahl (der auf beiden Seiten praktizierten Atemverhaltungen (Sankhya)
tataḥ : dann (Tatas)
mudrām : das Siegel (Mudra, d.h. Mahamudra)
visarjayet : löse man (vi + sṛj)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 58 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einigen Lesarten in der Hatha Yoga Pradipika (3.15) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 67) überliefert.

Vers 61: Maha Mudra

(Für einen, der Maha Mudra praktiziert, gibt es) nichts Heilsames oder Unheilsames. Alle Geschmacksrichtungen, sogar Ungenießbares und (in der Nahrung) gelöste, schreckliche Gifte werden verdaut, als ob sie Nektar wären.


नहि पथ्यमपथ्यं वा रसाः सर्वेऽपि नीरसाः |
अपि मुक्तं विषं घोरं पीयूषमिव जीर्यति || ६१ ||
na-hi pathyam apathyaṃ vā rasāḥ sarve’pi nīrasāḥ |
api muktaṃ viṣaṃ ghoraṃ pīyūṣam iva jīryati || 61 ||
na-hi pathyam apathyam va rasah sarve’pi nirasah |
api muktam visham ghoram piyusham iva jiryati || 61 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

na-hi : nicht (Nahi)
pathyam : (etwas, das) heilsam, gesund (ist, Pathya)
apathyam : unheilsam, ungesund (Apathya)
 : oder (Va)
rasāḥ : Geschmack(srichtungen, Rasa)
sarve : alle (Sarva)
api : auch, sogar (Api)
nīrasāḥ : (Nahrungsmittel, die) ohne Geschmack, saftlos, ungenießbar (geworden sind, Nirasa)
api : auch, sogar
muktam : gelöst, freigesetzt (Mukta, viell. fehlerhaft für Bhukta "gegessen")
viṣam : Gift (Visha)
ghoram : schreckliches (Ghora)
pīyūṣam : Nektar (Piyusha)
iva : wie (Iva)
jīryati : (werden bzw.) wird verdaut (jṝ)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart bhuktaṃ "gegessen" (statt muktaṃ) in der Hatha Yoga Pradipika (3.16) und als Vers 59 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati sowie mit der Lesart ati-bhuktaṃ "was zuviel gegessen wurde" (statt api muktaṃ) in der Yogachudamani Upanishad (Vers 68) überliefert. Möglicherweise ist die Lesung muktaṃ "gelöst, freigesetzt" in Briggs Ausgabe nur ein Druckfehler, da er selbst mit "(when) eaten" übersetzt, was der Lesung bhuktaṃ entspricht.

Vers 62: Maha Mudra

Krankheiten wie Tuberkulose, Lepra, Verstopfung, Unterleibsgeschwulste und Verdauungsprobleme nehmen für den ein Ende, der Maha Mudra praktiziert.


क्षयकुष्ठगुदावर्तगुल्माजीर्णपुरोगमाः |
तस्य दोषाः क्षयं यान्ति महामुद्रां तु योऽभ्यसेत् || ६२ ||
kṣaya-kuṣṭha-gudāvarta-gulmājīrṇa-purogamāḥ |
tasya doṣāḥ kṣayaṃ yānti mahā-mudrāṃ tu yo'bhyaset || 62 ||
kshaya-kushtha-gudavarta-gulmajirna-purogamah |
tasya doshah kshayam yanti maha-mudram tu yo’bhyaset || 62 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kṣaya-kuṣṭha-gudāvarta-gulmājīrṇa-purogamāḥ : angefangen mit ("angeführt von", Purogama) Schwindsucht, Tuberkulose (Kshaya), Aussatz, Lepra (Kushtha), Verstopfung ("Darm-Verdrehung", Gudavarta), krankhafte Anschwellung im Unterleib, Unterleibsgeschwulst (Gulma), Verdauungsprobleme (Ajirna)
tasya : für diesen (Yogi, Tad)
doṣāḥ : Krankheiten (aufgrund gestörter Doshas)
kṣayam : ein Ende (Kshaya)
yānti : nehmen ("gehen zu", )
mahā-mudrām : das große Siegel (Mahamudra)
tu : aber, jedoch (Tu)
yaḥ : wer (Yad)
abhyaset : praktiziert, übt (abhi + as)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.17) sowie mit der Lesart rogāḥ "Krankheiten" statt doṣāḥ im dritten Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 69) und als Vers 60 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert.

Vers 63: Maha Mudra

Somit wurde das große Siegel (Maha Mudra) gelehrt, das den Menschen (die es praktizieren) alle übernatürlichen Fähigkeiten verschafft. Es ist äußerst geheim zu halten und darf nicht an irgend jemanden (der dafür ungeeignet ist) weitergegeben werden.


कथितेयं महामुद्रा सर्वसिद्धिकरी नृणाम् |
गोपनीया प्रयत्नेन न देया यस्य कस्यचित् || ६३ ||
kathiteyaṃ mahā-mudrā sarva-siddhi-karī nṛṇām |
gopanīyā prayatnena na deyā yasya kasya-cit || 63 ||
kathiteyam maha-mudra sarva-siddhi-kari nrinam |
gopaniya prayatnena na deya yasya kasya-chit || 63 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kathitā : gelehrt ist (somit, Kathita)
iyam : dieses (Iyam)
mahā-mudrā : große Siegel (Mahamudra)
sarva-siddhi-karī : das alle (Sarva) übernatürlichen Fähigkeiten (Siddhi) verschafft ("bewirkt", Kara)
nṛṇām : den Menschen (die es praktizieren, Nri)
gopanīyā : es ("sie") ist geheim zu halten (Gopaniya)
prayatnena : äußerst sorgsam (Prayatna)
na : nicht (Na)
deyā : ist es ("sie") weiterzugeben (Deya)
yasya kasya-cit : an irgend jemand (beliebigen, der dafür ungeeignet ist, Yad Ka Chid)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der Lesart mahā-siddhi-karī "die große Zauberkräfte verschafft" (statt sarva-siddhi-karī) in der Hatha Yoga Pradipika (3.18) sowie als Vers 61 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und ebenso in der Yogachudamani Upanishad (Vers 70) überliefert.

Vers 64: Khechari Mudra

Die zurückgebogene Zunge wird in den Nasenrachenraum eingeführt, und der Blick wird zwischen die Brauen gerichtet. Dies ist Khechari Mudra.


कपालकुहरे जिह्वा प्रविष्टा विपरीतगा |
भ्रुवोरन्तर्गता दृष्टिर्मुद्रा भवति खेचरी || ६४ ||
kapāla-kuhare jihvā praviṣṭā viparītagā |
bhruvor antar-gatā dṛṣṭir mudrā bhavati khe-carī || 64 ||
kapala-kuhare jihva pravishta viparitaga |
bhruvor antar-gata drishtir mudra bhavati khe-chari || 64 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kapāla-kuhare : in die Höhlung (Kuhara) des Schädels (Kapala)
jihvā : Zunge (Jihva)
praviṣṭā : (wird) eingeführt (Pravishta)
viparītagā : die zurückgebogene (Viparitaga)
bhruvoḥ : beide Brauen (gerichtet, Bhru)
antar-gatā : zwischen ("im Innern befindlich", Antargata)
dṛṣṭiḥ : der Blick (Drishti)
mudrā : (dieses) Siegel (Mudra)
bhavati : ist (bhū)
khe-carī : Khechari ("die im Himmel wandelnde")

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert (Vers 34, vgl. die dortige Anm.), ebenso als Vers 62 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Hatha Yoga Pradipika (3.32) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 52), gleichfalls wird er in der Gheranda Samhita (3.27) in nahezu identischer Form überliefert (diese liest im dritten Pada bhruvor madhye gatā dṛṣṭir).

Vers 65: Khechari Mudra

Für denjenigen, der Khechari Mudra kennt, existieren weder Krankheit noch Tod oder Schlaf, weder Hunger noch Durst oder Ohnmacht.


न रोगो मरणं तस्य न निद्रा न क्षुधा तृषा |
न च मूर्च्छा भवेत्तस्य यो मुद्रां वेत्ति खेचरीम् || ६५ ||
na rogo maraṇaṃ tasya na nidrā na kṣudhā tṛṣā |
na ca mūrcchā bhavet tasya yo mudrāṃ vetti khe-carīm || 65 ||
na rogo maranam tasya na nidra na kshudha trisha |
na cha murchchha bhavet tasya yo mudram vetti khe-charim || 65 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

na : nicht (Na)
rogaḥ : Krankheit (Roga)
maraṇam : Tod (Marana)
tasya : für denjenigen (Tad)
na : nicht
nidrā : Schlaf (Nidra)
na : nicht
kṣudhā : Hunger (Kshudha)
tṛṣā : Durst (Trisha)
na : nicht
ca : und (Cha)
mūrcchā : Ohnmacht, Bewusstlosigkeit, geistige Betäubung (Murchha)
bhavet : existiert (bhū)
tasya : für denjenigen
yaḥ : welcher, der (Yad)
mudrām : das Siegel (Mudra)
vetti : kennt (vid)
khe-carīm : (namens) Khechari

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 53) überliefert, fast Wort für Wort als Vers 63 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.39) mit der Lesart tandrā "Mattigkeit" (statt tasya) im ersten Pada. In der Gheranda Samhita (3.28) werden die Wirkungen von Khechari Mudra in ganz ähnlichen Worten beschrieben:

na ca mūrcchā kṣudhā tṛṣṇā naivālasyaṃ prajāyate |
na ca rogo jarā mṛtyur deva-dehaṃ prapadyate || 3.28 ||

"(Aufgrund der Praxis von Khechari Mudra) entstehen weder Ohnmacht (Murchha) noch Hunger (Kshudha), Durst (Trishna) oder Trägheit (Alasya), weder Krankheit (Roga) noch Alter (Jara) oder Tod (Mrityu). Man erlangt den Körper (Deha) eines Gottes (Deva)." (GhS 3.28)

Vers 66: Khechari Mudra

Derjenige, der Khechari Mudra kennt, wird weder von Schmerz gequält, noch von Handlung befleckt, noch vom Tod bedrängt.


पीड्यते न स शोकेन लिप्यते न स कर्मणा |
बाध्यते न स कालेन यो मुद्रां वेत्ति खेचरीम् || ६६ ||
pīḍyate na sa śokena lipyate na sa karmaṇā |
bādhyate na sa kālena yo mudrāṃ vetti khe-carīm || 66 ||
pidyate na sa shokena lipyate na sa karmana |
badhyate na sa kalena yo mudram vetti khe-charim || 66 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

pīḍyate : wird gequält, gepeinigt (pīḍ)
na : nicht (Na)
saḥ : der, dieser (Yogi, Tad)
śokena : von Schmerz, Kummer, Sorgen (Shoka)
lipyate : wird befleckt (lip)
na : nicht
saḥ : der, dieser (Yogi)
karmaṇā : von Handlung (dem Gesetz der Tatvergeltung, Karman)
bādhyate : wird bedrängt, belästigt (bādh)
na : nicht
saḥ : der, dieser (Yogi)
kālena : vom Tod ("Zeit", Kala)
yaḥ : welcher, der (Yad)
mudrām : das Siegel (Mudra)
vetti : kennt (vid)
khe-carīm : (namens) Khechari

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 64 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 54) überliefert, ebenso nahezu wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (3.40), in den beiden letztgenannten Versionen mit der Lesart rogeṇa "von Krankheit" (statt śokena) im ersten Pada.

Vers 67: Khechari Mudra

Weil der Geist sich (dabei) im leeren Raum (zwischen den Augenbrauen) aufhält, und sich die Zunge im leeren Raum (des Schädels) befindet, genau deshalb wird Khechari Mudra (unter diesem Namen) von allen Vollkommenen hoch geschätzt.


चित्तं चरति खे यस्माज्जिह्वा चरति खे गता |
तेनैव खेचरी मुद्रा सर्वसिद्धैर्नमस्कृता || ६७ ||
cittaṃ carati khe yasmāj jihvā carati khe gatā |
tenaiva khecarī mudrā sarva-siddhair namas-kṛtā || 67 ||
chittam charati khe yasmaj jihva charati khe gata |
tenaiva khechari mudra sarva-siddhair namas-krita || 67 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

cittam : der Geist (Chitta)
carati : sich aufhält ("bewegt", car)
khe : im leeren Raum (zwischen den Augenbrauen, Kha)
yasmāt : weil (Yasmat)
jihvā : (und) die Zunge (Jihva)
carati : sich aufhält ("bewegt")
khe : im leeren Raum (des Schädels)
gatā : befindlich ("gegangen", Gata)
tena : deshalb, daher (Tad)
eva : nur, eben, genau (Eva)
khecarī mudrā : (Khechari Mudra)
sarva-siddhaiḥ : von allen (Sarva) Vollkommenen (Siddha)
namas-kṛtā : wird hoch geschätzt, verehrt (Namaskrita)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit kleineren Varianten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 55) überliefert, ebenso in der Hatha Yoga Pradipika (3.41), die im zweiten Halbvers etwas stärker abweicht. Vers 65 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati bietet eine inhaltlich eigenständige Lesart dieses Verses.

Vers 68: Bindu

Der männliche Same wiederum ist die Ursache des Körpers. In diesem (Samen) sind die (feinstofflichen) Kanäle begründet, die den (ganzen) Körper nähren, vom Scheitel bis zur Sohle.


बिन्दुमूलं शरीरं तु शिरास्तत्र प्रतिष्ठिताः |
भावयन्ति शरीरं या आपादतलमस्तकम् || ६८ ||
bindu-mūlaṃ śarīraṃ tu śirās tatra pratiṣṭhitāḥ |
bhāvayanti śarīraṃ yā ā-pāda-tala-mastakam || 68 ||
bindu-mulam shariram tu shiras tatra pratishthitah |
bhavayanti shariram ya a-pada-tala-mastakam || 68 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

bindu-mūlam : hat den männlichen Samen ("Tropfen", Bindu) zur Ursache ("Wurzel", Mula)
śarīram : der Körper (Sharira)
tu : aber, wiederum (Tu)
śirāḥ : die (feinstofflichen) Kanäle, Adern, Nerven, Gefäße (Shira)
tatra : in diesem, auf diesem (Samen, Tatra)
pratiṣṭhitāḥ : sind begründet, haben ihre Ursache, beruhen (Pratishthita)
bhāvayanti : nähren ("beleben", bhū)
śarīram : den Körper
yāḥ : welche (Yad)
ā-pāda-tala-mastakam : von (ā) den Fußsohlen (Padatala) bis zum Kopf (Mastaka)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 66 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 56) überliefert. In der Hatha Yoga Pradipika 3.90 wird im Kontext der Vajroli genannten Praxis (HYP 3.83-91) in Bezug auf den männlichen Samen eine ähnliche Aussage gemacht:

cittāyattaṃ nṛṇāṃ śukraṃ śukrāyattaṃ ca jīvitam |
tasmāc chukraṃ manaś caiva rakṣaṇīyaṃ prayatnataḥ || 3.90 ||

"Der Samen (Shukra) der Männer (Nri) ist vom Geist (Chitta) abhängig (Ayatta), und das Leben (Jivita) ist von Samen abhängig. Daher sollte sowohl der Samen als auch der Geist sorgfältig behütet (Rakshaniya) werden." (HYP 3.90)

Vers 69: Bindu

Wer mit Khechari Mudra die Öffnung hinter dem weichen Gaumen verschlossen hat, dessen Samen fließt nicht, selbst wenn er von einer Geliebten umarmt wird.


खेचर्या मुद्रितं येन विवरं लम्बिकोर्ध्वतः |
न तस्य क्षरते बिन्दुः कामिन्यालिङ्गितस्य च || ६९ ||
khe-caryā mudritaṃ yena vivaraṃ lambikordhvataḥ |
na tasya kṣarate binduḥ kāminyāliṅgitasya ca || 69 ||
khecharya mudritam yena vivaram lambikordhvatah |
na tasya ksharate binduh kaminyalingitasya cha || 69 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

khe-caryā : durch Khechari (Mudra)
mudritam : verschlossen ("versiegelt") wurde (Mudrita)
yena : durch welchen (Yogi, Yad)
vivaram : das Loch, die Öffnung (Vivara)
lambikordhvataḥ : hinter ("oberhalb", Urdhva) dem (weichen) Gaumen (Lambika)
na : nicht (Na)
tasya : dessen (Tad)
kṣarate : fließt (kṣar)
binduḥ : Samen ("Tropfen", Bindu)
kāminyā : von einer Geliebten, (jungen) Liebhaberin (Kamini)
āliṅgitasya : (wenn er) umarmt wird (Alingita)
ca : sogar (Cha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 67 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit der Lesart kṣīyate "erschöpft sich" (statt kṣarate) im 3. Pada in der Yogachudamani Upanishad (Vers 57) überliefert, sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.42) mit der Lesart āśleṣitasya (statt āliṅgitasya) im 4. Pada.

Man könnte vivaraṃ lambikordhvataḥ auch mit "die Öffnung hinter dem Gaumenzäpfchen (Lambika)" übersetzen. Brahmananda, der Kommentator der HYP, versteht lambikā hier als Gaumen (Talu): lambikā tālu.

Vers 70: Bindu

Solange der Samen im Körper verbleibt, wieso sollte es dann eine Furcht vor dem Tode geben? Solange wie Nabho Mudra (Khechari Mudra) praktiziert wird, solange fließt der Samen nicht.


यावद्बिन्दुः स्थितो देहे तावन्मृत्युभयं कुतः |
यावद्बद्धा नभोमुद्रा तावद्बिन्दुर्न गच्छति || ७० ||
yāvad binduḥ sthito dehe tāvan mṛtyu-bhayaṃ kutaḥ |
yāvad baddhā nabho-mudrā tāvad bindur na gacchati || 70 ||
yavad binduh sthito dehe tavan mrityu-bhayam kutah |
yavad baddha nabho-mudra tavad bindur na gachchhati || 70 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yāvat : wenn ("solange wie", Yavat)
binduḥ : der Samen ("Tropfen", Bindu)
sthitaḥ : verbleibt ("beständig ist", Sthira)
dehe : im Körper (Deha)
tāvat : dann ("genau solange", Tavat)
mṛtyu-bhayam : (käme) Angst, Furcht (Bhaya) vor dem Tod (Mrityu)
kutaḥ : woher (Kutas)
yāvat : solange wie (Yavat)
baddhā : gehalten wird ("gebunden", Baddha)
nabho-mudrā : Nabho Mudra (d.h. Khechari Mudra)
tāvat : genau solange (Tavat)
binduḥ : der Samen
na : nicht (Na)
gacchati : fließt ("geht", gam)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 58) und mit einer minimalen Variante als Vers 68 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Der erste Halbvers erscheint im Kontext der Vajroli genannten Praxis nahezu wortwörtlich als zweiter Halbvers von Hatha Yoga Pradipika 3.89:

su-gandho yogino dehe jāyate bindu-dhāraṇāt |
yāvad binduḥ sthiro dehe tāvat kāla-bhayaṃ kutaḥ || 3.89 ||

"Aufgrund des Zurückhaltens (Dharana) des Samens (Bindu) entsteht ein Wohlgeruch (Sugandha) im Körper (Deha) des Yogis. Solange der Samen im Körper verbleibt, wieso sollte es dann eine Furcht (Bhaya) vor dem Tode (Kala) geben?." (HYP 3.89)

Die Bezeichnung Nabho Mudra wird hier als Synonym für Khechari Mudra gebraucht, vgl. die Verse 32 und 34 (nebst Anm.) der Version 1 des Goraksha Shataka.

Der vorliegende Vers erscheint mit einigen Varianten auch im Anandakanda (1.20.95), einem medizinisch-alchemistischen Werk aus dem 13. Jahrhundert, wo er im Kontext von Khechari Mudra steht:

yāvac chukraṃ sthiraṃ dehe tāvat kāla-bhayaṃ na hi |
yena baddhā nabho-mudrā bījas tasya na gacchati || 20.95 ||

"Solange der Samen (Shukra) im Körper (Deha) verbleibt, gibt es gewiss keine Furcht (Bhaya) vor dem Tode (Kala). Wer Nabho Mudra (Khechari Mudra) praktiziert, dessen Samen (Bija) fließt nicht." (ĀK 1.20.95)

Vers 71: Bindu

Sogar wenn der Samen vergossen wurde, und das Feuer (den "Ort der Yoni") erreicht hat, geht er wieder nach oben, indem er nach Kräften zurückgezogen wird, kontrolliert durch Yoni Mudra.


चलितोऽपि यदा बिन्दुः सम्प्राप्तश्च हुताशनम् |
व्रजत्यूर्ध्वं हृतः शक्त्या निरुद्धो योनिमुद्रया || ७१ ||
calito'pi yadā binduḥ samprāptaś ca hutāśanam |
vrajaty ūrdhvaṃ hṛtaḥ śaktyā niruddho yoni-mudrayā || 71 ||
chalito'pi yada binduh sampraptash cha hutashanam |
vrajaty urdhvam hritah shaktya niruddho yoni-mudraya || 71 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

calitaḥ : vergossen wurde ("sich fortbewegt hat", Chalita)
api : sogar (Api)
yadā : wenn (Yada)
binduḥ : der Samen ("Tropfen", Bindu)
samprāptaḥ : erreicht hat (Samprapta)
ca : und (Cha)
hutāśanam : das Feuer (Hutashana, d.h. Yonisthana, den "Ort der Yoni")
vrajati : (er) geht (wieder, (vraj)
ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
hṛtaḥ : erfasst, zurückgezogen (Hrita)
śaktyā : mit Kraft, nach Kräften (Shakti)
niruddhaḥ : kontrolliert ("zurückgehalten", Niruddha)
yoni-mudrayā : durch Yoni Mudra (d.h. Vajroli Mudra)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 69 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit drei Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 59) sowie in der Hatha Yoga Pradipika 3.43 überliefert. Letztere liest im 2. Pada yoni-maṇḍalam "den Bereich der Vagina" statt hutāśanam "das Feuer".

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt yoni-maṇḍalam mit yoni-sthānam ("Ort der Yoni"). Er beschreibt Yoni Mudra als ein Kontrahieren (Akunchana) des Penis (Medhra) und bemerkt, dass damit (etena) auf Vajroli Mudra (vgl. HYP 3.83-91) verwiesen wird (Suchita): yoni-mudrayā meḍhrākuñcana-rūpayā etena vajrolī mudrā sūcitā. Weiter führt er aus, dass der Samen über den Weg (Marga) der Sushumna nach oben, d.h. zum Bindusthana, dem "Ort des Samens", gelangt: suṣumnā-mārgeṇa bindu-sthānaṃ gacchati.

Upanishad Brahma Yogin, der Kommentator der YCU, erklärt hutāśanam ("das Feuer") ganz im Sinne Brahmanandas mit yoṣid-yoni-maṇḍalam "den Bereich (Mandala) der Vagina (Yoni) der Frau (Yoshit)".

Vers 72: Bindu und Rajas

Der Same ist wiederum von zweierlei Art: weißlich und rötlich. Den weißlichen nennt man männlichen Samen, den rötlichen dagegen Menstrualblut.


स पुनर्द्विविधो बिन्दुः पाण्डरो लोहितस्तथा |
पाण्डरं शुक्रमित्याहुर्लोहितं तु महारजः || ७२ ||
sa punar dvi-vidho binduḥ pāṇḍaro lohitas tathā |
pāṇḍaraṃ śukram ity āhur lohitaṃ tu mahā-rajaḥ || 72 ||
sa punar dvi-vidho binduh pandaro lohitas tatha |
pandaram shukram ity ahur lohitam tu maha-rajah || 72 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

saḥ : der, dieser (Tad)
punaḥ : wiederum, nun (Punar)
dvi-vidhaḥ : ist von zweierlei Art (Dvividha)
binduḥ : Same ("Tropfen", Bindu)
pāṇḍaraḥ : weiß, weißlich (Pandara)
lohitaḥ : rot, rötlich (Lohita)
tathā : und, sowie (Tatha)
pāṇḍaram : den weißen (Pandara)
śukram : männlichen Samen, Sperma (Shukra)
iti : so (Iti)
āhuḥ : man nennt ("sie nennen", ah)
lohitam : den roten (Lohita)
tu  : aber, dagegen (Tu)
mahā-rajaḥ : Menstrualblut ("große Monatsregel", Maharajas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 70 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 60) überliefert (diese liest im dritten Pada śuklam statt śukram). Sinngemäß finden sich die hier gemachten Aussagen auch im jeweils 2. Halbvers des Anandakanda 1.20.97-98. Dort heißt es:

bījas tu dvi-vidhaḥ proktaḥ śukraṃ caiva mahā-rajaḥ || 20.97 cd || ...
śukraṃ tu śveta-varṇaṃ syāt pravālābhaṃ rajaḥ smṛtam || 20.98 cd ||

"Der Same (Bija) wird wiederum als von zweierlei Art gelehrt: männlicher Same (Shukra) und Menstrualblut (Maharajas)." (ĀK 1.20.97 cd)

"Der männliche Same ist von weißer (Shveta) Farbe (Varna), und das Menstrualblut (Rajas) wird als korallenfarbig (Pravala-Abha) gelehrt." (ĀK 1.20.98 cd)

Vers 73: Bindu und Rajas

Das Menstrualblut, das flüssigem Zinnober gleicht, befindet sich im Sitz der Sonne. Der männliche Same befindet sich im Sitz des Mondes. Die Vereingung dieser beiden ist sehr schwer zu erreichen.


सिन्दूरद्रवसङ्काशं रविस्थाने स्थितं रजः |
शशिस्थाने स्थितो बिन्दुस्तयोरैक्यं सुदुर्लभम् || ७३ ||
sindūra-drava-saṅkāśaṃ ravi-sthāne sthitaṃ rajaḥ |
śaśi-sthāne sthito bindus tayor aikyaṃ su-dur-labham || 73 ||
sindura-drava-sankasham ravi-sthane sthitam rajah |
shashi-sthane sthito bindus tayor aikyam su-dur-labham || 73 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

sindūra-drava-saṅkāśam : flüssigem (Drava) Zinnober (Sindura) gleichend (Sankasha)
ravi-sthāne : im Sitz ("Ort", Sthana) der Sonne (Ravi)
sthitam : befindet sich (Sthita)
rajaḥ : das Menstrualblut (Rajas)
śaśi-sthāne : im Sitz ("Ort") des Mondes (Shashin)
sthitaḥ : befindet sich
binduḥ : der männliche Same ("Tropfen", Bindu)
tayoḥ : dieser beiden (Tad)
aikyam : die Einheit, Vereingung, Verbindung (Aikya)
su-durlabham : ist sehr schwer zu erlangen, erreichen (Sudurlabha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit der Lesart nābhi-sthāne "im Ort des Nabels" (statt ravi-sthāne) im zweiten Pada als Vers 71 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und einigen weiteren kleineren Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 61) überliefert.

Der "Sitz der Sonne" (Ravisthana) gilt als Synonym für das Nabelzentrum (Manipura Chakra bzw. Nabhisthana) und der "Sitz des Mondes" (Shashisthana bzw. Chandrasthana) als Synonym für das Kehlzentrum (Vishuddhi Chakra bzw. Shodashara Chakra "das sechzehnspeichige Rad"), vgl. den Kommentar der Yoga Tarangini Tika zu diesem Vers: ravi-sthāne nābhi-pradeśe ... śaśi-sthāne ṣoḍaśāra-cakre.

Vers 74: Bindu und Rajas

Der männliche Same ist Shiva - das Menstrualblut ist Shakti. Der männliche Same ist der Mond - das Menstrualblut ist die Sonne. Aufgrund der Vereinigung dieser beiden wird der höchste Bewusstseinszustand erlangt.


बिन्दुः शिवो रजः शक्तिर्बिन्दुरिन्दू रजो रविः |
उभयोः सङ्गमादेव प्राप्यते परमं पदम् || ७४ ||
binduḥ śivo rajaḥ śaktir bindur indū rajo raviḥ |
ubhayoḥ saṅgamād eva prāpyate paramaṃ padam || 74 ||
binduh shivo rajah shaktir bindur indu rajo ravih |
ubhayoh sangamad eva prapyate paramam padam || 74 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

binduḥ : der männliche Same ("Tropfen", Bindu)
śivaḥ : (ist) Shiva
rajaḥ : das Menstrualblut (Rajas)
śaktiḥ : (ist) Shakti (die "Energie")
binduḥ : der männliche Same
induḥ : (ist) der Mond (Indu)
rajaḥ : das Menstrualblut
raviḥ : (ist) die Sonne (Ravi)
ubhayoḥ : dieser beiden (Ubha)
saṅgamāt : aufgrund der Vereinigung (Sangama)
eva : nur, eben (Eva)
prāpyate : wird erreicht, erlangt (pra + āp)
paramam : der höchste (Parama)
padam : (Bewusstseins-)Zustand ("Ort", Pada)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einigen Varianten als Vers 73 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 62) mit der Lesart bindur brahmā "der männliche Samen ist Brahma" (statt binduḥ śivo) im ersten Pada überliefert. Setzt man für die Sonne (Ravi) die Silbe Ha und für den Mond (Indu) die Silbe Tha ein, so ist deren Vereinigung Ha-Tha-Yoga.

Vers 75: Bindu und Rajas

Durch das Inbewegungsetzen der (Schlangen-)Kraft in Verbindung mit dem Atem wird das Menstrualblut angetrieben und vereinigt sich mit dem männlichen Samen. Dann wird der Körper (des Yogi) göttlich.


वायुना शक्तिचारेण प्रेरितं तु महारजः |
बिन्दुनैति सहैकत्वं भवेद्दिव्यं वपुस्तदा || ७५ ||
vāyunā śakti-cāreṇa preritaṃ tu mahā-rajaḥ |
bindunaiti sahaikatvaṃ bhaved divyaṃ vapus tadā || 75 ||
vayuna shakti-charena preritam tu maha-rajah |
bindunaiti sahaikatvam bhaved divyam vapus tada || 75 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vāyunā : in Verbindung mit dem Atem ("Wind", Vayu)
śakti-cāreṇa : durch das Inbewegungsetzen (Chara) der (Schlangen-)Kraft (Shakti, d.h. Kundalini)
preritam : angetrieben (Prerita)
tu : aber, wiederum (Tu)
mahā-rajaḥ : das Menstrualblut ("große Monatsregel", Maharajas)
bindunā : dem männlichen Samen ("Tropfen", Bindu)
eti : gelangt ("geht", i)
saha : mit (Saha)
ekatvam : zur Einheit (Ekatva)
bhavet : wird (bhū)
divyam : himmlich, göttlich (Divya)
vapuḥ : der Körper (Vapus)
tadā : dann (Tada)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 73 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati (diese liest im dritten Pada yāti bindoḥ sahaikatvaṃ statt bindunaiti sahaikatvaṃ) und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 63) überliefert (letztere liest śakti-cāleṇa statt śakti-cāreṇa im ersten Pada).

Hier wird auf die Praxis von Shakti Chalana verwiesen, bei der die Kundalini erweckt und entlang der Sushumna nach oben bewegt wird (vgl. Hatha Yoga Pradipika 3.104 ff. und Gheranda Samhita 3.52 ff.).

Der vorliegende Vers erscheint mit einigen Varianten auch im Anandakanda (1.20.100), einem medizinisch-alchemistischen Werk aus dem 13. Jahrhundert, wo er im Kontext von Khechari Mudra steht (vgl. auch die Anm. zu Vers 70):

marutā śakti-cāreṇa rajaś cordhvaṃ praṇīyate |
aikyaṃ tad bindunā yāti tadā divyaṃ vapur bhavet || 20.100 ||

"Durch das Inbewegungsetzen der (Schlangen-)Kraft in Verbindung mit dem Atem (Marut) wird das Menstrualblut (Rajas) aufwärts gelenkt und vereinigt sich mit dem männlichen Samen (Bindu). Dann wird der Körper (des Yogi) göttlich." (ĀK 1.20.100)

Vers 76: Bindu und Rajas

Der männliche Samen steht in Verbindung mit dem Mond - das Menstrualblut steht in Verbindung mit der Sonne. Wer die Einheit (in Form) der Homogenität dieser beiden erfährt, der ist ein Kenner des Yoga.


शुक्रं चन्द्रेण संयुक्तं रजः सूर्येण संयुतम् |
तयोः समरसैकत्वं यो जानाति स योगवित् || ७६ ||
śukraṃ candreṇa saṃyuktaṃ rajaḥ sūryeṇa saṃyutam |
tayoḥ sama-rasaikatvaṃ yo jānāti sa yoga-vit || 76 ||
shukram chandrena samyuktam rajah suryena samyutam |
tayoh sama-rasaikatvam yo janati sa yoga-vit || 76 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śukram : der männliche Samen (Shukra)
candreṇa : mit dem Mond (Chandra)
saṃyuktam : steht in Verbindung, bezieht sich auf (Samyukta)
rajaḥ : das Menstrualblut (Rajas)
sūryeṇa : mit der Sonne (Surya)
saṃyutam : steht in Verbindung, bezieht sich auf (Samyuta)
tayoḥ : dieser beiden (Tad)
sama-rasaikatvam : die Identität und Einheit, oder: die Einheit (Ekatva, in Form) der Homogenität ("Geschmacks-Gleichheit", Samarasatva)
yaḥ : wer (Yad)
jānāti : kennt, erfährt (jñā)
saḥ : der (Tad)
yoga-vit : (ist) ein Kenner des Yoga (Yogavid)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 74 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit zwei Lesarten im 1. Halbvers in der Yogachudamani Upanishad überliefert (diese liest in Vers 64 śuklaṃ statt śukraṃ).

Vers 77: Uddiyana Bandha

Aufgrund dessen der große Vogel (Prana) unermüdlich (in der Sushumna) auffliegt, eben dieses Uddiyana (Bandha) ist wie ein Löwe gegenüber dem Elefanten des Todes.


उड्डीनं कुरुते यस्मादविश्रान्तं महाखगः |
उड्डीयानं तदेव स्यान्मृत्युमातङ्गकेसरी || ७७ ||
uḍḍīnaṃ kurute yasmād aviśrāntaṃ mahā-khagaḥ |
uḍḍīyānaṃ tad eva syān mṛtyu-mātaṅga-kesarī || 77 ||
uddinam kurute yasmad avishrantam maha-khagah |
uddiyanam tad eva syan mrityu-matanga-kesari || 77 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

uḍḍīnam : das Auffliegen (in der Sushumna, Uddina)
kurute : macht (kṛ)
yasmāt : aufgrund dessen (Yasmat)
aviśrāntam : unermüdlich, unablässig (Avishranta)
mahā-khagaḥ : der große (Maha) Vogel ("der im Luftraum geht", d.h. Prana (Khaga)
uḍḍīyānam : Uddiyana (das "Auffliegenlassen")
tat : dies (Tad)
eva : eben, gerade, genau (Eva)
syāt : ist ("soll sein", (as)
mṛtyu-mātaṅga-kesarī : (wie) ein Löwe (Kesarin, gegenüber) dem Elefanten (Matanga) des Todes (Mrityu)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit der Lesart uḍyānam im ersten Pada als Vers 76 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit den Lesarten oḍyānam und oḍḍiyānam statt uḍḍīnam und uḍḍīyānam in der Yogachudamani Upanishad (Vers 48, vgl. die dortige Anm.) überliefert, sowie in der Gheranda Samhita 3.10 mit der Lesung uḍḍīyānaṃ tv asau bandho im 3. Pada. Die ersten drei Padas entsprechen Hatha Yoga Pradipika 3.56 a-c, der 4. Pada entspricht Hatha Yoga Pradipika 3.57 d (vgl. auch Vers 35 der Version 1 des Goraksha Shataka).

Dass der "große Vogel" (mahā-khagaḥ) der Prana ist, der in der Sushumna durch die Praxis von Uddiyana Bandha zum "auffliegen" gebracht wird, wird aus Hatha Yoga Pradipika 3.55 ersichtlich:

baddho yena suṣumṇāyāṃ prāṇas tūḍḍīyate yataḥ |
tasmād uḍḍīyanākhyo'yaṃ yogibhiḥ samudāhṛtaḥ || 3.55 ||

"Weil mit diesem (Bandha) die Lebensenergie (Prana) in der Sushumna festgehalten wird (und darin) auffliegt, deshalb wurde dieser Verschluss von den Yogis mit der Bezeichnung Uddiyana benannt." (HYP 3.55)

Vers 78: Uddiyana Bandha

Vom Bauch weg nach hinten, unterhalb des Nabels, das wird Verschluss des Auffliegens (oder: der Uddiyana genannten Körperregion) genannt. Dort (im Bereich des Uddiyana) wird dieser Verschluss ausgeführt.


उदरात्पश्चिमे भागे ह्यधो नाभेर्निगद्यते |
उड्डीयनस्य बन्धोऽयं तत्र बन्धो विधीयते || ७८ ||
udarāt paścime bhāge hy adho nābher nigadyate |
uḍḍīyanasya bandho'yaṃ tatra bandho vidhīyate || 78 ||
udarat pashchime bhage hy adho nabher nigadyate |
uddiyanasya bandho'yam tatra bandho vidhiyate || 78 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

udarāt : vom Bauch weg (Udara)
paścime : im hinteren (Pashchima)
bhāge : Teil, Bereich (Bhaga)
hi : gewiss (Hi)
adhaḥ : unterhalb (Adhas)
nābheḥ : des (Nabhi)
nigadyate : wird genannt (ni + gad)
uḍḍīyanasya : des Auffliegens (Uddiyana)
bandhaḥ : Verschluss (Bandha)
ayam : dieser (Ayam)
tatra : dort (Tatra)
bandhaḥ : Verschluss
vidhīyate : wird praktiziert, ausgeführt, vorgeschrieben (vi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 77 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 49) überliefert. Die ersten drei Padas erinnern an Hatha Yoga Pradipika 3.57 a-c bzw. Gheranda Samhita 3.10 a-b, der 4. Pada entspricht weitestgehend Hatha Yoga Pradipika 3.56 d.

Obwohl die Bezeichnung Uddiyana Bandha traditionell in Ableitung von der Wurzel ud-ḍī als das "Auffliegen" erklärt wird (vgl. Vers 77), bezieht sich Uddiyana (mit den Varianten Oddiyana und Odyana) auch auf einen Bereich im Körper, der sich etwas unterhalb des Nabels (adho nābheḥ) befindet. Dieser Bereich wird in der Siddha Siddhanta Paddhati (2.14) unter der Bezeichnung Odyanadhara als das fünfte von insgesamt 16 Adharas (Konzentrationspunkten im Körper) gelehrt. Somit bedeutet Uddiyana Bandha ursprünglich wohl das "Kontrahieren" (Bandha) der Uddiyana bzw. Od(di)yana genannten Körperregion.

Vers 79: Jalandhara Bandha

Weil es das Netzwerk der (feinstofflichen) Kanäle verschließt, und den herabfließenden Nektar des Kopfes auffängt, deshalb (heißt es) Jalandhara Bandha. (Es ist ein Mittel zum) Vertreiben einer Menge von Leiden der Kehle.


बध्नाति हि सिराजालमधोगामि शिरोजलम् |
ततो जालन्धरो बन्धः कण्ठदुःखौघनाशनः || ७९ ||
badhnāti hi sirā-jālam adho-gāmi śiro-jalam |
tato jālandharo bandhaḥ kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ || 79 ||
badhnati hi sira-jalam adho-gami shiro-jalam |
tato jalandharo bandhah kantha-duhkhaugha-nashanah || 79 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

badhnāti : es verschließt ("abbindet", badh)
hi : weil (Hi)
sirā-jālam : das Netzwerk (Jala) der (feinstofflichen) Kanäle (Sira)
adho-gāmi : den herabfließenden (Adhas-Gamin)
śiro-jalam : Nektar ("Wasser", Jala) des Kopfes (Shiras)
tataḥ : deshalb (Tatas)
jālandharaḥ : Jalandhara
bandhaḥ : Bandha ("Verschluss")
kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ : (ein Mittel zum) Vertreiben (Nashana) einer Menge (Ogha) von Leiden (Duhkha) der Kehle (Kantha)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 78 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 50) überliefert. Letztere liest śiro-jātam "im Kopf entstanden" statt sirā-jālam im ersten Pada, sowie mit Hatha Yoga Pradipika 3.71 nabho-jalam "Himmelswasser" statt śiro-jalam im zweiten Pada. Auch in Shiva Samhita 4.60 wird in einem ähnlichen Vers dieses Netzwerk der Nadis erwähnt (sirā ist ein Synonym zu śirā):

baddhvā gala-śirā-jālaṃ hṛdaye cibukaṃ nyaset |
bandho jālan-dharaḥ prokto devānām api dur-labhaḥ || 4.60 ||

"Das Netzwerk (Jala) der (feinstofflichen) Kanäle (Sira) in der Kehle (Gala) unterbindend, setze man das Kinn (Chibuka) auf die Brust (Hridaya). Dieser Verschluss (Bandha) wird Jalandhara genannt. Er ist selbst den Göttern (Deva) wertvoll." (ŚS 4.60)

Mit dem Nektar bzw. "Wasser" des Kopfes (śiro-jalam) ist der vom Gaumen herabfließende "Mondnektar" (Piyusha, Chandramrita) gemeint, vgl. den folgenden Vers 80 sowie Vers 55 der Version 1 des Goraksha Shataka.

Vers 80: Jalandhara Bandha

Wenn Jalandhara Bandha ausgeführt wird, der Verschluss, der durch das Zusammenziehen der Kehle gekennzeichnet ist, fällt der Nektar nicht ins Feuer (der Verdauung), und auch der Lebenshauch (Vayu) wird nicht erregt.


जालन्धरे कृते बन्धे कण्ठसङ्कोचलक्षणे |
न पीयूषं पतत्यग्नौ न च वायुः प्रकुप्यति || ८० ||
jālandhare kṛte bandhe kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe |
na pīyūṣaṃ pataty agnau na ca vāyuḥ prakupyati || 80 ||
jalandhare krite bandhe kantha-sankocha-lakshane |
na piyusham pataty agnau na cha vayuh prakupyati || 80 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

jālandhare : Jalandhara (das "Festhalten des Netzes, das Auffangen des Wassers")
kṛte : (wenn) ausgeführt wird (Krita)
bandhe : der Verschluss (Bandha)
kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe : der durch das Zusammenziehen (Sankocha) der Kehle (Kantha) gekennzeichnet (Lakshana) ist
na : nicht (Na)
pīyūṣam : der Nektar (Piyusha)
patati : fällt (pat)
agnau : ins Feuer (Agni)
na : nicht
ca : und, auch (Cha)
vāyuḥ : der Lebenshauch ("Wind", Vayu)
prakupyati : wird erregt ("erzürnt", pra + kup)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 79 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, als Vers 36 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.72) überliefert. In der Yogachudamani Upanishad (Vers 51) heißt es im zweiten Pada kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśane "angesichts des Vertreibens (Nashana) einer Menge (Ogha) von Leiden (Duhkha) der Kehle (Kantha)" statt kaṇṭha-saṅkoca-lakṣaṇe, sowie im vierten Pada pradhāvati "verbreitet sich" statt prakupyati.

Brahmananda, der Kommentator der HYP, erklärt na ca vāyuḥ prakupyati (wörtl.: "der Wind wird nicht erregt") dahingehend, dass Prana (Vayu) dadurch nicht in andere Kanäle (Nadis) gelangt: nāḍyantare vāyor gamanaṃ ... na karoti. Da Jalandhara Bandha jedoch nach HYP 3.71 bzw. GŚ 2, 79 alle Leiden der Kehle vertreibt (kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ), liegt in diesem Zusammenhang auch ein Verständnis aus ayurvedischer Sicht nahe: der Vata ("Wind") genannte Dosha wird nicht erregt (na … prakupyati), d.h. nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Eine Störung von Vata kann sich etwa im Bereich der Atmungsorgane und der Kehle als Krankheit zeigen, Jalandhara Bandha verhindert solche Störungen.

Vers 81: Mula Bandha

Man presse mit der Ferse gegen den Beckenboden, kontrahiere den Anus und ziehe so den Apana aufwärts. (So) wird Mula Bandha praktiziert.


पार्ष्णिभागेन सम्पीड्य योनिमाकुञ्चयेद् गुदम् |
अपानमूर्ध्वमाकृष्य मूलबन्धो विधीयते || ८१ ||
pārṣṇi-bhāgena sampīḍya yonim ākuñcayed gudam |
apānam ūrdhvam ākṛṣya mūla-bandho vidhīyate || 81 ||
parshni-bhagena sampidya yonim akunchayed gudam |
apanam urdhvam akrishya mula-bandho vidhiyate || 81 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

pārṣṇi-bhāgena : mit einem Teil (Bhaga) der Ferse (Parshni)
sampīḍya : während man presst ("gepresst habend", sam + pīḍ)
yonim : den Beckenboden, Damm, das Perineum (Yoni)
ākuñcayet : man kontrahiere, ziehe zusammen (ā + kuñc)
gudam : den Anus (Guda)
apānam : den Apana
ūrdhvam : aufwärts, nach oben (Urdhva)
ākṛṣya : während man zieht ("gezogen habend", ā + kṛṣ)
mūla-bandhaḥ : Mulabandha ("Wurzel-Verschluss", Mula Bandha)
vidhīyate : (so) wird praktiziert, ausgeführt, vorgeschrieben (vi + dhā)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 80 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und fast wortwörtlich als Vers 37 der Version 1 des Goraksha Shataka sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.61) überliefert. In der Yogachudamani Upanishad (Vers 46) heißt es im ersten Pada pārṣṇi-ghātena "mit einem Schlag der Ferse" statt pārṣṇi-bhāgena, im zweiten Pada dṛḍham "fest" statt gudam und im vierten Pada 'yam ucyate "dies wird genannt" statt vidhīyate.

Vers 82: Mula Bandha

Wenn Mula Bandha beständig (praktiziert wird), wird aufgrund der (dadurch bewirkten) Vereinigung von Apana und Prana, sowie aufgrund der Verringerung von (angesammeltem) Urin und Stuhl sogar ein Greis wieder jung.


अपानप्राणयोरैक्यात्क्षयान्मूत्रपुरीषयोः |
युवा भवति वृद्धोऽपि सततं मूलबन्धनात् || ८२ ||
apāna-prāṇayor aikyāt kṣayān mūtra-purīṣayoḥ |
yuvā bhavati vṛddho'pi satataṃ mūla-bandhanāt || 82 ||
apana-pranayor aikyat kshayan mutra-purishayoh |
yuva bhavati vriddho'pi satatam mula-bandhanat || 82 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

apāna-prāṇayoḥ : der abwärts fließenden Energie (Apana) und der aufwärts fließenden Energie (Prana)
aikyāt : aufgrund der Vereinigung, Einheit (Aikya)
kṣayāt : aufgrund der Verringerung (Kshaya)
mūtra-purīṣayoḥ : von Urin (Mutra) und Stuhl (Purisha)
yuvā : jung (Yuvan)
bhavati : wird (bhū)
vṛddhaḥ : ein Alter, Greis (Vriddha)
api : auch, sogar (Api)
satatam : stets, beständig (praktiziert, Satata)
mūla-bandhanāt : aufgrund von Mulabandha ("Wurzel-Verschluss", Mula Bandha))

Anmerkung: Dieser Vers wird fast wortwörtlich als Vers 81 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 47) sowie in der Hatha Yoga Pradipika (3.65) überliefert (in letzterer stehen statt der Ablative aikyāt kṣayān die Nominative aikyaṃ kṣayo).

Vers 83: OM Japa

An einem einsamen Ort den Lotussitz eingenommen habend, Körper und Hals gerade haltend, mit auf die Nasenspitze gerichtetem Blick, rezitiere man den unvergänglichen Laut OM.


पद्मासनं समारुह्य समकायशिरोधरः |
नासाग्रदृष्टिरेकान्ते जपेदोङ्कारमव्ययम् || ८३ ||
padmāsanaṃ samāruhya sama-kāya-śiro-dharaḥ |
nāsāgra-dṛṣṭir ekānte japed oṅ-kāram avyayam || 83 ||
padmasanam samaruhya sama-kaya-shiro-dharaḥ |
nasagra-drishtir ekante japed on-karam avyayam || 83 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

padmāsanam : den Lotussitz (Padmasana)
samāruhya : eingenommen habend ("bestiegen habend", sam + ā + ruh)
sama-kāya-śiro-dharaḥ : Körper (Kaya) und Hals (Shirodhara) gerade (haltend, Sama)
nāsāgra-dṛṣṭiḥ : mit auf die Nasenspitze (Nasagra gerichtetem) Blick (Drishti)
ekānte : an einem einsamen Ort (Ekanta)
japet : man rezitiere (jap)
oṅ-kāram : Laut OM (Omkara)
avyayam : den unvergänglichen (Avyaya)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 82 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 71) überliefert.

Vers 84: OM Japa

Das höchste Licht, OM, (ist der Klang) in dessen (drei) Bestandteilen die (drei) Welten Erde, Luftraum und Himmel, und die (drei) Gottheiten Mond, Sonne und Feuer enthalten sind.


भूर्भुवः स्वरिमे लोकाः सोमसूर्याग्निदेवताः |
यस्य मात्रासु तिष्ठन्ति तत्परं ज्योतिरोमिति || ८४ ||
bhūr bhuvaḥ svar ime lokāḥ soma-sūryāgni-devatāḥ |
yasya mātrāsu tiṣṭhanti tat paraṃ jyotir om iti || 84 ||
bhur bhuvah svar ime lokah soma-suryagni-devatah |
yasya matrasu tishthanti tat param jyotir om iti || 84 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

bhūḥ : Erde (Bhur)
bhuvaḥ : Luftraum (Bhuvas)
svaḥ  : Himmel (Svar)
ime : diese (Idam)
lokāḥ : Welten (Loka)
soma-sūryāgni-devatāḥ : die Gottheiten (Devata) Mond (Soma), Sonne (Surya) und Feuer (Agni)
yasya : dessen (Yad)
mātrāsu : in den Lautbestandteilen (Matra)
tiṣṭhanti : sich befinden, existieren (sthā)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 83 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 85) überliefert.

Der Ausdruck paraṃ jyotiḥ, wörtlich "das höchste Licht", bedeutet im übertragenen Sinne auch "die höchste Intelligenz, der höchste Geist, die höchste Wahrheit".

Die drei lautlichen Bestandteile (Matra) von OM sind A (Akara), U (Ukara) und M (Makara).

Vers 85: OM Japa

Das höchste Licht, OM, (ist der Klang) worin die drei Zeiten, die drei Vedas, die drei Welten, die drei Akzente, und die drei Gottheiten enthalten sind.


त्रयः कालास्त्रयो वेदास्त्रयो लोकास्त्रयः स्वराः |
त्रयो देवाः स्थिता यत्र तत्परं ज्योतिरोमिति || ८५ ||
trayaḥ kālās trayo vedās trayo lokās trayaḥ svarāḥ |
trayo devāḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 85 ||
trayah kalas trayo vedas trayo lokas trayaḥ svarah |
trayo devah sthita yatra tat param jyotir om iti || 85 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

trayaḥ : die drei (Tri)
kālāḥ : Zeiten (Kala)
trayaḥ : die drei
vedāḥ : Vedas
trayaḥ : die drei
lokāḥ : Welten (Loka)
trayaḥ : die drei
svarāḥ : Akzente (Svara)
trayaḥ : die drei
devāḥ : Götter (Deva)
sthitāḥ : sich befinden, existieren (Sthita)
yatra : worin (Yatra)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 84 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. In den drei lautlichen Bestandteilen (Matra, s. Vers 84) von OM - A, U und M - sind die folgenden Trinitäten enthalten:

- die drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
- die drei Vedas: Rig Veda, Yajur Veda und Sama Veda
- die drei Welten: Erde, Luftraum und Himmel (s. Vers 84)
- die drei vedischen Akzente: Udatta, Anudatta und Svarita
- die drei vedischen Götter bzw. Gottheiten Mond (Soma), Sonne (Surya) und Feuer (Agni, s. Vers 84) bzw. die drei hinduistischen Götter Brahma, Vishnu und Rudra (d.h. Shiva, s. Vers 86).

In der Yogachudamani Upanishad (Verse 74-76) wird die Zuordnung der drei letztgenannten Götter zu den drei lautlichen Bestandteilen von OM bzw. Pranava noch detaillierter ausgeführt:

A U M
Gott Brahma Vishnu Rudra
Guna Rajas Sattva Tamas
Farbe rot weiß schwarz
Bewusstseinszustand Wachen Traum Tiefschlaf
Körperregion Auge Kehle Herz

Vers 86: OM Japa

Das höchste Licht, OM, (ist der Klang) worin die Energien Brahmas, Rudras und Vishnus in dreierlei Weise (als) Handlung, Wunsch und Erkenntnis enthalten sind.


क्रिया चेच्छा तथा ज्ञानं ब्राह्मी रौद्री च वैष्णवी |
त्रिधा शक्तिः स्थिता यत्र तत्परं ज्योतिरोमिति || ८६ ||
kriyā cecchā tathā jñānaṃ brāhmī raudrī ca vaiṣṇavī |
tridhā śaktiḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 86 ||
kriya chechchha tatha jnanam brahmi raudri cha vaishnavi |
tridha shaktih sthita yatra tat param jyotir om iti || 86 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

kriyā : Handlung, Aktivität (Kriya)
ca : und (Cha)
icchā : Wunsch, Verlangen, Wille (Ichchha)
tathā : sowie (Tatha)
jñānam : Erkenntnis (Jnana)
brāhmī : die zu Brahma gehörige (Brahmi)
raudrī : die zu Rudra gehörige (Raudri)
ca : und
vaiṣṇavī : die zu Vishnu gehörige (Vaishnavi)
tridhā : in dreierlei Weise (Tridha)
śaktiḥ : Energie (Shakti)
sthitā : sich befindet, existiert (Sthita)
yatra : worin (Yatra)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird unter Weglassung der Partikel ca (vor icchā zur Vermeidung des Hiatus im ersten Pada) als Vers 85 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einer weiteren Lesart in der Yogachudamani Upanishad (Vers 86) überliefert. Diese liest im dritten Pada mātrā-sthitiḥ "die Existenz, das Sich-Befinden der Lautbestandteile" (vgl. Vers 87) statt śaktiḥ sthitā.

Gemäß der hier gegebenen Zuordnung manifestiert sich die Energie Brahmas als Handlung (Kriya), die Energie Rudras als Wunsch bzw. Wille (Ichchha), und die Energie Vishnus als Erkenntnis (Jnana), entsprechend der Wirkungen der drei Gunas Rajas, Tamas und Sattva (vgl. die Anm. zu Vers 85).

Die Energien (Shakti) der entsprechenden Götter bzw. Gottheiten werden ikonographisch als Göttinnen dargestellt, bspw. als Sarasvati, Parvati und Lakshmi. Das tantrische Götterpaar par excellence ist Shiva (symbolisiert das Bewusstsein bzw. den Wahrnehmenden) und Shakti (symbolisiert die Energie bzw. das Wahrgenomme).

Vers 87: OM Japa

Das höchste Licht, OM, (ist der Klang) worin die drei Laute A, U und M, dessen Name Bindu ist, enthalten sind.


अकारश्च तथोकारो मकारो बिन्दुसंज्ञकः |
तिस्रो मात्राः स्थिता यत्र तत्परं ज्योतिरोमिति || ८७ ||
akāraś ca tathokāro makāro bindu-saṃjñakaḥ |
tisro mātrāḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti || 87 ||
akarash cha tathokaro makaro bindu-samjnakah |
tisro matrah sthita yatra tat param jyotir om iti || 87 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

akāraḥ : der Laut A (Akara)
ca : und (Cha)
tathā : sowie (Tatha)
ukāraḥ : der Laut U (Ukara)
makāraḥ : der Laut M (Makara)
bindu-saṃjñakaḥ : dessen Name (Samjnaka) Bindu ("Punkt, Tropfen") ist
tisraḥ : die drei (Tri)
mātrāḥ  : Lautbestandteile (Matra)
sthitāḥ : sich befinden, existieren (Sthita)
yatra : worin (Yatra)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit der vielleicht ursprünglicheren Lesart ukāraś ca statt tathokāro im ersten Pada als Vers 86 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert. Dort heißt es im dritten Pada tridhā "in dreifacher Weise" statt tisraḥ.

Der Laut M wird auch Bindu ("Punkt, Tropfen") genannt. In der Devanagarischrift wird er häufig als ein Punkt dargestellt, insbesondere in Verbindung mit Bija Mantras: ओं OM हं HAM यं YAM usw.

Vers 88: OM Japa

Diese Keimsilbe soll man sich mit der Stimme aneignen, mit dem Körper üben, und mit dem Geist darüber meditieren. Das ist das höchste Licht, (der Klang) OM.


वचसा तज्जयेद्बीजं वपुषा तत्समभ्यसेत् |
मनसा तत्स्मरेन्नित्यं तत्परं ज्योतिरोमिति || ८८ ||
vacasā taj jayed bījaṃ vapuṣā tat samabhyaset |
manasā tat smaren nityaṃ tat paraṃ jyotir om iti || 88 ||
vachasa taj jayed bijam vapusha tat samabhyaset |
manasa tat smaren nityam tat param jyotir om iti || 88 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

vacasā : mit der Stimme (Vach)
tat : diese (Tad)
jayet : man soll sich aneignen ("erobern", ji)
bījam : Keimsilbe ("Samen", Bija)
vapuṣā : mit dem Körper (Vapus)
tat : sie (Tad)
samabhyaset : üben, praktizieren, (sam + abhi + as)
manasā : mit dem Geist (Manas)
tat : sie
smaret : man soll erinnern, meditieren (smṛ)
nityam : immer, beständig (Nitya)
tat : das (Tad)
param : höchste (Para)
jyotiḥ : Licht (Jyotis)
om : OM
iti  : so (Iti)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 87 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit ein paar Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 87) überliefert. Letztere liest zweimal taj japen nityam "man soll es stets rezitieren" im ersten und dritten Pada, was vielleicht ein Druck- oder Überlieferungsfehler ist.

Stimme, Körper und Geist sollen beständig auf den Urklang OM eingestimmt werden: auch während der Asanapraxis soll man OM rezitieren und über seine Bedeutungen, d.h. über die in den Lauten A, U und M enthaltenen Aspekte der damit verbundenen Gottheit usw. (s. Verse 84-87), meditieren.

Vers 89: OM Japa

(Sei er) rein oder auch unrein - wer die Silbe OM beständig rezitiert wird nicht von Sünde befleckt, so wie ein Lotusblatt vom Wasser (nicht benetzt wird).


शुचिर्वाप्यशुचिर्वापि यो जपेत्प्रणवं सदा |
लिप्यते न स पापेन पद्मपत्त्रमिवाम्भसा || ८९ ||
śucir vāpy aśucir vāpi yo japet praṇavaṃ sadā |
lipyate na sa pāpena padma-pattram ivāmbhasā || 89 ||
shucir vapy ashucir vapi yo japet pranavam sada |
lipyate na sa papena padma-pattram ivambhasa || 89 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śuciḥ : rein (Shuchi)
 : oder (Va)
api : auch (Api)
aśuciḥ : unrein (Ashuchi)
 : oder
api : auch
yaḥ : wer (Yad)
japet : rezitiert (jap)
praṇavam : die Silbe OM (Pranava)
sadā : immer, beständig (Sada)
lipyate : wird beschmutzt, befleckt (lip)
na : nicht (Na)
saḥ : der (Tad)
pāpena : von Übel, Sünde (Papa)
padma-pattram : ein Lotusblatt (Padmapattra)
iva : (so) wie (Iva)
ambhasā : vom Wasser (Ambhas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 88 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 88) überliefert. Diese liest im dritten Pada na sa lipyati statt lipyate na sa.

Der zweite Halbvers dieses Shloka erscheint wortwörtlich als zweiter Halbvers von Bhagavad Gita 5.10:

brahmaṇy ādhāya karmāṇi saṅgaṃ tyaktvā karoti yaḥ |
lipyate na sa pāpena padma-pattram ivāmbhasā || 5.10 ||

"Wer handelt, indem er seine Handlungen (Karman) dem Brahman darbringt und Anhaftung (Sanga) aufgibt, der wird vom Übel (Papa) nicht befleckt, so wie ein Lotusblatt (Padmapattra) nicht vom Wasser (Ambhas) benetzt wird." (BhG 5.10)

Weil Wasser von einem Lotusblatt aufgrund dessen Oberflächenstruktur abperlt, ohne daran haften zu bleiben, wird die geringe Benetzbarkeit seiner Oberfläche als "Lotoseffekt" bezeichnet.

Vers 90: Pranayama

Ist der Atem unstet, ist der Samen unstet. (Ist der Atem) unbeweglich, ist (auch der Samen) unbeweglich, und der Yogi erlangt (innere und äußere) Bewegungslosigkeit. Darum soll er den Atem anhalten.


चले वाते चलो बिन्दुर्निश्चले निश्चलो भवेत् |
योगी स्थाणुत्वमाप्नोति ततो वायुं निरोधयेत् || ९० ||
cale vāte calo bindur niścale niścalo bhavet |
yogī sthāṇutvam āpnoti tato vāyuṃ nirodhayet || 90 ||
chale vate chalo bindur nishchale nishchalo bhavet |
yogi sthanutvam apnoti tato vayum nirodhayet || 90 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

cale : unstet, beweglich (Chala)
vāte : (ist der) Atem ("Wind", Vata)
calaḥ : unstet, beweglich
binduḥ : (ist) der Samen (Bindu)
niścale : (der Atem) unbeweglich (Nishchala)
niścalaḥ : (der Samen) unbeweglich
bhavet : ist, wird (bhū)
yogī : (und) der Yogi (Yogin)
sthāṇutvam : Bewegungslosigkeit (Sthanutva)
āpnoti : erreicht (āp)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
vāyum : den Atem, ("Wind", Vayu)
nirodhayet : er soll kontrollieren, anhalten ("einsperren", ni + rudh)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 89 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und in der Yogachudamani Upanishad (Vers 89) überliefert, sowie mit einer wichtigen Lesart in der Hatha Yoga Pradipika (2.2): Dort heißt es cale vāte calaṃ cittam niścale niścalaṃ bhavet "Ist der Atem unstet, ist der Geist (Chitta) unstet. (Ist der Atem) unbeweglich, ist (auch der Geist) unbeweglich".

In Vers 39 der Version 1 des Goraksha Shataka heißt es wiederum cale vāte calaṃ sarvam... "Ist der Atem unstet, ist alles (Sarva) unstet. (Ist der Atem) unbeweglich, ist (alles) unbeweglich" (vgl. die dortige Anm.).

Vers 91: Pranayama

Solange wie der Lebensatem sich im Körper befindet, solange entrinnt das Leben nicht. Das Hinausgehen des Lebensatems bedeutet den Tod. Darum soll man den Atem anhalten.


यावद्वायुः स्थितो देहे तावज्जीवो न मुच्यते |
मरणं तस्य निष्क्रान्तिस्ततो वायुं निरोधयेत् || ९१ ||
yāvad vāyuḥ sthito dehe tāvaj jīvo na mucyate |
maraṇaṃ tasya niṣkrāntis tato vāyuṃ nirodhayet || 91 ||
yavad vayuh sthito dehe tavaj jivo na muchyate |
maranam tasya nishkrantis tato vayum nirodhayet || 91 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yāvat : solange wie (Yavat)
vāyuḥ : der (Lebens-)Atem, Prana ("Wind", Vayu)
sthitaḥ : sich befindet (Sthita)
dehe : im Körper (Deha)
tāvat : solange (Tavat)
jīvaḥ : das Leben, die Individualseele (Jiva)
na : nicht (Na)
mucyate : entrinnt, löst sich los (muc)
maraṇam : (bedeutet) Sterben, Tod (Marana)
tasya : dieses (Lebensatems, Tad)
niṣkrāntiḥ : das Hinausgehen, Weichen, Verschwinden (Nishkranti)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
vāyum : den Atem, ("Wind", Vayu)
nirodhayet : man soll kontrollieren, anhalten ("einsperren", ni + rudh)

Anmerkung: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich in der Yogachudamani Upanishad (Vers 90) und als Vers 90 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert, ebenso in der Hatha Yoga Pradipika (2.3). Dort heißt es im zweiten Pada jīvanam ucyate "wird Leben (Jivana) genannt" statt jīvo na mucyate.

Vers 92: Pranayama

Solange wie der Lebensatem im Körper festgehalten wird, solange wie der Geist still ist, solange wie der Blick in der Mitte beider Brauen ruht, solange gibt es keine Furcht vor dem Tod.


यावद्बद्धो मरुद्देहे यावच्चित्तं निरामयम् |
यावद्दृष्टिर्भ्रुवोर्मध्ये तावत्कालभयं कुतः || ९२ ||
yāvad baddho marud dehe yāvac cittaṃ nirāmayam |
yāvad dṛṣṭir bhruvor madhye tāvat kāla-bhayaṃ kutaḥ || 92 ||
yavad baddho marud dehe yavach chittam niramayam |
yavad drishtir bhruvor madhye tavat kala-bhayam kutah || 92 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yāvat : solange wie (Yavat)
baddhaḥ : festgehalten ("festgebunden") wird (Baddha)
marut : der Atem, Prana ("Wind", Marut)
dehe : im Körper (Deha)
yāvat : solange wie
cittam : der Geist (Chitta)
nirāmayam : makellos ("frei von Krankheit", Niramaya)
yāvat : solange wie
dṛṣṭiḥ : der Blick (Drishti)
bhruvoḥ : beider Brauen (Bhru)
madhye : in der Mitte, zwischen (Madhya)
tāvat : solange (Tavat)
kāla-bhayam : Furcht (Bhaya) vor dem Tod ("Zeit", Kala)
kutaḥ : woher (sollte kommen, Kutas)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 91 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit einer Lesart in der Hatha Yoga Pradipika (2.40) überliefert: diese liest nirākulam "nicht verwirrt" statt nirāmayam im zweiten Pada. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 91) überliefert Pada 1 und 3-4 identisch, liest jedoch im zweiten Pada tāvaj jīvo na muñcati "solange entrinnt das Leben nicht" und wiederholt damit (vielleicht aufgrund eines Kopierfehlers) den zweiten Pada des vorangehenden Verses (YCU 90, siehe Vers 91 der Version 2 des Goraksha Shataka).

Das "Festhalten" des Atems bzw. der Lebensenergie (Prana) bezieht sich auf die Technik der Atemverhaltung (Kumbhaka).

Vers 93: Pranayama

Daher widmet sich sogar der Gott Brahma, aus Furcht vor dem Tod, eifrig der Atemkontrolle (Pranayama), und ebenso die Yogis und Weisen. Darum soll man den Atem anhalten.


अतः कालभयाद्ब्रह्मा प्राणायामपरायणः |
योगिनो मुनयश्चैव ततो वायुं निरोधयेत् || ९३ ||
ataḥ kāla-bhayād brahmā prāṇāyāma-parāyaṇaḥ |
yogino munayaś caiva tato vāyuṃ nirodhayet || 93 ||
atah kala-bhayad brahma pranayama-parayanah |
yogino munayash chaiva tato vayum nirodhayet || 93 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ataḥ : daher (Atas)
kāla-bhayāt : aus Furcht (Bhaya) vor dem Tod ("der Zeit", Kala)
brahmā : (sogar der Gott) Brahma
prāṇāyāma-parāyaṇaḥ : widmet sich eifrig der Atemkontrolle (Pranayama-Parayana)
yoginaḥ : die Yogis (Yogin)
munayaḥ : die Weisen (Muni)
ca : und (Cha)
eva : ebenso (Eva)
tataḥ : deshalb, daher (Tatas)
vāyum : den Atem, ("Wind", Vayu)
nirodhayet : man soll kontrollieren, anhalten ("einsperren", ni + rudh)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 92 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati mit ein paar Lesarten als Vers 38 der Version 1 des Goraksha Shataka überliefert. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 92) liest im ersten Pada alpa-kāla-bhayād "aufgrund der Furcht (Bhaya) vor zuwenig (Alpa Lebens-)Zeit (Kala)" statt ataḥ kāla-bhayād, sowie im vierten Pada prāṇān "die Lebenshauche" (Prana) statt vāyuṃ.

In der Hatha Yoga Pradipika (2.39) heißt es ganz ähnlich:

brahmādayo’pi tri-daśāḥ pavanābhyāsa-tat-parāḥ |
abhūvann antaka-bhayāt tasmāt pavanam abhyaset || 2.39 ||

"Sogar die dreißig Götter (Tridasha), beginnend mit Brahma, sind aus Furcht (Bhaya) vor dem Tod (Antaka) eifrig der Atempraxis (Pavana-Abhyasa) hingegeben. Daher übe man die (Beherrschung des Lebens-)Windes (Pavana)." (HYP 2.39)

Vers 94: Pranayama

Der Atem (Hamsa) geht durch den linken und rechten Nasengang 36 Fingerbreiten weit nach draußen. Daher wird er Atem (Prana) genannt.


षट्त्रिंशदङ्गुलो हंसः प्रयाणं कुरुते बहिः |
वामदक्षिणमार्गेण ततः प्राणोऽभिधीयते || ९४ ||
ṣaṭ-triṃśad-aṅgulo haṃsaḥ prayāṇaṃ kurute bahiḥ |
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa tataḥ prāṇo'bhidhīyate || 94 ||
shat-trimshad-angulo hamsaḥ prayanaṃ kurute bahih |
vama-dakshina-margena tatah prano'bhidhiyate || 94 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

ṣaṭ-triṃśad-aṅgulaḥ : (im Ausmaß von) 36 (Shattrimshat) Fingerbreiten (Angula)
haṃsaḥ : der Atem, die Individualseele ("Ganter", Hamsa)
prayāṇam : eine Bewegung ("Gang", Prayana)
kurute : macht (kṛ)
bahiḥ : nach draußen (Bahis)
vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa : durch den linken (Vama) und rechten (Dakshina) Gang, Kanal ("Weg", Marga)
tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
prāṇaḥ : Atem (Prana)
abhidhīyate : wird er genannt (abhi + dhā)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 40 der Version 1 des Goraksha Shataka und als Vers 93 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati überliefert (vgl. die dortige Anm.). Die Yogachudamani Upanishad (Vers 93) liest im ersten Pada ṣaḍ-viṃśad-aṅgulīr "26 Finger(breiten, Anguli)" statt ṣaṭ-triṃśad-aṅgulo, sowie im vierten Pada prāṇāyāmo vidhīyate "(so) wird die Atemregelung (Pranayama) ausgeführt" statt tataḥ prāṇo'bhidhīyate.

Vers 95: Pranayama

Wenn das gesamte Netzwerk der feinstofflichen Energiekanäle, das voller Verunreinigungen war, gereinigt ist, dann wird der Yogi fähig, die Lebensenergie (im Körper) festzuhalten (bzw.: den Atem anzuhalten).


शुद्धिमेति यदा सर्वं नाडीचक्रं मलाकुलम् |
तदैव जायते योगी प्राणसङ्ग्रहणे क्षमः || ९५ ||
śuddhim eti yadā sarvaṃ nāḍī-cakraṃ malākulam |
tadaiva jāyate yogī prāṇa-saṅgrahaṇe kṣamaḥ || 95 ||
shuddhim eti yada sarvam nadi-chakram malakulam |
tadaiva jayate yogi prana-sangrahane kshamah || 95 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

śuddhim : zur Reinheit (Shuddhi)
eti : gelangt ("geht", i)
yadā : wenn (Yada)
sarvam : das ganze, gesamte (Sarva)
nāḍī-cakram : Netzwerk ("Menge", Chakra) aus feinstoffliche Energiekanälen, Nerven (Nadi)
malākulam : voller (Akula) Verunreinigungen (Mala)
tadā : dann (Tada)
eva : erst, genau (Eva)
jāyate : wird (jan)
yogī : der Yogi (Yogin)
prāṇa-saṅgrahaṇe : (hinsichtlich) des Festhaltens, Kontrollierens ("Ergreifens", Sangrahana) des Lebensatems, der Lebensenergie (Prana)
kṣamaḥ : fähig (Kshama)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 94 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und mit der Lesart prāṇa-saṅgrahaṇa-kṣamaḥ statt prāṇa-saṅgrahaṇe kṣamaḥ in der Yogachudamani Upanishad (Vers 94) überliefert. Upanishad Brahma Yogin, der Kommentator der YCU, erklärt hierzu, dass insbesondere die Fähigkeit (Shakti) zur Praxis von Kevala Kumbhaka entsteht bzw. gemeint sei: kevala-kumbhaka-śaktir bhavati.

Vers 96: Wechselatmung: Einatmung links

Der Yogi, der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen hat, soll durch das linke Nasenloch einatmen, und nachdem er (den Atem) nach Vermögen angehalten hat, durch das rechte Nasenloch wieder ausatmen.


बद्धपद्मासनो योगी प्राणं चन्द्रेण पूरयेत् |
धारयित्वा यथाशक्ति भूयः सूर्येण रेचयेत् || ९६ ||
baddha-padmāsano yogī prāṇaṃ candreṇa pūrayet |
dhārayitvā yathā-śakti bhūyaḥ sūryeṇa recayet || 96 ||
baddha-padmasano yogi pranam chandrena purayet |
dharayitva yatha-shakti bhuyah suryena rechayet || 96 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

baddha-padmāsanaḥ : der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen ("gebunden", Baddha) hat
yogī : der Yogi (Yogin)
prāṇam : den Atem (Prana)
candreṇa : durch den Mond(kanal, das linke Nasenloch, Chandra)
pūrayet : atme ein ("fülle", pṛ/pṝ)
dhārayitvā : nachdem er (den Atem) angehalten hat (dhṛ)
yathā-śakti : nach Vermögen ("wie es in seiner Macht steht", Yathashakti)
bhūyaḥ : wieder (Bhuyas)
sūryeṇa : durch den Sonne(nkanal, das rechte Nasenloch, Surya)
recayet : atme aus ("leere", ric)

Anmerkung: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 95 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati und als Vers 43 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.) sowie in der Hatha Yoga Pradipika (2.7) überliefert. Die Yogachudamani Upanishad (Vers 95) liest im dritten Pada dhārayed vā yathā-śaktyā "man halte (den Atem) wahlweise nach Vermögen an" statt dhārayitvā yathā-śakti.

Vers 97: Wechselatmung: Einatmung links mit Visualisierung

Indem der die Atemregulierung Praktizierende auf das (visualisierte) Abbild des Mondes, den Nektar, der (der Farbe von) Sauermilch, Kuhmilch oder Silber gleicht, meditiert, sei er voller Wonne.


अमृतं दधिसङ्काशं गोक्षीररजतोपमम् |
ध्यात्वा चन्द्रमसो बिम्बं प्राणायामी सुखी भवेत् || ९७ ||
amṛtaṃ dadhi-saṅkāśaṃ go-kṣīra-rajatopamam |
dhyātvā candramaso bimbaṃ prāṇāyāmī sukhī bhavet || 97 ||
amritam dadhi-sankasham go-kshira-rajatopamam |
dhyatva chandramaso bimbam pranayami sukhi bhavet || 97 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

amṛtam : den Nektar (Amrita)
dadhi-saṅkāśam : der Sauermilch (Dadhi) gleicht (Sankasha)
go-kṣīra-rajatopamam : der Kuhmilch (Gokshira) oder Silber (Rajata) gleicht (Upama)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
candramasaḥ : des Mondes (Chandramas)
bimbam : auf das (visualisierte) Abbild (Bimba)
prāṇāyāmī : der die Atemregulierung, Atemverhaltung Praktizierende (Pranayamin)
sukhī : glücklich, voller Wohlbehagen (Sukhin)
bhavet : werde, sei (bhū)

Anmerkung: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 44 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.), als Vers 96 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 96) überliefert. Im ersten Pada lesen GŚ 1, 44 und YCU 96 amṛtodadhi-saṅkāśaṃ "der dem Nektarmeer (Amritodadhi) gleicht (Sankasha)" statt amṛtaṃ dadhi-saṅkāśaṃ.

Vers 98: Wechselatmung: Einatmung rechts

Dann soll (der Yogi) rechts einatmend langsam den Bauch füllen, und nachdem er (den Atem) in der vorgeschriebenen Weise angehalten hat, durch das linke Nasenloch wieder ausatmen.


दक्षिणो श्वासमाकृष्य पूरयेदुदरं शनैः |
कुम्भयित्वा विधानेन पुरश्चन्द्रेण रेचयेत् || ९८ ||
dakṣiṇo śvāsam ākṛṣya pūrayed udaraṃ śanaiḥ |
kumbhayitvā vidhānena puraś candreṇa recayet || 98 ||
dakshino shvasam akrishya purayed udaram shanaih |
kumbhayitva vidhanena purash chandrena recayet || 98 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

dakṣiṇaḥ : rechts ("die rechte Seite", Dakshina, vgl. die Anm.)
śvāsam : den Atem (Shvasa)
ākṛṣya : einziehend ("eingezogen habend", ā + kṛṣ)
pūrayet : er fülle (pṛ/pṝ)
udaram : den Bauch (Udara)
śanaiḥ : langsam (Shanais)
kumbhayitvā : nachdem er (den Atem) angehalten hat ("angehalten habend", kumbhay)
vidhānena : in der vorgeschriebenen Weise (Vidhana)
puraḥ : vorher, zuerst, nach vorn (Puras, vgl. die Anm.)
candreṇa : durch den Mond(kanal, das linke Nasenloch, Chandra)
recayet : er atme aus ("entleere", ric)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit einigen Lesarten als Vers 45 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.), als Vers 97 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, sowie in der Hatha Yoga Pradipika (2.8) überliefert. In der Yogachudamani Upanishad fehlt er.

In der vorliegenden Version liegen möglicherweise zwei Überlieferungs- oder Editions- bzw. Druckfehler vor (Briggs gedruckte Ausgabe der Version 2 des Goraksha Shataka, auf der der E-Text beruht, wimmelt von Druckfehlern). Der Nominativ dakṣiṇo "die rechte Seite" im ersten Pada ist ungrammatisch und möglicherweise für dakṣiṇe (so GP 1.97) "auf der rechten Seite" verlesen. Auch eine ursprüngliche Lesung dakṣeṇa "durch den rechten (Nasengang)" wäre denkbar, vgl. GŚ 1, 45 und HYP 2.8: prāṇaṃ sūryeṇa cākṛṣya "indem er den Atem (Prana) durch das rechte Nasenloch (wörtl: 'durch die Sonne', Surya) zieht".

Die Lesung puraś "vorher, zuerst" im vierten Pada ist wohl durch punaś "wieder" (= HYP 2.8 u. GP 1.97) zu korrigieren. GŚ 1, 45 liest in diesem Sinne bhūyaś "wieder".

Vers 99: Wechselatmung: Einatmung rechts mit Visualisierung

Indem der die Atemregulierung Praktizierende auf die im Bereich des Nabels (visualisierte) Sonnenscheibe als ein intensives Licht eines brennenden Feuers meditiert, sei er voller Wonne.


प्रज्वलज्ज्वलनज्वालापुञ्जमादित्यमण्डलम् |
ध्यात्वा नाभिस्थितं योगी प्राणायामे सुखी भवेत् || ९९ ||
prajvalaj-jvalana-jvālā-puñjam āditya-maṇḍalam |
dhyātvā nābhi-sthitaṃ yogī prāṇāyāmī sukhī bhavet || 99 ||
prajvalaj-jvalana-jvala-punjam aditya-mandalam |
dhyatva nabhi-sthitam yogi pranayami sukhi bhavet || 99 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prajvalaj-jvalana-jvālā-puñjam : als eine Menge (Punja) Licht (Jvala) eines brennenden (pra + jval) Feuers (Jvalana)
āditya-maṇḍalam : auf die (visualisierte) Sonnenscheibe (Adityamandala)
dhyātvā : indem er meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
nābhi-sthitaṃ : die sich am Nabel (Nabel) befindet (Sthita)
yogī : der Yogi (Yogin)
prāṇāyāmī : der die Atemregulierung, Atemverhaltung Praktizierende (Pranayamin)
sukhī : glücklich, voller Wohlbehagen (Sukhin)
bhavet : werde er, sei er (bhū)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich als Vers 98 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, mit einer Variante als Vers 46 der Version 1 des Goraksha Shataka (vgl. die dortige Anm.) sowie mit einigen Lesarten in der Yogachudamani Upanishad (Vers 97) überliefert. Letztere liest im dritten Pada hṛdi sthitaṃ "die sich im Herzen (Hrid) befindet" statt nābhi-sthitaṃ. Dies ist insofern ungewöhnlich, als die innere "Sonne" in den Hatha Yoga-Texten in der Regel in der Nabelgegend verortet wird, wie bspw. in Vers 57 der Version 1 des Goraksha Shataka, wo es im Zusammenhang der Praxis von Viparita Karani heißt: nābhi-deśe bhavaty eko bhāskaro dahanātmakaḥ ... "In der Region (Desha) des Nabels (Nabhi) existiert eine immer brennende Sonne (Bhaskara) ...".

Daher liegt es nahe, wie im vorliegenden Vers die Visualisierung der inneren "Sonnenscheibe" (Adityamandala) auch auf diesen Körperbereich zu richten. Abgesehen davon kann im Rahmen einer meditativen Praxis natürlich Licht auch in jedem anderen Bereich innerhalb oder außerhalb des Körpers visualisiert werden (vgl. Trilakshya in der Anm. zu Vers 13 der Version 1 des Goraksha Shataka).

Die in den Versen 97 und 99 im Zusammenhang der Wechselatmung gelehrte innerliche Visualisierung der Mond- bzw. Sonnenscheibe bezieht sich möglicherweise auch nur auf die Phase der Atemverhaltung, wenn man das dem Wort Pranayamin zugrundeliegende Pranayama im engsten Wortsinn versteht, wo es "das Anhalten des Atems (Prana)", also Kumbhaka bedeutet, vgl. die Anm. zu Vers 4 der Version 1 des Goraksha Shataka, wo Pranasamyama (d.h. Pranayama) als das zweite der sechs Glieder des Hatha Yoga aufgezählt wird.

Vers 100: Wechselatmung mit Visualisierung

Wenn (der Yogi) den Atem durch das linke Nasenloch (Ida) einzieht, soll er, nachdem er ihn maßvoll (angehalten hat), wieder durch das andere Nasenloch ausatmen. Wenn er den Atem durch das rechte Nasenloch (Pingala) eingezogen hat, soll er ihn anhalten, und dann durch das linke (Nasenloch) ausatmen. (Indem er) in dieser Weise in Verbindung mit der (jeweiligen) Meditation auf (eines der) beiden (innerlich visualisierten) Abbilder von Sonne und Mond (praktiziert), werden sämtliche (feinstofflichen) Energiekanäle des Yogi innerhalb von drei Monaten gereinigt.


प्राणं चेदिडया पिबेत्परिमितं भूयोऽन्यया रेचयेत्
पीत्वा पिङ्गलया समीरणमथो बद्ध्वा त्यजेद्वामया |
सूर्यचन्द्रमसोरनेन विधिना बिम्बद्वयं ध्यायतः
शुद्धा नाडिगणा भवन्ति यमिनो मासत्रयादूर्ध्वतः || १०० ||
prāṇaṃ ced iḍayā pibet parimitaṃ bhūyo'nyayā recayet
pītvā piṅgalayā samīraṇam atho baddhvā tyajed vāmayā |
sūrya-candramasor anena vidhinā bimba-dvayaṃ dhyāyataḥ
śuddhā nāḍi-gaṇā bhavanti yamino māsa-trayād ūrdhvataḥ || 100 ||
pranam ched idaya pibet parimitam bhuyo’nyaya rechayet
pitva pingalaya samiranam atho baddhva tyajed vamaya |
surya-chandramasor anena vidhina bimba-dvayam dhyayatah
shuddha nadi-gana bhavanti yamino masa-trayad urdhvatah || 100 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

prāṇam : den Atem, die Lebensenergie (Prana)
ced : wenn (Ched)
iḍayā : durch Ida (den Mondkanal, das linke Nasenloch)
pibet : man einatmet (den Atem "einsaugt", )
parimitam : den (bei gefüllter Lunge) angehaltenen ("beschränkten" Atem, Parimita)
bhūyaḥ : wieder (Bhuyas)
anyayā : durch den anderen (Kanal, das andere Nasenloch, Anya)
recayet : man soll ausatmen (ric)
pītvā : nachdem man eingeatmet hat (“eingesaugt” hat, )
piṅgalayā : durch Pingala (den Sonnenkanal, das rechte Nasenloch)
samīraṇam : den) Atem ("Wind", Samirana)
atho : nun, dann (Atha U)
baddhvā : nachdem man angehalten hat (bandh)
tyajet : man entlasse (ihn, tyaj)
vāmayā : durch den linken (Kanal, das linke Nasenloch, Vama)
sūrya-candramasoḥ : von Sonne (Surya) und Mond (Chandramas)
anena : auf diese (Idam)
vidhinā : Art (und Weise, Vidhi)
bimba-dvayam : auf die beiden (Dvaya) Abbilder (Bimba)
dhyāyataḥ : des meditierenden (dhyā)
śuddhāḥ : rein (Shuddha)
nāḍi-gaṇāḥ : die Scharen (Gana) der feinstofflichen Energie-)Kanäle, (Nadi)
bhavanti : werden (bhū)
yaminaḥ : des sich zügelnden (Yogis, Yamin)
māsa-trayāt : drei ("einer Dreiheit von", Traya) Monat(en, Masa)
ūrdhvataḥ : nach (Urdhva)

Anmerkungen: Dieser Vers wird nahezu wortwörtlich als Vers 99 des 1. Shataka der Goraksha Paddhati, mit ein paar Lesarten in der Hatha Yoga Pradipika (2.10) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 98) überliefert. Letztere liest im dritten Pada bindu-dvayam "die beiden Punkte" statt bimba-dvayam, wobei mit Bindu entweder auf die beiden innerlich visualisierten (symbolischen) Abbilder von Sonne und Mond bezug genommen wird (Bindu kann auch ein innerlich wahrgenommenes Licht bedeuten), oder es sind die beiden in YCU 60 erwähnten Arten des Bindu (Shukra und Maharajas) gemeint (vgl. Vers 72 der Version 2 des Goraksha Shataka). Diese haben ihren Sitz jeweils in der körperlichen Entsprechung von "Mond" und "Sonne" (vgl. YCU 61 bzw. GŚ 2, 73).

In HYP 2.10 fehlt dieser Aspekt der Meditation bzw. Visualisierung. Dort heißt es im dritten Pada sūrya-candramasor anena vidhinābhyāsaṃ sadā tanvatāṃ, wobei sich "Sonne" und "Mond" wieder auf Pingala und Ida im ersten Halbvers beziehen: "(der Yogis), die in dieser Weise die Praxis (Abhyasa) von Sonnen- und Mond(kanal) kontinuierlich ausüben ..."

Vers 101: Resultate der Wechselatmung

Aufgrund der Reinigung der (feinstofflichen Energie-)Kanäle kann man den Atem nach Belieben anhalten, das Verdauungsfeuer wird entfacht, der innere Klang wird offenbar, und (umfassende) Gesundheit stellt sich ein.


यथेष्टं धारणं वायोरनलस्य प्रदीपनम् |
नादाभिव्यक्तिरारोग्यं जायते नाडिशोधनात् || १०१ ||
yatheṣṭaṃ dhāraṇaṃ vāyor analasya pradīpanam |
nādābhivyaktir ārogyaṃ jāyate nāḍi-śodhanāt || 101 ||
yatheshtam dharanam vayor analasya pradipanam |
nadabhivyaktir arogyam jayate nadi-shodhanat || 101 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

yatheṣṭam : nach Belieben ("wie gewünscht", Yatheshta)
dhāraṇam : das Anhalten (Dharana)
vāyoḥ : des Atems, von Prana ("Windes", Vayu)
analasya : des (Verdauungs-)Feuers (Anala)
pradīpanam : das) Auflodern, Entfachen (Pradipana)
nādābhivyaktiḥ : das Offenbarwerden, Erscheinen (Abhivyakti) des inneren ("unangeschlagenen") Klanges (Nada)
ārogyam : Gesundheit ("Nichtkrankheit", Arogya)
jāyate : entsteht (jan)
nāḍi-śodhanāt : aufgrund der Reinigung der (feinstofflichen Energie-)Kanäle (Nadi Shodhana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird wortwörtlich in der Hatha Yoga Pradipika (2.20) überliefert, wo er den Abschnitt zur Wechsel- bwz. Reinigungsatmung abschließt. In der Yogachudamani Upanishad erscheint er als Vers 99, sowie im 1. Shataka der Goraksha Paddhati als Vers 100.

Mit diesem Vers endet die Version 2 des Goraksha Shataka. Von den in GŚ 1, 4 aufgezählten sechs Gliedern des Hatha Yoga werden hier nur die ersten beiden, Asana und Pranasamyama (d.h. Pranayama), explizit behandelt. Dies zeigt, das diese Version des Goraksha Shataka eine sekundäre ist, die vieles ergänzt, was in der ersten Version nur kurz ausgeführt ist, wobei viele Verse mehr oder weniger wörtlich auch in der Hatha Yoga Pradipika zu finden sind.

Aus textgeschichtlicher Sicht handelt es sich bei der Version 2 des Goraksha Shataka bis auf geringe Abweichnungen Vers für Vers um den ersten Teil eines älteren, ebenfalls aus zwei Shatakas bestehenden Textes namens Goraksha Paddhati, der auch als Goraksha Samhita ("die Sammlung des Goraksha") bekannt ist.

Eine große Anzahl von Versen erscheint auch in der Yogachudamani Upanishad, oft sogar in derselben Reihenfolge. Letztere besteht nahezu ausschließlich aus Versen, die auch in anderen Hatha Yoga-Texten (insbesondere der Goraksha Paddhati) vorkommen, was den kompilativen Charakter dieser Yoga Upanishad deutlich macht.

Schluss

Somit endet das Goraksha Shataka, die hundert Verse des Goraksha.


इति गोरक्षशतकं सम्पूर्णम् |
iti gorakṣa-śatakaṃ sampūrṇam ||
iti goraksha-shatakam sampūrṇam ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

iti : so (Iti)
gorakṣa-śatakam : die hundert Verse (Shataka) des Goraksha
sampūrṇam : sind vollendet ("vollständig", Sampurna)

Konkordanz der Verse des Goraksha Shataka (Version 2 und 1), der Goraksha Paddhati, der Yogachudamani Upanishad, der Hatha Yoga Pradipika und weiterer Texte

Diese Übersicht betrachtet die Verse der Version 2 des Goraksha Shataka im Vergleich mit identischen oder ähnlich lautenden Versen der Version 1 des Goraksha Shataka, der Goraksha Paddhati, der Yogachudamani Upanishad, des Viveka Martanda, der Yoga Tarangini Tika sowie der Hatha Yoga Pradipika. 42 Verse sind der Version 1 des Goraksha Shataka entnommen bzw. stellen Varianten derselben dar, 64 Verse erscheinen in identischer oder ähnlicher Form in der Yogachudamani Upanishad. 32 der in GŚ 1 und YCU überlieferten Verse sind zugleich in der Hatha Yoga Pradipika zu finden.

Die Buchstaben ab / cd (ef) bezeichnen die vier (bzw. sechs) Versviertel (Pada). Aufgrund der in einigen Teilen von GŚ 1/2 und HYP abweichenden Versteilung und -numerierung der YCU ergibt es sich, dass manche der Verse von GŚ 1/2 bzw. HYP zwei Halbversen der YCU entsprechen. Bspw. bedeutet GŚ 2 34 YCU ~ 23 cd / 24 ab, dass dem Vers 34 der Version 2 des Goraksha Shataka der zweite Halbvers (cd) von YCU 23 und der erste Halbvers (ab) von YCU 24 weitestgehend entspricht (~).


Abkürzungen:

  • GŚ 2 Goraksha Shataka (Version 2)
  • GŚ 1 Goraksha Shataka (Version 1)
  • GP Goraksha Paddhati
  • YCU Yogachudamani Upanishad
  • VM Viveka Martanda
  • YTṬ Yoga Tarangini Tika
  • HYP Hatha Yoga Pradipika
  • GhS Gheranda Samhita
  • ŚS Shiva Samhita
  • SSP Siddha Siddhanta Paddhati
  • ĀK Anandakanda
  • ab / cd erstes und zweites / drittes und viertes Versviertel
  • ef fünftes und sechstes Versviertel
  • = ist identisch mit
  • ~ ist ähnlich, weicht mehr oder weniger stark ab von


GŚ 2 GŚ 1 GP YCU VM YTṬ HYP weitere Texte
1 = 1.1 = 1 = 1.1
2 = 2 = 1.2
3 = 1.2 = 3 = 1.3
4 (ab) ~ 1.3 (~ 1 ab) ~ 1.4
5 ~ 2 = 1.4 = 4 = 1.5
6 ~ 3 = 1.5 ~ 5 = 1.6
7 ~ 4 = 1.6 ~ 2 ~ 6 = 1.7
8 (ab) ~ 5 ~ 1.7 = 10 ~ 1.8 ~ GhS 2.1 ab
9 (a / d) ~ 6 = 1.8 ~ 11 = 1.9 ~ GhS 2.1 c / = 2.2 b
10 ab / cd ~ 7 ~ 1.9 ~ / 3 ab ~ 12 ~ 1.10
11 ~ 8 ~ 1.10 = 13 ~ 1.11 ~ 1.37 ~ GhS 2.7
12 ~ 9 = 1.11 ~ 14 = 1.12 ~ 1.46 = GhS 2.8
13 ~ 1.12 ~ 3 cd / 4 ab ~ 1.13 ~ SSP 2.31
14 ~ 1.13 ~ 1.14
15 ~ 1.14 ~ 4 cd / 5 ab = 17 ~ 1.15
16 = 1.15 ~ 5 cd / 6 ab = 18 = 1.16
17 = 10 = 1.16 = 6 cd / 7 ab = 19 = 1.17
18 ~ 11 ~ 1.17 ~ 7 cd / 8 ab ~ 20 ~ 1.18
19 ~ 12 ~ 1.18 ~ 8 cd / 9 ab = 21 = 1.19
20 ~ 13 = 1.19 = 9 cd / 10 ab = 22 = 1.20
GŚ 2 GŚ 1 GP YCU VM YTṬ HYP weitere Texte
21 ~ 1.20 ~ 10 cd / 11 ab, 113 = 23 = 1.21
22 ~ 14 ~ 1.21 ~ 11 cd / 12 ab ~ 25 ~ 1.22
23 = 15 = 1.22 ~ 12 cd / 13 ab = 26 = 1.23
24 = 1.23 = 13 cd / 14 ab = 27 = 1.24
25 ~ 16 ~ 1.24 ~ 14 cd / 15 ab = 28 = 1.25
26 ~ 17 ~ 1.25 ~ 15 cd / 16 ab ~ 29 ~ 1.26
27 = 18 = 1.26 ~ 16 cd / 17 ab = 30 = 1.27
28 = 19 = 1.27 ~ 17 cd / 18 ab = 31 = 1.28
29 ~ 20 = 1.28 ~ 18 cd / 19 ab ~ 32 = 1.29
30 ~ 21 ~ 1.29 ~ 19 cd / 20 ab ~ 33 ~ 1.30
31 ~ 22 ~ 1.30 ~ 20 cd / 21 ab ~ 34 ~ 1.31
32 ~ 23 = 1.31 ~ 21 cd / 22 ab ~ 35 ~ 1.32
33 ~ 24 = 1.32 ~ 22 cd / 23 ab ~ 36 ~ 1.33
34 ~ 1.33 ~ 23 cd / 24 ab ~ 37 cd / 38 ab ~ 1.34
35 ab / cd / ~ 25 ab ~ 1.34 ~ 24 cd ~ 38 cd / 37 ab ~ 1.35
36 = 1.35 ~ 25 ~ 39 ~ 1.36
37 ab / cd / ~ 25 cd ~ 1.36 ~ 26 ~ 40 = 1.37
38 ~ 27 = 1.37 = 27 = 41 = 1.38
39 = 26 = 1.38 ~ 28 = 42 = 1.39
40 = 28 = 1.39 ~ 29 = 43 = 1.40
GŚ 2 GŚ 1 GP YCU VM YTṬ HYP weitere Texte
41 ~ 29 = 1.40 ~ 30 cd / 31 ab = 44 = 1.41
42 (ab / d) = 1.41 = 31 cd / 32 ab = 45 = 1.42 ~ GhS 5.86 cd / = 5.87 d
43 = 1.42 ~ 32 cd / 33 ab ~ 46 = 1.43 ~ GhS 5.87
44 (a) = 1.43 ~ 33 cd / 34 ab ~ 47 = 1.44 ~ GhS 5.87 c
45 = 1.44 = 34 cd / 35 ab = 48 = 1.45
46 = 1.45 ~ 35 cd / 36 ab = 51 = 1.46
47 ~ 30 ~ 1.46 ~ 36 cd / 37 ab ~ 53 ~ 1.47
48 ~ 1.47 ~ 37 cd / 38 ab = 54 = 1.48 ~ 3.106
49 ~ 31 ~ 1.48 ~ 38 cd / 39 ab ~ 55 = 1.49
50 ~ 1.49 ~ 52 = 1.50
51 = 1.50 ~ 39 cd / ef = 56 = 1.51 ~ 3.105 ~ GhS 3.51
52 ~ 1.51 ~ 40 ~ 57 ~ 1.52 ~ 1.50
53 ~ 50 ~ 1.52 ~ 41 ~ 58 = 1.53
54 = 1.53 ~ 42 = 59 = 1.54 = 1.59
55 ~ 1.54 ~ 43 ~ 60 ~ 1.55 ~ 1.60
56 (ab) ~ 1.55 ~ 44 ~ 53 ab ~ 1.56 ~ 3.107
57 ~ 32 ~ 1.56 ~ 45 ~ 61 = 1.57 ~ 3.6 ~ GhS 3.1 a-c
58 ~ 1.75 = 65 ~ 81 = 1.77
59 ~ 33 ~ 1.57 ~ 66 ~ 82 = 1.78
60 = 1.58 ~ 67 ~ 83 ~ 1.79 ~ 3.15
GŚ 2 GŚ 1 GP YCU VM YTṬ HYP weitere Texte
61 ~ 1.59 ~ 68 = 84 ~ 1.80 ~ 3.16
62 ~ 1.60 ~ 69 ~ 85 ~ 1.81 = 3.17
63 ~ 1.61 ~ 70 ~ 86 ~ 1.82 ~ 3.18
64 = 34 = 1.62 = 52 = 68 = 1.64 = 3.32 ~ GhS 3.27
65 ~ 1.63 = 53 = 70 = 1.65 ~ 3.39 vgl. GhS 3.28
66 ~ 1.64 ~ 54 ~ 71 = 1.66 ~ 3.40
67 ~ 1.65 ~ 55 ~ 69 = 1.67 ~ 3.41
68 ~ 1.66 ~ 56 ~ 72 ~ 1.68 vgl. 3.90
69 = 1.67 ~ 57 = 73 = 1.69 ~ 3.42
70 ab / cd ~ 1.68 = 58 ~ 74 = 1.70 ~ 3.89 cd ~ ĀK 1.20.95
71 = 1.69 ~ 59 = 75 ~ 1.71 ~ 3.43
72 ~ 1.70 ~ 60 ~ 76 ~ 1.72 vgl. ĀK 1.20.97 cd/98 cd
73 ~ 1.71 ~ 61 ~ 77 = 1.73
74 ~ 1.72 ~ 62 ~ 78 = 1.74
75 ~ 1.73 ~ 63 ~ 79 ~ 1.75 vgl. ĀK 1.20.100
76 = 1.74 ~ 64 ~ 80 = 1.76
77 abc / d = / 35 d ~ 1.76 ~ 48 ~ 64 = 1.60 = 3.56 abc / 57 d ~ GhS 3.10 c-f; ~ ŚS 4.73 cd
78 abc / d ~ 1.77 ~ 49 ~ 65 ~ 1.61 ~ 3.57 ac / 3.56 d ~ GhS 3.10 ab
79 ~ 1.78 ~ 50 ~ 66 ~ 1.62 ~ 3.71
80 = 36 = 1.79 ~ 51 = 67 ~ 1.63 = 3.72
GŚ 2 GŚ 1 GP YCU VM YTṬ HYP weitere Texte
81 ~ 37 = 1.80 ~ 46 ~ 63 = 1.58 ~ 3.61
82 ~ 1.81 ~ 47 ~ 62 = 1.58 ~ 3.65
83 = 1.82 = 71 = 87 = 1.83
84 = 1.83 = 84 ~ 88 = 1.84
85 = 1.84 = 89 = 1.85
86 ~ 1.85 ~ 86 ~ 91 ~ 1.86
87 ~ 1.86 ~ 1.87
88 = 1.87 ~ 87 ~ 1.88
89 cd ~ 1.88 ~ 88 ~ 92 ~ 1.89 = BhG 5.10 cd
90 ~ 1.89 ~ 89 ~ 93 = 1.90 ~ 2.2
91 ~ 1.90 ~ 90 ~ 95 ~ 1.91 ~ 2.3
92 = 1.91 ~ 91 ~ 94 ~ 1.92 ~ 2.40
93 ~ 38 = 1.92 ~ 92 ~ 96 ~ 1.93 vgl. 2.39
94 = 40 = 1.93 ~ 93 = 1.94
95 = 1.94 = 94 ~ 97 = 1.95
96 = 43 = 1.95 ~ 95 ~ 98 = 1.96 = 2.7
97 ~ 44 ~ 1.96 ~ 96 ~ 99 ~ 1.97
98 ~ 45 = 1.97 ~ 100 = 1.98 ~ 2.8
99 ~ 46 = 1.98 ~ 97 ~ 101 = 1.99
100 ~ 1.99 ~ 98 ~ 102 ~ 1.100 ~ 2.10
101 ~ 1.100 = 99 ~ 103 = 1.101 = 2.20

Sanskrit Text Goraksha Shataka Version 2

Hier folgt die zweite Version vom Goraksha Shataka, basierend auf der Ausgabe von George Weston Briggs "Gorakhnath and the Kanphata Yogis" (1938, nicht korrigierte Online-Fassung):

gorakṣa-śatakam
oṃ haṭha-yoga-gorakṣa-śataka-prārambhaḥ


śrī-guruṃ paramānandaṃ vande svānanda-vigraham /

yasya saṃnidhya-mātreṇa cidānandāyate tanuḥ // GorS(2)_1 //

antar-niścalitātma-dīpa-kalikā-svādhāra-bandhādibhiḥ yo yogī yuga-kalpa-kāla-kalanāt tvaṃ jajegīyate /

jñānāmoda-mahodadhiḥ samabhavad yatrādināthaḥ svayaṃ vyaktāvyakta-guṇādhikaṃ tam aniśaṃ śrī-mīnanāthaṃ bhaje // GorS(2)_2 //

namaskṛtya guruṃ bhaktyā gorakṣo jñānam uttamam /

abhīṣṭaṃ yogināṃ brūte paramānanda-kārakam // GorS(2)_3 //

gorakṣaḥ śatakaṃ vakti yogināṃ hita-kāmyayā /

dhruvaṃ yasyāvabodhena jāyate paramaṃ padam // GorS(2)_4 //

etad vimukti-sopānam etat kālasya vañcanam /

yad vyāvṛttaṃ mano mohād āsaktaṃ paramātmani // GorS(2)_5 (=1|2) //

dvija-sevita-śākhasya śruti-kalpa-taroḥ phalam /

śamanaṃ bhava-tāpasya yogaṃ bhajati sajjanaḥ // GorS(2)_6 (=1|3) //

āsanaṃ prāṇa-saṃyāmaḥ pratyāhāro'tha dhāraṇā /

dhyānaṃ samādhir etāni yogāṅgāni bhavanti ṣaṭ // GorS(2)_7 (=1|4) //

āsanāni tu tāvanti yāvatyo jīva-jātayaḥ /

eteṣām akhilān bhedān vijānāti maheśvaraḥ // GorS(2)_8 (=1|5) //

caturāśīti-lakṣāṇāṃ ekam ekam udāhṛtam /

tataḥ śivena pīṭhānāṃ ṣoḍeśānaṃ śataṃ kṛtam // GorS(2)_9 (=1|6) //

āsanebhyaḥ samastebhyo dvayam eva viśiṣyate /

ekaṃ siddhāsanaṃ proktaṃ dvitīyaṃ kamalāsanam // GorS(2)_10 (=1|7) //

yoni-sthānakam aṅghri-mūla-ghaṭitaṃ kṛtvā dṛḍhaṃ vinyasen meḍhre pādam athaikam eva niyataṃ kṛtvā samaṃ vigraham /

sthāṇuḥ saṃyamitendriyo'cala-dṛśā paśyan bhruvor antaram etan mokṣa-kavāṭa-bheda-janakaṃ siddhāsanaṃ procyate // GorS(2)_11 (=1|8) //

vāmorūpari dakṣiṇaṃ hi caraṇaṃ saṃsthāpya vāmaṃ tathā dakṣorūpari paścimena vidhinā dhṛtvā karābhyāṃ dṛḍham /

aṅguṣṭhau hṛdaye nidhāya cibukaṃ nāsāgram ālokayed etad-vyādhi-vikāra-hāri yamināṃ padmāsanaṃ procyate // GorS(2)_12 (=1|9) //

ṣaṭ-cakraṃ ṣoḍaśādhāraṃ trilakṣaṃ vyoma-pañcakam /

sva-dehe ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ // GorS(2)_13 //

eka-stambhaṃ nava-dvāraṃ gṛhaṃ pañcādhidaivatam /

sva-dehaṃ ye na jānanti kathaṃ sidhyanti yoginaḥ // GorS(2)_14 //

caturdalaṃ syād ādhāraḥ svādhiṣṭhānaṃ ca ṣaṭ-dalam /

nābhau daśa-dalaṃ padmaṃ sūrya-saṅkhya-dalaṃ hṛdi // GorS(2)_15 //

kaṇṭhe syāt ṣoḍaśa-dalaṃ bhrū-madhye dvidalaṃ tathā /

sahasra-dalam ākhyātaṃ brahma-randhre mahā-pathe // GorS(2)_16 //

ādhāraḥ prathamaṃ cakraṃ svādhiṣṭhānaṃ dvitīyakam /

yoni-sthānaṃ dvayor madhye kāma-rūpaṃ nigadyate // GorS(2)_17 (=1|10) //

ādhārākhyaṃ guda-sthānaṃ paṅkajaṃ ca catur-dalam /

tan-madhye procyate yoniḥ kāmākṣā siddha-vanditā // GorS(2)_18 (=1|11) //

yoni-madhye mahā-liṅgaṃ paścimābhimukhaṃ sthitam /

mastake maṇivad bimbaṃ yo jānāti sa yogavit // GorS(2)_19 (=1|12) //

tapta-cāmīkarābhāsaṃ taḍil-lekheva visphurat /

trikoṇaṃ tat-puraṃ vahner adho-meḍhrāt pratiṣṭhitam // GorS(2)_20 (=1|13) //

yat samādhau paraṃ jyotir anantaṃ viśvato-mukham /

tasmin dṛṣṭe mahā-yoge yātāyātaṃ na vidyate // GorS(2)_21 //

sva-śabdena bhavet prāṇaḥ svādhiṣṭhānaṃ tad-āśrayaḥ /

svādhiṣṭhānāt padād asmān meḍhram evābhidhīyate // GorS(2)_22 (=1|14) //

tantunā maṇivat proto yatra kandaḥ suṣumṇayā /

tan-nābhi-maṇḍalaṃ cakraṃ procyate maṇi-pūrakam // GorS(2)_23 (=1|15) //

dvādaśāre mahā-cakre puṇya-pāpa-vivarjite /

tāvaj jīvo bhramaty eva yāvat tattvaṃ na vindati // GorS(2)_24 //

ūrdhvaṃ meḍhrād adho nābheḥ kanda-yoniḥ khagāṇḍavat /

tatra nāḍyaḥ samutpannāḥ sahasrāṇāṃ dvisaptatiḥ // GorS(2)_25 (=1|16) //

teṣu nāḍi-sahasreṣu dvisaptatir udāhṛtāḥ /

pradhānaṃ prāṇa-vāhinyo bhūyas tatra daśa smṛtāḥ // GorS(2)_26 (=1|17) //

iḍā ca piṅgalā caiva suṣumṇā ca tṛtīyakā /

gāndhārī hasti-jihvā ca pūṣā caiva yaśasvinī // GorS(2)_27 (=1|18) //

alambuṣā kuhūś caiva śaṅkhinī daśamī smṛtā /

etan nāḍi-mayaṃ cakraṃ jñātavyaṃ yogibhiḥ sadā // GorS(2)_28 (=1|19) //

iḍā vāme sthitā bhāge piṅgalā dakṣiṇe tathā /

suṣumṇā madhya-deśe tu gāndhārī vāma-cakṣuṣi // GorS(2)_29 (=1|20) //

dakṣiṇe hasti-jihvā ca pūṣā karṇe ca dakṣiṇe /

yaśasvinī vāma-karṇe cāsane vāpy alambuṣā // GorS(2)_30 (=1|21) //

kuhūś ca liṅga-deśe tu mūla-sthāne ca śaṅkhinī /

evaṃ dvāram upāśritya tiṣṭhanti daśa-nāḍikāḥ // GorS(2)_31 (=1|22) //

iḍā-piṅgalā-suṣumṇā ca tisro nāḍya udāhṛtāḥ /

satataṃ prāṇa-vāhinyaḥ soma-sūryāgni-devatāḥ // GorS(2)_32 (=1|23) //

prāṇo'pānaḥ samānaś ca udāno vyānau ca vāyavaḥ /

nāgaḥ kūrmo'tha kṛkaro devadatto dhanañjayaḥ // GorS(2)_33 (=1|24) //

hṛdi prāṇo vasen nityaṃ apāno guda-maṇḍale /

samāno nābhi-deśe syād udānaḥ kaṇṭha-madhyagaḥ // GorS(2)_34 //

udgāre nāgākhyātaḥ kūrma unmīlane smṛtaḥ /

kṛkaraḥ kṣuta-kṛj jñeyo devadatto vijṛmbhaṇe // GorS(2)_35 //

na jahāti mṛtaṃ cāpi sarva-vyāpi dhanañjayaḥ /

ete sarvāsu nāḍīṣu bhramante jīva-rūpiṇaḥ // GorS(2)_36 (=1|25) //

ākṣipto bhuja-daṇḍena yathoccalati kandukaḥ /

prāṇāpāna-samākṣiptas tathā jīvo na tiṣṭhati // GorS(2)_38 (=1|27) //

prāṇāpāna-vaśo jīvo hy adhaś cordhvaṃ ca dhāvati /

vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa cañcalatvān na dṛśyate // GorS(2)_39 (=1|26) //

rajju-baddho yathā śyeno gato'py ākṛṣyate(?) /

guṇa-baddhas tathā jīvaḥ prāṇāpānena kṛṣyate // GorS(2)_40 (=1|28) //

apānaḥ karṣati prāṇaḥ prāṇo'pānaṃ ca karṣati /

ūrdhvādhaḥ saṃsthitāv etau saṃyojayati yogavit // GorS(2)_41 (=1|29) //

ha-kāreṇa bahir yāti sa-kāreṇa viśet punaḥ /

haṃsa-haṃsety amuṃ mantraṃ jīvo japati sarvadā // GorS(2)_42 //

ṣaṭ-śatānitvaho-rātre sahasrāṇy eka-viṃśatiḥ /

etat saṅkhyānvitaṃ mantra jīvo japati sarvadā // GorS(2)_43 //

ajapā nāma gāyatrī yogināṃ mokṣa-dāyinī /

asyāḥ saṅkalpa-mātreṇa sarva-pāpaiḥ pramucyate // GorS(2)_44 //

anayā sadṛśī vidyā anayā sadṛśo japaḥ /

anayā sadṛśaṃ jñānaṃ na bhūtaṃ na bhaviṣyati // GorS(2)_45 //

kundalinyāḥ samudbhūtā gāyatrī prāṇa-dhāriṇī /

prāṇa-vidyā mahā-vidyā yas tāṃ vetti sa yogavit // GorS(2)_46 //

kandordhvaṃ kuṇḍalī śaktir aṣṭadhā kuṇḍalākṛti /

brahma-dvāra-mukhaṃ nityaṃ mukhenācchādya tiṣṭhati // GorS(2)_47 (=1|30) //

yena dvāreṇa gantavyaṃ brahma-sthānam anāmayam /

mukhenācchādya tad-dvāraṃ prasuptā parameśvarī // GorS(2)_48 //

prabuddhā vahni-yogena manasā mārutā hatā /

sūcīvad guṇam ādāya vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā // GorS(2)_49 (=1|31) //

prasphurad-bhujagākārā padma-tantu-nibhā śubhā /

prabuddhā vahni-yogena vratya ūrdhvaṃ suṣumṇayā // GorS(2)_50 //

udghaṭayet kapātaṃ tu yathā kuñcikayā haṭhāt /

kuṇḍalinyā tathā yogī mokṣa-dvāraṃ prabhedayet // GorS(2)_51 //

kṛtvā sampuṭitau karau dṛḍhataraṃ baddhvā tu padmāsanaṃ gāḍhaṃ vakṣasi sannidhāya cibukaṃ dhyātvā ca tat prekṣitam /

vāraṃ vāram apānam ūrdhvam anilaṃ proccārayet pūritaṃ muñcan prāṇam upaiti bodham atulaṃ śakti-prabodhān naraḥ // GorS(2)_52 (=HYP 1.50) //

aṅgānāṃ mardanaṃ kuryāc chrama-jātena vāriṇā /

kaṭv-amla-lavaṇa-tyāgī kṣīra-bhojanam ācaret // GorS(2)_53 (=1|50) //

brahmacārī mitāhārī tyāgī yoga-parāyaṇaḥ /

abdād ūrdhvaṃ bhavet siddho nātra kāryā vicāraṇā // GorS(2)_54 (=HYP 1.59) //

susnigdhaṃ madhurāhāraṃ caturthāṃśa-vivarjitam /

bhujyate sura-samprītyai mitāhāraḥ sa ucyate // GorS(2)_55 (=HYP 1.60) //

kandordhvaṃ kuṇḍalī śaktir aṣṭadhā kuṇḍalākṛtiḥ /

bandhanāya ca mūḍhānāṃ yogināṃ mokṣadā smṛtā // GorS(2)_56 (=HYP 3.107) //

mahāmudrāṃ namo-mudrām uḍḍiyānaṃ jalandharam /

mūla-bandhaṃ ca yo vetti sa yogī siddhi-bhājanam // GorS(2)_57 (=1|32) //

śodhanaṃ nāḍi-jālasya cālanaṃ candra-sūryayoḥ /

rasānāṃ śoṣaṇaṃ caiva mahā-mudrābhidhīyate // GorS(2)_58 //

vakṣo-nyasta-hanur nipīḍya suciraṃ yoniṃ ca vāmāṅghriṇā hastābhyām avadhāritaṃ prasaritaṃ pādaṃ tathā dakṣiṇam /

āpūrya śvasanena kukṣi-yugalaṃ baddhvā śanai recayed eṣā pātaka-nāśinī sumahatī mudrā nṝṇāṃ procyate // GorS(2)_59 (=1|33) //

candrāṅgena samabhyasya sūryāṅgenābhyaset punaḥ /

yāvat tulyā bhavet saṅkhyā tato mudrāṃ visarjayet // GorS(2)_60 (=HYP 3.15) //

na hi pathyam apathyaṃ vā rasāḥ sarve'pi nīrasāḥ /

api muktaṃ viṣaṃ ghoraṃ pīyūṣam api jīryate // GorS(2)_61 (=HYP 3.16) //

kṣaya-kuṣṭha-gudāvarta- gulmājīrṇa-purogamāḥ /

tasya doṣāḥ kṣayaṃ yānti mahāmudrāṃ tu yo'bhyaset // GorS(2)_62 (=HYP 3.17) //

kathiteyaṃ mahāmudrā mahā-siddhi-karā nṝṇām /

gopanīyā prayatnena na deyā yasya kasyacit // GorS(2)_63 (=HYP 3.18) //

kapāla-kuhare jihvā praviṣṭā viparītagā /

bhruvor antargatā dṛṣṭir mudrā bhavati khecarī // GorS(2)_64 (=1|34) //

na rogo maraṇaṃ tandrā na nidrā na kṣudhā tṛṣā /

na ca mūrcchā bhavet tasya yo mudrāṃ vetti khecarīm // GorS(2)_65 (=HYP 3.39) //

pīḍyate na sa rogeṇa lipyate na ca karmaṇā /

bādhyate na sa kālena yo mudrāṃ vetti khecarīm // GorS(2)_66 (=HYP 3.40) //

cittaṃ carati khe yasmāj jihvā carati khe gatā /

tenaiṣā khecarī nāma mudrā siddhair nirūpitā // GorS(2)_67 (=HYP 3.41) //

bindu-mūlaṃ śarīraṃ tu śirās tatra pratiṣṭhitāḥ /

bhāvayanti śarīraṃ yā āpāda-tala-mastakam // GorS(2)_68 //

khecaryā mudritaṃ yena vivaraṃ lambikordhvataḥ /

na tasya kṣarate binduḥ kāminyāliṅgitasya ca // GorS(2)_69 //

yāvad binduḥ sthito dehe tāvat kāla-bhayaṃ kutaḥ /

yāvad baddhā nabho-mudrā tāvad bindur na gacchati // GorS(2)_70 //

calito'pi yadā binduḥ samprāptaś ca hutāśanam /

vrajaty ūrdhvaṃ hṛtaḥ śaktyā niruddho yoni-mudrayā // GorS(2)_71 (=HYP 3.43) //

sa punar dvividho binduḥ paṇḍuro lohitas tathā /

pāṇḍuraṃ śukram ity āhur lohitaṃ tu mahārājaḥ // GorS(2)_72 //

sindūra-drava-saṅkāśaṃ ravi-sthāne sthitaṃ rajaḥ /

śaśi-sthāne sthito bindus tayor aikyaṃ sudurlabham // GorS(2)_73 //

binduḥ śivo rajaḥ śaktir bindum indū rajo raviḥ /

ubhayoḥ saṅgamād eva prāpyate paramaṃ padam // GorS(2)_74 //

vāyunā śakti-cāreṇa preritaṃ tu mahā-rajaḥ /

bindunaiti sahaikatvaṃ bhaved divyaṃ vapus tadā // GorS(2)_75 //

śukraṃ candreṇa saṃyuktaṃ rajaḥ sūryeṇa saṃyutam /

tayoḥ samarasaikatvaṃ yojānāti sa yogavit // GorS(2)_76 //

uḍḍīnaṃ kurute yasmād aviśrāntaṃ mahā-khagaḥ /

uḍḍīyānaṃ tad eva syāt tava bandho'bhidhīyate // GorS(2)_77 (=HYP 3.56) //

udarāt paścime bhāge hy adho nābher nigadyate /

uḍḍīyanasya bandho'yaṃ tatra bandho vidhīyate // GorS(2)_78 //

badhnāti hi sirājālam adho-gāmi śiro-jalam /

tato jālandharo bandhaḥ kaṇṭha-duḥkhaugha-nāśanaḥ // GorS(2)_79 (=HYP 3.71) //

jālandhare kṛte bandhe kaṇṭha-saṃkoca-lakṣaṇe /

pīyūṣaṃ na pataty agnau na ca vāyuḥ prakupyati // GorS(2)_80 (=1|36, HYP 3.72) //

pārṣṇi-bhāgena sampīḍya yonim ākuñcayed gudam /

apānam ūrdhvam ākṛṣya mūla-bandho'bhidhīyate // GorS(2)_81 (=1|37, HYP 3.61) //

apāna-prāṇayor aikyāt kṣayān mūtra-purīṣayoḥ /

yuvā bhavati vṛddho'pi satataṃ mūla-bandhanāt // GorS(2)_82 (=1|38, HYP 3.65) //

padmāsanaṃ samāruhya sama-kāya-śiro-dharaḥ /

nāsāgra-dṛṣṭir ekānte japed oṅkāram avyayam // GorS(2)_83 //

bhūr bhuvaḥ svar ime lokāḥ soma-sūryāgni-devatāḥ /

yasyā mātrāsu tiṣṭhanti tat paraṃ jyotir om iti // GorS(2)_84 //

trayaḥ kālās trayo vedās trayo lokās trayaḥ sverāḥ /

trayo devāḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti // GorS(2)_85 //

kriyā cecchā tathā jñānā brāhmī raudrī ca vaiṣṇavī /

tridhā śaktiḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti // GorS(2)_86 //

ākārāś ca tatho-kāro ma-kāro bindu-saṃjñakaḥ /

tisro mātrāḥ sthitā yatra tat paraṃ jyotir om iti // GorS(2)_87 //

vacasā taj jayed bījaṃ vapuṣā tat samabhyaset /

manasā tat smaren nityaṃ tat paraṃ jyotir om iti // GorS(2)_88 //

śucir vāpy aśucir vāpi yo japet praṇavaṃ sadā /

lipyate na sa pāpena padma-patram ivāmbhasā // GorS(2)_89 //

cale vāte calo bindur niścale niścalo bhavet /

yogī sthāṇutvam āpnoti tato vāyuṃ nirodhayet // GorS(2)_90 (=1|39, HYP 2.2) //

yāvad vāyuḥ sthito dehe tāvaj jīvanam ucyate /

maraṇaṃ tasya niṣkrāntis tato vāyuṃ nirodhayet // GorS(2)_91 (=HYP 2.3) //

yāvad baddho marud dehe yāvac cittaṃ nirākulam /

yāvad dṛṣṭir bhruvor madhye tāvat kāla-bhayaṃ kutaḥ // GorS(2)_92 (=HYP 2.40) //

ataḥ kāla-bhayād brahmā prāṇāyāma-parāyaṇaḥ /

yogino munayaś caiva tato vāyuṃ nirodhayet // GorS(2)_93 //

ṣaṭ-triṃśad-aṅgulo haṃsaḥ prayāṇaṃ kurute bahiḥ /

vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa tataḥ prāṇo'bhidhīyate // GorS(2)_94 (=1|40) //

śuddhim eti yadā sarvaṃ nāḍī-cakraṃ malākulam /

tadaiva jāyate yogī prāṇa-saṃgrahaṇe kṣamaḥ // GorS(2)_95 //

baddha-padmāsano yogī prāṇaṃ candreṇa pūrayet /

dhārayitvā yathā-śakti bhūyaḥ sūryeṇa recayet // GorS(2)_96 (=1|43) //

amṛtaṃ dadhi-saṅkāśaṃ go-kṣīra-rajatopamam /

dhyātvā candramaso bimbaṃ prāṇāyāmī sukhī bhavet // GorS(2)_97 (=1|44) //

dakṣiṇo śvāsam ākṛṣya pūrayed udaraṃ śanaiḥ /

kumbhayitvā vidhānena puraś candreṇa recayet // GorS(2)_98 (=1|45) //

prajvalaj-jvalana-jvālā- puñjam āditya-maṇḍalam /

dhyātvā nābhi-sthitaṃ yogī prāṇāyāme sukhī bhavet // GorS(2)_99 (=1|46) //

prāṇaṃ codiḍayā piben parimitaṃ bhūyo'nyayā recayet pītvā piṅgalayā samīraṇam atho baddhvā tyajed vāmayā /

sūrya-candramasor anena vidhinā bimba-dvayaṃ dhyāyataḥ śuddhā nāḍi-gaṇā bhavanti yamino māsa-trayād ūrdhvataḥ // GorS(2)_100 (=HYP 2.10) //

yatheṣṭhaṃ dhāraṇaṃ vāyor analasya pradīpanam /

nādābhivyaktir ārogyaṃ jāyate nāḍi-śodhanāt // GorS(2)_101 //
iti gorakṣa-śatakaṃ sampūrṇam

Siehe auch

Weblinks

Literatur

Seminare

Jahresgruppe Sanskrit - Lektüre Hatha Yoga Pradipika

10.01.2024 - 03.12.2024 - Lektüre Hatha Yoga Pradipika - online Kursreihe

In dieser Jahresgruppe wollen wir uns sowohl mit dem Inhalt als auch der sprachlichen Form des Originaltextes der HYP befassen …
Dr phil Oliver Hahn

Seminare zu Indische Schriften

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In…
Vedamurti Dr Olaf Schönert, Tara Devi Anja Schiebold

Zusammenfassung, Danksagung

Goraksha Shataka – die Hundertschaft von Goraksha. Goraksha war ein großer indischer Meister, der über vieles auch geschrieben hat. Er ist insbesondere bekannt das für Goraksha Shataka, das heißt, die hundert Verse des Goraksha. Hundert – Shataka, und Goraksha, der Name des Meisters. Goraksha Shataka, die hundert Verse des Meisters Goraksha. Das Goraksha Shataka gehört zu den vier klassischen Hatha Yoga Schriften. Die anderen drei sind: Shiva Samhita, Gheranda Samhita und Hatha Yoga Pradipika.

Das Goraksha Shataka ist dabei die kürzeste Schrift; das Goraksha Shataka beschreibt in hundert Versen das Wichtigste über Hatha Yoga.

Wir danken dem Indologen Dr. Oliver Hahn, welcher innerhalb von einem Jahr unter Zuhilfenahme mehrerer Quellen diesen Text für Yoga Wiki herausgegeben hat: Von ihm stammen die Übersetzungen, die Wort-für-Wort-Übersetzungen und die Anmerkungen. Dr. Oliver Hahn ist unter anderem Autor für Yoga Wiki, Seminarleiter, Yogalehrer, Übersetzer und Lektor.