Shvetashvatara Upanishad: Unterschied zwischen den Versionen

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:Diese Lehren Erleuchtung sein,
:Diese Lehren Erleuchtung sein,
:diese Lehren Erleuchtung sein.
:diese Lehren Erleuchtung sein.
==Swami Sivananda: Übersetzung und Erläuterung aller Verse Shvetashvatara Upanishad==
===Einleitung===
Diese Upanishad enthält bloß 113 Verse bzw. mantras, die in sechs Kapitel eingeteilt sind. Sie gehört zum Kṛṣṇa-Yajur-Veda. Obwohl sie nicht zu den zehn Haupt-Upanishaden gerechnet wird, wird sie doch als eine alte und wichtige Upanishad angesehen. Ihren Namen hat sie von dem Seher Śvetāśvatara, der die darin enthal- tene Wahrheit seinen Schülern lehrte.
In dieser Upanishad wird Śiva (bzw. Rudra) als Schöpfer, Erhalter und Zerstörer dieser Welt erklärt. Er ist die materielle und wirkende Ursache der Welt. Man spricht von Ihm als der höchsten Gottheit und Er wird mit dem höchsten brahman gleichgesetzt.
Das Wort śvetāśvatara bedeutet: jemand, der seine Sinne kontrolliert hat (śveta rein; aśva Sinne). Viele der mantras dieser Upanishad werden von den Kommentatoren des Brahma-Sūtra zitiert, um ihre Lehren zu unterstützen.
Die Śvetāśvatara-Upaniṣad stellt eine Mischung von Lehren des vedānta, sāṅ-khya und Yoga dar. Sie behandelt brahman, Īśvara, die individuelle Seele, das Universum und Freiheit. Sie erwähnt auch die Mittel der Befreiung für den jīva, der an das Rad der Wiedergeburt gekettet ist. Dabei erklärt sie den Prozess des Yoga, dessen Ziel, seine Mittel, Bedingungen, Zwischenstufen und das letztendliche Ergebnis. Yoga wird in seinen drei Formen behandelt: karma-yoga, bhakti-yoga und jñāna-yoga.
===Anfangs-Mantra===
oṃ, saha nāvavatu।  saha nau bhunaktu।
:saha vīryaṁ karavāvahai।  tejasvi nāvadhītamastu।
:mā vidviṣāvahai।  oṃ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ॥
Om. Möge Er uns beide beschützen (den Lehrer und den Schüler)! Möge Er uns beide die Glückseligkeit von mukti erfahren lassen! Mögen wir uns beide bemühen, die wahre Bedeutung der Schriften herauszufinden! Mögen unsere Studien Frucht bringen! Mögen wir niemals miteinander streiten!
Om, Frieden! Frieden! Frieden!
===Prathamo 'dhyāyaḥ: Erstes Kapitel Shvetashvatara Upanishad===
hariḥ om।  brahmavādino vadanti।
:kiṃ kāraṇaṃ brahma kutaḥ sma jātā jīvāma kena kva ca saṃpratiṣṭhāḥ।
:adhiṣṭhitāḥ kena sukhetareṣu vartāmahe brahmavido vyavasthām॥ 1॥
1. Hari om. Die brahman-Sucher sprechen untereinander: Was ist die Ursache? Ist es brahman? Woraus sind wir geboren? Durch wen leben wir? Wo bleiben wir am Ende? Durch wen gelenkt, erfahren wir Freude und Schmerz, o ihr Brahman-Kenner?
ERLÄUTERUNG: Brahmavādinaḥ – die brahman-Sucher; vadanti – sie sprechen miteinander; kim – was; kāraṇam – Ursache; kutaḥ – woher und warum; jātāḥ  smaḥ – sind wir geboren; jīvāmaḥ – leben wir; kena – durch wen; kva – wo; ca – und; sampratiṣṭhāḥ – ruhen wir am Ende; adhiṣṭhitāḥ – gelenkt, regiert; kena – durch wen; sukhetareṣu – in Freude und Schmerz; vartāmahe – existieren wir; brahmavidaḥ – die Kenner des brahman; vyavasthām – Zustand, Lage.
Kiṃ kāraṇaṃ brahma – Ist brahman die Ursache? Was ist die letzte Ursache dieser Welt? Ist es brahman? Was für eine Art von Ursache ist brahman? Ist es die materielle Ursache oder die Wirkungsursache – oder beides? Was ist die Quelle dieses Lebens? Gibt es einen, der dieses Leben unterstützt oder kontrolliert oder von innen regiert? Worauf ruhen wir zur Zeit der Zerstörung dieser Welt (pralaya)? Was wird aus der Seele nach dem Tod? Existiert die Seele nach dem Tod? Oder wird sie etwa völlig zerstört? Wird sie in brahman absorbiert? Gibt es einen höchsten Herrn, der die jīvas (individuellen Seelen) regiert?
kālaḥ svabhāvo niyatiryadṛcchā bhūtāni yoniḥ puruṣa iti cintyā।
:saṃyoga eṣāṃ na tvātmabhāvādātmāpyanīśaḥ sukhaduḥkhahetoḥ॥ 2॥
2. Kann man die Zeit als die Ursache ansehen oder die innere Natur oder das Gesetz, d.h. die Notwendigkeit, oder den Zufall, oder aber die Elemente, die Materie oder den Mutterleib oder den Mann? Es ist keine Kombination all dieser, denn es gibt die Seele (ātman). Auch die (individuelle) Seele  ist nicht frei, denn sie ist unter der Herrschaft von Vergnügen und Schmerz.
ERLÄUTERUNG: Kālaḥ – Zeit; svabhāvaḥ – die innewohnende Natur; niyatiḥ – Gesetz oder Notwendigkeit; yadṛcchā – Zufall; bhūtāni – Materie; yoniḥ – Mutterleib; puruṣaḥ – Mann (Selbst); eṣām – von diesen, aus diesen; saṃyogaḥ – Kombination; anīśaḥ – nicht selbst der Herr, nicht ihr eigener Herr.
Hier wird eine mögliche Ursache nach der anderen in Betracht gezogen, und alle werden sie als unzulänglich verworfen.
Ist die Zeit Brahmā (als Ursache)? Nein. Die individuelle Seele ist nicht mächtig. Sie kann nicht der Urheber der Schöpfung sein. Sie ist impotent, insofern sie unter der Herrschaft von Vergnügen und Schmerz steht.
te dhyānayogānugatā apaśyandevātmaśaktiṃ svaguṇairnigūḍhām।
:yaḥ kāraṇāni nikhilāni tāni kālātmayuktānyadhitiṣṭhatyekaḥ॥ 3॥
3. Diejenigen, welche Meditation praktizierten, sahen und erkannten als die Ursache der Schöpfung die Kraft Gottes (devātma-śaktim), die in Ihren eigenen Qualitäten (guṇas) verborgen ist und die allein über all diese Ursachen herrscht, angefangen von der Zeit bis hin zur individuellen Seele.
ERLÄUTERUNG: Te – sie; dhyāna-yogānugatāḥ – den Yoga der Meditation praktizierend; apaśyan – sie erkannten, sahen; devātma-śaktim – die Kraft Gottes; sva-guṇaiḥ  – durch die guṇas; nigūḍhām – verborgen; yaḥ – die; nikhilāni – alle; tāni  – jene; kāraṇāni – Ursachen; kālātma-yuktāni– angefangen mit der Zeit und endend mit der individuellen Seele; adhitiṣṭhati – regiert; ekaḥ – ohne ein Zweites.
Meditation führt zur Erkenntnis, zu Selbstverwirklichung.
Devātma-śaktim – dies ist die Kraft Gottes. Sie ist māyā. Ihre Qualitäten sind sattva (Reinheit, Tugendhaft), rajas (Aktivität, Leidenschaft) und tamas (Dunkelheit, Trägheit). Das Wort svaguṇa bezieht sich auf diese drei Qualitäten.
tamekanemiṃ trivṛtaṃ ṣoḍaśāntaṃ śatārdhāraṃ viṃśatipratyarābhiḥ।
:aṣṭakaiḥ ṣaḍbhirviśvarūpaikapāśaṃ trimārgabhedaṃ dvinimittaikamoham॥ 4॥
4. Wir verstehen Ihn als ein Rad mit einer Felge mit einem dreifachen Reifen, mit sechzehn Enden, fünfzig Speichen, zwanzig Gegenspeichen, mit sechs Gruppen von Achteln, welches ein Seil hat von vielfacher Form, welches drei verschiedene Wege hat und das eine Umdrehung hat für zwei Spuren.
ERLÄUTERUNG: Tam – Ihn; eka-nemim – mit einer Felge; trivṛtam – mit einem dreifachen Reifen; ṣoḍaśāntam – mit sechzehn Enden; śatārdhāram – mit fünfzig Speichen; viṃśatipratyarābhiḥ – mit zwanzig Gegenspeichen; aṣṭakaiḥ ṣaḍbhiḥ  – mit sechs Gruppen von acht; visvarūpaikapāśam – mit einem Seil von vielfältiger Form; trimārgabhedam – mit drei verschiedenen Wegen; dvinimittaikamoham – mit jeder Umdrehung, welche die Ursache von zweien ist.
Hier meditiert man über Gott als das Rad dieses Universums. Der Umfang des Rades (nemim) repräsentiert die Natur, die unter verschiedenen Namen bekannt ist: unmanifester Äther, māyā, prakṛti, śakti, ajñāna etc. Dies ist die Ursache, von der die ganze Schöpfung abhängt.
Die drei Reifen stellen die drei Qualitäten sattva, rajas und tamas dar – oder aber Zeit, Raum und Kausalität.
Die sechzehn Enden repräsentieren die sechzehn Modifikationen (vikṛtis) der sāṅkhya-Philosophie, durch welche die Schöpfung vervollständigt wird. Dies sind die fünf Organe des Wissens, die fünf Organe der Handlung, der manas und die fünf groben Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther). Nach einer anderen Erklärung sind die sechzehn Teile: virat, sūtrātman und die vierzehn Welten.
Fünfzig Speichen: Dies sind die fünf Klassen der Unwissenheit, nämlich tamas (Unklarheit), moha (Illusion), mahāmoha (extreme Illusion), timira (Dunkelheit) und andha-timira (extreme Finsternis); weiterhin die achtundzwanzig Unfähigkeiten, die neun tuṣṭis (Zufriedenheiten) und die acht siddhis (Vollkommenheiten), nämlich tāra, sutāra, tārayanti, pramoda, pramodita, pramodamāna, ramyaka und satpramodita.
Die zwanzig Gegenspeichen sind die zehn Sinne und ihre Objekte. Dies sind Keile aus Holz, welche die Speichen stärken sollen.
Die acht ...
1. -fache prakṛti (Erzeuger, Urmaterie) der sāṅkhya-Philosophie, nämlich die fünf Elemente, der manas, der Intellekt und das Ego.
2. dhātus (Bestandteile des Körpers), nämlich äußere Haut, innere Haut, Blut, Fleisch, Fett, Knochen, Knochenmark und Samen.
3. siddhis oder übermenschlichen Fähigkeiten, nämlich aṇiman (die Fähigkeit, sich klein zu machen), mahiman (die Fähigkeit, sich groß zu machen) etc.
4. bhāvas (geistigen Zustände), nämlich Tugend, Schlechtigkeit, Wissen, Unwissenheit, Leidenschaftslosigkeit, Anhaftung, übermenschliche Fähigkeit und Mangel an übermenschlicher Fähigkeit.
5. Gruppierungen übernatürlicher Wesen, nämlich Brahmā und Prajāpati sowie die devas, gandharvas, yakṣas, rākṣasas, pitṛs und piśācas.
6. Tugenden der Seele, nämlich Mitgefühl, Geduld, Freiheit von Neid, Reinheit, Freiheit von Trägheit (anāyāsa), glückliche Natur (maṅgala), Freiheit von Armut (akārpaṇya) und Wunschlosigkeit (niḥspṛha).
Die verschiedenen Pfade sind Tugend (dharma), Laster (adharma) und Wissen (jñāna).
Das Seil ist Wünschen. Es ist sehr vielfältig.
Moha bedeutet wörtlich „Täuschung“. Hier bezieht es sich auf die Umdrehung des Rades. Diese Umdrehung ist die Ursache von zweierlei: Tugend und Sünde bzw. Glück und Elend.
pañcasroto'mbuṃ pañcayonyugravakrāṃ
:pañcaprāṇormiṃ pañcabuddhyādimūlām।
:pañcāvartāṃ pañcaduḥkhaughavegāṃ
:pañcāśadbhedāṃ pañcaparvāmadhīmaḥ॥ 5॥
5. Wir verstehen Ihn als einen Fluss aus fünf Strömen, von fünf Quellen, ungestüm und gewunden, dessen Wellen die fünf prāṇas sind, dessen ursprüngliche Quelle die fünffache Wahrnehmung ist (der manas), der fünf Strudel hat, der vorangetrieben ist durch die Geschwindigkeit des fünffachen Schmerzes, der aufgeteilt ist durch die fünf Arten des Elends und der fünf Windungen oder Flussarme hat.
ERLÄUTERUNG: Pañca-sroto'mbum – der die Wasser von fünf Strömen hat; pañca-yonyugravakrām – der fünf Quellen hat, ungestüm und gewunden; pañca-prā-ṇormim  – dessen Wellen die fünf prāṇas sind; pañca-buddhyādimūlām – dessen ursprüngliche Quelle die fünffache Wahrnehmung, der manas, ist; pañcā-vartām – der fünf Strudel hat; pañca-duḥkhaughavegām – der vorangetrieben ist durch die Geschwindigkeit der fünf Arten von Schmerz, pañcāśad-bhedāṁ – der fünfzig Aspekte hat. Śaṅkara liest: Pañca-kleśa bhedām („Der geteilt ist in die fünf Arten des Elends“). Pañca-parvām – der fünf Flussarme hat; adhīmaḥ – wir denken bzw. verstehen.
Die fünf (pañcā) ...
• Sinne stellen die fünf Ströme dar.
• Elemente sind die fünf Quellen.
• prāṇas werden durch die fünf Wellen repräsentiert.
• Objekte der Sinne – śabda (Klang, Ton), sparśa (Gefühl, Berühren), rūpa
(Farbe, Form), rasa (Geschmack) und gandha (Geruch) – werden Strudel genannt, denn die individuelle Seele ertrinkt darin.
• Arten von Leiden und Schmerz sind: Schmerz (durch die Existenz im Mut-
terleib), Geburt, Alter, Krankheit und Tod.
Dieses Universum hängt völlig vom manas (Denken, Verstand, Fühlen etc.) ab. Wenn der manas da ist, ist auch das Universum da; wenn es keinen manas gibt, gibt es kein Universum. In nirvikalpa-samādhi (dem überbewussten Zustand) löst sich der manas und damit auch das Universum auf.
Genau wie das Wasser eines Flusses aus dem Ozean kommt und zurückgeht zum Ozean, so ist auch diese Welt aus brahman hervorgegangen und wird wieder in brahman absorbiert.
sarvājīve sarvasaṃsthe bṛhante asminhaṃso bhrāmyate brahmacakre।
:pṛthagātmānaṃ preritāraṃ ca matvā juṣṭastatastenāmṛtatvameti॥ 6॥
6. In diesem unendlichen Rad des brahman, in dem alles lebt und ruht, wird die wandernde Seele herumgewirbelt, wenn sie denkt, dass sie und der höchste Lenker getrennt sind. Sie erlangt Unsterblichkeit, wenn sie von Ihm gesegnet wird.
ERLÄUTERUNG: Sarvājīve – in dem alles lebt; sarva-saṃsthe – in dem alles ruht; brahma-cakre – in dem Rad des brahman; haṃsaḥ – die wandernde Seele, die sich immer wieder verkörpernde Seele; bhrāmyate – wird herumgewirbelt; amṛtatvam  – Unsterblichkeit; eti – erlangt.
Haṃsaḥ – der jīva wird haṃsa genannt (Pilger, Wanderer), weil er entlang des Pfades des saṃsāra wandert. Haṃsaḥ bedeutet wörtlich „Schwan“ [genauer „Wildgans“,]. Der Mensch nimmt viele Geburten an, wandert durch viele Mutterleiber und entwickelt sich langsam und allmählich durch die verschiedenen Erfahrungen. Am Ende wird er eins mit brahman. Dies wird mit einer Pilgerreise verglichen. Wenn der jīva erkennt, dass er eins ist mit brahman (dem höchsten Sein), dann erlangt er Unsterblichkeit.
Brahma-cakre – das Rad brahmans ist diese Welt.
Nur durch die Gnade Gottes erhält man die vier Mittel der Befreiung, bekommt einen Geschmack des vedānta und verwirklicht schließlich seine Identität mit dem höchsten Selbst.
udgītametatparamaṃ tu brahma tasmiṃstrayaṃ supratiṣṭhā'kṣaraṃ ca।
:atrāntaraṃ brahmavido viditvā līnā brahmaṇi tatparā yonimuktāḥ॥ 7॥
7. Dies wird wahrlich als das höchste brahman erklärt. Darin ist die Dreiheit. Es ist die feste Stütze. Es ist unzerstörbar. Wenn sie erkennen, was darin enthalten ist, geben sich die Kenner des brahman dem brahman hin und werden von der Wiedergeburt (Reinkarnation) befreit.
ERLÄUTERUNG: Su-pratiṣṭhā – feste Stütze, fester Grund; akṣaram – unzerstörbar; brahmavidaḥ – die Kenner des brahman; tatparāḥ – Ihm hingegeben, auf Es ausgerichtet; yoni-muktāḥ – befreit vom Mutterleib, d.h. von der Wiedergeburt; etat – dies, d.i. das absolute brahman, ohne Qualitäten; trayam – die Dreiheit, das ist die Welt, die individuelle Seele und die kosmische Seele. Vielleicht ist aber auch Wachen, Schlafen und Träumen gemeint. Die Kenner des brahman heben die begrenzenden Attribute – physische Hülle, Energie-Hülle etc. – auf durch vicāra, d.i. Selbsterforschung, und durch die neti-neti-Lehre („Nicht dies!“, „Nicht dies!“) und sie extrahieren die innere Essenz, d.i. brahman. Sie verschmelzen mit der Essenz.
Su-pratiṣṭhā – brahman ist die feste Stütze, die feste Grundlage; Es ist das Substratum dieser Welt; die ganze Welt ruht in Ihm; Es allein bleibt nach dem kosmischen pralaya, der vollständigen Auflösung.
Yoni-muktāḥ – sie sind von der Wiedergeburt befreit; sie sind frei von allem Übel, das mit Geburt, Alter und Tod verbunden ist.
saṃyuktametatkṣaramakṣaraṃ ca vyaktāvyaktaṃ bharate viśvamīśaḥ।
:anīśaścātmā badhyate bhoktṛbhāvājjñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 8॥
8. Gott hält dieses Universum aufrecht, das aus der Verbindung des Vergänglichen und des Unvergänglichen besteht, des Manifesten und des Unmanifesten. Solange die Seele nicht Gott erkannt hat, ist sie den Sinnesfreuden verhaftet. Sie wird zum Genießenden und ist gebunden. Wenn sie Gott erkennt, wird sie frei von allen Fesseln.
ERLÄUTERUNG: saṃyuktam – verbunden; kṣaram – vergänglich; akṣaram – unvergänglich; vyaktāvyaktam – manifest und unmanifest; viśvam – das Universum; īśaḥ – Gott; bharate – stützt, unterstützt, erhält; anīśaḥ – ohne den Herrn; bhoktṛ-bhāvāt – weil sie der Genießende ist; badhyate – ist gebunden; sarvapāśaiḥ  – von allen Fesseln; mucyate – ist befreit.
Der unwissende jīva identifiziert sich ist dem Körper und den Sinnen und entwickelt die Einstellung, dass er der Erfahrende und der Handelnde ist (kartā bhoktā). Dies ist der Grund der Unfreiheit. Vyakta ist das manifeste Universum. Avyakta ist die unmanifeste mūla-prakṛti (Urmaterie), welche den Samen des manifesten Universums enthält.
jñājñau dvāvajāvīśānīśāvajā hyekā bhoktṛbhogyārthayuktā।
:anantaścātmā viśvarūpo hyakartā trayaṃ yadā vindate brahmametat॥ 9॥
9. Der wissende Gott und die unwissende Einzelseele, der Allmächtige und die Machtlose – beide sind sie ungeboren. Auch die Natur (prakṛti), die verbunden ist mit dem Erfahrenden und dem Erfahrenen, ist ungeboren. Wenn diese drei als brahman erkannt werden, wird das Selbst unendlich, universal und nichttätig (frei von der Idee von Handlung und Handelndem).
ERLÄUTERUNG: jñājñau – der Wissende (Gott) und die unwissende Seele; īśānīśauḥ – der Allmächtige und die Machtlose; ajau – sind ungeboren; bhoktṛbhogyārtha-yuktā – verbunden mit dem Erfahrenden und den Objekten der Erfahrung; anantaḥ – unendlich; akartā – nichtaktiv; bhavati – wird.
Auch māyā ist ungeboren (ajā). Sie bringt alles hervor. Sie ist die inhärente Kraft der höchsten Seele. Die tripuṭī (Dreiheit) von Erfahrendem, Erfahrung und Objekt der Erfahrung, ist nur ihre Modifikation. Insofern Gott mit der Illusionskraft der māyā versehen ist, erscheint Er als Besitzer dieser Unterschiede.
Der ātman ist immer das Subjekt, der Zeuge. Er ist immer unabhängig. Das Objekt ist immer abhängig von dem wahrnehmenden Subjekt.
Im nirvikalpa-samādhi (überbewussten Zustand) verschwindet die tripuṭī. Subjekt und Objekt werden eins. Die tripūti verschmilzt in brahman. Wegen ihrer Unwissenheit denkt die individuelle Seele, dass sie der Täter und der Erfahrende sei. Das ist die Ursache der menschlichen Misere. Wenn die Seele ihre Einheit mit der höchsten Seele realisiert, verschwindet die Idee, dass sie der Handelnde sei. Sie erkennt ihre eigene Unendlichkeit, Universalität und absolute Freiheit.
kṣaraṃ pradhānamamṛtākṣaraṃ haraḥ kṣarātmānāvīśate deva ekaḥ।
:tasyābhidhyānādyojanāttattvabhāvāt bhūyaścānte viśvamāyānivṛttiḥ॥ 10॥
10. Materie ist vergänglich, aber Gott (Hara) ist unsterblich und unvergänglich. Er, der einzige Gott, herrscht über die vergängliche Materie und die individuellen Seelen. Durch Meditation über Ihn, durch Verbindung mit Ihm und indem man eins mit Ihm wird, erreicht man schließlich das Ende aller Illusion.
ERLÄUTERUNG: Pradhānam – Materie, kṣaram – vergänglich; haraḥ – Gott; amṛta-akṣaram – unsterblich und unvergänglich; īśate – regiert; yojanāt – durch Verbindung, Vereinigung; tattvabhāvāt – dadurch, dass man eins mit Ihm wird; viśvamāyānivṛttiḥ – das Aufhören aller Illusion.
Haraḥ – der Zerstörer. Gott wird „Hara“ genannt, weil er alle Unwissenheit der individuellen Seelen zerstört.
Pradhāna (bzw. mūla-prakṛti) ist selbst nicht vergänglich. Es ist ohne Anfang (anādi) und ungeboren (aja, siehe 1.9). Sie wird hier vergänglich genannt, um den Unterschied zwischen Gott und der Natur aufzuzeigen. Die ganze Natur verschwindet für den Weisen, der Befreiung erlangt hat. Aus dem Grund wird die Natur als vergänglich bezeichnet.
Konzentration mündet in Meditation; Meditation führt zu samādhi. Der Sucher erreicht zunächst die Vereinigung mit Gott – das ist savikalpa-samādhi. Dann verschmilzt er mit Ihm. Er geht in sein Sein ein. Das ist nirvikalpa-samādhi.
In der Bhagavad-Gītā (11.54) lesen wir: jñātum draṣṭuṃ ca tattvena praveṣṭuṃ ca paraṃtapa („Erkannt, gesehen und vollkommen vereint.“).
In savikalpa-samādhi gibt es noch einen geringen Unterschied zwischen dem Meditierenden und dem Gegenstand der Meditation. Da ist noch tripūti, die Dreiheit. In nirvikalpa-samādhi geschieht tripūti-laya, d.h. die tripuṭī verschwindet völlig. Da ist nicht mehr die geringste Unterscheidung, denn der Meditierende verwirklicht seine Identität mit dhyeya, dem Gegenstand der Meditation. Dhyāta (Meditierende), dhyāna (Meditation) und dhyeya (Meditationsobjekt) werden eins. Die Meditation endet hier.
jñātvā devaṃ sarvapāśāpahāniḥ kṣīṇaiḥ kleśairjanmamṛtyuprahāṇiḥ।
:tasyābhidhyānāttṛtīyaṃ dehabhede viśvaiśvaryaṃ kevala āptakāmaḥ॥ 11॥
11. Durch das Wissen um Gott werden alle Fesseln (der Unwissenheit) durchschnitten; Geburt und Tod gibt es nicht mehr und damit endet alles Leiden. Durch Meditation über Ihn erreicht man den dritten Zustand, nämlich Herrschaft über das Universum, wenn der Körper vergeht. Alle Wünsche sind befriedigt und man wird eins ohne ein Zweites (kevala).
ERLÄUTERUNG: Sarva-pāśāpahāniḥ – das Zerstören aller Fesseln; āpta-kāmaḥ – jemand, dessen Wünsche erfüllt sind; viśvaiśvaryam – Herrschaft über das Universum.
Wenn der Meditierende mit Gott verschmilzt, wird er eins ohne ein Zweites. Dieser Zustand wird kaivalya genannt. Wie könnte da noch ein Wunsch zurückbleiben, wenn er ein āpta-kāma wird, eins mit Gott wird und alles Weltliche überwunden hat? Alle göttlichen Herrlichkeiten liegen ihm zu Füßen und so sind all seine Wünsche befriedigt. Er ist nicht mehr im Stande, weltliche Vergnügungen oder Dinge zu begehren.
Kleśa – Leiden (durch Unwissenheit und dessen Auswirkungen). Es gibt fünf Arten von kleśa: avidyā (Unwissenheit), asmitā (Egoismus), rāga (Mögen), dveṣa (Abneigung) und abhiniveśa (Anhaften am weltlichen Leben).
etajjñeyaṃ nityamevātmasaṃsthaṃ nātaḥ paraṃ veditavyaṃ hi kiñcit।
:bhoktā bhogyaṃ preritāraṃ ca matvā sarvaṃ proktaṃ trividhaṃ brahma-metat॥ 12॥
12. Das gilt es zu erkennen als ewig im eigenen Selbst existierend. Wahrlich: Nichts Höheres als Das gibt es zu wissen. Wenn man den Erfahrenden, das Objekt der Erfahrung und den Waltenden oder höchsten Regenten erkennt, ist alles gesagt worden. Das ist das dreifache brahman.
ERLÄUTERUNG: Ātmasaṃstham – im eigenen Selbst existierend; jñeyam – zu wissen; veditavyam – zu wissen; bhoktā – der Erfahrende, der Genießende; bhogyam – das Erfahrene, das Genossene; proktam – ist erklärt in den Veden.
Wenn man diese drei – den Erfahrenden (die individuelle Seele), das Erfahrene und den Waltenden/Zuteilenden bzw. den höchsten Regenten – als brahman erkennt, erlangt man endgültige Befreiung.
Die individuelle Seele ist in ihrer Essenz das ewige brahman. Aufgrund von avidyā, Unwissenheit, ist sie sich ihrer eigenen Essenz nicht bewusst. Sie identifiziert sich mit dem physischen Körper und vergisst so ihre eigene göttliche Natur. Brahman, das Ewige, existiert schon vor der Erleuchtung im eigenen Selbst. Es leuchtet von Ewigkeit her in der Kammer des eigenen Herzens. Selbstverwirklichung, Erleuchtung, bedeutet nicht, dass man etwas Neues erlangt. Es bedeutet nur, dass man die eigene Natur erkennt, indem man die Schleier zerreißt, die Unwissenheit vernichtet und die drei Knoten (hṛdaya-granthis) zerschneidet, nämlich avidyā (Unwisssenheit), kāma (Wunsch) und karma (Handlung).
Indem man brahman erkennt, erkennt man alles andere. Das Wissen um das Selbst ist das Höchste. Nichts darüber hinaus muss gewusst werden. Brahman ist die zugrundeliegende Existenz von allem. So wie man alles, was aus Lehm gemacht ist, erkennt, wenn man den Lehm kennt, so hat man das Wissen von allem, wenn man brahman kennt. Deswegen fragte Śaunaka den Aṅgiras: kasmin bhagavo vijñāte sarvam idaṃ vijñātaṃ bhavati („Was ist Das, durch dessen Kenntnis alles andere gewusst wird?“). (Muṇḍaka-Upaniṣad, 1.3)
Ein Kenner des brahman kann auf jede Frage eine Antwort geben, selbst wenn er die spezielle Wissenschaft nicht studiert hat, denn er hat die Quelle allen Wissens angezapft.
vahneryathā yonigatasya mūrtir na dṛśyate naiva ca liṅganāśaḥ।
:sa bhūya evendhanayonigṛhyastadvobhayaṃ vai praṇavena dehe॥ 13॥
13. So wie das Feuer nicht wahrgenommen wird, wenn es in seiner Ursache, dem Holz, verborgen ist, und so wie seine subtile Form niemals zerstört wird – was sich zeigt, wenn das Holz, seine Ursache, gerieben wird –, so wird auch der ātman im Körper wahrgenommen, wenn man über die heilige Silbe om meditiert.
ERLÄUTERUNG: Vahneḥ – Feuer; mūrtiḥ – die Form; liṅganāśaḥ – Zerstörung der subtilen Form.
Om ist ein Symbol für brahman. Wenn man mit Hingabe/Gefühl (bhava) über om und seine Bedeutung meditiert, erreicht man Selbstverwirklichung. Man nimmt den ātman in der Kammer seines Herzens wahr.
taj-japaḥ tad-artha-bhāvanam
„Ständige Wiederholung von om mit Gefühl und Bewusstsein seiner Bedeutung (führt zu samādhi).“ (Patañjali: Yoga-Sūtra, 1.28)
Die Meditation entspricht dem Reiben des Feuerholzes.
svadehamaraṇiṃ kṛtvā praṇavaṃ cottarāraṇim।
:dhyānanirmathanābhyāsāddevaṃ paśyennigūḍhavat॥ 14॥
14. Indem man den eigenen Körper zum unteren Holzscheit macht und die Silbe om zum oberen Holzscheit, und indem man die Reibung der Meditation praktiziert, wird man Gott, der gewissermaßen verborgen ist, verwirklichen.
ERLÄUTERUNG: Svadeham – den eigenen Körper; araṇim – den unteren Holzscheit; praṇavam – die Silbe om; uttarāraṇim – das obere Holzstück; dhyāna-nirma-thanābhyāsāt – durch Reiben in der Form von Meditation; devam – Gott; paśyet  – man soll sehen; niguḍhavat – wie etwas, das verborgen ist.
So wie das Feuer sichtbar wird, wenn man die Hölzer aneinander reibt, so wird Gott sichtbar, wenn man auf om meditiert.
tileṣu tailaṃ dadhinīva sarpirāpaḥ srotaḥsvaraṇīṣu cāgniḥ।
:evamātmā''tmani gṛhyate'sau satyenainaṃ tapasā yo'nupaśyati॥ 15॥
15. So, wie das Öl im Sesamsamen, die Butter in der Dickmilch, das Wasser im Flussbett und das Feuer im Feuerholz, wird der ātman im eigenen Selbst gesehen von einem Menschen, der Ihn durch Wahrhaftigkeit und Askese erblickt (durch Kontrolle der Sinne und des Geistes).
ERLÄUTERUNG: Tileṣu – in den Sesamsamen; tailam – Öl; dadhini – in der Dickmilch, im Yoghurt; sarpiḥ – Butter; srotaḥsu – in den Flussbetten; ātmani – im Selbst (Intellekt, buddhi).
Das Bild soll zeigen, dass der ātman alldurchdringend ist und verborgen in allen Wesen.
sarvavyāpinamātmānaṃ kṣīre sarpirivārpitam।
:ātmavidyātapomūlaṃ tadbrahmopaniṣat param tadbrahmopaniṣat
param iti॥ 16॥
16. Der ātman, der alle Dinge durchdringt, wie die Butter die Milch, gründet in Selbsterkenntnis und Askese. Dies ist die geheime Lehre (upaniṣad) hinsichtlich brahman.
ERLÄUTERUNG: Ātmavidyā-tapomūlam – hat seine Wurzel in Selbsterkenntnis und Askese.
HIER ENDET DAS ERSTE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.
Dvitīyo 'dhyāyaḥ (Zweites Kapitel)
yuñjānaḥ prathamaṃ manastattvāya savitā dhiyaḥ।
:agnerjyotirnicāyya pṛthivyā adhyābharat॥ 1॥
1. Möge Savitṛ, nachdem er zuerst den Geist und die Sinne (auf brahman) konzentriert hat, um die Wahrheit zu erkennen, das leuchtende Feuer, das er gesehen hat, aus der Erde hervorbringen!
ERLÄUTERUNG: Prathamam – zuerst; manaḥ – Geist, Verstand, Denkorgan etc.; dhiyaḥ – die Sinne; tattvāya – um die Wahrheit zu verwirklichen; yuñjānaḥ – konzentrierend; agnerjyotiḥ – das erleuchtende Feuer der Weisheit. Das ist brahma-jñāna, Wissen um das Selbst, welches die Dunkelheit der Unwissenheit zerstört, das karma verbrennt und der Seele Erleuchtung bringt, indem es sie die Einheit mit der höchsten Seele erfahren lässt. Pṛthivīḥ – Erde, Materie im Allgemeinen.
In diesem Kapitel werden die Mittel beschrieben, Konzentration auf brahman zu entwickeln. Die ersten vier Verse enthalten einen Lobpreis auf Savitṛ (Gottheit der Sonne), um Konzentration zu erlangen. Sie sind dem saṃhitā-Abschnitt des weißen Yajur-Veda entnommen. Der Wahrheitssucher ruft sehr eindringlich Savitṛ an und bittet um Inspiration und Selbstkontrolle. Er sollte zunächst seinen Geist reinigen – durch selbstlosen Dienst (niṣkāma-karma-yoga), mantra-Wiederholung (japa), gemeinsames Singen spiritueller Lieder (kīrtana), sattviges Essen, Dienst am spirituellen Lehrer (guru) und an den Armen. Nur dann wird er in der Lage sein, die Wirkung von Konzentration zu erfahren. Die Sinne sollten kontrolliert werden. Sie sollten von ihren Objekten abgezogen werden. Man kann keine wahre Konzentration erfahren, wenn die Sinne nicht kontrolliert sind. Disziplinierung der Sinne ist die erste spirituelle Praxis.
yuktena manasā vayaṃ devasya savituḥ save।
:suvargeyāya śaktyā॥ 2॥
2. Durch die Gnade des göttlichen Savitṛ, lass uns, eifrig und mit konzentriertem Geist, nach der höchsten Glückseligkeit streben!
ERLÄUTERUNG: Yuktena manasā – mit konzentriertem manas (Geist); vayam – wir; śaktyā – eifrig, kräftig; suvargeyāya – nach der höchsten Glückseligkeit;
suvarga steht hier für die höchste Glückseligkeit des brahman).
Stetiges und eifriges sādhana bzw. abhyāsa ist notwendig, wenn man Selbstverwirklichung erlangen will. Regelmäßigkeit ist von höchster Wichtigkeit. Puruṣārtha ist essenziell. Gott hilft denen, die sich selbst helfen.
Asaṃśayaṃ mahābāho mano dur-nigrahaṃ calam
abhyāsena tu kaunteya vairāgyeṇa ca gṛhyate
„Zweifellos, o mächtig Bewaffneter (Arjuna), der Geist ist schwer zu beherrschen und ruhelos; aber durch Übung und Leidenschaftslosigkeit kann er bezähmt werden.“ (Bhagavad-Gītā, 6.35)
Abhyāsa-vairāgyābhyāṁ tan-nirodhaḥ
„Er [der Geist] kann durch ununterbrochene Übung und Leidenschaftslosigkeit kontrolliert werden.“ (Patañjali: Yoga-Sūtra, 1.12)
yuktvāya manasā devānsuvaryato dhiyā divam।
:bṛhajjyotiḥ kariṣyataḥ savitā prasuvāti tān॥ 3॥
3. Nachdem sie die Sinne, den manas und den Intellekt kontrolliert haben – wodurch der Himmel erreicht wird –, möge Savitṛ bewirken, dass sie das höchste göttliche Licht verwirklichen.
ERLÄUTERUNG: Yuktvāya – kontrolliert habend; manasā – mithilfe des Geistes; devān – die Sinne; suvar-yataḥ – den Himmel anstrebend; dhiyā – mithilfe des Intellekts; bṛhajjyotiḥ – das unendliche Licht; tān – sie.
Die Sinne haben eine natürliche Tendenz in Richtung auf ihre äußeren Objekte. Der sādhaka sollte diese nach außen gehende Tendenz zügeln – durch die Übung von dama (Selbstbeherrschung) und pratyāhāra (Zurückziehen [der Sinne]). Er sollte den Sinnen nicht erlauben, in Kontakt mit ihren Gegenständen zu kommen. Er sollte die Sinne vom manas abkoppeln, indem er den manas ständig über die Form Gottes nachdenken lässt bzw. über die Qualitäten des brahman. Dies ist in der Tat eine herausfordernde Praxis, aber die Frucht davon sind immerwährender Friede und Unsterblichkeit. Deswegen musst du sie unter allen Umständen üben.
Suvar (Himmel) bedeutet hier „Sinnesfreuden“, durch den Genuss äußerer Objekte. Du wirst die Sinne mithilfe eines reinen Geistes und Intellekts kontrollieren und den Geist mit japa, vairāgya etc. reinigen müssen. Die Sinne wirken mithilfe des Geistes (manas). Wenn dieser gereinigt ist, kommen die Sinne unter Kontrolle.
yuñjate mana uta yuñjate dhiyo viprā viprasya bṛhato vipaścitaḥ।
:vi hotrā dadhe vayunāvideka inmahī devasya savituḥ pariṣṭutiḥ॥ 4॥
4. Groß ist die Herrlichkeit von Savitṛ, der alldurchdringend, unendlich und allwissend ist, der allein die Regeln kennt und der die Opferriten der Brahmanen festgelegt hat. Die Weisen kontrollieren ihren Geist und ihren Intellekt und üben Meditation.
ERLÄUTERUNG: Yuñjate – sie kontrollieren; manaḥ – der Geist (manas); dhīyaḥ – der Intellekt; viprāḥ – die Weisen; viprasya – alldurchdringend; vipaścitaḥ – all-wissend; pariṣṭutiḥ – Herrlichkeit; mahī – groß.
Die vṛttis (Gedankenwellen des Geistes), sollten kontrolliert werden. Nur dann kann man das innere Selbst – das stets in sich ruht – verwirklichen. So wie der Meeresboden bei starker Wellengang nicht erkennbar ist, erkennt man auch bei aufgewühlten Gedanken den ātman nicht.
yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ
„Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist.“
(Patañjali: Yoga-Sūtra, 1.2)
Sobald die vṛttis unter Kontrolle sind, ruht der yogī im saccidānanda-svarūpa (glückseligen reinen Selbst).
yuje vāṃ brahma pūrvyaṃ namobhir vi śloka etu pathyeva sūreḥ।
:śṛṇvantu viśve amṛtasya putrā ā ye dhāmāni divyāni tasthuḥ॥ 5॥
5. Ich verehre euer uraltes brahman mit Hingabe. Meine Verse schreiten dahin wie die Sonnen in ihrem Lauf. Mögen die Söhne der Unsterblichkeit zuhören, auch die, die himmlische Regionen bewohnen.
ERLÄUTERUNG: Pūrvyam – den offen sichtbaren; amṛtasya – der Unsterblichkeit; putrāḥ – die Söhne; divyāni – Regionen; tasthuḥ – die bewohnen.
Ein ṛṣi (Seher), der Selbstverwirklichung erlangt hat, ermutigt andere, auch nach diesem höchsten Zustand zu streben – selbst jene, die in himmlischen Bereichen wohnen. Selbst Halbgötter [Wesenheiten aus anderen Dimensionen] genießen nicht dieselbe Glückseligkeit, wie die eines Selbstverwirklichten.
Alle Wesen sind Nachkommen des unsterblichen brahman, denn sie sind aus brahman hervorgegangen. Sie sind die Kinder des Nektars. Brahman ist die Quelle von allem.
agniryatrābhimathyate vāyuryatrādhirudhyate।
:somo yatrātiricyate tatra sañjāyate manaḥ॥ 6॥
6. Wo das Feuer entzündet wird, wo die Luft kontrolliert wird, wo der soma-Saft überfließt, dort wird der Geist (manas) geboren.
ERLÄUTERUNG: Agniḥ – Feuer; yatra – wo; abhimathyate – wird entzündet; vāyuḥ  – Luft; yatra – wo; adhirudhyate – kontrolliert wird; somaḥ – der soma-Saft (Getränk mit berauschender Wirkung); atiricyate – überfließt; tatra – dort; manaḥ – der Geist (manas); sañjāyate – wird geboren.
Nachdem das Feuer beim soma-Opfer entzündet und angefacht worden ist, trinken die Poeten den soma-Saft und werden dadurch inspiriert. Sie schaffen neue Gesänge aus dieser Inspiration heraus.
Wenn das Feuer, d.h. das höchste Selbst (das Wissen um brahman), das alle Unwissenheit verbrennt, entzündet worden ist, indem der Körper mit der heiligen Schwingung om massiert worden ist, und wenn die die anāhata-Klänge (innere Töne die nur für den Meditierenden hörbar sind) durch prāṇāyāma erweckt worden sind, dann erlangt man die Selbstverwirklichung, d.h. brahman.
Der Suchende beginnt mit dem Opfer, praktiziert dann Yoga und erreicht schließlich nirvikalpa-samādhi, vollkommenes Wissen und ewige Glückseligkeit.
Feuer steht für das Wissen um das Selbst. Dieses höchste Wissen wird erweckt durch das Studium philosophischer Texte unter einem kompetenten Lehrer und durch stetige Meditation über brahman, das Absolute. Der guru wird durch das obere Holzscheit repräsentiert, der Schüler durch das untere. Die Meditation entspricht dem Vorgang des Reibens.
Vāyuryatrādhirudhyate („wo die Luft kontrolliert wird“) – dies bezieht sich auf die Praxis des prāṇāyāma, d.h. der yogischen Kontrolle des Atems.
Wenn man selbstlos handelt, wenn man der Menschheit mit nārāyaṇa-bhāva oder ātma-bhāva dient, ohne einen Nutzen für sich selbst zu erwarten, wenn man die Handlungen und ihre Früchte Gott opfert, erfährt man ungeheure Freude und Hochstimmung. Das bedeutet das Trinken des soma-Saftes.
Dieser Vers empfiehlt eine Verbindung von jñāna-yoga, rāja-yoga und karma-yoga. Karma-yoga reinigt den Geist, rāja-yoga beruhigt ihn und jñāna-yoga beseitigt den Schleier der Unwissenheit. Der zentrale und grundlegende Yoga ist jñāna-yoga. Alle anderen Yogaarten wirken nur unterstützend (sahakārī).
savitrā prasavena juṣeta brahma pūrvyam।
:yatra yoniṃ kṛṇavase na hi te pūrtamakṣipat॥ 7॥
7. Lass uns, durch die Gnade des Savitṛ, das uralte brahman lieben. Wenn du dort deine Quelle (brahman) erreichst, werden deine früheren Handlungen dich nicht mehr binden.
ERLÄUTERUNG: Yatra – wo; yonim – die Quelle; pūrtam – frühere Handlungen; pūrvyam – das uralte.
Dieser Vers behandelt bhakti-yoga. Damit wird die Synthese des Yoga – aus dem vorgehenden Vers – vervollständigt. Ohne bhakti (Hingabe) kannst du nicht die Gnade erfahren, die wesentlich ist, um das Wissen um brahman zu erreichen. Wenn man die Quelle brahman erreicht, ist man nicht mehr gebunden durch frühere Handlungen. Das Feuer des Wissens verbrennt die Samen des karma. Daher wird der Weise nicht wiedergeboren.
Die Regeln und Resultate des Yoga werden im folgenden Vers beschrieben.
trirunnataṃ sthāpya samaṃ śarīraṃ hṛdīndriyāṇi manasā saṃniveśya।
:brahmoḍupena pratareta vidvānsrotāṃsi sarvāṇi bhayānakāni॥ 8॥
8. Der Weise sollte den Körper aufrecht halten, Brust, Nacken und Kopf gerade in einer Linie; er sollte die Sinne und den Geist in das Herz zurückziehen und so die fürchterlichen Strömungen (der Welt) durch das Floß (bzw. Boot) brahmans überqueren.
ERLÄUTERUNG: Śarīram – den Körper; trirunnatam – mit Brust, Nacken und Kopf: samam – aufrecht gehalten; vidvān – der Weise; bhayānakāni – furchterregend; srotāṃsi – Ströungen, Strudel; brahma-uḍupena – mit dem Floß des brahman; pratareta – sollte überqueren.
samaṃ kāya-śiro-grīvaṃ dhārayann acalaṃ sthiraḥ।
:samprekṣya nāsikāgraṃ svaṃ diśaś cānavalokayan॥
„Er halte seinen Körper unbewegt, Kopf und Nacken gerade und ruhig, den Blick auf die Nasenspitze gerichtet, ohne herumzusehen.“ (Bhagavad-Gītā, 6.13)
Die Sinne und der Geist haben die Tendenz, sich den äußeren Dingen zuzuwenden. Das wird bahirmukha-vṛtti genannt. Der sādhaka sollte antarmukha-vṛtti  praktizieren, indem er wieder und wieder die Sinne und den Geist von den Objekten abzieht, durch pratyāhāra (Abwenden, Zurückziehen) und Fixieren des Geistes im Herzen.
Die furchterregenden Strömungen sind rāga (Mögen, Verlangen), dveṣa (Abneigung), vāsanā  (Wunsch) und tṛṣṇā (Begierde), die den Menschen hinabschleudern in den Ozean von Geburt und Tod.
Das Floß brahmans ist om (praṇava). Stilles Wiederholen des om, zusammen mit einer Meditation über seine Bedeutung, wird helfen, den Ozean des saṃsāra zu überqueren und uns von dem Zyklus von Geburt und Tod zu befreien.
prāṇānprapīḍyeha saṃyuktaceṣṭaḥ kṣīṇe prāṇe nāsikayocchvasīta।
:duṣṭāśvayuktamiva vāhamenaṃ vidvānmano dhārayetāpramattaḥ॥ 9॥
9. Der Weise sollte die Sinne kontrollieren, den Atem unterdrücken und regulieren, den Körper still halten, sanft durch die Nase atmen und ohne Ablenkung den Geist zügeln – jenes Gefährt mit unbändigen Pferden.
ERLÄUTERUNG: Prāṇān – die Sinne; vāham – die Zügel; dhārayeta – soll zügeln, zurückhalten.
Er sollte den Geist überwachen, so wie der Wagenlenker auf seine störrischen Pferde aufpasst. Er sollte den Geist am Zügel halten, genau wie der Wagenlenker seine wilden Pferde zügelt.
sparśān kṛtvā bahir bāhyāṃś cakṣuś caivāntare bhruvoḥ।
:prāṇāpānau samau kṛtvā nāsābhyantara-cāriṇau॥
„Wenn alle Kontakte (der Sinne) nach außen geschlossen sind und der Blick zwischen den Augenbrauen konzentriert ist; wenn der Atem harmonisch in den nasenlöchern ein- und ausströmt, ...“ (Bhagavad-Gītā,  5.27)
Duṣṭāśvayuktam vāham – Der Weise sollte die wilden Pferde (die Sinne) kontrollieren, indem er die Zügel (den Geist) fest anpackt. Eine ähnliche Metapher finden wir in der Kaṭha-Upaniṣad (1.3.3-9).
Hier geht es um die Praxis des prāṇāyāma. Wenn man den Atem kontrolliert, kontrolliert damit auch den Geist. Es gibt eine enge Verbindung von Geist und Atem. Praktiziere zwei Monate lang Einatmung (pūraka) und Ausatmung (recaka). Dann übe ganz allmählich kumbhaka (Atemanhalten). Halte den Atem nicht zu lange an – 30 bis 60 Sekunden reichen aus. Passe auch deine Diät an. Nimm nur leichte und sattvige Nahrung zu dir. Überlade nicht den Magen; iss maßvoll (mitāhāra).
same śucau śarkarāvahnivālukāvivarjite śabdajalāśrayādibhiḥ।
:mano'nukūle na tu cakṣupīḍane guhānivātāśrayaṇe prayojayet॥ 10॥
10. Man sollte seine Übungen mit Konzentration ausführen, auf einer ebenen Fläche, frei von Steinen, Feuer, Wind, Staub, Feuchtigkeit und störenden Geräuschen, wo die Umgebung angenehm für das Auge ist und wo Schatten, Höhlen und gute Wasserplätze sind – die den Konzentrationsübungen förderlich sind.
ERLÄUTERUNG: Same – wo der Untergrund eben ist; śucau – rein; śarkarā-vahni-vālukā-vivarjite – frei von Steinen und Kieseln, von Feuer und Staub; śabdajalā-śrayādibhiḥ – (frei von) störenden Geräuschen und von Feuchtigkeit; mano- 'nukūle – hilfreich für die Konzentration des Geistes.
Wenn der Platz und die Umgebung angenehm sind, wenn die spirituelle Schwingung anhebend ist und der Platz abgelegen und still, wird es leicht sein, den Geist zu konzentrieren. Ein feuchter Platz oder Raum ist nicht günstig für die Übung von prāṇāyāma. Auch sollte man prāṇāyāma nicht an einem staubigen Ort praktizieren.
nīhāradhūmārkānilānalānāṃ khadyotavidyutsphaṭikaśaśīnām।
:etāni rūpāṇi puraḥsarāṇi brahmaṇyabhivyaktikarāṇi yoge॥ 11॥
11. Wenn Yoga praktiziert wird, können Dinge wie Schnee, Frost, Rauch, die Sonne, Feuer, Wind, das Glühwürmchen, Blitz, Kristall und Mond erscheinen. Diese gehen der Manifestation brahmans voraus.
ERLÄUTERUNG: Nīhāradhūmārkānilānalānām – von Schnee, Rauch, Sonne, Wind und Feuer; khadyotavidyut-sphaṭikaśaśīnām – von Glühwürmchen, Blitz, Kristall und Mond; rūpāṇi – Formen; yoge – in der Ausübung des Yoga; puraḥ-sarāṇi – gehen voraus.
Schnee, Frost, Rauch etc. – all das sind vorläufige Erscheinungen, die der Manifestation von brahman vorausgehen.
Das Erscheinen dieser Formen zeigt an, dass du auf dem Weg der Konzentration voranschreitest und dass du sehr bald Selbstverwirklichung erlangen wirst. Diese Formen stellen verschiedene Stufen der Konzentration dar.
pṛthivyaptejo'nilakhe samutthite pañcātmake yogaguṇe pravṛtte।
:na tasya rogo na jarā na mṛtyuḥ prāptasya yogāgnimayaṃ śarīram॥ 12॥
12. Wenn die fünffache Qualität des yoga – aus Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther – erzeugt worden ist, dann erhält der yogī einen Körper, der durch das Feuer des Yoga stark geworden ist; so wird er nicht von Krankheit, Alter und Tod angegriffen.
ERLÄUTERUNG: Pañcātmake – fünffach; yogaguṇe – Qualität des Yoga; yogāgni-mayaṃ śarīram – ein Körper, stark gemacht durch das Feuer des Yoga; na – nicht; rogaḥ – Krankheit; jarā – Alter; mṛtyuḥ – Tod.
Die Qualität jedes Elements, d.i. der Geruch der Erde, der Geschmack des Wassers, der Klang des Äthers, die Form des Feuers und die Berührung der Luft nennt man den yogaguṇa. Durch die Konzentration des Geistes auf die Spitze der Nase erfährt der yogī göttlichen, übersinnlichen Geruch (divya-gandha). Durch Konzentration auf die Zungenspitze erfährt er göttlichen Geschmack. Durch Fixierung des Geistes auf den vorderen Teil des Gaumens erfährt er göttliche Farbe; durch Konzentration auf die Mitte der Zunge erfährt er göttliche Berührung und auf die Zungenwurzel erfährt er göttlichen Klang. Durch diese göttlichen Erfahrungen wird der Geist beruhigt und stetig gemacht, denn er wird nicht mehr durch äußere Objekte angezogen.
Der yogī erhält einen festen Körper (vajra-kāya) durch prāṇāyāma, Konzentration und yogische Stellungen. Er kann seinen Körper so lange erhalten, wie er will.  Der Legende nach behielt Changdev Maharaj von Maharashtra seinen Körper 1400 Jahre lang.
laghutvamārogyamalolupatvaṃ varṇaprasādaṃ svarasauṣṭhavaṃ ca।
:gandhaḥ śubho mūtrapurīṣamalpaṃ yogapravṛttiṃ prathamāṃ vadanti॥ 13॥
13. Wenn der Körper leicht und gesund geworden ist, wenn der manas frei von Wünschen ist, wenn er eine leuchtende Hautfarbe hat, eine liebliche Stimme und einen angenehmen Geruch, wenn die Ausscheidungen minimal sind, dann sagt man, dass er die erste Stufe der Konzentration erreicht hat.
ERLÄUTERUNG: Laghutvam – Leichtigkeit; ārogyam – Gesundheit; alolupatvam – Freiheit von Wünschen, manchmal auch: Festigkeit, Stetigkeit des Geistes; varṇa-prasādaḥ – leuchtende, scheinende Hautfarbe; svara-sauṣṭhavam – liebliche, gefällige Stimme; śubhaḥ gandhaḥ – angenehmer Geruch; alpam mūtrapurīṣam – spärliche Ausscheidungen; ca – und; prathamām – das erste; yoga-pravṛttim – Zeichen des Eintritts in yoga (die ersten Auswirkungen des yoga machen sich bemerkbar); vadanti – sagen sie.
yathaiva bimbaṃ mṛdayopaliptaṃ tejomayaṃ bhrājate tatsudhāntam।
:tadvātmatattvaṃ prasamīkṣya dehī ekaḥ kṛtārtho bhavate vītaśokaḥ॥ 14॥
14. So wie eine Metallplatte oder ein Spiegel, der verstaubt gewesen war, glänzt, wenn er gesäubert wird, so verwirklicht die verkörperte Seele, der jīvātman, die Einheit, erreicht das Ziel und ist frei von Kummer, wenn er die wahre Natur des ātman erkennt.
ERLÄUTERUNG: Yathā eva – genau wie; mṛdayā upaliptam – verstaubt; tat – das; bimbam – Metallplatte, Spiegel; sudhāntam – wenn gereinigt; tejomayam – glänzend; bhrājate – leuchtet, glänzt; tadvā – ebenso; dehī – der Verkörperte; ātma-tattvam – die wahre Natur des ātman; prasamīkṣya – nachdem er gesehen hat; ekaḥ  – eins; vītaśokaḥ – frei von Kummer; kṛtārthaḥ bhavate – erreicht das Ziel.
Dieser Vers beschreibt die guten Auswirkungen der Selbstverwirklichung. Der jīva erfährt normalerweise Schmerzen und Kummer – durch seine Unwissenheit, seine Identifikation mit dem Körper und durch seine Idee von „Ich“ und „Mein“. Wenn er die wahre Natur des ātman verwirklicht und seine Einheit mit dem höchsten Selbst, hört aller Kummer auf. Er erfreut sich ewiger Glückseligkeit und immerwährender Freude. Das ist die Aussage dieses Verses.
yadātmatattvena tu brahmatattvaṃ dīpopameneha yuktaḥ prapaśyet।
:ajaṃ dhruvaṃ sarvatattvairviśuddhaṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 15॥
15. Wenn der yogi durch die wahre Natur seines Selbst die wahre Natur des brahman sieht, so deutlich wie eine Lampe, dann ist er frei von allen Fesseln und Sünden, weil er den ungeborenen, ewigen Gott erkannt hat, der frei ist von allen Modifikationen der prakṛti.
ERLÄUTERUNG: Yadā – wenn; yuktaḥ – der yogī; dīpa-upamena – wie eine Lampe; ātmatattvena – durch die wahre Natur des Selbst; brahma-tattvam – die wahre Natur des brahman; prapaśyate – sieht; ajam – ungeboren; dhruvam – ewig; sarva-tattvaiḥ viśuddhaṃ – von allen Modifikationen frei, gereinigt; devam – Gott; jñātvā – nachdem er erkannt hat; vimucyate – ist befreit; sarvapāśaiḥ –
von allen Fesseln.
Tattva ist ein Begriff der sāṅkhya-Philosophie. Er bezeichnet ein Prinzip, etwas, von dem etwas anderes ableitet bzw. gewonnen wird. Tattva ist die Natur eines Dinges.
Brahman ist jenseits der Natur und ihrer drei guṇas. Wenn der yogī Selbstverwirklichung erlangt, wird er frei von aller Bindung durch karma.
eṣa ha devaḥ pradiśo'nu sarvāḥ pūrvo ha jātaḥ sa u garbhe antaḥ।
:sa eva jātaḥ sa janiṣyamāṇaḥ pratyaṅjanāstiṣṭhati sarvatomukhaḥ॥ 16॥
16. Er ist wahrlich der Gott, der alle Gegenden durchdringt. Er ist der Erstgeborene (hiraṇya-garbha). Er ist in den Mutterleib eingetreten. Er allein ist geboren und Er wird geboren werden. Er ist im Innern aller Menschen als das innere Selbst, in alle Richtungen schauend.
ERLÄUTERUNG: Sarvāḥ pradiṣaḥ – alle Richtungen; saḥ ha – Er ist; pūrvaḥ jātaḥ – der Erstgeborene; garbhe antaḥ – im Innern des Mutterleibs; janiṣyamāṇaḥ – wird geboren werden; pratyaṅ-janāḥ tiṣṭhati – sitzt in allen Menschen als der Innewohnende, der antar-yāmī; sarvato-mukhaḥ – in alle Richtungen schauend, Sein Gesicht in alle Richtungen.
Hiraṇya-garbha ist der kosmische manas, der kosmische prāṇa, die Summe aller jīvas. Er ist allgegenwärtig und so hat er sein Gesicht in alle Richtungen. Er wohnt in allen Geschöpfen als das Selbst von allen.
yo devo'gnau yo'psu yo viśvaṃ bhuvanamāviveśa।
:ya oṣadhīṣu yo vanaspatiṣu tasmai devāya namo namaḥ॥ 17॥
17. Verehrung an die Gottheit, die im Feuer ist, die im Wasser ist, die in den Pflanzen ist, die in den Bäumen ist, die das ganze Universum durchdrungen hat.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ  – welcher; devaḥ – Gott; agnau – im Feuer; yaḥ – welcher; apsu – im Wasser; yaḥ – welcher; viśvam – all, ganz; bhuvanam – Universum; āviveśa – ist eingetreten; yaḥ – welcher; oṣadhīṣu – in den Pflanzen; vanaspatiṣu  – in den Bäumen; tasmai devāya – zu jenem Gott; namo namaḥ – Verehrung, Verehrung.
Brahman steht hinter allen Phänomenen. Es lebt in all diesen Namen und Formen. Es ist die zugrundeliegende Substanz von allem. Es ist die Stütze von allem.
HIER ENDET DAS ZWEITE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.
Tṛtīyo 'dhyāyaḥ (Drittes Kapitel)
ya eko jālavānīśata īśanībhiḥ sarvāṃllokānīśata īśanībhiḥ।
:ya evaika udbhave sambhave ca ya etadviduramṛtāste bhavanti॥ 1॥
1. Er, der allein durch Seine Macht regiert, der all diese Welten durch seine Macht regiert, der Ein und Derselbe ist und bleibt, zur Zeit der Schöpfung und der Auflösung der Welten – die Ihn erkannt haben, werden unsterblich.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; ekaḥ – eins; īśata – regiert; lokān – Welten; sarvān – alle; udbhave – zur Zeit der Schöpfung; sambhave – zur Zeit der Auflösung; amṛtāḥ – unsterblich; bhavanti – werden.
Dieses Kapitel offenbart das höchste Selbst als īśa (Gott), als Rudra, der durch seine Schöpferkraft der māyā regiert.
Nirguṇa-brahman, das unpersönliche Absolute, ist frei von māyā. Es ist frei von allen upādhis (nirupādhika), d.h. von allen begrenzenden Attributen. Īśvara, der persönliche Gott (saguṇa-brahman), ist mit māyā verbunden. Māyā ist Sein upādhi oder kāraṇa-śarīra (Handlungskörper). Er ist sopādhika-brahman. Er hat māyā unter Seiner vollkommenen Kontrolle. Para-brahman und saguṇa-brahman sind ein und dasselbe. Saccidānanda ist svarūpa-lakṣaṇa. Allmacht, Allwissenheit etc. sind Seine taṭastha-lakṣaṇa. Dasselbe unperönliche Absolute wird der persönliche Gott – für die hingebungsvolle Meditation der Verehrer und Sucher.
Jāla bedeutet Schlinge oder māyā. Māyā ist die geheimnisvolle, unauslotbare Kraft Gottes. Sie ist der Same für diese Welt.
eko hi rudro na dvitīyāya tasthurya imāṃllokānīśata īśanībhiḥ।
:pratyaṅjanāṃstiṣṭhati sañcukocāntakāle saṃsṛjya viśvā bhuvanāni gopāḥ॥ 2॥
2. Es gibt nur einen Rudra, der die Welten durch Seine Kraft regiert. Neben Ihm gibt es niemanden, der Ihn an die zweite Stelle verweisen könnte. Er ist gegenwärtig im Herzen aller Wesen. Er schafft alle Welten, erhält sie und zieht sie in Sich Selbst zurück.
ERLÄUTERUNG:  Yaḥ – der; imān – diese; īśata – regiert, lenkt; īśanībhiḥ – durch Seine eigene Kraft; sañcukoca – zieht sie in Sich Selbst zurück; lokān – die Welten; antakāle – am Ende der Zeit.
Rudra repräsentiert hier para-brahman (das höchste Selbst, das Unendliche, das Absolute).
Nachdem Rudra alle Dinge geschaffen hat, zieht er sie wieder zusammen, d.h. Er nimmt sie zurück in Sich Selbst am Ende der Zeit, während des kosmischen pralaya (der Auflösung).
Im Śiva-Purāṇa ist „Rudra“ ein anderer Name für Śiva. Rudra ist derjenige, der die Sünden zerstört, das Elend Seiner Anhänger beseitigt und ihnen Weisheit und Glückseligkeit bringt. Rudra ist der antar-yāmī, der innere Lenker aller Wesen. Er ist der stille Zeuge der Handlungen und Gedanken der Menschen und teilt ihnen die Früchte ihrer Taten zu.
viśvataścakṣuruta viśvatomukho viśvatobāhuruta viśvataspāt।
:saṃ bāhubhyāṃ dhamati saṃ patatrairdyāvābhūmī janayandeva ekaḥ॥ 3॥
3. Jener eine Gott, der Seine Augen, Sein Gesicht, Seine Arme und Füße an jedem Platz hat, schafft Himmel und Erde und schmiedet sie zusammen mit Seinen Armen und Flügeln.
ERLÄUTERUNG:  Viśvataścakṣuruta viśvatomukho viśvatobāhuruta viśvataspāt – der Augen, Gesicht, Arme und Füße an jedem Platz hat; dyāvā-bhūmī – Himmel und Erde; dhamati – er verbindet die Menschen mit Armen und die Vögel mit Flügeln (saṃyojayati).
„Virāṭ“ ist ein Name des Schöpfers. Alle Augen, Gesichter, Hände und Füße gehören Ihm allein. Die Summe aller physischen Körper der jīvas ist virāṭ-puruṣa.
yo devānāṃ prabhavaścodbhavaśca viśvādhipo rudro maharṣiḥ।
:hiraṇyagarbhaṃ janayāmāsa pūrvaṃ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu॥ 4॥
4. Möge Rudra, der Schöpfer und Erhalter der Götter, der große Seher, der Gott  aller, der am Anfag hiraṇya-garbha schuf – möge Er uns gute Gedanken (einen reinen Intellekt) geben.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; devānām – Götter; prabhavaḥ – Schöpfer; udbhavaḥ – der Erhalter; viśvādhipaḥ – der Gott aller; maharṣiḥ – der große Seher; buddhyā  śubhayā – mit reinem Intellekt; saṃyunaktu – möge Er geben. (Dieser Vers wird in Kapitel 4 Vers 12 wiederholt.)
Rudra repräsentiert hier para-brahman.
Maharṣiḥ – der allwissende Seher ist Zeuge aller Gedanken und Handlungen der Menschen, deswegen kann er ihnen den Lohn ihrer Handlungen gerecht zuteilen.
Hiraṇya-garbha – goldenes Ei, brahman, kosmische/r Seele/manas/prāṇa.
Dies ist ein Gebet an Rudra, um einen reinen, glückbringenden und verfeinerten Intellekt zu erhalten. Der Wahrheitssucher kann den subtilen, reinen ātman nur mit einem reinen, scharfen und verfeinerten Intellekt wahrnehmen.
„Dieser ātman ist verborgen in allen Wesen und zeigt sich nicht, aber er kann  von feinsinnigen Sehern, mithilfe ihres scharfen Intellekts, wahrgenommen werden.“ (Kaṭha-Upaniṣad, 3.12)
yā te rudra śivā tanūraghorā'pāpakāśinī।
:tayā nastanuvā śantamayā giriśantābhicākaśīhi॥ 5॥
5. O Rudra, mit Deiner Form, die glückbringend ist, die nicht furchtbar ist und die alles Heilige zum Vorschein bringt – mit jener gesegneten Form erscheine vor uns, o Bewohner der Berge!
ERLÄUTERUNG:  Yā – was; te – Deine; śivā – glückbringend, glückverheißend; aghorā – nicht furchtbar; tanuvā – Körper; tayā – mit dem.
Śiva wohnt in dem schneebedeckten Gipfel des Berges Kailash im Himalaya. Deswegen spricht Ihn der Wahrheitssucher folgendermaßen an: „O Bewohner der Berge!“ Śiva offenbart sich entweder in einer frommen und gütigen (śanta) oder in einer schreckenerregenden (ghora) Form.
yāmiṣuṃ giriśanta haste bibharṣyastave।
:śivāṃ giritra tāṃ kuru mā hiṃsīḥ puruṣaṃ jagat॥ 6॥
6. O Herr der Berge! Lass den Pfeil, den Du in Deiner Hand bereithältst, uns wohlgesonnen sein. Zerstöre den Menschen und die Welt nicht, o Beschützer der Berge!
ERLÄUTERUNG: Yām – den; iṣum – Pfeil; giriśanta – o Zuteiler von Glück von den Bergen; haste – in Deiner Hand; bibharṣi – Du hältst; astave – zu schießen, giritra – o Beschützer der Berge.
Der Pfeil ist das mahā-vākya (der Spruch) tat tvam asi („Das bist du.“) oder praṇava (die heilige Silbe om). Dies ist eine machtvolle Waffe Gottes, um die Unwissenheit Seiner Verehrer zu vernichten.
tataḥ paraṃ brahmaparaṃ bṛhantaṃ yathānikāyaṃ sarvabhūteṣu gūḍham।
:viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāramīśaṃ taṃ jñātvā'mṛtā bhavanti॥ 7॥
7. Höher als dieser persönliche Gott ist das höchste brahman, das unendlich ist, das in allen Wesen verborgen ist, ihren Körpern angepasst, und das allein das ganze Universum durchdringt. Wer Es als Gott kennt, wird unsterblich.
ERLÄUTERUNG: Tataḥ – als dieser (persönliche Gott); param – höchste; brahma – brahman;  param – höher; bṛhantam – unendlich; yathānikāyam – entsprechend den Körpern; sarva-bhūteṣu – in allen Wesen; gūḍham – verborgen; viśvasya – des Universums; ekam – einzig, allein; pariveṣṭitāram – Durchdringer; īśām –Gott; tam – Ihn; jñātvā – erkannt habend; amṛtāḥ – unsterblich; bhavanti – werden.
Wer saguṇa-brahman (Gott mit Eigenschaften) verwirklicht, erlangt krama-mukti (fortschreitende Befreiung). Er tritt in brahma-loka ein. Wer aber die Einheit mit nirguṇa-brahman (Gott ohne Eigenschaften) verwirklicht – d.h. frei ist von māyā –, erreicht kaivalya-mukti (höchste Befreiung).
Die Gnade des persönlichen Gottes ist notwendig, um diese höchste Verwirklichung zu erreichen. Der persönliche Gott (saguṇa-brahman) und das unpersönliche Absolute (nirguṇa-brahman bzw. para-brahman) sind nicht zwei verschie- dene Entitäten. Sie sind nur zwei Aspekte desselben Gottes. Das unpersönliche Absolute nimmt eine persönliche Form an, um dem Verehrer (bhakta) zu Gefallen. Wenn ein bhakta Tränen vor Sehnsucht zu Gott vergießt und sein Herz voller Liebe zu Ihm ist, nimmt Gott genau die Form an, über die der Verehrer meditiert. Gott wird sozusagen zum Diener seines Verehrers.
vedāhametaṃ puruṣaṃ mahāntamādityavarṇaṃ tamasaḥ parastāt।
:tameva viditvā'ti mṛtyumeti nānyaḥ panthā vidyate'yanāya॥ 8॥
8. Ich kenne dieses mächtige Wesen (puruṣa), das strahlt und leuchtet wie die Sonne jenseits der Dunkelheit. Nur wenn man Ihn kennt, lässt man den Tod hinter sich. Es gibt keinen anderen Weg, Befreiung zu erlangen.
ERLÄUTERUNG:  Veda – weiß; aham – ich (hier: der Seher Śvetāśvatara); etam – dieses; puruṣam –Wesen; mahāntam – mächtig; ādityavarṇam – strahlend wie die Sonne; tamasaḥ – Dunkelheit/Unwissenheit, die Ursache für Geburt und Tod ist; parastāt – jenseits; tameva – Ihn allein; viditvā – erkannt habend; ati mṛtyum eti  – überschreitet den Tod; na – nicht; anyaḥ – anderer; panthāḥ – Weg; vidyate – es gibt; ayanāya – dafür.
Śvetāśvataras Aussage ist sehr kühn. Sie enthält nicht die leiseste Spur von Zweifel. Hat man in den Werken von Philosophen aus dem Abendland jemals eine derart kühne Behauptung gefunden? In ihren Schriften behaupten sie, dass das Absolute nicht verwirklicht werden kann, dass nichts über den Intellekt hinausgeht. Sie haben keine Verwirklichung erfahren. Sie haben nicht einen derart reinen, feinsinnigen und scharfen Intellekt. Sie haben weder Erfahrungen mit spirituellen Übungen noch mit Meditation. Die Hindu-Seher (ṛṣis) hingegen erfuhren nirvikalpa-samādhi (unmittelbare Wahrnehmung des Absoluten). Daher können sie mit voller Überzeugung sagen: „Ich kenne dieses mächtige Wesen.“
Nur das Wissen über brahman kann Dunkelheit/Unwissenheit zerstören und den Menschen aus dem Kreislauf von Geburt und Tod befreien. Es gibt keinen anderen Weg.
yasmātparaṃ nāparamasti kiṃcidyasmānnāṇīyo na jyāyo'sti kaścit।
:vṛkṣa iva stabdho divi tiṣṭhatyekastenedaṃ pūrṇaṃ puruṣeṇa sarvam॥ 9॥
9. Es gibt nichts, das höher wäre als Er oder von Ihm verschieden ist, nichts, das größer wäre oder auch kleiner als Er. Er allein ragt in den Himmel wie ein Baum – Eins ohne ein Zweites und unbeweglich. Die ganze Welt ist durch dieses Wesen gefüllt.
ERLÄUTERUNG: Yasmāt – als Er, param – höher; aparam – verschieden von; kiṃcit – irgendetwas; yasmāt – als Er; aṇīyaḥ – kleiner; jyāyaḥ – größer; kaścit – irgendjemand; na asti – ist nicht; vṛkṣaḥ iva – wie ein Baum; stabdhaḥ – unbeweglich; ekaḥ – ein; divi – im Himmel; tiṣṭhati – steht; tena puruṣeṇa – durch dieses Wesen; idam sarvam – die ganze Welt; pūrṇam – ist gefüllt.
Brahman ist die Quelle, die Ursache, der Mutterleib von allem. Wie könnte es dann etwas geben, was höher oder verschieden von Ihm wäre? Was könnte größer oder kleiner sein? Brahman durchdringt alles. Es ist die Essenz von allen Wesen. Es ist feiner als prāṇa, manas und ākāśa (Äther). Wie könnte es etwas geben, das kleiner und winziger wäre als Es? Die Unendlichkeit ist eine; das Absolute ist eines. Es kann keine zwei Unendlichkeiten geben. Daher ist brahman Eins ohne ein Zweites. Die ganze Welt ist gefüllt von Ihm – von innen und von außen. Es ist pari-pūrṇa (ganz und gar voll, überzogen von ..., angefüllt etc.). Beispiel: Wenn du ein mit Wasser gefülltes Gefäß in einem anderen größeren Gefäß, das ebenfalls mit Wasser gefüllt ist, aufbewahrst, ist das kleine Gefäß innen mit Wasser gefüllt und außen von Wasser umhüllt, also pari-pūrṇa. Das ist das Prinzip von brahman.
tato yaduttarataraṃ tadarūpamanāmayam।
:ya etadviduramṛtāste bhavantyathetare duḥkhamevāpiyanti॥ 10॥
10. Das, was jenseits dieser Welt ist, ist ohne Form und ohne Leiden. Die, die Es kennen, werden unsterblich. Die anderen haben nur Schmerz zu erdulden.
ERLÄUTERUNG:  Tataḥ – als das; yat – welches; uttarataram – höher; tat – das; arū-pam  – ohne Form; anāmayam – ohne Leiden; ye – die; etat – dies; viduḥ – wissen; te – sie; amṛtāḥ – unsterblich; bhavanti – werden; atha – aber; itare – andere; duḥkham – Schmerz; eva – nur; apiyanti – leiden.
Brahman ist niravayava (unteilbar, grenzenlos, ohne Glieder), alldurchdringend und äußerst subtil. Deswegen kann Es keine Form haben. Nur grobstoffliche Objekte haben eine Form. Es ist frei von den drei Arten von Schmerz: ādhyātmika (durch den eigenen Körper, wie etwa Krankheit etc.), ādhibhautika (durch die bhūtas, wie etwa Schlange, Tiger etc.) und adhidaiva (durch die devas, wie etwa Blitz, Regen etc.). Es ist jenseits dieser Welt. Es transzendiert diese Welt der Namen und Worte. Es hat keine Beziehung zu diesem Universum, da Es caitanya (reines Bewusstsein) ist. Wie könnte es eine wirkliche Beziehung zwischen Materie und Seele geben? Und doch ist brahman die Stütze dieser Welt und der Materie.
sarvendriyaguṇābhāsaṃ sarvendriyavivarjitam
asaktaṃ sarvabhṛccaiva nirguṇaṃ guṇabhoktṛ ca
„Durch die Funktion aller Sinne strahlend und doch ohne Sinne; unverhaftet und doch alles tragend; ohne Eigenschaften und doch der, der sie erfährt, ...“
(Bhagavad-Gītā , 13.14)
Dies ist in der Tat ein großes Mysterium!
sarvānanaśirogrīvaḥ sarvabhūtaguhāśayaḥ।
:sarvavyāpī sa bhagavāṃstasmātsarvagataḥ śivaḥ॥ 11॥
11. Er (Gott) ist das Gesicht, der Kopf und der Hals von allen. Er wohnt im Herzen aller Wesen. Er durchdringt alles. Daher ist Er allgegenwärtig und gnädig.
ERLÄUTERUNG: Sarvānana-śirogrīvaḥ – Er ist Gesicht, Kopf und Hals von allen; sarvabhūta-guhāśayaḥ – im Herzen aller wohnend; sarvavyāpī – alldurchdringend; saḥ – Er; bhagavān – der Ehrwürdige (Gott); tasmāt – deshalb; sarvagataḥ – allgegenwärtig; śivaḥ – gnädig.
Bhagavān ist der Eine, der die sechs göttlichen Eigenschaften besitzt, deswegen wird Er „der Ehrwürdige“ (bhagavān) genannt. Im Viṣṇu-Purāṇa (6.5.47) werden diese sechs Eigenschaften erwähnt:
aiśvaryasya samagrasya vīryasya yaśasaḥ śriyaḥ
jñāna-vairāgyayoś caiva ṣaṇṇāṃ bhaga itīraṇā
aiśvarya (übernatürliche Kräfte), vīrya (Stärke), yaśas (Ruhm),
śrī (Reichtum), jñāna (Weisheit) und vairāgya (Leidenschaftslosigkeit)
Alle Gesichter gehören dem Herrn. Er ist der virāṭ-puruṣa. Er ist der antar-yāmī, der innere Lenker aller Wesen. Er lenkt die Sinne, den manas, den Intellekt und die Handlungen. Der vorangegangene Vers handelte von dem reinen, formlosen, transzendenten brahman. In diesem Vers geht es um den persönlichen Gott, den saguṇa-brahman.
In dieser Upanishad finden wir eine wunderschöne Synthese der Vorstellungen vom persönlichen Gott und vom unpersönlichen Absoluten, dem saguṇa-brahman und dem nirguṇa-brahman. So wie Wasser verschiedene Formen annimmt, z.B. Dampf und Eis, so nimmt auch der formlose brahman verschiedene Formen an, um Suchende und Verehrer zufrieden zu stellen.
mahānprabhurvai puruṣaḥ sattvasyaiṣa pravartakaḥ।
:sunirmalāmimāṃ prāptimīśāno jyotiravyayaḥ॥ 12॥
12. Jene Person (puruṣa) ist wahrlich der große Gott. Er kontrolliert alles. Er ist Licht. Er ist ewig während. Er lenkt den Intellekt aller Wesen, sodass sie den höchsten reinen Zustand (mokṣa) erreichen können.
ERLÄUTERUNG:  Mahān – groß; prabhuḥ – Herr, Gott; vai – wahrlich; puruṣaḥ – Person, Urseele; sattvasya – des Intellekts aller Wesen; eṣaḥ – Er; pravartakaḥ – Lenker; sunirmalām – äußerst rein; imām – diesen; prāptim – das Erreichen; īśānaḥ – der Lenker; jyotiḥ – Licht; avyayaḥ – ewig während.
Wenn der Geist gereinigt ist, wird der Wahrheitssucher die lenkende Hand Gottes spüren, denn Gott wohnt in seinem Intellekt. Gott ist das Licht aller Lichter. Er ist selbstleuchtend. Er entfernt den Schleier der Unwissenheit, der den manas umhüllt, und hilft der Seele, den reinen und glückseligen Zustand von mukti zu erlangen, die endgültige Befreiung.
aṅguṣṭhamātraḥ puruṣo'ntarātmā sadā janānāṃ hṛdaye sanniviṣṭaḥ।
:hṛdā manīṣā manasābhikḷpto ya etadviduramṛtāste bhavanti॥ 13॥
13. Der puruṣa von der Größe eines Daumens, der durch das Herz, den Intellekt und den manas verborgen ist, wohnt immer in den Herzen aller Lebewesen als ihr inneres Selbst. Die, die Ihn kennen, werden unsterblich.
ERLÄUTERUNG: Aṅguṣṭhamātraḥ – von der Größe eines Daumens; puruṣaḥ – die Person; antarātmā – das innere Selbst; sadā – immer; janānām – der Wesen; hṛdaye – im Herzen; sanniviṣṭaḥ – wohnt; hṛdā manīṣā – durch Herz und Intellekt; manasā – und durch den Geist; abhikḷptaḥ – verborgen; ye – die; etat – dies; viduḥ – kennen; amṛtāḥ – unsterblich; te – sie; bhavanti – werden.
Aṅguṣṭhamātraḥ puruṣo'ntarātmā – diese Aussage finden wir auch in der Kaṭha-Upaniṣad (4.12-13). Es ist sehr schwierig für den Neuling, seinen Geist auf das Unendliche zu fixieren. Daher wird er aufgerufen, zunächst über ein Wesen von Daumengröße in seinem Herzen zu meditieren.
sahasraśīrṣā puruṣaḥ sahasrākṣaḥ sahasrapāt।
:sa bhūmiṃ viśvato vṛtvā'tyatiṣṭhaddaśāṅgulam॥ 14॥
14. Die Person (Urseele) hat tausend Köpfe, tausend Augen und tausend Füße. Sie umhüllt die ganze Welt von allen Seiten und ragt zehn Finger (endlos) weit über sie hinaus.
ERLÄUTERUNG: Dieser Vers ist aus dem Puruṣa-Sūkta [Hymne des Ṛg-Veda, in der das Göttliche als die Seele des Universums besungen wird] übernommen worden. Er stellt eine berühmte Passage aus dem Ṛg-Veda (10.90.1) dar.
Im ersten Teil des Verses geht es um die Immanenz Gottes, in der zweiten Hälfte um Seine Transzendenz.
Sahasraśīrṣā – hat tausend Köpfe; puruṣaḥ – der/die Mensch, Person, Urseele; sahasrākṣaḥ – hat tausend Augen; sahasrapāt – hat tausend Füße; saḥ – Er; bhūmim – die Welt; viśvataḥ – auf allen Seiten; vṛtvā – umhüllt habend; atyatiṣṭhat – ragt darüber hinaus; daśāṅgulam – zehn Finger oder endlos.
Er (Gott) überschreitet die Welt. Es kann sich aber auch auf das Herz beziehen, das zehn Finger oberhalb des Nabels liegt: Gott wohnt in den Herzen aller Geschöpfe als das innere Selbst – obwohl Er groß und unendlich ist und obwohl Er die Seele des Universums ist. Er ist immanent in allen Wesen.
Sahasraśīrṣā weist darauf hin, dass Gott (virāṭ-puruṣa) unzählbar viele Köpfe hat. Alle Köpfe (sowie Organe und Gliedmaßen) gehören Gott. Er ist es, der durch alle Hände wirkt, mit allen Mündern isst, durch alle Augen sieht, durch alle Ohren hört, mit allen Füßen geht und durch alle manas denkt. Wenn du beständig diesen Vers im Bewusstsein hast, wird das Ego allmählich verschwinden. Du wirst dich mit dem virāṭ-puruṣa (der kosmischen Seele) identifizieren und ein großzügiges Herz bekommen.
puruṣa evedaṃ sarvaṃ yadbhūtaṃ yacca bhavyam।
:utāmṛtatvasyeśāno yadannenātirohati॥ 15॥
15. Jene Person (Urseele) allein ist all dies, was war und was sein wird. Er ist auch der Gott der Unsterblichkeit. Er ist alles, was durch Nahrung wächst.
ERLÄUTERUNG:  Puruṣaḥ – die Person, das Wesen; eva – allein; idam – dies; sarvam – alles; yadbhūtam – was war; yacca bhavyam – was sein wird; uta – auch; amṛtat-vasya – der Unsterblichkeit; īśānaḥ – Gott; yadannenātirohati – Er ist alles, was durch Nahrung wächst und gedeiht.
Obwohl der puruṣa (die Urseele) sich in diesem Universum manifestiert hat, wird er doch nicht durch es berührt oder beeinflusst. Und doch ist Er der Gott der Unsterblichkeit. Asaṅgo'yaṃ puruṣa iti – „Die Urseele ist unberührt/unverhaftet“. Das ist die Aussage der śrutis.
Sāyaṇa (ind. Philosoph aus dem 14. Jh. n. Chr.) gibt eine andere Erklärung: „Er ist auch der Gott aller Unsterblichen, also der Götter, weil diese zu ihrem erhöhten Status aufsteigen durch (geopferte) Nahrung oder auch um der Nahrung willen.“
Anna bedeutet „Nahrung“. Es bezeichnet aber auch die Materie der Welt. So wie Nahrung der Gegenstand des Genusses für die Lebewesen ist, so ist auch die Welt Gegenstand der Freude für Gott.
Im Brahma-Sūtra (2.1.33) heißt es: lokavat-tu līlā-kaivalyam („Wie in der Welt gesehen, aber nur Zeitvertreib.“). Gott bringt die Welt aus sich hervor, für sein eigenes Vergnügen, als sein Spiel (līlā).
sarvataḥpāṇipādaṃ tat sarvato'kṣiśiromukham।
:sarvataḥśrutimalloke sarvamāvṛtya tiṣṭhati॥ 16॥
16. Mit Händen und Füßen überall, mit Augen, Köpfen und Mündern überall, mit Ohren überall – existiert Das alles in der Welt umfassend.
ERLÄUTERUNG: Sarvataḥ pāṇipādam – mit Händen und Füßen überall; sarvataḥ akṣiśiromukham – mit Augen, Köpfen und Mündern überall; sarvataḥ śrutimat – mit Ohren überall; loke – in der Welt; sarvam āvṛtya – alles umfassend; tiṣṭhati – existiert.
Diese Gedichtform finden wir auch in der Bhagavad-Gītā (13.13). Hier wird die göttliche Immanenz beschrieben. Alle Hände, alle Füße, alle Augen gehören allein Gott. Diese wunderschöne Synthese der Vorstellungen des persönlichen Gottes und des unpersönlichen Absoluten ist ein spezieller Zug dieser upaniṣad.
Śaṅkara erklärt das Wort loke hier mit nikāya („Wohnung“, Körper).
sarvendriyaguṇābhāsaṃ sarvendriyavivarjitam।
:sarvasya prabhumīśānaṃ sarvasya śaraṇaṃ suhṛt॥ 17॥
17. Er scheint und leuchtet mit den Qualitäten aller Sinne, und dennoch ist er ohne alle Sinne. Er ist der Gott aller, der Lenker aller, die Zuflucht für alle und der Freund aller.
ERLÄUTERUNG: Sarvendriyaguṇābhāsam – mit den Funktionen aller Sinne scheinend; sarvendriyavivarjitam – ohne alle Sinne; sarvasya prabhum – der Gott aller; īśānam – der Lenker; sarvasya śaraṇam – die Zuflucht aller; suhṛt – der Freund.
Sarvendriyaguṇābhāsam bezieht sich sowohl auf die äußeren als auch auf die  inneren Sinnesorgane sowie auf den manas, deren Qualitäten Klang, Farbe, Geschmack, Tastgefühl, Geruch,  Zweifel und Entscheidung sind.
Die erste Zeile vom Vers erscheint auch in der Bhagavad-Gītā (13.14). Gott sieht ohne Augen, hört ohne Ohren, riecht ohne Nase. Er ist caitanya (reines Bewusstsein). Daher weiß Er alles, auch ohne die Wahrnehmungsorgane.
navadvāre pure dehī haṃso lelāyate bahiḥ।
:vaśī sarvasya lokasya sthāvarasya carasya ca॥ 18॥
18. Er wohnt in dem Körper, der Stadt mit neun Toren. Er ist die Seele (haṃsa),  die sich in der äußeren Welt vergnügt. Er ist der Lenker der ganzen Welt, der ruhenden und der bewegten.
ERLÄUTERUNG: Navadvāre pure – in der Stadt mit neun Toren; dehī – der Verkörperte; haṃsaḥ – er ist die Seele; lelāyate – spielt, vergnügt sich; bahiḥ – außen; vaśī – der Herrscher, der Lenker; sarvasya lokasya – der ganzen Welt; sthāva-rasya – stationär, ruhend; carasya – bewegt; ca – und.
Gott zerstört die Wirkungen der Unwissenheit. Er wird haṃsa genannt, weil Er (Seine Seele) der Straße entlang reist (gleitet). Das Wort bedeutet ursprünglich „Schwan“*. Gott vergnügt sich in diesem Universum und wird doch nicht davon beeinflusst – so wie ein Schwan nicht vom Wasser beeinflusst wird, obwohl er im Wasser schwimmt.
Navadvāre pure („der Stadt mit neun Toren“) bezieht sich auf die Körperöffnungen. (Vgl. Kaṭha-Upaniṣad, 5.1 und Bhagavad-Gītā, 5.13)
apāṇipādo javano grahītā paśyatyacakṣuḥ sa śṛṇotyakarṇaḥ।
:sa vetti vedyaṃ na ca tasyāsti vettā tamāhuragryaṃ puruṣaṃ mahāntam॥ 19॥
19. Ohne Hände und Füße geht Er schnell und ergreift; ohne Augen sieht Er, ohne Ohren hört Er. Er weiß alles, was gewusst werden kann, doch Ihn erkennt niemand. Sie nennen Ihn den Ersten, die große Seele.
ERLÄUTERUNG: Apāṇipādaḥ – ohne Hände und Füße; javanaḥ – Er geht schnell; grahītā – Er ergreift; paśyaty acakṣuḥ – Er sieht ohne Augen; saḥ – Er; śṛṇoti –hört; akarṇaḥ – ohne Ohren; saḥ – Er; vetti – weiß; vedyam – was zu wissen ist; na – nicht; ca – und; tasya – von Ihm; vettā – Wissender; tam – Ihn; āhuḥ – sie sagen; agryam – den Ersten; puruṣam – Mensch, Person, Seele; mahāntam – groß.
Gott sieht, hört, schmeckt etc. ohne Sinne, denn Er ist eine Verkörperung von Bewusstsein (cit-svarūpa). Er ist allmächtig. Er benötigt keine Instrumente, Hilfsmittel oder Organe, deswegen wird Er der Erste, die große Seele genannt.
aṇoraṇīyānmahato mahīyānātmā guhāyāṃ nihito'sya jantoḥ।
:tamakratuḥ paśyati vītaśoko dhātuḥ prasādānmahimānamīśam॥ 20॥
20. Feiner als das Feinste, größer als das Größte – so ist der ātman versteckt im Herzen des Geschöpfes. Man wird frei von allem Kummer und allen Wünschen durch die Gnade des wunschlosen Schöpfers und man erkennt Ihn als den großen Gott.
ERLÄUTERUNG: Aṇoḥ aṇīyān – kleiner als das Kleinste; mahataḥ mahīyān – größer als das Größte; ātmā – das Selbst; guhāyām – im Herzen; nihitaḥ – ist versteckt;  asya jantoḥ – des Geschöpfes (aller belebten Wesen); tam – Ihn; akratuḥ – wunschlos; paśyati – sieht; vītaśokaḥ – frei von Kummer; dhātuḥ – des Schöpfers; prasādāt – durch die Gnade; mahimānam – den großen; īśam – Gott.
Dieser Vers erscheint auch in der Kaṭha-Upaniṣad (2.20), in der das Wort ātman anstelle von īśam auftaucht.
Die Gnade Gottes ist notwendig für die Verwirklichung der Einheit (nach advaita). Bhakti ist dem Wissen nicht entgegengesetzt. Im Gegenteil: Es hilft dem Wissen.
Die Urseele belebt sowohl die Ameise als auch den Elefanten. Sie durchdringt das ganze Universum. Sie ist ewig. Deswegen ist der ātman feiner als das Feinste und größer als das Größte.
vedāhametamajaraṃ purāṇaṃ sarvātmānaṃ sarvagataṃ vibhutvāt।
:janmanirodhaṃ pravadanti yasya brahmavādino hi pravadanti nityam॥ 21॥
21. Ich kenne diesen Unvergänglichen, Uralten, die Seele von allen, der allgegenwärtig ist durch Seine alldurchdringende Natur und den die Kenner des brahman als frei von Geburt, als ewig erklären.
ERLÄUTERUNG:  Veda – weiß; aham – ich; etam – Ihn; ajaram – unvergänglich; purāṇam – uralt; sarvātmānam – die Seele von allen; sarvagatam – allgegenwärtig; vibhutvāt – wegen Seiner alldurchdringenden Natur; janmanirodham – frei von Geburt; pravadanti – sie sagen, sie erklären; yasya – von dem; brahma-vādinaḥ – die Kenner des brahman; hi – wahrlich; pravadanti – sie erklären; nityam – ewig.
Nur der Körper – der aus Fleisch, Fett und Kochen besteht – ist Geburt, Verfall etc. unterworfen. Wie könnte es Geburt und Verfall geben für die alldurchdringende, unendliche, selbstleuchtende Seele, die körperlos (aśarīram), ohne Gliedmaßen (niravayavam) und ewig ist?
Brahman ist uralt. Es existierte schon, bevor du mit deiner Erforschung und deiner Suche begannst. Es ist der Erforschende sowie auch das Erforschte und Es ist der Gegenstand der Untersuchung. Es existiert, ewig leuchtend, ob du nun Seine Existenz zugibst oder nicht. Es existierte vor hiraṇya-garbha, vor Manu (Stammvater der Menschheit), vor den ṛṣis und den devas. Insofern ist Es uralt. Es ist der ursprüngliche puruṣa.
HIER ENDET DAS DRITTE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.
Caturtho 'dhyāyaḥ (Viertes Kapitel)
ya eko'varṇo bahudhā śaktiyogādvarṇānanekānnihitārtho dadhāti।
:vi caiti cānte viśvamādau sa devaḥ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu॥ 1॥
1. Möge jenes Göttliche Wesen, das selbst ohne Farbe ist und doch viele Farben schafft in verschiedener Weise, durch Seine eigene Kraft und mit klarer Absicht, und das die ganze Welt am Ende in sich selbst hinein auflöst – möge dieser Gott uns einen reinen Intellekt geben.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; ekaḥ – eins; avarṇaḥ – ohne Farbe; bahudhā – in vielfacher Weise; śakti-yogāt – durch Seine eigene Kraft; anekān varṇān – vielfältige Farben; nihitārthaḥ – mit fester Absicht (nihita kann auch „verborgen“ bedeuten);  dadhāti – schafft; vi caiti – auflöst; ca – und; ante – am Ende; viśvam – die Welt; devaḥ – jenes Göttliche Wesen; saḥ – Er; naḥ – uns; buddhyā śubhayā – mit reinem Intellekt; saṃyunaktu – möge uns geben; varṇān – Farbe, Qualität, Verschiedenheit. Er, der ganz eins ist und ohne Unterscheidungen, schafft zahllose Unterscheidungen gemäß deren Notwendigkeit, durch Seine Verbindung ist vielen Kräften (śaktis).
So wie ein Lichtstrahl, der durch ein Prisma geschickt wird, viele Farben annimmt, so nimmt auch das formlose brahman vielfältige Formen an, durch Seine eigene līlā, das göttliche Spiel.
tadevāgnistadādityastadvāyustadu candramāḥ।
:tadeva śukraṃ tadbrahma tadāpastatprajāpatiḥ॥ 2॥
2. Das ist das Feuer, Das ist die Sonne, Das ist die Luft, Das ist auch der Mond; Das ist das Leuchtende (sternenbesetzte Firmament); Das ist brahman, Das ist das Wasser und der Schöpfer aller Wesen.
ERLÄUTERUNG: Tat eva –  Das (das Selbst) ist; agniḥ – das Feuer; tat ādityaḥ – Das (ist) die Sonne; tat vāyuḥ – Das (ist) die Luft; tat u candramāḥ – Das (ist) auch der Mond; tat eva śukram – Das alleine ist das Strahlende/Leuchtende; tat brahma – Das (ist) brahman; tat āpaḥ – Das (ist) das Wasser; tat prajāpatiḥ  – Das (ist) der Schöpfer aller Wesen.
Die Seher benutzten maskuline und neutrale Pronomen, wenn sie das höchste Wesen charakterisierten. Die verschiedenen Götter sind nur verschiedene Aspekte ein und derselben Gottheit/Wesenheit.
Śankara lehrte, dass brahman als hiraṇya-garbha die universelle Seele ist, die alle feinstofflichen Körper durchdringt, und dass der Schöpfer aller Wesen (Prajā-pati) als virāṭ-puruṣa die universelle Seele ist, die alle grobstofflichen Körper durchdringt.
tvaṃ strī tvaṃ pumānasi tvaṃ kumāra uta vā kumārī।
:tvaṃ jīrṇo daṇḍena vañcasi tvaṃ jāto bhavasi viśvatomukhaḥ॥ 3॥
3. Du bist die Frau. Du bist der Mann. Du bist der Junge. Du bist auch das Mädchen. Du bist der/die Betagte, der/die mit dem Stock gebeugt umherwandert. Du bist geboren mit einem Gesicht, das in alle Richtungen zeigt.
ERLÄUTERUNG: Tvam – du bist; strī – die Frau; tvam – du bist; pumān – der Mann; tvam – du bist; kumāraḥ – der Junge; uta vā kumārī – du bist auch das junge Mädchen; tvam – du bist; jīrṇaḥ – abgenutzt, betagt; daṇḍena – mit dem Stock (wandern/gehen); vañcasi – gebeugt (umher); tvam – du bist; jātaḥ – geboren; bhavasi – wirst; viśatomukhaḥ – mit Deinem Gesicht in alle Richtungen. Das Wort viśatomukhaḥ weist auf die Allgegenwärtigkeit Gottes hin.
Alle Dinge der Welt sind nur Manifestationen von brahman. Wenn du dich stets an diesen Vers erinnerst, wirst du frei von Vorlieben und Abneigungen. Du wirst die Einheit des Selbst erkennen. Sarvaṃ khalvidaṃ brahma („Alles ist in der Tat brahman.“). Du wirst inspiriert werden. Dein Geist wird sich erheben. Du wirst Gott in allen Gesichtern sehen.
nīlaḥ pataṅgo harito lohitākṣastaḍidgarbha ṛtavaḥ samudrāḥ।
:anādimattvaṃ vibhutvena vartase yato jātāni bhuvanāni viśvā॥ 4॥
4. Du bist die dunkelblaue Fliege; der grüne Papagei mit roten Augen; die dunkle Gewitterwolke; die Jahreszeiten und die Ozeane. Du bist ohne Anfang; unendliche Allmacht; der, aus dem alle Welten geboren sind.
ERLÄUTERUNG: Nīlaḥ – dunkelblau; pataṅgaḥ – Fliege, Vogel, Insekt; haritaḥ – grüne (Papagai); lohitākṣaḥ – rote Augen; taḍid-garbhaḥ – „Schoß des Blitzes“, Gewitterwolke; ṛtavaḥ – Jahreszeiten; samudrāḥ – Ozeane; anādimat – ohne Anfang; tvam – du; vibhutvena – unendliche Allmacht; vartase – existierst; yataḥ – von/aus dem; jātāni – geboren sind; bhuvanāni – Welten; viśvā – alle.
Alles, was du siehst, sind die Manifestationen Gottes. Vāsudevaḥ sarvamiti – („Alle sind Vāsudeva allein.“). Brahman ist ohne Anfang. Es ist parama-kāraṇa (höchste Ursache) von allem. Es ist ursachelose Ursache. Wie könnte das Unendliche einen Anfang haben? Nur Wirkungen können einen Anfang haben.
ajāmekāṃ lohitaśuklakṛṣṇāṃ bahvīḥ prajāḥ sṛjamānāṃ sarūpāḥ।
:ajo hyeko juṣamāṇo'nuśete jahātyenāṃ bhuktabhogāmajo'nyaḥ॥ 5॥
5. Da ist eine Ungeborene von roter, weißer und schwarzer Farbe, die viele Nachkommen wie sie selbst hervorbringt. Da ist ein Ungeborener, der sie liebt und bei ihr bleibt und da ist ein anderer Ungeborener, der sie verlässt, nachdem er sich an sie erfreut hat.
ERLÄUTERUNG: ajām – Ungeborene; ekām – eine;  lohita-śukla-kṛṣṇām – von roter, weißer und schwarzer Farbe; bahvīḥ – viele; prajāḥ – Nachkommen; sṛjamānām – welche produziert; sarūpāḥ – von derselben Form; ajaḥ – ungeboren; ekaḥ – ein; juṣamāṇaḥ – angezogen oder geliebt; anuśete – liegt neben ihr; jahāti – verlässt; enām – sie; bhukta-bhogām – nachdem er sich an ihr erfreut hat; ajaḥ – ungeboren; anyaḥ – anderes.
Das ungeborene weibliche Wesen von roter, weißer und schwarzer Farbe ist prakṛti (Materie) mit ihren drei guṇas (Qualitäten): sattva (Reinheit), rajas (Leidenschaft) und tamas (Dunkelheit). Sattva ist weiß, rajas ist rot und tamas ist schwarz. Andere interpretieren die drei als die drei Urelemente: Feuer, Wasser und Erde.
Die zahllosen Nachkommen sind die vielfältigen Gegenstände der Schöpfung. Die Nachkommen ähneln ihrer Mutter (prakṛti), da sie sie die Geschöpfe und Wirkungen der prakṛti sind. Sie sind aus denselben konstituierenden Elementen gemacht.
Das ungeborene männliche Wesen, das sie liebt, ist die kosmische Urseele, der Vater aller Wesen. Es ist hiraṇya-garbha bzw. brahman.
Das andere ungeborene männliche Wesen ist die individuelle Seele, die sich aus der Gebundenheit durch die Materie befreit hat, also ein jīvan-mukta.
Die (nichtbefreite) individuelle Seele läuft – trotz Widerstände, Stöße und Schläge – den sinnlichen Vergnügungen hinterher. Sie hat noch nicht erkannt, dass Sinnesfreuden illusorisch und stets mit Leid verbunden sind.
Ein jīvan-mukta hingegen sucht die Gemeinschaft mit mahātmās (großen Seelen), erhält Belehrungen von ihnen, praktiziert Meditation und erreicht Selbstverwirklichung. Er verlässt prakṛti und das von ihr Hervorgebrachte (alle Sinnes- objekte) und ruht in seinem eigenen saccidānanda-svarūpa. – Das ist die Grundaussage dieses Verses.
dvā suparṇā sayujā sakhāyā samānaṃ vṛkṣaṃ pariṣasvajāte।
:tayoranyaḥ pippalaṃ svādvattyanaśnannanyo abhicākaśīti॥ 6॥
6. Zwei Vögel mit schönem Gefieder, untrennbare Freunde, hocken auf demselben Baum. Der eine von beiden isst die süße Frucht, der andere schaut zu, ohne zu essen.
ERLÄUTERUNG: Vers 6 (also dieser) und Vers 7 tauchen ebenfalls in der Muṇḍaka-Upaniṣad (3.1.1-2) auf.
Dvā –zwei; suparṇā – Vögel mit schönem Gefieder; sayujā – untrennbar; sakhāyā – Freunde; samānam – derselbe; vṛkṣam – Baum; pariṣasvajāte – wohnen; tayoḥ – von diesen; anyaḥ – der eine; pippalam – Frucht; svādu – süß; atti – isst; anyaḥ – der andere; anaśnan – ohne zu essen; abhicākaśīti – schaut zu.
Die zwei Vögel repräsentieren die individuelle Seele (jīva) und die höchste Seele (paramātman), Gott. Der jīva ist nur eine Reflektion des paramātmans. Insofern sind sie untrennbar.
Der Baum ist der Körper. Die Früchte des Baumes sind Vergnügen und Schmerz, die Resultate vergangener Taten. Die individuelle Seele identifiziert sich mit dem Körper und handelt aus Egoismus und in Erwartung der Früchte. Sie lebt mit der Vorstellung: „Ich bin der Handelnde.“ (kartṛtvābhimāna). Deshalb erntet sie die Früchte ihrer Handlungen und wird wiedergeboren, während die höchste Seele als stiller Zeuge daneben steht. Sie (die höchste Seele) ist völlig unbeteiligt. Daher ist sie immer glücklich.
samāne vṛkṣe puruṣo nimagno'nīśayā śocati muhyamānaḥ।
:juṣṭaṃ yadā paśyatyanyamīśamasya mahimānamiti vītaśokaḥ॥ 7॥
7. Auf demselben Baum wohnend, verstrickt sich die (nichtbefreite) Seele und fühlt sich elend. Sie ist verblendet und leidet ob ihrer Ohnmacht. Wenn sie die Zufriedenheit des anderen, Gottes, sieht und dessen Herrlichkeit erkennt, wird sie frei von Leiden.
ERLÄUTERUNG: Samāne – demselben; vṛkṣe – auf dem Baum; puruṣa – sie Seele; nimagnaḥ – wird verstrickt, verwickelt; anīśayā – ihre Natur vergessend; śocati – leidet; muhyamānaḥ – verblendet, getäuscht; juṣṭam – von allen verehrt; yadā – wenn; paśyati – sieht; anyam – den anderen; īśam – Gott; asya – Seine; mahimānam – Herrlichkeit; iti – so; vītaśokaḥ – wird frei von Leiden.
Wenn der Mensch aufgrund seiner Unwissenheit seine wahre göttliche Natur vergisst, wird er hilflos und lebt im Wahn. Wenn er, ichbezogen und voller Begierde, durch äußere Dinge angezogen wird und diese mit dem Gedanken „Ich bin der Handelnde.“ zu besitzen versucht, dann ist er im Strudel des saṃsāra gefangen.
Wenn der Mensch sich, durch Meditation und tugendhaftes Handeln, von Anhaftung und Ichbezogenheit befreit, erfährt er Gottverwirklichung. Kummer und Leid verschwinden und er erlangt ewige Wonne und Unsterblichkeit.
ṛco akṣare parame vyomanyasmindevā adhi viśve niṣeduḥ।
:yastaṃ na veda kimṛcā kariṣyati ya ittadvidusta ime samāsate॥ 8॥
8. Was nützen die Verse des Ṛg-Veda demjenigen, der jenes unzerstörbare, höchste und himmlische Wesen nicht kennt, in dem der Ṛg-Veda und alle Götter wohnen? Siehe, diejenigen, die Das kennen, ruhen in Zufriedenheit.
ERLÄUTERUNG: Ṛcaḥ – Verse des Ṛg-Veda; akṣare – unzerstörbar; parame – höchste; vyoman – in dem himmlischen Wesen; yasmin – in dem; devāḥ viśve – alle Götter; adhi niseduḥ – wohnen; yaḥ – dem(-jenigen); tam – Ihn; na veda – nicht weiß; kim – was; ṛcā – mit dem Ṛg-Veda; kariṣyati –wird tun; ye – die(-jenigen); it – siehe; tat – das; viduḥ – wissen; te ime – diese; samāsate – leben in Zufriedenheit.
Das Studium der Veden allein bzw. rein theoretisches Wissen über brahman (parokṣa-brahma-jñāna) wird uns nicht weiterhelfen, Selbstverwirklichung zu erlangen. Diejenigen, die unmittelbar das höchste Selbst schauen (aparokṣa-brahma-jñāna), werden den höchsten Frieden und ewige Zufriedenheit erreichen.
chandāṃsi yajñāḥ kratavo vratāni bhūtaṃ bhavyaṃ yacca vedā vadanti।
:asmānmāyī sṛjate viśvametattasmiṃścānyo māyayā sanniruddhaḥ॥ 9॥
9. Der Gott der māyā* bringt die Veden aus sich hervor, ebenso die Opfer, die Rituale, die religiöse Regeln, alles, was ist und was sein wird, alles, was die Veden erklären und überhaupt diese ganze Welt und uns selbst. Der andere ist darin durch māyā gebunden.
ERLÄUTERUNG: chandāṃsi – die  Veden; yajñāḥ – Opfer; kratavaḥ – die Rituale; vratāni – religiöse Regeln; bhūtam – was war; bhavyam – was sein wird; yat – was; vedāḥ – die Veden; vadanti – sagen, erklären; asmān – diese, uns eingeschlossen; māyī – der Gott der māyā; sṛjate – schafft, bringt hervor; viśvam  etat – diese Welt; tasmin – in diesem; ca – und; anyaḥ – der andere (bezieht sich auf die individuelle Seele); māyayā – durch māyā; sanniruddhaḥ – ist gebunden.
Īśvara (Gott) erschafft alles durch māyā bzw. devātma-śakti. So wie die Kobra nicht durch ihr eigenes Gift angegriffen wird, so wird auch Īśvara nicht durch māyā beeinflusst, wohingegen die individuelle Seele durch māyā gebunden und gefesselt wird.
māyāṃ tu prakṛtiṃ vidyānmāyinaṃ tu maheśvaram।
:tasyāvayavabhūtaistu vyāptaṃ sarvamidaṃ jagat॥ 10॥
10. Wisse nun, dass prakṛti (Natur, Materie) māyā ist; und der große Gott der Herr der māyā ist. Die ganze Welt ist erfüllt von Wesen, die Seine Teile sind.
ERLÄUTERUNG: Māyām – māyā; tu – in der Tat; prakṛtim – Natur, Materie; vidyāt  – wisse; māyinam – der Herr der māyā; ca – und; maheśvaram – der große Herr (Gott); tasya – Sein; avayava-bhutaiḥ – durch Wesen, die Seine Teile sind; vyāp-tam – durchdrungen, angefüllt; sarvam – alles, die ganze; idam – diese; jagat – die Welt.
Māyin (bzw. māyī) ist der Erzeuger der māyā. – Hier liegt ein Versuch vor, die Lehre des vedānta mit der des sāṅkhya zu vereinen.
Die fünf großen Elemente sind Seine Teile – so eine andere Interpretation.
yo yoniṃ yonimadhitiṣṭhatyeko yasminnidaṃ saṃ ca vi caiti sarvam।
:tamīśānaṃ varadaṃ devamīḍyaṃ nicāyyemāṃ śāntimatyantameti॥ 11॥
11. Derjenige gewinnt unendlichen Frieden, der Gott erkennt, den anbetungswürdigen Gott, den Segensgeber, der, obwohl eins, über die verschiedenen Aspekte der prakṛti herrscht; in den hinein sich dieses Universum auflöst und in dem es erneut erscheint in vielfältiger Form.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; yoniṃ yonim – all die verschiedenen Aspekte der prakṛti; adhitiṣṭhati – herrscht über; ekaḥ – eins; yasmin – in dem; idam – dieses; saṃ ca vi caiti – erscheint und sich auflöst; tam – Ihn; īśānam – Gott; varadam – den Geber von Segen; īḍyam – anbetungswürdig; nicāyya – erkennend; imām  – dies; śāntim – Frieden; atyantam – ewig; eti – erreicht.
Gemäß der Sicht der sāṅkhyas (Anhänger der sāṅkhya-Philosophie) ist der erste Schöpfer avyaktam (die nichtmanifeste Urseele) bzw. prakṛti (die Urmaterie, Urnatur). Mahat, Ichbezogenheit, manas, tan-mātras und die fünf Elemente sind vikṛtis (Produkte, Modifikationen) von prakṛti. Mahat und Ichbezogenheit sind sowohl Erzeuger wie auch Hervorgebrachtes.
yo devānāṃ prabhavaścodbhavaśca viśvādhipo rudro maharṣiḥ।
:hiraṇyagarbhaṃ paśyata jāyamānaṃ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu॥ 12॥
12. Möge Rudra, der Schöpfer und Erhalter der Götter, der große Seher, der Gott von allem, der zuschaute, wie Hiraṇyagarbha geboren wurde, möge Er uns einen reinen und glückbringenden Intellekt geben.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; devānām – der Götter; prabhavaḥ – der Schöpfer; ca – und; udbhavaśca – und Erhalter; viśvādhipaḥ – der Gott von allem; rudraḥ – Rudra; maharṣiḥ – der große Seher; hiraṇya-garbham – Hiraṇyagarbha; paśyata  – sah, jāyamānam – geboren werdend; saḥ – Er; naḥ – uns; buddhyā – mit Intellekt; śubhayā – rein und glückbringend; saṃyunaktu – möge geben.
Dies ist fast eine genaue Wiederholung von 3.4. Rudra wird hier mit dem höchsten Selbst (para-brahman) gleichgesetzt.
yo devānāmadhipo yasmiँllokā  adhiśritāḥ।
:ya īśe asya dvipadaścatuṣpadaḥ kasmai devāya haviṣā vidhema॥ 13॥
13. Lass uns Verehrung erweisen, zusammen mit Opfergaben, jenem glückseligen Gott, der das Oberhaupt der devas ist, der über die Zweibeiner und Vierbeiner herrscht und in dem all die Welten ruhen.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der (das); adhipaḥ – Oberhaupt, Herrscher; devānām – der Götter; yasmin – in dem; lokāḥ – die Welten; adhiśritāḥ – ruhen; yaḥ – der; īśe – herrscht; asya – dies; dvipadaḥ – Zweibeiner; catuṣpadaḥ – Vierbeiner; kasmai devāya – jenem Gott; haviṣā vidhema – lass uns Verehrung erweisen zusammen mit Opfergaben.
Einige (Kommentatoren) lesen tasmai statt kasmai.
sūkṣmātisūkṣmaṃ kalilasya madhye viśvasya sraṣṭāramanekarūpam।
:viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā śivaṃ śāntimatyantameti॥ 14॥
14. Wer Ihn erkennt und verwirklicht, der feiner ist als das Feinste, der die Welt schafft inmitten des Chaos, der viele Formen annimmt, der als einziger die Welt umfasst, den Glückseligen (Śiva), erlangt unendlichen Frieden.
ERLÄUTERUNG: Sūkṣmāti-sūkṣmam – feiner als das Feinste; kalilasya madhye – in der Mitte des Chaos; viśvasya – der Welt; sraṣṭāram – Schöpfer; anekarūpam – der viele Formen annimmt; viśvasya – der Welt; ekam – eins; pariveṣṭitāram – der einzige, der umhüllt; śivam – den Glückseligen; jñātvā – erkannt habend; atyantam – unendlich; śāntim – Frieden; eti – erlangt.
sa eva kāle bhuvanasya goptā viśvādhipaḥ sarvabhūteṣu gūḍhaḥ।
:yasminyuktā brahmarṣayo devatāśca tamevaṃ jñātvā mṛtyupāśāṃ-
śchinatti॥ 15॥
15. Er allein ist es, der die Welt zur rechten Zeit beschützt. Er ist das Oberhaupt der Welt, verborgen in allen Wesen. In Ihn gehen die brahma-rṣis und die Götter ein. Wer Ihn auf diese Weise kennt, zerschneidet die Fesseln des Todes.
ERLÄUTERUNG: Saḥ – Er; eva – allein; kāle – zur rechten Zeit; bhuvanasya – der Welt; goptā – Beschützer; viśvādhipaḥ – das Oberhaupt/Herrscher der Welt; sarvabhūteṣu – in allen Wesen; gūḍhaḥ – verborgen; yasmin – in denen; yuktāḥ – verschmolzen, absorbiert; brahmarṣayaḥ – die großen Seher; ca – und; devatāḥ – die Gottheiten; tam – Ihn; evam – so, auf diese Weise; jñātvā – gewusst habend; mṛtyu-pāśāṃśchinatti – zerschneidet die Fesseln des Todes.
Die brahma-rṣis (hochrangige Seher wie Vasiṣṭha), Seher allgemein und die Gottheiten finden ihre wahre Essenz allein in brahman.
ghṛtātparaṃ maṇḍamivātisūkṣmaṃ jñātvā śivaṃ sarvabhūteṣu gūḍham।
:viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 16॥
16. Wer den Glückseligen (Śiva) kennt, der in allerfeinster Form in allen Wesen verborgen ist, feiner als die Essenz von Ghee, der allein das Universum umhüllt, ist befreit von allen Bindungen und Fesseln.
ERLÄUTERUNG: Ghṛtāt – als Ghee (ghī = gereinigtes Öl/Fett, das meist aus Butter hergestellt wird); param – feiner; maṇḍam – Essenz; iva – wie; atisūkṣmam – äußerst fein; jñātvā – erkannt habend; śivam – den Glückseligen; sarvabhūteṣu gūḍham – verborgen in allen Wesen; viśvasya – des Universums; ekam – allein; pariveṣṭitāram – Umhüller; jñātvā – erkannt habend; devam – die Gottheit; mucyate  – wird befreit; sarva-pāśaiḥ – von allen Fesseln.
Butter, Sahne und Ghee existieren in der Milch in Form winziger, unsichtbarer Teilchen. Wenn die Milch gebuttert und geschäumt wird, werden diese verborgenen Teilchen sichtbar, so ähnlich wie der feine ātman durch Meditation „aufgerührt“ und verwirklicht wird.
eṣa devo viśvakarmā mahātmā sadā janānāṃ hṛdaye sanniviṣṭaḥ।
:hṛdā manīṣā manasābhikḷpto ya etadviduramṛtāste bhavanti॥ 17॥
17. Jener Gott, der Schöpfer des Universums, die höchste Seele, wohnt immer in den Herzen aller Wesen, wobei er (scheinbar) durch Herz, Intellekt und manas begrenzt wird. Jene, die das wissen, werden unsterblich.
ERLÄUTERUNG: Eṣaḥ – dieser; devaḥ – Gott; viśvakarmā – der Schöpfer des Universums; mahātmā – die höchste Seele; sadā – (für) immer; janānām – der Wesen; hṛdaye – im Herzen; sanniviṣṭaḥ – wohnt; hṛdā – durch das Herz; manīṣā – durch den Intellekt; manasā – durch den manas; abhikḷptaḥ – begrenzt, ye – die; etat – dies; viduḥ – wissen; amṛtāḥ – unsterblich; te – die; bhavanti – werden.
Die zweite Hälfte dieses Verses kommt auch in der Kaṭha-Upaniṣad (6.9) vor.
yadā'tamastanna divā na rātrirna sanna cāsacchiva eva kevalaḥ।
:tadakṣaraṃ tatsaviturvareṇyaṃ prajñā ca tasmātprasṛtā purāṇī॥ 18॥
18. Wenn die Unwissenheit verschwunden ist, dann gibt es weder Tag noch Nacht, weder Existenz noch Nichtexistenz. Dann ist da nur Śiva, der Allgesegnete, der unvergänglich ist, das anbetungswürdige Licht von Savita (Gottheit der Sonne). Aus Ihm kam die uralte, zeitlose Weisheit hervor.
ERLÄUTERUNG: Yadā – wenn; atamaḥ – Abwesenheit von Dunkelheit; tat – dann; na divā – kein Tag; na – nicht; rātri – Nacht; na sat – weder Sein; na cāsat – noch Nichtsein; śivaḥ eva kevalaḥ – dann ist da nur Śiva, der Allgesegnete; tat – das; akṣaram – unvergänglich; tat savituḥ vareṇyam – das anbetungswürde Licht von Savitṛ (siehe auch Gāyatrī-Mantra); prajñā – Weisheit; ca – und; tasmāt – von und aus Ihm; prasṛtā – ist hervorgekommen; purāṇī – die uralte.
Atamas – keine Dunkelheit (das Licht des Wissens). Wenn die Dunkelheit der Unwissenheit und Illusion vertrieben worden ist, dann verschwinden alle Unterscheidungen und Verschiedenheiten. Es gibt weder sat noch asat, wenn die Dunkelheit der Unwissenheit fort ist. Das bedeutet aber nicht, dass brahman, das Absolute, nur eine Leere ist. Es bedeutet, dass brahman alles Relative dieses Universums transzendiert. Daher wird gesagt: „Es ist der glückselige Śiva, der Unvergängliche, das anbetungswürdige Licht“ etc.
Brahman ist die Quelle der Veden. Die Veden sind Sein Atem. Es ist die Quelle allen uralten Wissens, das uns in der Form der Veden überliefert worden ist. Daher wir gesagt, dass das alte Wissen aus Ihm hervorgekommen ist.
nainamūrdhvaṃ na tiryañcaṃ na madhye na parijagrabhat।
:na tasya pratimā asti yasya nāma mahadyaśaḥ॥ 19॥
19. Niemand kann Ihn fassen, oben, quer oder in der Mitte. Es gibt nichts, das Ihm gleicht. Sein Name ist große Herrlichkeit.
ERLÄUTERUNG: Ūrdhvam – oben; tiryañcam – quer; madhye – in der Mitte; na parijagrabhat – niemand kann ergreifen; na tasya pratimā asti – es gibt nichts, das Ihm gleicht/ es gibt kein Bild von Ihm; yasya – dessen; nāma – Name; mahat – groß; yaśaḥ – Herrlichkeit.
Da brahman äußerst fein, formlos, ohne Gliedmaßen, nichtbegrenzbar, alldurchdringend und unteilbar ist, kann Es durch die Sinnesorgane der Menschen nicht erfasst werden.
na saṃdṛśe tiṣṭhati rūpamasya na cakṣuṣā paśyati kaścanainam।
:hṛdā hṛdisthaṃ manasā ya enamevaṃ viduramṛtāste bhavanti॥ 20॥
20. Seine Form kann nicht gesehen werden. Niemand nimmt Ihn durch das Auge wahr. Die, die Ihn durch Intuition, im Herzen wohnend, erkennen, werden unsterblich.
ERLÄUTERUNG: Na – nicht; saṃdṛśe (sandṛśe) – im Bereich der Wahrnehmung; tiṣṭhati – steht; rūpamasya – Seine Form; na cakṣuṣā paśyati – wird nicht gesehen durch die Augen; kaścana – irgendetwas; enam – dieses; hṛdā – durch das Herz; hṛdistham – im Herzen wohnend; manasā – durch den Geist; ye – die; enam – dies; viduḥ – wissen, erkennen; amṛtāḥ te bhavanti – werden unsterblich.
Brahman ist außer Reichweite der Sinne und des Geistes.
Hṛdā manasā – dies ist das Auge der Intuition bzw. das göttliche Auge (jñāna-cakṣus bzw. divya-cakṣus). Wenn alle vṛttis (Modifikationen) des Geistes zur Ruhe kommen durch brahma-cintana (Meditation über brahman), dann wird brahma-kāra-vṛtti erzeugt. Das ist das Auge der Intuition. Der Meditierende verwirklicht  brahman durch brahma-kāra-vṛtti.
Brahma-kāra-vṛtti entspricht dem Auge der Intuition. Brahma-kāra-vṛtti entsteht durch das sattvige antaḥ-karaṇa des Meditierenden, der ausgerüstet ist mit den vier Mitteln der Erlösung und der über die Bedeutung des mahā-vākya „tat tvam asi“ meditiert (einen der „großen Sprüche“ der Upanishaden). Brahma-kāra-vṛtti zerstört den āvaraṇa, den Schleier der Unwissenheit, und dadurch leuchtet brahman durch sich selbst auf. Die Einzelseele verschmilzt mit der höchsten Seele, indem sie die Einheit mit Ihm erkennt.
ajāta ityevaṃ kaścidbhīruḥ prapadyate।
:rudra yatte dakṣiṇaṃ mukhaṃ tena māṃ pāhi nityam॥ 21॥
21. Manch einer nähert sich Dir in Furcht, wissend, dass Du der Ungeborene bist. O Rudra, sei gnädig und beschütze mich für immer durch Dein gütiges Antlitz!
ERLÄUTERUNG: Ajāta iti evam – als den Ungeborenen; kaścit – manch einer; bhīruḥ – in Furcht; prapadyate – nähert sich; rudra – o Rudra; yat – welches, te – Dein; dakṣiṇam – wohlwollend, gütig; mukham – Gesicht; tena – mit dem; mām – mich; pāhi – beschütze; nityam – für immer.
Einige Sucher, die Leidenschaftslosigkeit und Unterscheidungsfähigkeit erworben haben, sind in Angst vor saṃsāra und māyā. Sie möchten den Ozean von Geburt und Tod so schnell wie möglich überqueren. Sie blicken auf Gott und hoffen auf Hilfe, Führung und Schutz. Sie beten zu Ihm, meditieren über Ihn und singen Sein Lob. Schließlich finden sie Ihn und verschmelzen mit Ihm. Sie werden eins mit Gott.
mā nastoke tanaye mā na āyuṣi mā no goṣu mā no aśveṣu rīriṣaḥ।
:vīrān mā no rudra bhāmito vadhīrhaviṣmantaḥ sadamit tvā havāmahe॥ 22॥
22. O Rudra, füge unseren Kindern und Enkeln keinen Schaden zu! Verschone unser Leben, unsere Kühe und Pferde! Erschlage nicht, in Deinem Zorn, unsere tapferen Männer! Wir rufen Dich allzeit an mit unseren Gaben.
ERLÄUTERUNG: Mā – nicht; naḥ – unsere; toke – Kinder; tanaye – Enkel; āyuṣi – in Bezug auf Leben; goṣu – Vieh; aśveṣu – Pferde, rīriṣaḥ – verletze; vīrān – tapfer; bhāmitaḥ – im Zorn; mā vadhīḥ – töte nicht; haviṣmantaḥ – mit Opfergaben; sadamit tvā – Dich immer; havāmahe – rufen an.
Dies ist ein schönes Gebet für das Wohlergehen der ganzen Welt.
Die Sucher sind wahrlich tapfere Helden, denn sie führen einen ständigen und furchtbaren Krieg mit dem Geist, den Sinnen, den vāsanās und alten saṃskāras. Sie begegnen vielen Hindernissen. Mit Geduld und Anstrengung überwinden sie diese, wachsam und klug. Sogar der große Weltkrieg wird nach einigen Jahren zu Ende sein, aber der innere Krieg wird lange andauern. Daher werden die Sucher als Helden angesehen, tapferer als die Heerführer. Die getöteten Soldaten werden ihr Haupt nicht mehr erheben, aber in dem inneren Krieg werden die vāsanās und die Sinne immer wieder auferstehen.
HIER ENDET DAS VIERTE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.
Pañcamo 'dhyāyaḥ (Fünftes Kapitel)
dve akṣare brahmapare tvanante vidyāvidye nihite yatra gūḍhe।
:kṣaraṃ tvavidyā hyamṛtaṃ tu vidyā vidyāvidye īśate yastu so'nyaḥ॥ 1॥
1. Unwissenheit ist wahrlich sterblich. Wissen ist wahrlich unsterblich. In dem unvergänglichen und unendlichen höchsten brahman sind Wissen und Unwissenheit verborgen. Vollkommen verschieden von diesen ist brahman, der sowohl Unwissenheit als auch Wissen kontrolliert.
ERLÄUTERUNG: Dve – zwei; akṣare – in dem unsterblichen; brahmapare – in dem höchsten brahman; tu – wahrlich; anante – in dem Undendlichen; vidyāvidye – Wissen und Unwissenheit; nihite – existieren; yatra – in dem; gūḍhe – verborgen; kṣaram – sterblich, vergänglich; tu – wahrlich; avidyā – Unwissenheit; hi – wahrlich; amṛtam  – unsterblich; tu – wahrlich; vidyā – Wissen; vidyāvidye – Wissen und Unwissenheit; īśate – kontrolliert; yaḥ – der; tu – wahrlich; saḥ – Er, anyaḥ – verschieden.
Kṣaram – Ursache für Bindung und Unfreiheit (saṃsṛti-kāraṇam); amṛtam – Ursache für Befreiung (mokṣa-hetu). Brahman ist verschieden von Wissen und Unwissenheit. Es ist der Zeuge (sākṣī).
Wissen und Unwissenheit sind nur Modifikationen des manas. Sie existieren in brahman. Brahman herrscht über sie.
Brahmapare – Er, der größer als Brahmā bzw. Hiraṇyagarbha ist – das höchste brahman.
yo yoniṃ yonimadhitiṣṭhatyeko viśvāni rūpāṇi yonīśca sarvāḥ।
:ṛṣiṃ prasūtaṃ kapilaṃ yastamagre jñānairbibharti jāyamānaṃ ca paśyet॥ 2॥
2. Er ist der Eine, der jedem Mutterschoß (yoni) und jeder Form vorsteht. Er schaut der Geburt des erstgeborenen Sehers von goldener Farbe (ṛṣi Kapila) zu  und gibt ihm alle Arten von Wissen, am Anfang der Schöpfung.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; yoniṃ yonim – jedem Mutterschoß; adhitiṣṭhati – steht vor; ekaḥ – einer; viśvāni – alle; rūpāṇi – Formen; yonīḥ – Mutterschöße; sarvāḥ  – alle; ṛṣim – den Seher; prasūtam – sieht die Geburt; kapilam – der Goldfarbene; yastamagre – der zu Beginn der Schöpfung; jñānaiḥ – mit allen Arten von Wissen; bibharti – versieht ihn; jāyamānam – geboren werdend; ca – sieht.
Das höchste Selbst trägt in seinen Gedanken den weisen Sohn (Hiraṇyagarbha) wie eine Mutter und sieht auf ihn wie ein Vater, wenn er geboren wird.
Der erstgeborene Seher von goldener Farbe ist Hiraṇyagarbha bzw. Brahmā, der dieses Universum erschafft. Kapila ist ein anderer Name von Hiraṇyagarbha. Hiraṇyagarbha ist ausgestattet mit vier Arten von Wissen: Tugend, Wissen der Veden, Überwindung der Wünsche (vibhūtis) und übermenschliche Kräfte (aiśvarya).
ekaika jālaṃ bahudhā vikurvannasminkṣetre saṃharatyeṣa devaḥ।
:bhūyaḥ sṛṣṭvā patayastatheśaḥ sarvādhipatyaṃ kurute mahātmā॥ 3॥
3. Dieser Gott wirft ein Netz nach dem anderen aus, auf vielfältige Weise, und zieht jedes wieder ein, in jenem Feld. Wenn Er auf diese Weise die Herrscher geschaffen hat, hält er wiederum Seine Oberherrschaft über sie alle aufrecht.
ERLÄUTERUNG: Kṣetre – das Feld (oder mūla-prakṛti, ist der Same dieser Welt, auch bekannt als māyā, pradhāna, avyaktam, das Unmanifeste etc.); jālam – das Netz (des saṃsāra); ekaikam (oder pratyekam) – jedes einzelne Geschöpf (seien es Götter, Menschen, Tiere, Vögel etc. Gott erschafft vielfältige Unterschiede, z.B. Geschlecht, Art, Typ); bhūyaḥ – immer wieder, stets (bezieht sich auf die Schöpfungszyklen); patayaḥ – die Herren (bezieht sich auf die Weltenhüter, wie z.B. Marīci und andere hochrangige Seher).
sarvā diśa ūrdhvamadhaśca tiryakprakāśayanbhrājate yadvanaḍvān।
:evaṃ sa devo bhagavānvareṇyo yonisvabhāvānadhitiṣṭhatyekaḥ॥ 4॥
4. So wie die Sonne strahlt und damit alle Richtungen erleuchtet, oben, unten und quer, so herrscht jener eine anbetungswürdige Gott, der Gesegnete, über alle Geschöpfe, die aus dem Mutterleib geboren werden.
ERLÄUTERUNG: Sarvāḥ – alle; diśaḥ – Richtungen; ūrdhvam – oben; adhaḥ – unten; tiryak – quer; prakāśayan – erleuchtend; bhrājate – scheint, strahlt; anaḍvān – die Sonne; evam – so; saḥ – Er; devaḥ – Gott; bhagavān – der Erhabene (Gott); vareṇyaḥ – anbetungswürdig; yoni-svabhāvān – alles, das die Natur der Ursache hat; adhitiṣṭhati – lenkt, regiert, steht vor; ekaḥ – einer.
Yoni-svabhāvān ist prakṛti und alles, was sie hervorbringt, nämlich mahat (Intellekt), ahaṅ-kāra (Ego, Ichbewusstsein), manas (Geist, Denkorgan) etc. sowie alles, das ihr gleicht, nämlich die fünf Elemente, die Ihrer Ursache/Natur (prakṛti) gleichen. Yoni-svabhāvān könnte aber auch anders interpretiert werden: „Er (Brahmā), die Ursache der ganzen Welt, herrscht über die Elemente, die an seiner Natur teilhaben.“
yacca svabhāvaṃ pacati viśvayoniḥ pācyāṃśca sarvānpariṇāmayedyaḥ।
:sarvametadviśvamadhitiṣṭhatyeko guṇāṃśca sarvānviniyojayed yaḥ॥ 5॥
5. Er, welcher der Ursprung der Welt ist, bringt die Natur von allem zur Reife und führt die zur Vollkommenheit, die zur Reife gebracht wurden. Er gibt allen Wesen ihre spezifischen Eigenschaften und herrscht über dieses gesamte Universum.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; ca – und; svabhāvam – seine eigene Natur; pacati – bringt zur Reife; viśvayoniḥ – der Ursprung der Welt; pācyān – die soweit sind, dass sie zur Vollkommenheit gebracht werden können; sarvān – alle; pariṇāmayet – verändert; etat – dies, viśvam – Universum; adhitiṣṭhati – regiert; ekaḥ – eins; guṇān – die Qualitäten; sarvam – alles; viniyojayet – verteilt, verleiht; yaḥ – der.
Die gesamte Evolution des Universums ist allein in den Händen Gottes. Er ist der Lenker, Herrscher und der Kontrollierende. Er verteilt die Qualitäten an die passenden und dafür vorgesehenen Objekte. Er teilt die Früchte der Handlungen zu, gemäß dem Gesetz von Ursache und Wirkung (karma).
tadvedaguhyopaniṣatsu gūḍhaṃ tadbrahmā vedate brahmayonim।
:ye pūrvaṃ devā ṛṣayaśca tadviduste tanmayā amṛtā vai babhūvuḥ॥ 6॥
6. Er ist verborgen in den Upanishaden, die wiederum in den Veden verborgen sind. Hiraṇyagarbha kennt Ihn als die Ursache seiner selbst (oder als die Ursache der Veden). Jene Gottheiten und Seher, die Ihn in uralten Zeiten erkannt haben, wurden eins mit ihm und wurden in der Tat unsterblich.
ERLÄUTERUNG: Tat – das; vedaguhyopaniṣatsu – in den Upanishaden, die in den Veden verborgen sind; gūḍham – ist verborgen; tat brahmā – jener Brahmā bzw. Hiraṇyagarbha; vedate – weiß; brahma-yonim – als die Quelle seiner selbst/ der Veden; ye – die; pūrvam – in alten Zeiten; devāḥ – die Gottheiten; ṛṣayaḥ – die Seher; tat – das; viduḥ – verwirklichten, erkannten; te – sie; tanmayāḥ – wurden identisch mit Ihm; amṛtāḥ – unsterblich; vai – wahrhaftig; babhūvuḥ – sie wurden.
Die Erkenntnis der Identität der individuellen Seele mit dem höchsten Selbst führt zur Unsterblichkeit und zu mokṣa.
guṇānvayo yaḥ phalakarmakartā kṛtasya tasyaiva sa copabhoktā।
:sa viśvarūpastriguṇastrivartmā prāṇādhipaḥ saṃcarati svakarmabhiḥ॥ 7॥
7. Der, der an den Eigenschaften (guṇas) verhaftet ist, vollbringt Handlungen mit Blick auf deren Früchte und genießt dann die Früchte seiner Handlungen. Obwohl er in Wahrheit der Herrscher des Lebens ist, wird er durch die drei guṇas gebunden, nimmt verschiedene Formen an und wandert, aufgrund seiner eigenen Handlungen, entlang der drei Pfade.
ERLÄUTERUNG: Guṇānvayaḥ – den Eigenschaften/Qualitäten verhaftet; yaḥ – der; phala-karma-kartā – vollbringt Handlungen, um deren Früchte zu bekommen; kṛtasya  tasya – seiner eigenen Handlungen; upabhoktā – Genießender, Erfahrender; saḥ  – er; viśvarūpaḥ – nimmt verschiedene Formen an; tri-guṇaḥ – gebunden durch die drei Eigenschaften/Qualitäten; tri-vartmā – durch die drei Pfade; prāṇādhipaḥ – der Herrscher des Lebens; sañcarati – wandert; sva-karma-bhiḥ – aufgrund seiner eigenen Handlungen.
Die drei Pfade sind dharma (Tugend), adharma (Laster) und jñāna (Wissen). Es könnten aber auch die drei Pfade gemeint sein, denen die Seele nach dem Tod folgen kann: deva-yāna (der Weg der Götter), pitṛ-yāna (der Weg der Vorväter) und tiryaṅ-mārga (der Pfad [mārga] der niedrigen/rückgängigen [tiryañc] Geburten).
aṅguṣṭhamātro ravitulyarūpaḥ saṅkalpāhaṅkārasamanvito yaḥ।
:buddherguṇenātmaguṇena caiva ārāgramātro hyaparo'pi dṛṣṭaḥ॥ 8॥
8. Fein wie die Spitze einer Ahle, strahlend wie die Sonne, wird Er doch wahrgenommen als etwas anderes (verschieden von der universalen Seele), das die Größe eines Daumens, ein Ich und einen Willen (saṅkalpa) hat. Das geschieht durch die Begrenzungen des Intellekts und des Herzens.
ERLÄUTERUNG: aṅguṣṭhamātraḥ – von der Größe eines Daumens; ravitulyarūpaḥ – strahlend wie die Sonne; saṅkalpāhaṅkāra-samanvitaḥ – versehen mit Ego und Willen; buddherguṇenātmaguṇena caiva – auch aufgrund der Begrenzungen des Intellekts und des Herzens; ārāgramātraḥ – wie die Spitze einer Ahle (Nadel); aparaḥ – ein anderes (die individuelle Seele); api – auch; dṛṣṭaḥ – wird wahrgenommen.
Das reine, alldurchdringende brahman wird wahrgenommen als Mensch oder Einzelseele, mit Wille und Ichbewusstsein, mit Intellekt und Körper. Das geschieht durch das begrenzende Prinzip der Unwissenheit. Intellekt, Herz, manas, Körper, Ego – all das sind Modifikationen oder Auswirkungen von avidyā (Unwissenheit). Wenn diese Begrenzungen transzendiert werden, verschmilzt die Seele mit brahman, wird eins mit Ihm und wird selbst brahman. Avidyā wirkt durch die drei guṇas. Man sollte die drei guṇas überwinden. Nur dann kann man mit dem höchsten Wesen eins werden. Das Überwinden der guṇas bedeutet: Zerstören der Unwissenheit und der Begrenzungen des Menschen.
vālāgraśatabhāgasya śatadhā kalpitasya ca।
:bhāgo jīvaḥ sa vijñeyaḥ sa cānantyāya kalpate॥ 9॥
9. Die individuelle Seele ist so fein wie der hundertste Teil einer Haarspitze, und das noch durch Hundert geteilt. Und doch ist sie (in ihrer Essenz) unendlich. Sie sollte gekannt werden.
ERLÄUTERUNG: Vālāgraśatabhāgasya – wie der hundertste Teil einer Haarspitze; śatadhā kalpitasya ca – und das geteilt durch Hundert; bhāgaḥ – Teil; jīvaḥ – die Einzelseele; saḥ – die; vijñeyaḥ – sollte gekannt werden; saḥ – sie; ānantyāya – für/zu Unendlichkeit; kalpate – ist fähig.
Der ātman ist außerordentlich subtil und feinstofflich (ati-sūkṣma).
bahirantaśca bhūtānām acaraṃ carameva ca
sūkṣmatvāttadavijñeyaṃ dūrasthaṃ cāntike ca tat
„(Dieser ātman ist) außerhalb und innerhalb aller beweglichen und unbeweglichen Wesen. Wegen Seiner Feinstofflichkeit ist Er nicht zu erkennen. Er ist (zugleich) ganz nahe und ganz weit weg.“ (Bhagavad-Gītā, 13.15)
Um dieses subtile ātma-tattva zu erkennen, braucht es einen reinen, feinsinnigen und scharfen Intellekt.
eṣa sarveṣu bhūteṣu gūḍho''tmā na prakāśate ।
:dṛśyate tvagryayā buddhyā sūkṣmayā sūkṣmadarśibhiḥ ॥
„Dieser ātman ist verborgen in allen Wesen und ist nicht äußerlich sichtbar (leuchtet nicht), kann aber von denen, die einen scharfen und subtilen Intellekt haben, gesehen werden.“ [Kaṭha-Upaniṣad, 3.12]
naiva strī na pumāneṣa na caivāyaṃ napuṃsakaḥ।
:yadyaccharīramādatte tene tene sa yujyate॥ 10॥
10. Er ist weder weiblich noch männlich noch neutral. Welchen Körper er auch immer annimmt, mit dem verbindet oder identifiziert er sich.
ERLÄUTERUNG: Naiva strī – nicht weiblich; na pumān – nicht männlich; eṣaḥ – dieser; na – nicht; caivāyam – auch nicht; napuṃsakaḥ – neutral; yat yat – was auch immer; śarīram – Körper; ādatte – annimmt; tena tena – mit jedem von denen; yujyate – wird verbunden.
Das Geschlecht bezieht sich nur auf den physischen Körper. Wie könnte sich Geschlechtszugehörigkeit an dem alldurchdringenden, unendlichen, körperlosen, gliedlosen, reinen ātman zeigen, dem höchsten Selbst?
saṅkalpanasparśanadṛṣṭimohairgrāsāmbuvṛṣṭyā cātmavivṛddhijanma।
:karmānugānyanukrameṇa dehī sthāneṣu rūpāṇyabhisamprapadyate॥ 11॥
11. Durch Gedanken, Kontakte, Sehen und Täuschung nimmt die verkörperte Seele nacheinander an verschiedenen Orten verschiedene Formen an – abhängig von ihren Handlungen – so wie der Körper durch Essen und Trinken wächst.
ERLÄUTERUNG: Saṅkalpana-sparśana-dṛṣṭi-mohaiḥ – durch Gedanken, Kontakt, Sehen und Täuschung; grāsāmbuvṛṣṭyā – durch Schauer von Nahrung und Getränken; ātmāvivṛddhijanma – das Wachstum des Körpers; karmānugānyanu-krameṇa –nacheinander in Abhängigkeit von seinen Handlungen; dehī – die verkörperte Seele; sthāneṣu – an verschiedenen Orten; rūpāṇi – Formen; abhisamprapadyate – nimmt an.
So wie Essen und Trinken das Wachstum des Körpers fördern, so tragen die verschiedenen Handlungen zum Wachstum der Seele bei. Der Mensch entwickelt sich schnell durch gute Handlungen. Rechtmäßige Handlungen reinigen das Herz. Essen und Trinken nähren den Körper. Gute Taten nähren die Seele.
sthūlāni sūkṣmāṇi bahūni caiva rūpāṇi dehī svaguṇairvṛṇoti।
:kriyāguṇairātmaguṇaiśca teṣāṃ saṃyogaheturaparo'pi dṛṣṭaḥ॥ 12॥
12. Die inkarnierte Seele nimmt viele Formen an, grob und fein, entsprechend ihrer eigenen Qualitäten, der Qualität ihrer Taten und der ihres Geistes. Die Ursache der Verbindung mit diesen Formen ist noch eine andere.
ERLÄUTERUNG: Sthūlāni – grob; sūkṣmāṇi – fein; bahūni – viele; caiva – und auch; rūpāṇi – Formen; dehī – die inkarnierte Seele; svagūṇaiḥ – durch die eigenen Qualitäten; vṛṇoti – wählt oder übernimmt; kriyāguṇaiḥ – durch die Qualitäten der Handlungen; ātmaguṇaiḥ – durch die Qualitäten des Geistes; teṣām – ihr; saṁyoga-hetuḥ – die Ursache der Vereinigung; aparaḥ – eine andere; api – auch; dṛṣṭaḥ – ist gefunden.
Die eigenen Qualitäten sind die des Körpers. Der Mensch nimmt einen neuen Körper an – entsprechend der Qualitäten seines vorangegangenen Körpers, Geistes und seiner Handlungen. Er wählt einen Körper entsprechend den Eindrücken, die durch seine früheren Handlungen in seinem früheren Körper zurückgeblieben sind. Die Ursache der Vereinigung mit dem Körper ist Gott.
anādyanantaṃ kalilasya madhye viśvasya sraṣṭāramanekarūpam।
:viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 13॥
13. Wer Ihn kennt, der keinen Anfang und kein Ende hat, der die Welt inmitten des Chaos schafft, der verschiedene Formen annimmt und der das Universum umhüllt, der wird von allen Fesseln befreit.
ERLÄUTERUNG: Anādyanantam – ohne Anfang und Ende; kalilasya – des Chaos; madhye – in der Mitte; viśvasya – der Welt; sraṣṭāram – Schöpfer; anekarūpam – der verschiedene Formen annimmt; viśvasya – des Universums; ekam – eins; pariveṣṭitāram – der umhüllt; jñātvā – gewusst habend, devam – Gott; mucyate – befreit sich selbst; sarvapāśaiḥ – von allen Fesseln. (Vgl. 3.7 und 4.14, 16)
bhāvagrāhyamanīḍākhyaṃ bhāvābhāvakaraṃ śivam।
:kalāsargakaraṃ devaṃ ye viduste jahustanum॥ 14॥
14. Jene, die den Gott kennen, der durch unmittelbare intuitive Wahrnehmung verwirklicht werden muss, der ohne Körper ist, der die Ursache von Existenz und Nichtexistenz ist, der allgesegnet und die Ursache der (sechzehn) Teile ist, sind befreit von erneuter Verkörperung.
ERLÄUTERUNG: Bhāvagrāhyam – durch direkte intuitive Wahrnehmung zu verwirklichen; anīḍākhyam – der ohne Körper, nichtmateriell ist; bhāvābhāvakaram – der die Ursache von Existenz und Nichtexistenz ist; śivam – der Allgesegnete; kalāsargakaram – „der die Ursache des Entstehens der sechzehn Teile (kalā) ist“/ „der durch seine innewohnende  Kraft erschafft“/ „der die Veden und andere Wissenschaften erschafft“;  devam – Gott; ye – die; viduḥ – wissen, te – die; jahuḥ – geben auf; tanum – Körper.
Die sechzehn kalās sind: prāṇa (Lebensatem), śraddhā (Glaube), kha (hier: Äther), vāyu (Wind), jyoti (Feuer, Licht), apa (Wasser), pṛthvī (Erde), indriyas (Organe), manas (Verstand, Geist etc.), anna (Nahrung), vīrya (männlicher Same), tapas (Askese), mantra (heiliger Vers), karma (Handlung), kāla (Zeit) und nāma (Name).
HIER ENDET DAS FÜNFTE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.
Ṣaṣṭho 'dhyāyaḥ (Sechstes Kapitel)
svabhāvameke kavayo vadanti kālaṃ tathānye parimuhyamānāḥ।
:devasyaiṣa mahimā tu loke yenedaṃ bhrāmyate brahmacakram॥ 1॥
1. Einige verwirrte Denker sagen, dass die Natur die Ursache des Universums ist, andere sprechen von der Zeit als Ursache. Es ist aber in Wahrheit die Herrlichkeit Gottes, durch die sich dieses Rad brahmans bewegt und dreht.
ERLÄUTERUNG: Svabhāvam – Natur; eke – einige; kavayaḥ – Denker; vadanti – sagen; kālam – Zeit; tathā – auch; anye – andere; parimuhyamānāḥ – verwirrte, getäuschte; devasya – Gottes; mahimā – Größe; tu – in der Tat; loke – in der Welt; yena – durch das; idam – dieses; bhrāmyate – wir gedreht; brahma-cakram – das Rad brahmans. (siehe auch Seite 445f., 1.4)
Das brahman-Rad wird durch die Größe Gottes bewegt. Gott steht hinter allen Naturphänomenen. Gott ist die eigentliche Kraft hinter allem. Er ist der Herr der māyā, der Natur. Es sind nur die verwirrten und in der Täuschung lebenden Denker, die die Natur oder die Zeit als die erste Ursache dieses Universums ansehen.
yenāvṛtaṃ nityamidaṃ hi sarvaṃ jñaḥ kālakāro guṇī sarvavidyaḥ।
:teneśitaṃ karma vivartate ha pṛthivyaptejo'nilakhāni cintyam॥ 2॥
2. Es ist unter dem Befehl dessen, der ewig diese Welt durchdringt, der allwissend ist, der Schöpfer der Zeit, der Schöpfer der guṇas, alles überblickend, dass dieses Werk (die Schöpfung) sich entfaltet, das man als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther bezeichnet.
ERLÄUTERUNG: Yena – durch den; āvṛtam – durchdrungen; nityam – ewig; idam – dieses; hi – in der Tat; sarvam – alles; jñaḥ – allwissend; kāla-kāro guṇī – Schöpfer/Ursache/Quelle von Zeit und Eigenschaften; sarvavit – allwissend; yaḥ – der; tena – durch Ihn; īśitam – beherrscht, gelenkt; karma – Werk (die Schöpfung); vivartate – entfaltet; pṛthivyaptejo'nilakhāni – als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther; cintyam – wird genannt bzw. gedacht als.
Mit dem Wort vivartate wird hier der Vivarta-Vāda von Śaṅkara angedeutet: Brahman erscheint als die Welt, ohne in Wahrheit selbst einer Veränderung unterworfen zu sein – so wie das auf dem Boden liegende Seil als Schlange erscheint.
tatkarma kṛtvā vinivartya bhūyastattvasya tattvena sametya yogam।
:ekena dvābhyāṃ tribhiraṣṭabhirvā kālena caivātmaguṇaiśca sūkṣmaiḥ॥ 3॥
3. Er schafft diese Welt und ruht dann wieder, nachdem er eine Einheit eingegangen ist mit einem Prinzip (tattva) nach dem anderen, mit einem, mit zweien, mit dreien oder mit acht, und auch mit der Zeit und mit den subtilen Qualitäten des Geistes.
ERLÄUTERUNG: Tatkarma – Schöpfung; kṛtvā – hervorgebracht habend; vinivartya – zieht sich zurück; bhūyaḥ – wieder; tattvasya – des Prinzips; tattvena – mit den Prinzipien; sametya – eingegangen seiend; yogam – Einheit; ekena – mit einem; dvābhyām – mit zwei; tribhiḥ – mit drei; aṣṭabhiḥ – mit acht; vā – oder; kālena – mit der Zeit; ca – und; eva – allein, wahrlich; ātmaguṇaiḥ – Qualitäten des Geistes (Liebe, Ärger etc.); sūkṣmaiḥ – subtil.
Gott erschafft dieses Universum und bleibt dann der stille Zeuge. Das bedeutet für Gott ein „Ruhen“. Er wird von dem Prozess dieser Welt in keiner Weise berührt. Er bleibt ganz unverhaftet, wie der Äther, und unterstützt doch alles.
sarvendriyaguṇābhāsaṃ sarvendriyavivarjitam
asaktaṃ sarvabhṛccaiva nirguṇaṃ guṇabhoktṛ ca
„Durch die Funktion aller Sinne strahlend und doch ohne Sinne; unverhaftet und doch alles tragend; ohne Eigenschaften und doch der, der sie erfährt,“
(Bhagavad-Gītā, 13.15)
Die acht Prinzipien sind die acht Erzeuger der sāṅkhyas: avyaktam (das Unmanifestierte und die Wurzel von allem), der Intellekt, das Ego und die fünf tan-mātras (subtilsten Urelemente) – oder: die fünf Elemente, der manas, der Intellekt und das Ego.
Prinzip eins ist avyaktam (bzw. prakṛti) und mit der Seele verbunden; Prinzip zwei sind avyaktam und Intellekt; Prinzip drei sind avyaktam, Intellekt und Ego.
Es gibt noch eine andere Interpretation: Prinzip eins ist avidyā (Unwissenheit); Prinzip zwei sind dharma und adharma (Richtig und Falsch); rāga und dveṣa (Wünsche und Abneigungen); Prinzip drei sind die drei Körper (physisch, subtil, kausal), guṇas (tamas, rajas, sattva), avasthās (Wachen, Träumen, Tiefschlaf) oder das Raum-Zeit-Kontinuum (Zeit, Raum und Kausalität).
ārabhya karmāṇi guṇānvitāni bhāvāṃśca sarvānviniyojayedyaḥ।
:teṣāmabhāve kṛtakarmanāśaḥ karmakṣaye yāti sa tattvato'nyaḥ॥ 4॥
4. Er bestimmt den Beginn der Schöpfung, verbunden mit den drei guṇas und ordnet alle Dinge. Er verursacht die Zerstörung des Werkes, wenn die guṇas nicht mehr wirken, und Er bleibt allein für sich, in seiner Essenz, nach der Zerstörung.
ERLÄUTERUNG: Ārabhya – beginnend; karmāṇi – Schöpfung; guṇānvitāni – verbunden mit den guṇas; bhāvān – Dinge; ca – und; sarvāni – alle; viniyojayet – ordnet und lenkt; yaḥ – der; teṣām – ihr; abhāve – Abwesenheit; kṛtakarmanāśaḥ – verursacht die Zerstörung des Werkes; karmakṣaye – nach der Zerstörung; yāti bleibt; saḥ – Er; tattvataḥ – in Seiner Essenz; anyaḥ – anders.
Dieser Vers ist nicht ganz eindeutig, denn er wird auch folgendermaßen interpretiert: „Wer immer seine Werke Gott hingibt und Ihm opfert, versehen mit ihren Qualitäten, ist befreit von dem Kreislauf von Geburt und Tod, wenn die Folgen seiner Taten durch Nichtanhaftung zerstört sind. Er wird nicht länger von den Auswirkungen seiner Handlungen berührt.“
Śaṅkaras Interpretation dazu lautet: „Wenn seine Taten zerstört und seine Natur gereinigt ist, bewegt sich der Mensch weiter, abgetrennt von allen Dingen (tattva) und von den Auswirkungen der Unwissenheit. Er weiß, dass er brahman ist.“ Oder falls wir anyad („verschieden von“) lesen, heißt es: „Er geht zu brahman, der verschieden ist von allen Dingen bzw. von allen Prinzipien der Natur, d.h. er wird wie brahman.“
Wenn die Unwissenheit zerstört ist, hört die Arbeit, die ein Mensch tut, auf. Wenn seine Arbeit endet, wird die Seele frei vom saṃsāra, weil er in Wahrheit ein anderer ist, nämlich verschieden von Unwissenheit und deren Produkten.
Vijñānātma (der Autor von Tātparyārthadyotinī, ein Kommentar zum Pañca-pādikā) sagt: „Wenn ein Mensch, nachdem er seine Taten vollbracht hat, sich von ihnen abwendet und Einheit des einen tattva (des tvam, des Selbst) mit dem wahren tattva (dem Das, Gott) gewinnt, dann wird er frei. Die Werkzeuge dazu sind: (1) die Lehren des guru, (2) die Liebe zum guru und zum Gott, (3) Hören (śravaṇa), Erinnern (manana) und tiefe Meditation (nididhyāsana); weiterhin die folgenden acht Dinge: Selbstbeherrschung, Askese, Körperhaltungen (āsanas), Atemkontrolle (prāṇāyāma), Zurückziehen der Sinne, Konzentration, Meditation und samādhi. Weiterhin: die Zeit (die rechte Zeit für die Tätigkeit), tugendhafte Charaktereigenschaften, z.B. Mitgefühl etc., und Hunger nach Wissen.“
Teṣām abhāve – in Abwesenheit der guṇas. Wenn die drei guṇas im Gleichgewicht sind (guṇa-sāmyāvasthā), dann kommt es zur Auflösung (pralaya), oder „Involution“, der Welt. Wenn das Gleichgewicht gestört ist (viṣamāvasthā), dann entsteht die Schöpfung.
ādiḥ sa saṃyoganimittahetuḥ parastrikālādakalo'pi dṛṣṭaḥ।
:taṃ viśvarūpaṃ bhavabhūtamīḍyaṃ devaṃ svacittasthamupāsya pūrvam॥ 5॥
5. Er ist der Beginn, Er ist die erste Ursache der Verbindung von Körper und Seele. Er ist jenseits der drei Unterteilungen der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und Er ist überhaupt ohne Teile. Der anbetungswürdige Gott, der als die Welt erscheint, der die wahre Quelle aller Geschöpfe ist und im eigenen Herzen wohnt, wird erfahren durch den, der Ihn vorher in seinem Herzen verehrt und vergegenwärtigt hat.
ERLÄUTERUNG: Ādiḥ – Beginn; saḥ – Er; saṃyoganimittahetuḥ – die Ursache der Vereinigung; paras trikālāt – jenseits der drei Unterteilungen der Zeit; akalaḥ – ohne Teile; api – auch; dṛṣṭaḥ – wird gesehen; tam – Ihn; viśvarūpam – der als das Universum erscheint; bhavabhūtam – die wahre Quelle aller Geschöpfe; īḍyam – anbetungswürdig; devam – Gott; svacittastham – wohnend im eigenen Herzen; upāsya – meditiert habend; pūrvam – vorher.
Dieses Universum ist ganz und gar eine Manifestation Gottes. Es ist der Körper von virāṭ (Makrokosmos). Er ist die erste Ursache der Vereinigung von Geist und Materie. Er ist jenseits der drei Zeiten und Er ist auch ohne Zeit (akāla). Er ist ohne Teile und unteilbar (akhaṇḍa).
Wer vorher upāsana oder Verehrung geübt hat, erreicht jñāna oder Wissen um brahman. Bhakti führt zu Wissen. Para-bhakti und jñāna sind eins.
Der unsterbliche ātman wohnt unmittelbar im eigenen Herzen. Er ist das innerste Selbst aller Wesen. Er ist der antar-yāmī (der innere Lenker).
sa vṛkṣakālākṛtibhiḥ paro'nyo yasmātprapañcaḥ parivartate'yam।
: dharmāvahaṃ pāpanudaṃ bhageśaṃ jñātvā''tmasthamamṛtaṃ viśvadhāma॥ 6॥
6. Er transzendiert den Weltenbaum, die Zeit und die Form. Er ist es, aus dem das Universum hervortritt. Er ist die Quelle aller Tugenden, der Zerstörer aller Sünden, der Meister aller guten Eigenschaften. Erkenne Ihn als das eigene Selbst, als den unsterblichen Urgrund des ganzen Universums.
ERLÄUTERUNG: Saḥ – Er; vṛkṣakālākṛtibhiḥ paraḥ – den Baum des saṃsāra transzendierend sowie auch Zeit und Form; anyaḥ – anders; yasmāt – von dem; pra-pañcaḥ – Universum; parivartate – tritt hervor; ayam – dieses; dharmāvaham – die Quelle aller Tugenden; pāpanudam – der Zerstörer aller Sünden; bhageśam – Meister aller guten Eigenschaften; jñātvā – erkannt habend; ātmastham – im eigenen Herzen wohnend; amṛtam – unsterblich; viśvadhāma – der Wohnsitz des Universums.
Die Welt ist der Baum des saṃsāra bzw. māyā. Die Beschreibung des Baumes finden wir in der Kaṭha-Upaniṣad (6.1) und in der Bhagavad-Gītā (15.1).
Er wird als Das erkannt, wenn man Ihn verehrt hat oder Ihn in sich selbst erkannt hat.
Das Universum bewegt sich in Zyklen: von Erschaffung über Erhaltung zu Zerstörung  und von dort wieder zur Schöpfung etc.
Er etabliert die Tugenden, Er zerstört das Böse, Er ist der Gott aller Herrlichkeiten und aller Fülle. Er wohnt in unserem eigenen Selbst und ist unsterblich – wer Ihn als solchen erkennt, gewinnt etwas, das anders ist als die materiellen Prinzipien der Schöpfung.
    tamīśvarāṇāṃ paramaṃ maheśvaraṃ taṃ devatānāṃ paramaṃ ca daivatam। 
    patiṃ patīnāṃ paramaṃ parastādvidāma devaṃ bhuvaneśamīḍyam॥ 7॥
7. Mögen wir Ihn erkennen, den transzendenten und anbetungswürdigen Lenker der Welt, der der große, höchste Gott aller Götter ist, die höchste Gottheit aller Gottheiten und der höchste Gebieter aller Gebieter.
ERLÄUTERUNG: Tam – Ihn; īśvarāṇām paramam maheśvaram – der große, höchste Gott der Götter; tam – Ihn; devatānām paramam ca daivatam – die höchste Gottheit aller Gottheiten; patīnām paramam patim – der höchste Gebieter aller Gebieter; parastāt – transzendent; vidāma – mögen wir erkennen; devam – Gottheit; bhuvaneśam – den Lenker der Welt; īḍyam – anbetungswürdig.
Die Götter sind Brahmā, Viṣṇu, Rudra, Vaivasvata, Yama u.a. Die Gottheiten sind Indra, Agni, Varuṇa u.A. Die Regierenden sind die prajāpatis, z.B. Kasyapa, Hiraṇyagarbha etc.
na tasya kāryaṃ karaṇaṃ ca vidyate na tatsamaścābhyadhikaśca dṛśyate।
:parāsya śaktirvividhaiva śrūyate svābhāvikī jñānabalakriyā ca॥ 8॥
8. Bei ihm gibt es keine Wirkung und keine Ursache. Wir sehen keinen, der Ihm gleich wäre oder gar über Ihm stünde. Seine große Macht und Kraft wird (in den Veden) als vielfältig beschrieben. Sein Wissen, Seine Stärke und Seine Handlungen werden als zu Seiner Natur gehörig beschrieben.
ERLÄUTERUNG: Na – nicht; tasya – Seine; kāryam – Wirkung; karaṇam – Ursache; ca – und; dṛśyate – wird gesehen; asya – Seine; parā śaktiḥ – große Kraft; vividhā  – vielfältig; śrūyate – wird erklärt; svābhāvikī – natürlich; ca – und.
Für Ihn gibt es keine Wirkung (kāryam) und keine Ursache (karaṇam). Mit „Wirkung“ ist der Körper gemeint, mit „Ursache“ die Organe.
na tasya kaścitpatirasti loke na ceśitā naiva ca tasya liṅgam।
:sa kāraṇaṃ karaṇādhipādhipo na cāsya kaścijjanitā na cādhipaḥ॥ 9॥
9. Es gibt keinen Gebieter über Ihn in dieser Welt, keinen, der über Ihn herrscht, und es gibt nicht einmal ein Zeichen von Ihm (durch das Er erschlossen werden könnte). Er ist die Ursache, der Herrscher über die Vorsteher der Organe. Er hat keinen Erzeuger und es gibt auch niemanden, der Sein Gebieter wäre.
ERLÄUTERUNG: Na – nicht; tasya – von Ihm; kaścit – irgendein; patiḥ – Herr; asti – ist; loke – in dieser Welt; na – nicht; īśitā –Herrscher; na eva – es gibt nicht; tasya – von Ihm; liṅgam – Zeichen; saḥ – Er; kāraṇam – Ursache; karaṇādhipa-adhipaḥ – das Oberhaupt der Organe; na – nicht; ca asya – und Sein; kaścit-janitā – irgendein Erzeuger, na ca – noch; adhipaḥ – Herrscher, Oberhaupt.
Ein liṅga ist ein Zeichen, ein Merkmal, aus dem Seine Existenz erschlossen werden könnte. Wenn es ein solches Zeichen gäbe, wäre da keine Notwendigkeit für die Veden, Ihn zu offenbaren. Er ist jenseits von Logik und Schlussfolgerung. Die Existenz Gottes kann nicht mit Logik bewiesen werden. Er kann nur intuitiv in samādhi wahrgenommen werden, durch das Auge der Weisheit, d.h. durch  brahmakāra-vṛtti (ständiges Denken an brahman).
yastantunābha iva tantubhiḥ pradhānajaiḥ svabhāvataḥ।
:deva ekaḥ svamāvṛṇoti sa no dadhādbrahmāpyayam॥ 10॥
10. Möge jener alleinige Gott, der sich – ganz aus sich selbst heraus – mit dem Hervorgebrachten der prakṛti, der Natur, umhüllt – so wie eine Spinne sich mit ihren eigenen Fäden einwickelt (die aus ihrem Nabel kommen) – möge dieser Gott uns die Einheit mit brahman gewähren.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; tantunābhaḥ – Spinne; iva – wie; tantu-bhiḥ – mit Fäden; pradhānajaiḥ – mit den Produkten der prakṛti (Urnatur); sva-bhāvataḥ – spontan; devaḥ – Gott; ekaḥ – einer; āvṛṇoti – bedeckt, umhüllt; saḥ – Er; naḥ – uns; dadhāt – möge gewähren; brahmāpyayam – Einheit mit brah⁠man,
d.i. brahman-apyayam (in das Absolute eingehen), ekībhāvam (das Einswerden).
Pradhāna ist ein anderer Name für avyaktam, mūla-prakṛti oder māyā, also die erste Ursache und der Same der Welt.
eko devaḥ sarvabhūteṣu gūḍhaḥ sarvavyāpī sarvabhūtāntarātmā।
:karmādhyakṣaḥ sarvabhūtādhivāsaḥ sākṣī cetā kevalo nirguṇaśca॥ 11॥
11. Gott ist einer und Er ist verborgen in allen Wesen. Er durchdringt alles und ist die innere Seele von allen. Er überwacht alle Handlungen; alle Wesen leben in Ihm. Er ist der Zeuge und Er ist reines Bewusstsein. Er steht für sich allein und ist frei von allen Eigenschaften.
ERLÄUTERUNG: Ekaḥ – eins; devaḥ – Gott; sarvabhūteṣu – in allen Wesen; gūḍhaḥ – verborgen; sarvavyāpī – durchdringt alles; sarvabhūtāntarātmā – die innere Seele aller Wesen; karmādhyakṣaḥ – überwacht alle Handlungen; sarvabhūta-adhivāsaḥ – alle Wesen wohnen und leben in Ihm; sākṣī – der Zeuge; cetā – reines Bewusstsein; kevalaḥ – allein; nirguṇaḥ – ohne Qualitäten; ca – und.
Gott ist verborgen in allen Wesen, so wie Feuer im Holz, Butter in der Milch. Er ist die Wohnstätte für alle Wesen. Er ist frei von der Dreiheit der Qualitäten sattva (Güte, Reinheit, Harmonie), rajas (Aktivität, Leidenschaft) und tamas (Dunkelheit, Trägheit).
eko vaśī niṣkriyāṇāṃ bahūnāmekaṃ bījaṃ bahudhā yaḥ karoti।
:tamātmasthaṃ ye'nupaśyanti dhīrāsteṣāṃ sukhaṃ śāśvataṃ netareṣām॥ 12॥
12. Er ist der eine Gebieter der Vielen, die nicht wirklich selbst handeln. Er vervielfältigt den einen Samen. Die Weisen, die Ihn in ihrem eigenen Selbst wahrnehmen, erfahren ewige Glückseligkeit; andere nicht.
ERLÄUTERUNG: Ekaḥ – der eine; vaśī – Gebieter, Herrscher; niṣkriyāṇām – ohne Handlung; bahūnām – der Vielen; ekam – einer; bījam – Samen; bahudhā – viele; yaḥ – der; karoti – macht; tam – Ihn; ātmastham – in ihrem eigenen Selbst wohnend; ye – die; anupaśyanti – nehmen wahr; dhīrāḥ – die Weisen; teṣām – ihnen; sukham – Glück; śāśvatam – ewig; na itareṣām – nicht den anderen.
Die Handlungen der Lebewesen werden durch ihre Organe ausgeführt. Sie berühren nicht das höchste Wesen, das immer untätig (niṣkriya) und immer der stille Zeuge (sākṣī) bleibt. Nur die Natur ist aktiv. Die Seele ist der Zuschauer; sie sieht den Aktivitäten der prakṛti (Urnatur) zu. (Vgl. Kaṭha-Upaniṣad, 5.12-13)
Bījam (Same) –  ist avyaktam bzw. mūla-prakṛti, aus dem sich alles entwickelt.
Die Organe, der manas, der Intellekt etc. bekommen ihre Kraft nur von Gott. Er kontrolliert alle Handlungsorgane, manas und individuellen Seelen.
nityo nityānāṃ cetanaścetanānāmeko bahūnāṃ yo vidadhāti kāmān।
:tatkāraṇaṃ sāṃkhyayogādhigamyaṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 13॥
13. Er ist der Ewige in allen Ewigen und der Intelligente in allen Intelligenten. Obwohl eins, gewährt Er doch die Wünsche der Vielen. Wer Ihn erkannt hat, der die Ursache von allem ist und der durch sāṅkhya(-Philosophie) und Yoga zu begreifen ist, ist frei von allen Fesseln.
ERLÄUTERUNG: Nityaḥ  – ewig; nityānām – der Ewigen; cetanaḥ – der Intelligente, cetanānām – der Intelligenten; ekaḥ – einer; bahūnām – der Vielen; yaḥ – der; vidadhāti – gewährt; kāmān – Wünsche; tatkāraṇam – jenen Grund; sāṃkhya-yogādhigamyam – zu begreifen durch sāṅkhya(-Philosophie) und Yoga; jñātvā – erkannt habend; devam – Gott; mucyate – wird frei; sarva-pāśaiḥ – von allen Fesseln.
„Ewig“ (nityaḥ) mag sich auf die Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther beziehen. Diese werden von vielen Menschen und einigen Philosophen als ewig angesehen. Aber in Wahrheit ist das Absolute (brahman) die einzig ewige Substanz (vastu).
Cetanaścetanānām – die Sinne, der manas und der Intellekt erscheinen als intelligent. Aber sie borgen ihre Intelligenz von brahman, das die einzig intelligente Entität ist.
Nur Gott teilt die Früchte der Handlungen allen Einzelseelen zu.
Zunächst sollte man ein umfassendes Verständnis von brahman gewinnen – durch das Studium der Upanishaden (parokṣa-brahma-jñāna). Man sollte yama (Selbstkontrolle, Askese) und niyama (religiöse/ethische Regeln) praktizieren und Sinne und Geist disziplinieren. Dann sollte man stetige und regelmäßige Meditation üben und dadurch eine intuitive Wahrnehmung von brahman gewinnen. Erst dann kann man von allen Fesseln und Bindungen befreit werden. Die Fesseln sind avidyā (Unwissenheit), kāma (Wunsch) und karma (Handlung).
na tatra sūryo bhāti na candratārakaṃ nemā vidyuto bhānti kuto'yamagniḥ।
:tameva bhāntamanubhāti sarvaṃ tasya bhāsā sarvamidaṃ vibhāti॥ 14॥
14. Die Sonne scheint dort nicht, noch der Mond und auch nicht die Sterne. Dort leuchten diese Blitze nicht; und wie sollte das Feuer dort scheinen? Wenn Er leuchtet, leuchtet alles nach Ihm. Durch Sein Licht leuchtet all dies.
ERLÄUTERUNG: Na – nicht; tatra – dort; sūryaḥ – die Sonne; bhāti – scheint; na – nicht; candratārakam – Mond und Sterne; na – nicht; imāḥ – diese; vidyutaḥ – Blitze; bhānti – scheinen; kutaḥ – wo; ayam – dieses; agniḥ – Feuer; tam – Er; eva – allein; bhāntam – scheinend; anubhāti – scheint; sarvam – alles; tasya – Sein; bhāsā – Licht; sarvam – alles; idam – dies; vibhāti – scheint.
(Siehe Kaṭha-Upaniṣad, 5.15; Muṇḍaka-Upaniṣad, 2.2.10; Bhagavad-Gītā, 15.6)
„Licht“ bedeutet hier „Wissen“. Das Auge ist ein Licht. Man gewinnt durch das Auge Wissen über diese Welt. Das Ohr ist ein Licht. Man hört Klänge und durch Klänge erhält man artha und jñāna. Auch buddhi (Intellekt) ist ein Licht und man gewinnt Wissen durch den Intellekt. Alle Sinne, der manas und der Intellekt erhalten ihre Kraft und das Wissen von brahman, Quelle und Ursprung allen Wissens.
eko haṃso bhuvanasyāsya madhye sa evāgniḥ salile saṃniviṣṭaḥ।
:tameva viditvā'ti mṛtyumeti nānyaḥ panthā vidyate'yanāya॥ 15॥
15. Er ist die eine Seele (haṃsa), der Zerstörer der Unwissenheit inmitten dieser Welt. Er allein ist das Feuer, das im Wasser enthalten ist. Wenn man Ihn wahrhaft kennt, überwindet man den Tod. Es gibt keinen anderen Weg zur Befreiung.
ERLÄUTERUNG: Die letzten beiden Zeilen finden wir auch in Kapitel 3 Vers 8.
Ekaḥ – eins; haṃsaḥ – Seele; bhuvanasya – dieser Welt; madhye – in der Mitte; saḥ – Er; eva – wahrlich; agniḥ – das Feuer; salile – im Wasser; saṃniviṣṭaḥ – wohnend; tam – Ihn; eva – wahrlich; viditvā – erkannt habend; mṛtyum – Tod; atyeti – überwindet; anyaḥ – anderer; na – nicht; panthāḥ – Weg; vidyate – existiert; ayanāya – zur Befreiung.
Mit dem Wort haṃsaḥ (Seele, Wildgans, Schwan) ist hier das höchste Selbst, der Zerstörer der Unwissenheit gemeint. Brahman ist in das Herz eingetreten, wie ein Feuer, das alle Unwissenheit verbrennt.
Dieser Vers beschreibt die Immanenz Gottes. So wie das Feuer im Ozean verborgen ist, so ist auch brahman in dieser Welt verborgen. Feuer und Wasser sind völlig verschieden, sie haben völlig entgegengesetzte Qualitäten und doch ist Feuer im Wasser enthalten. So ist auch brahman, das rein, subtil und geistig ist, verborgen in dieser Welt, die grob, materiell und unrein ist. Die alten ṛṣis verehrten das Feuer, das im Wasser enthalten ist. Dieses Feuer entspricht brahman, das in dieser Welt verborgen ist.
sa viśvakṛdviśvavidātmayonirjñaḥ kālakālo guṇī sarvavid yaḥ।
:pradhānakṣetrajñapatirguṇeśaḥ saṃsāramokṣasthitibandhahetuḥ॥16॥
16. Er schafft das Universum und kennt das Universum. Er ist Seine eigene Quelle. Er ist allwissend und Er ist die Zeit der Zeit (der Zerstörer der Zeit). Er hat alle Qualitäten der Vollkommenheit. Er weiß alles bis ins Einzelne. Er ist der Herrscher von Natur, Menschen und guṇas. Er ist die Ursache der Gebundenheit, der Existenz und der Befreiung der Welt.
ERLÄUTERUNG: Saḥ – Er; viśvakṛt – der Schöpfer des Universums; viśvavit – der Kenner des Universums; ātma-yoniḥ – Seine eigene Ursache; jñaḥ – allwissend; kāla-kālaḥ – die Zeit der Zeit, der Zerstörer der Zeit; guṇī – der alle Qualitäten der Vollkommenheit hat; sarva-vidyaḥ – weiß alles im Einzelnen; pradhāna-kṣetrajña-patiḥ – der Herrscher der Natur und des Menschen; guṇeśaḥ – der Herrscher der Qualitäten; saṃsāra-mokṣa-sthiti-bandha-hetuḥ – die Ursache der Gebundenheit, der Existenz und der Befreiung der Welt.
sa tanmayo hyamṛta īśasaṃstho jñaḥ sarvago bhuvanasyāsya goptā।
:ya īśe asya jagato nityameva nānyo heturvidyata īśanāya॥ 17॥
17. Er ist wie Er selbst, unsterblich und Er bleibt immer in der Position des Herrschers. Er ist der Allwissende, der Alldurchdringende, der Beschützer dieser Welt, der ewige Herrscher. Niemand kann über Ihn herrschen.
ERLÄUTERUNG: Saḥ – Er; tanmayaḥ – wie Er selbst; hi – wahrlich; amṛtaḥ – unsterblich; īśasaṃsthaḥ – Er bleibt der Herrscher; jñaḥ – allwissend; sarvagaḥ – all-durchdringend; asya bhuvanasya – dieser Welt; goptā – Beschützer; yaḥ – der; īśe – herrscht; asya jagataḥ – dieser Welt; nityam-eva – ewig; nānyaḥ – keine andere; hetuḥ – Ursache; vidyate – existiert; īśanāya – über Ihn zu herrschen.
Tanmayaḥ kann (hier) auch „wie diese Welt“ bedeuten.
yo brahmāṇaṃ vidadhāti pūrvaṃ yo vai vedāṃśca prahiṇoti tasmai।
:  taṃ ha devam ātmabuddhiprakāśaṃ mumukṣurvai śaraṇamahaṃ prapadye॥ 18॥
18. Ich, der ich Befreiung erstrebe, nehme Zuflucht zu dem Gott, dessen Licht den Intellekt auf den ātman ausrichtet, der am Beginn der Schöpfung Brahmā erschuf und ihm die Veden übergab.
ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; brahmāṇam – Brahmā; vidadhāti – schuf; pūrvam – vor der Schöpfung; yaḥ – der; vai – wahrlich; vedāṃśca – und die Veden; pra-hiṇoti – gab; tasmai – ihm; tam – Ihn; devam – Gott; ātmabuddhi-prakāśaṃ – dessen Licht den Intellekt zum ātman hinwendet; mumukṣuḥ – Befreiung wünschend; śaraṇam – Zuflucht; aham – ich; prapadye – nehme.
niṣkalaṃ niṣkriyaṃ śāntaṃ niravadyaṃ nirañjanam।
:amṛtasya paraṃ setuṃ dagdhendhanamivānalam॥ 19॥
19. Der, der ohne Teile ist und ohne Handlung, der friedvoll ist, ohne Makel, ohne Unreinheit, die erhabene Brücke der Unsterblichkeit, der wie das Feuer ist, welches das Holz aufzehrt (bei Ihm nehme ich Zuflucht).
ERLÄUTERUNG: Niṣkalam – ohne Teile; niṣkriyam – ohne Handlung; śāntam – friedvoll; niravadyam – ohne Makel; nirañjanam – ohne Unreinheiten; amṛtasya – der Unsterblichkeit; param setum – die höchste Brücke; dagdhendhanam ivānalam – wie das Feuer, welches das Holz aufgezehrt hat.
Analam iva – so wie das Feuer das Holz verbrennt, so zerstört Gott die Unwissenheit seiner Verehrer bzw. der Sucher, die den Pfad der Wahrheit beschreiten.
yadā carmavadākāśaṃ veṣṭayiṣyanti mānavāḥ।
:tadā devamavijñāya duḥkhasyānto bhaviṣyati॥ 20॥
20. So nicht die Menschen den Himmel aufrollen wie eine Haut, so wird es kein Ende des Elends geben – außer wenn Gott erkannt worden ist.
ERLÄUTERUNG: Yadā – wenn; carmavat – wie Haut; ākāśam – Äther; veṣṭayiṣyanti – rollen auf; mānavāḥ – die Menschen; tadā – dann; devam avijñāya – Gott nicht kennend; duḥkhasyāntaḥ – Ende des Leidens; bhaviṣyati – wird geschehen.
Nur wenn das Unmögliche möglich wird, wird das Leiden enden – es sei denn, Gott wird im Herzen erkannt. Elend und Kummer werden nur enden, wenn Gott verwirklicht wird. Wenn jemand versuchen sollte, das Leiden zu beenden, ohne Gott zu verwirklichen, so ist das ein vergebliches Unterfangen – so vergeblich wie der Versuch, den Himmel aufzurollen.
tapaḥprabhāvāddevaprasādācca brahma ha śvetāśvataro'tha vidvān।
:atyāśramibhyaḥ paramaṃ pavitraṃ provāca samyagṛṣisaṅghajuṣṭam॥ 21॥
21. Nachdem er kraft seiner Askese und durch Gottes Gnade brahman verwirklicht hatte, erklärte der Weise Śvetāśvatara dem obersten Orden der sannyāsīs sehr gründlich die Wahrheit über jenes höchste und heilige brahman, zu dem alle Seher Zuflucht nehmen.
ERLÄUTERUNG: Tapaḥprabhāvāt – durch die Kraft der Askese; devaprasādācca – und auch durch die Gnade Gottes; brahma – brahman; śvetāśvataraḥ – (der Weise) Śvetāśvatara; vidvān – verwirklicht habend; atyāśramibhyaḥ – zu dem obersten Orden der sannyāsīs; paramam – des höchsten; pavitram – heilig; provāca – lehrte, erklärte; samyak – gut, wohl; ṛṣisaṅghajuṣṭam – zu dem alle Seher Zuflucht nehmen.
Gott hilft dem, der sich selbst hilft. Eigene Bemühung (puruṣārtha) und die Gnade Gottes sind beide notwendig, um Selbstverwirklichung zu erlangen. Nur wer Wissen um brahman hat, kann ein Lehrer werden.
vedānte paramaṃ guhyaṃ purākalpe pracoditam।
:nāpraśāntāya dātavyaṃ nāputrāyāśiṣyāya vā punaḥ॥ 22॥
22. Dieses höchste Geheimnis des vedānta, das in einem früheren Zeitalter gelehrt worden ist, sollte nicht an jemanden weitergegeben werden, dessen Leidenschaften nicht beherrscht sind, auch nicht an jemanden, der kein würdiger Sohn ist und auch nicht an einen unwürdigen Schüler.
ERLÄUTERUNG: Vedānte – im vedānta ; paramam – höchstes; guhyam – Geheimnis; purākalpe – in einem früheren Zeitalter; pracoditam – gelehrt; na – nicht; apra-śāntāya – jemandem mit unkontrollierten Leidenschaften; dātavyam – sollte gegeben werden; na – nicht; aputrāya – der kein würdiger Sohn ist; aśiṣyāya – einem unwürdigen Schüler; vā punaḥ – auch nicht.
Die Unterweisungen werden nur Früchte tragen, wenn sie einem geeigneten und würdigen Schüler gegeben werden.
Aputrāya – einer, der seine Pflichten den Eltern gegenüber nicht erfüllt hat und der keine guten Charaktereigenschaften aufweist.
Aśiṣyāya – einer, der kein würdiger Schüler ist, der nicht gehorsam ist, der arrogant, frech, bösartig, unreligiös ist und der seinen Lehrer kritisiert.
yasya deve parā bhaktiryathā deve tathā gurau।
:tasyaite kathitā hyarthāḥ prakāśante mahātmanaḥ।
prakāśante mahātmana iti॥ 23॥
23. Wenn diese Wahrheiten einem Schüler mit einer großen Seele mitgeteilt werden, der höchste Verehrung gegenüber Gott und Verehrung gegenüber dem Lehrer hat, wie zu Gott, dann und nur dann werden sie aufleuchten; nur dann werden sie aufleuchten.
ERLÄUTERUNG: Yasya – für den; deve – zu Gott; parā bhaktiḥ – höchste Verehrung und Hingabe; yathā deve – wie zu Gott; tathā – so; gurau – zum Lehrer; tasya – Seine; ete – diese; kathitāḥ – gelehrt; arthāḥ – Wahrheiten; prakāśante – leuchten auf; mahātmanaḥ – einer mit einer großen Seele.
Die Wahrheiten des vedānta werden nur dem Sucher offenbart, der höchste Verehrung Gott gegenüber hat und eine ebenso große Verehrung gegenüber dem Lehrer– so groß wie gegenüber Gott! Dieser Vers betont die Hingabe und Verehrung gegenüber dem guru. Guru und Gott sind eins.
HIER ENDET DAS SECHSTE KAPITEL UND SOMIT AUCH DIE  ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.
Abschluss-Mantra (om, saha nāvavatu)
om, saha nāvavatu।  saha nau bhunaktu।  saha vīryaṃ karavāvahai।
:tejasvi nāvadhītamastu mā vidviṣāvahai।
:oṃ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ॥
Om. Es soll uns beide fördern, soll mit uns beiden genießen. Wir beide wollen zusammen Kraftvolles tun, strahlend soll uns beiden das Gelernte sein, wir beide wollen keine Feindschaft hegen. Oṃ, Frieden, Frieden, Frieden.
***





Version vom 25. September 2021, 08:49 Uhr

Shvetashvatara Upanishad (Devanagari: श्वेताश्वतर उपनिषद; Śvetāśvatara) ist eine der älteren Upanishaden. Sie gehört zu den Haupt-Upanishaden und ist Bestandteil des Krishna Yajurveda. Sie vermittelt grundlegendes Gedankengut des Yoga und Advaita Vedanta. Adishankara nannte sie in seinem Kommentar über die Brahma Sutras die "Mantra Upanishad" der vedischen Svetasvatara Schule. Die Upanishad enthält 113 Verse in 6 Kapiteln.

Der Name "Svetasvatara" erscheint häufiger in der vedischen Literatur. Er bedeutet "weißes Maultier". Das Maultier war ein verehrtes Tier im alten Indien. Der, der ein weißes Pferd hat, wird "Svetasva" genannt und der, der ein weißes Maultier hat, kann "Svetasvatara" genannt werden. Einer der Namen Arjunas im Epos "Mahabharata" ist "Shvetashva." Im Rigveda begegnet man "Shyavashva" - "Der, der ein schwarzes Pferd besitzt."

Lehrer und Schüler

Shvetashvatara Upanishad Sanskrit Text IAST

Hier der volle Text der Shvetashvatara Upanishad in der wissenschaftlichen Transkription (IAST)

oṃ brahmavādino vadanti

prathamo 'dhyāyaḥ

kiṃkāraṇaṃ brahma kutaḥ sma jātā jīvāmaḥ kena kva ca saṃpratiṣṭhāḥ
adhiṣṭhitāḥ kena sukhetareṣu vartāmahe brahmavido vyavasthām // 1.1
kālaḥ svabhāvo niyatir yadṛcchā bhūtāni yoniḥ puruṣeti cintyam
saṃyoga eṣāṃ na tv ātmabhāvād ātmā hy anīśaḥ sukhaduḥkhahetoḥ // 1.2
te dhyānayogānugatā apaśyan devātmaśaktiṃ svaguṇair nigūḍhām
yaḥ kāraṇāni nikhilāni tāni kālātmayuktāny adhitiṣṭhaty ekaḥ // 1.3
tam ekanemiṃ trivṛtaṃ ṣoḍaśāntaṃ śatārdhāraṃ viṃśatipratyarābhiḥ
aṣṭakaiḥ ṣaḍbhir viśvarūpaikapāśaṃ trimārgabhedaṃ dvinimittaikamoham // 1.4
pañcasroto'mbuṃ pañcayonyugravaktrāṃ pañcaprāṇormiṃ pañcabuddhyādimūlāṃ
pañcāvartāṃ pañcaduḥkhaughavegāṃ pañcāśadbhedāṃ pañcaparvām adhīmaḥ // 1.5
sarvājīve sarvasaṃsthe bṛhante tasmin haṃso bhrāmyate brahmacakre
pṛthag ātmānaṃ preritāraṃ ca matvā juṣṭas tatas tenāmṛtatvam eti // 1.6
udgītam etat paramaṃ tu brahma tasmiṃs trayaṃ svapratiṣṭhākṣaraṃ ca
atrāntaraṃ brahmavido viditvā līnā brahmaṇi tatparā yonimuktāḥ // 1.7
saṃyuktam etat kṣaram akṣaraṃ ca vyaktāvyaktaṃ bharate viśvam īśaḥ
anīśaś cātmā badhyate bhoktṛbhāvāj jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ // 1.8
jñājñau dvāv ajāv īśanīśāv ajā hy ekā bhoktṛbhogārthayuktā
anantaś cātmā viśvarūpo hy akartā trayaṃ yadā vindate brahmam etat // 1.9
kṣaraṃ pradhānam amṛtākṣaraṃ haraḥ kṣarātmānāv īśate deva ekaḥ
tasyābhidhyānād yojanāt tattvabhāvād bhūyaś cānte viśvamāyānivṛttiḥ // 1.10
jñātvā devaṃ sarvapāśāpahāniḥ kṣīnaiḥ kleśair janmamṛtyuprahāṇiḥ
tasyābhidhyānāt tṛtīyaṃ dehabhede viśvaiśvaryaṃ kevala āptakāmaḥ // 1.11
etaj jñeyaṃ nityam evātmasaṃsthaṃ nātaḥ paraṃ veditavyaṃ hi kiṃcit
bhoktā bhogyaṃ preritāraṃ ca matvā sarvaṃ proktaṃ trividhaṃ brahmam etat // 1.12
vahner yathā yonigatasya mūrtir na dṛśyate naiva ca liṅganāśaḥ
sa bhūya evendhanayonigṛhyas tadvobhayaṃ vai praṇavena dehe // 1.13
svadeham araṇiṃ kṛtvā praṇavaṃ cottarāraṇiṃ
dhyānanirmathanābhyāsād devaṃ paśyen nigūḍhavat // 1.14
tileṣu tailaṃ dadhanīva sarpir āpaḥ srotaḥsv araṇīṣu cāgniḥ
evam ātmā ātmani gṛhyate 'sau satyenainaṃ tapasā yo 'nupaśyati // 1.15
sarvavyāpinam ātmānaṃ kṣīre sarpir ivārpitam
ātmavidyātapomūlaṃ tad brahmopaniṣatparaṃ tad brahmopaniṣatparam // 1.16


dvitīyo 'dhyāyaḥ

yuñjānaḥ prathamaṃ manas tatvāya savitā dhiyaḥ
agner jyotir nicāyya pṛthivyā adhy ābharat // 2.1
yuktena manasā vayaṃ devasya savituḥ save
suvargeyāya śaktyā % // 2.2
yuktvāya manasā devān suvar yato dhiyā divaṃ
bṛhaj jyotiḥ kariṣyataḥ savitā prasuvāti tān // 2.3
yuñjate mana uta yuñjate dhiyo viprā viprasya bṛhato vipaścitaḥ
vi hotrā dadhe vayunāvid eka in mahī devasya savituḥ pariṣṭutiḥ // 2.4
yuje vāṃ brahma pūrvyaṃ namobhir vi śloka etu pathyeva sūreḥ
śṛṇvanti viśve amṛtasya putrā ā ye dhāmāni diviyāni tasthuḥ // 2.5
agnir yatrābhimathyate vāyur yatrādhirudhyate
somo yatrātiricyate tatra saṃjāyate manaḥ // 2.6
savitrā prasavena juṣeta brahma pūrvyam
tatra yoniṃ kṛṇavase nahi te pūrtam akṣipat // 2.7
trirunnataṃ sthāpya samaṃ śarīraṃ hṛdīndriyāṇi manasā saṃniveśya
brahmoḍupena pratareta vidvān srotāṃsi sarvāṇi bhayāvahāni // 2.8
prāṇān prapīḍyeha sa yuktaceṣṭaḥ kṣīne prāṇe nāsikayocchvasīta
duṣṭāśvayuktam iva vāham enaṃ vidvān mano dhārayetāpramattaḥ // 2.9
same śucau śarkarāvahnivālukāvivarjite śabdajalāśrayādibhiḥ
mano'nukūle na tu cakṣupīḍane guhānivātāśrayaṇe prayojayet // 2.10
nīhāradhūmārkānalānilānāṃ khadyotavidyutsphaṭikāśaśīnām
etāni rūpāṇi puraḥsarāṇi brahmaṇy abhivyaktikarāṇi yoge // 2.11
pṛthvyaptejo'nilakhe samutthite pañcātmake yogaguṇe pravṛtte
na tasya rogo na jarā na mṛtyuḥ prāptasya yogāgnimayaṃ śarīram // 2.12
laghutvam ārogyam alolupatvaṃ varṇaprasādaḥ svarasauṣṭhavaṃ ca
gandhaḥ śubho mūtrapurīṣam alpaṃ yogapravṛttiṃ prathamāṃ vadanti // 2.13
yathaiva bimbaṃ mṛdayopaliptaṃ tejomayaṃ bhrājate tat sudhāntam
tad vātmatattvaṃ prasamīkṣya dehī ekaḥ kṛtārtho bhavate vītaśokaḥ // 2.14
yad ātmatattvena tu brahmatattvaṃ dīpopameneha yuktaḥ prapaśyet
ajaṃ dhruvaṃ sarvatattvair viśuddhaṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ // 2.15
eṣa ha devaḥ pradiśo 'nu sarvāḥ pūrvo ha jātaḥ sa u garbhe antaḥ
sa eva jātaḥ sa janiṣyamānaḥ pratyaṅ janās tiṣṭhati sarvatomukhaḥ // 2.16
yo devo agnau yo apsu yo viśvaṃ bhuvanam āviveśa
ya oṣadhīṣu yo vanaspatīṣu tasmai devāya namo namaḥ // 2.17


tṛtīyo 'dhyāyaḥ

ya eko jālavān īśata īśanībhiḥ sarvāṃl lokān īśata īśanībhiḥ
ya evaika udbhave saṃbhave ca ya etad vidur amṛtās te bhavanti // 3.1
eko hi rudro na dvitīyāya tasthe ya imāṃl lokān īśata īśanībhiḥ
pratyaṅ janās tiṣṭhati saṃcukocāntakāle saṃsṛjya viśvā bhuvanāni gopāḥ // 3.2
viśvataścakṣur uta viśvatomukho viśvatobāhur uta viśvataspāt
saṃ bāhubhyāṃ dhamati saṃ patatrair dyāvābhūmī janayan deva ekaḥ // 3.3
yo devānāṃ prabhavaś codbhavaś ca viśvādhipo rudro maharṣiḥ
hiraṇyagarbhaṃ janayāmāsa pūrvaṃ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu // 3.4
yā te rudra śivā tanūr aghorāpāpakāśinī
tayā nas tanuvā śaṃtamayā giriśantābhicākaśīhi // 3.5
yām iṣuṃ giriśanta haste bibharṣy astave
śivāṃ giritra tāṃ kuru mā hiṃsīḥ puruṣaṃ jagat // 3.6
tataḥ paraṃ brahma paraṃ bṛhantaṃ yathānikāyaṃ sarvabhūteṣu gūḍhaṃ
viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāram īśaṃ taṃ jñātvāmṛtā bhavanti // 3.7
vedāham etaṃ puruṣaṃ mahāntam ādityavarṇaṃ tamasaḥ parastāt
tam eva viditvāti mṛtyum eti nānyaḥ panthā vidyate 'yanāya // 3.8
yasmāt paraṃ nāparam asti kiṃcid yasmān nāṇīyo na jyāyo 'sti kiṃcit
vṛkṣa iva stabdho divi tiṣṭhaty ekas tenedaṃ pūrṇaṃ puruṣeṇa sarvam // 3.9
tato yad uttarataraṃ yad arūpam anāmayam
ya etad vidur amṛtās te bhavanti athetare duḥkham evāpiyanti // 3.10
sarvānanaśirogrīvaḥ sarvabhūtaguhāśayaḥ
sarvavyāpī sa bhagavāṃs tasmāt sarvagataḥ śivaḥ // 3.11
mahān prabhur vai puruṣaḥ sattvasyaiṣa pravartakaḥ
sunirmalām imāṃ prāptim īśāno jyotir avyayaḥ // 3.12
aṅguṣṭhamātraḥ puruṣo 'ntarātmā sadā janānāṃ hṛdaye saṃniviṣṭaḥ
hṛdā manīṣā manasābhikḷpto ya etad vidur amṛtās te bhavanti // 3.13
sahasraśīrṣā puruṣaḥ sahasrākṣaḥ sahasrapāt
sa bhūmiṃ viśvato vṛtvā atyatiṣṭhad daśāṅgulam // 3.14
puruṣa evedaṃ sarvaṃ yad bhūtaṃ yac ca bhavyam
utāmṛtatvasyeśāno yad annenātirohati // 3.15
sarvataḥpāṇipādaṃ tat sarvato'kṣiśiromukhaṃ
sarvataḥśrutimal loke sarvam āvṛtya tiṣṭhati // 3.16
sarvendriyaguṇābhāsaṃ sarvendriyavivarjitaṃ
sarvasya prabhum īśānaṃ sarvasya śaraṇaṃ suhṛt // 3.17
navadvāre pure dehī haṃso lelāyate bahiḥ
vaśī sarvasya lokasya sthāvarasya carasya ca // 3.18
apāṇipādo javano grahītā paśyaty acakṣuḥ sa śṛṇoty akarṇaḥ
sa vetti vedyaṃ na ca tasyāsti vettā tam āhur agryaṃ puruṣaṃ mahāntam // 3.19
aṇor aṇīyān mahato mahīyān ātmā guhāyāṃ nihito 'sya jantoḥ
tam akratuṃ paśyati vītaśoko dhātuprasādān mahimānam īśam // 3.20
vedāham etam ajaraṃ purāṇaṃ sarvātmānaṃ sarvagataṃ vibhutvāt
janmanirodhaṃ pravadanti yasya brahmavādino hi pravadanti nityam // 3.21


caturtho 'dhyāyaḥ

ya eko 'varṇo bahudhā śaktiyogād varṇān anekān nihitārtho dadhāti
vi caiti cānte viśvam ādau sa devaḥ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu // 4.1
tad evāgnis tad ādityas tad vāyus tad u candramāḥ
tad eva śukraṃ tad brahma tad āpas tat prajāpatiḥ // 4.2
tvaṃ strī tvaṃ pumān asi tvaṃ kumāra uta vā kumārī
tvaṃ jīrṇo daṇḍena vañcasi tvaṃ jāto bhavasi viśvatomukhaḥ // 4.3
nīlaḥ pataṅgo harito lohitākṣas taḍidgarbha ṛtavaḥ samudrāḥ
anādimāṃs tvaṃ vibhutvena vartase yato jātāni bhuvanāni viśvā // 4.4
ajām ekāṃ lohitaśuklakṛṣṇāṃ bahvīḥ prajāḥ sṛjamānāṃ sarūpāḥ
ajo hy eko juṣamāṇo 'nuśete jahāty enāṃ bhuktabhogām ajo 'nyaḥ // 4.5
dvā suparṇā sayujā sakhāyā samānaṃ vṛkṣaṃ pariṣasvajāte
tayor anyaḥ pippalaṃ svādv atty anaśnann anyo abhicākaśīti // 4.6
samāne vṛkṣe puruṣo nimagno anīśayā śocati muhyamānaḥ
juṣṭaṃ yadā paśyaty anyam īśaṃ asya mahimānam iti vītaśokaḥ // 4.7
ṛco akṣare parame vyoman yasmin devā adhi viśve niṣedhuḥ
yas tan na veda kim ṛcā kariṣyati ya it tad vidus ta ime samāsate // 4.8
chandāṃsi yajñāḥ kratavo vratāni bhūtaṃ bhavyaṃ yac ca vedā vadanti
asmān māyī sṛjate viśvam etat tasmiṃś cānyo māyayā saṃniruddhaḥ // 4.9
māyāṃ tu prakṛtiṃ vidyān māyinaṃ tu maheśvaraṃ
tasyāvayavabhūtais tu vyāptaṃ sarvaṃ idaṃ jagat // 4.10
yo yoniṃ-yonim adhitiṣṭhaty eko yasminn idaṃ saṃ ca vi caiti sarvam
tam īśānaṃ varadaṃ devam īḍyaṃ nicāyyemāṃ śāntim atyantam eti // 4.11
yo devānāṃ prabhavaś codbhavaś ca viśvādhiko rudro maharṣiḥ
hiraṇyagarbhaṃ paśyata jāyamānaṃ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu // 4.12
yo devānām adhipo yasmiṃl lokā adhiśritāḥ
ya īśe asya dvipadaś catuṣpadaḥ kasmai devāya haviṣā vidhema // 4.13
sūkṣmātisūkṣmaṃ kalilasya madhye viśvasya sraṣṭāram anekarūpaṃ
viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā śivaṃ śāntim atyantam eti // 4.14
sa eva kāle bhuvanasya goptā viśvādhipaḥ sarvabhūteṣu gūḍhaḥ
yasmin yuktā brahmarṣayo devatāś ca tam evaṃ jñātvā mṛtyupāśāṃś chinatti // 4.15
ghṛtāt paraṃ maṇḍam ivātisūkṣmaṃ jñātvā śivaṃ sarvabhūteṣu gūḍhaṃ
viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ // 4.16
eṣa devo viśvakarmā mahātmā sadā janānāṃ hṛdaye saṃniviṣṭaḥ
hṛdā manīṣā manasābhikḷpto ya etad vidur amṛtās te bhavanti // 4.17
yadātamas tan na divā na rātrir na san na cāsac chiva eva kevalaḥ
tad akṣaraṃ tat savitur vareṇyaṃ prajñā ca tasmāt prasṛtā purāṇī // 4.18
nainam ūrdhvaṃ na tiryañcaṃ na madhye parijagrabhat
na tasya pratimā asti yasya nāma mahad yaśaḥ // 4.19
na saṃdṛśe tiṣṭhati rūpam asya na cakṣuṣā paśyati kaścanainaṃ
hṛdā hṛdisthaṃ manasā ya enam evaṃ vidur amṛtās te bhavanti // 4.20
ajāta ity evaṃ kaścid bhīruḥ prapadyate
rudra yat dakṣiṇaṃ mukham tena māṃ pāhi nityam // 4.21
mā nas toke tanaye mā na āyuṣi mā no goṣu mā no aśveṣu rīriṣaḥ
vīrān mā no rudra bhāmito vadhīr haviṣmantaḥ sadam it tvā havāmahe // 4.22


pañcamo 'dhyāyaḥ

dve akṣare brahmapare tv anante vidyāvidye nihite yatra gūḍhe
kṣaraṃ tv avidyā hy amṛtaṃ tu vidyā vidyāvidye īśate yas tu so 'nyaḥ // 5.1
yo yoniṃ yonim adhitiṣṭhaty eko viśvāni rūpāṇi yonīś ca sarvāḥ
ṛṣiṃ prasūtaṃ kapilaṃ yas tam agre jñānair bibharti jāyamānaṃ ca paśyet // 5.2
ekaikaṃ jālaṃ bahudhā vikurvann asmin kṣetre saṃharaty eṣa devaḥ
bhūyaḥ sṛṣṭvā patayas tatheśaḥ sarvādhipatyaṃ kurute mahātmā // 5.3
sarvā diśa ūrdhvam adhaś ca tiryak prakāśayan bhrājate yad vānaḍvān
evaṃ sa devo bhagavān vareṇyo yonisvabhāvān adhitiṣṭhaty ekaḥ // 5.4
yac ca svabhāvaṃ pacati viśvayoniḥ pācyāṃś ca sarvān pariṇāmayed yaḥ
sarvam etad viśvam adhitiṣṭhaty eko guṇāṃś ca sarvān viniyojayed yaḥ // 5.5
tad vedaguhyopaniṣatsu gūḍhaṃ tad brahmā vedate brahmayoniṃ
ye pūrvaṃ devā ṛṣayaś ca tad vidus te tanmayā amṛtā vai babhūvuḥ // 5.6
guṇānvayo yaḥ phalakarmakartā kṛtasya tasyaiva sa copabhoktā
sa viśvarūpas triguṇas trivartmā prāṇādhipaḥ saṃcarati svakarmabhiḥ // 5.7
aṅguṣṭhamātro ravitulyarūpaḥ saṃkalpāhaṃkārasamanvito yaḥ
buddher guṇenātmaguṇena caiva ārāgramātro hy avaro 'pi dṛṣṭaḥ // 5.8
vālāgraśatabhāgasya śatadhā kalpitasya ca
bhāgo jīvaḥ sa vijñeyaḥ sa cānantyāya kalpate // 5.9
naiva strī na pumān eṣa na caivāyaṃ napuṃsakaḥ
yad yac charīram ādatte tena tena sa yujyate // 5.10
saṃkalpanasparśanadṛṣṭimohair grāsāmbuvṛṣṭyā cātmavivṛddhijanma
karmānugāny anukramena dehī sthāneṣu rūpāṇy abhisaṃprapadyate // 5.11
sthūlāni sūkṣmāṇi bahūni caiva rūpāṇi dehī svaguṇair vṛṇoti
kriyāguṇair ātmaguṇaiś ca teṣāṃ saṃyogahetur aparo 'pi dṛṣṭaḥ // 5.12
anādyanantaṃ kalilasya madhye viśvasya sraṣṭāram anekarūpaṃ
viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ // 5.13
bhāvagrāhyam anīḍākhyaṃ bhāvābhāvakaraṃ śivaṃ
kalāsargakaraṃ devaṃ ye vidus te jahus tanum // 5.14


ṣaṣṭho 'dhyāyaḥ

svabhāvam eke kavayo vadanti kālaṃ tathānye parimuhyamānāḥ
devasyaiṣa mahimā tu loke yenedaṃ bhrāmyate brahmacakram // 6.1
yenāvṛtaṃ nityam idaṃ hi sarvaṃ jñaḥ kālakālo guṇī sarvavidyaḥ
teneśitaṃ karma vivartate ha pṛthivyāptejo'nilakhāni cintyam // 6.2
tat karma kṛtvā vinivartya bhūyas tattvasya tattvena sametya yogam
ekena dvābhyāṃ tribhir aṣṭabhir vā kālena caivātmaguṇaiś ca sūkṣmaiḥ // 6.3
ārabhya karmāṇi guṇānvitāni bhāvāṃś ca sarvān viniyojayed yaḥ
teṣām abhāve kṛtakarmanāśaḥ karmakṣaye yāti sa tattvato 'nyaḥ // 6.4
ādiḥ sa saṃyoganimittahetuḥ paras trikālād akalo 'pi dṛṣṭaḥ
taṃ viśvarūpaṃ bhavabhūtam īḍyaṃ devaṃ svacittastham upāsya pūrvam // 6.5
sa vṛkṣakālākṛtibhiḥ paro 'nyo yasmāt prapañcaḥ parivartate 'yaṃ
dharmāvahaṃ pāpanudaṃ bhageśaṃ jñātvātmastham amṛtaṃ viśvadhāma // 6.6
tam īśvarāṇāṃ paramaṃ maheśvaraṃ taṃ devatānāṃ paramaṃ ca daivataṃ
patiṃ patīnāṃ paramaṃ parastād vidāma devaṃ bhuvaneśam īḍyam // 6.7
na tasya kāryaṃ karaṇaṃ ca vidyate na tatsamaś cābhyadhikaś ca dṛśyate
parāsya śaktir vividhaiva śrūyate svābhāvikī jñānabalakriyā ca // 6.8
na tasya kaścit patir asti loke na ceśitā naiva ca tasya liṅgaṃ
sa kāraṇaṃ karaṇādhipādhipo na cāsya kaścij janitā na cādhipaḥ // 6.9
yas tantunābha iva tantubhiḥ pradhānajaiḥ svabhāvataḥ
deva ekaḥ svam āvṛṇoti sa no dadhād brahmāpyayam // 6.10
eko devaḥ sarvabhūteṣu gūḍhaḥ sarvavyāpī sarvabhūtāntarātmā
karmādhyakṣaḥ sarvabhūtādhivāsaḥ sākṣī cetā kevalo nirguṇaś ca // 6.11
eko vaśī niṣkriyāṇāṃ bahūṇām ekaṃ bījaṃ bahudhā yaḥ karoti
tam ātmasthaṃ ye 'nupaśyanti dhīrās teṣāṃ sukhaṃ śāśvataṃ netareṣāṃ // 6.12
nityo nityānāṃ cetanaś cetanānām eko bahūnāṃ yo vidadhāti kāmān
tat kāraṇaṃ sāṃkhyayogādhigamyaṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ // 6.13
na tatra sūryo bhāti na candratārakaṃ nemā vidyuto bhānti kuto 'yam agniḥ
tam eva bhāntam anubhāti sarvaṃ tasya bhāsā sarvam idaṃ vibhāti // 6.14
eko haṃso bhuvanasyāsya madhye sa evāgniḥ salile saṃniviṣṭaḥ
tam eva viditvāti mṛtyum eti nānyaḥ panthā vidyate 'yanāya // 6.15
sa viśvakṛd viśvavid ātmayonir jñaḥ kālakālo guṇī sarvavidyaḥ
pradhānakṣetrajñapatir guṇeśaḥ saṃsāramokṣasthitibandhahetuḥ // 6.16
sa tanmayo hy amṛta īśasaṃstho jñaḥ sarvago bhuvanasyāsya goptā
sa īśe asya jagato nityam eva nānyo hetur vidyata īśanāya // 6.17
yo brahmāṇaṃ vidadhāti pūrvaṃ yo vai vedāṃś ca prahiṇoti tasmai
taṃ ha devam ātmabuddhiprakāśaṃ mumukṣur vai śaraṇam ahaṃ prapadye // 6.18
niṣkalaṃ niṣkriyaṃ śāntaṃ niravadyaṃ nirañjanam
amṛtasya paraṃ setuṃ dagdhendhanam ivānalam // 6.19
yadā carmavad ākāśaṃ veṣṭayiṣyanti mānavāḥ
tadā devam avijñāya duḥkhasyānto bhaviṣyati // 6.20
tapaḥprabhāvād devaprasādāt brahma ha śvetāśvataro 'tha vidvān
atyāśramibhyaḥ paramaṃ pavitraṃ provāca samyag ṛṣisaṅghajuṣṭam // 6.21
vedānte paramaṃ guhyaṃ purākalpe pracoditam
nāpraśāntāya dātavyaṃ nāputrāyāśiṣyāya vā punaḥ // 6.22
yasya deve parā bhaktir yathā deve tathā gurau
tasyaite kathitā hy arthāḥ prakāśante mahātmanaḥ prakāśante mahātmanaḥ // 6.23

Übersetzung von Paul Deussen: Die Shvetashvatara-Upanishad des schwarzen Yajurveda

Hier die Übersetzung der Shvetashvatara Upanishad von Paul Deussen aus seinem Werk "60 Upanishaden des Veda", auch wiedergegeben in dem Buch "Klassische Upandischaden"

Erster Adhyāya: Erstes Kapitel Shvetashvatara Upanishad

Om! Die Brahmanlehrer sagen:

1. Was ist Urgrund, was Brahman? Woher sind wir?

Wodurch bestehn, und worin sind gegründet wir?
Von wem regiert, bewegen wir, ihr Weisen,
Uns in der Lust und Unlust Wechselständen?

2. Sind Zeit, Natur, Notwendigkeit, der Zufall,

Grundstoffe, Geist, ist die Verbindung dieser
Als Urgrund denkbar? Doch nicht! Denn ein Selbst ist!
Doch auch das Selbst schafft frei nicht Lust und Unlust!

3. Nachdenken und Hingebung (yoga) übend, sah'n sie

Gottes Selbstkraft, verhüllt in eignen Gunas;
Er ist's, der allen den genannten Gründen,
Nebst Zeit und Seele, vorsteht als der Eine.

4. Den einen Radkranz, dreifach, sechzehnendig,

Mit fünfzig Speichen, zwanzig Gegenspeichen,
Sechs Achtheiten, die eine Schnur des Weltalls,
Dreipfadig, zweibedingten, einen Wahnes,

5. Den Fünfstrom, der fünfquellig schwillt, sich windet,

Mit fünf Hauchwellen, mit der fünf Sinne Urwurzel,
Mit Strudeln fünf, fünf Schmerz-Sturmwogen, fünfzig
Flußarmen und fünf Schnellen, den verstehn wir.

6. In diesem großen Brahmanrad, das alles

Beseelt, umschließt, ein Schwan schweift, doch nur weil er
Gesondert wähnt sich und des Rades Treiber: 
Von ihm begnadigt, wird er dann unsterblich.

7. Doch Lieder singen, dass im höchsten Brahman

Als ew'gem Grund enthalten jene Dreiheit.
Wer in ihr als den Kern das Brahman findet,
Aufgeht in ihm als Ziel, wird von Geburt frei.

8. Was wechselt und was bleibt, was offenbar und

Nichtoffenbar, Gott hegt es alles in sich;
Wer Gott nicht kennt, bleibt als Genießer gebunden.
Wer ihn erkannt, wird frei von allen Banden.

9. Zwei, Wisser, Nichtwisser, Gott, Nichtgott, sind ewig:

Der eine bleibt, objektverstrickt, Genießer,
Der andre, endlos, allseiend sitzt müßig,
Wenn er erkannt als Brahman hat jene Dreiheit!

10. Pradhānam fließt; nicht fließt, unsterblich, Hara,

Als Gott beherrschend Fließendes und Seele;
Ihn denkend, ihm ergeben, zu ihm werdend
Allmählich, wird zuletzt man frei von Māyā.

11. Wer Gott erkennt, wird frei von allen Banden,

Die Plagen schwinden, samt Geburt und Sterben;
Wer ihn verehrt (nur), wird drittens nach dem Tode
Gottherrlich, (dann) absolut und wunschvollendet.

12. Als ewig im Ātman ruhend wisset jene (Dreiheit),

Dann bleibt nichts Höheres mehr zu wissen übrig;
Genußobjekt, Genießer und Erreger,
Dies Dreifache heißt insgesamt das Brahman.

13. Wie Feuer, eingekehrt in seine Heimstatt,

Unsichtbar fortbesteht nach seinem Wesen,
Und aus der Reibholzheimstatt neu aufleuchtet,
So flammt's, in beiden gleich, im Leib durch Om auf.

14. Den Leib machend zum Reibholze,

Und den Om-Laut zum obern Holz,
Schaut man, nach fleiß'ger Denkquirlung,
Verstecktem Feuer gleich, den Gott.

15. Wie im Ölsamen Öl, in Milch die Butter,

In Strömen Wasser, im Reibholze Feuer,
So findet im eignen Selbste jenen (Ātman),
Wer ihn erschaut durch Wahrheit und Kasteiung,

16. Den alldurchdringenden Ātman,

Wie Butter in der Milch versteckt,
In Selbstkenntnis, Selbst-Zucht wurzelnd,
Das Endziel der Upanishad,
das Endziel der Upanishad.

Zweiter Adhyāya: Zweites Kapitel Shvetashvatara Upanishad

1. Verstand und Sinn zur Wesenheit

Zuerst anschirrt Gott Savitar,
Der Agni, als Licht kundmachend,
Über die Erde führte hin.

2. Getrieben von Gott Savitar

Sind angeschirrten Geistes wir,
Zum Himmelsliede und zur Kraft.

3. Anschirrend Sinne und Verstand,

Andächtig himmelwärts zu ziehn
Und großes Licht zu schaffen uns,
Soll Savitar sie treiben an.

4. Nun schirren an die Andacht, schirren an den Geist,

Sie, die des großen, weisen Priesters Priester sind;
Die Opfer ordnet er, dem alle Ordnung kund;
Laut wird gepriesen rings im Kreis Gott Savitar.

5. Das alte Brahman (Gebet) bring' ich euch in Ehrfurcht;

Weit dringt der Ruf, wie Sonnen ihre Bahn ziehn;
Des Ew'gen Kinder alle ihn vernehmen,
Und die in Wohnungen des Himmels schalten.

6. Wo Agni aus dem Reibholze

Entspringt, wo Vāyu tritt hinzu,
Und wo auch Soma quillt reichlich,
Da entwickelt das Manas sich.

7. Durch Savitar, durch seinen Trieb

Freut des Gebets, des alten, euch;
Wenn dort ihr euren Stand nehmet,
Befleckt euch früh'res Werk nicht mehr.

8. Den Leib dreifach gerichtet, ebenmäßig,

Manas und Sinne im Herzen eingeschlossen,
So mag der Weise auf dem Brahmanschiffe
Die fürchterlichen Fluten überfahren.

9. Den Odem hemmend, die Bewegung zügelnd,

Bei Schwund des Hauchs ausatmend durch die Nase,
Wie jenen Wagen mit den schlechten Rossen,
So fesselt ohne Lässigkeit das Manas !

10. Rein sei der Ort und eben, von Geröll und Sand,

Von Feuer, von Geräusch und Wasserlachen frei;
Hier, wo den Geist nichts stört, das Auge nichts verletzt,
In windgeschützter Höhlung schicke man sich an.

11. Erscheinungen aus Nebel, Rauch und Sonnen,

Von Wind und Feuer, von Leuchtkäfern, Blitzen,
Von Bergkristall und Mondglanz, sind beim Yoga
In Brahman Offenbarung vorbereitend.

12. Aus Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther dann

Fünffach entwickelt sich die Yoga-Tugend;
Der weiß nichts mehr von Krankheit, Alter, Leiden,
Der einen Leib erlangt aus Yogafeuer.

13. Behendigkeit, Gesundheit, Unbegehren,

Ein klares Antlitz, Lieblichkeit der Stimme,
Schöner Geruch, der Ausscheidungen wenig, 
Darin betätigt sich zuerst der Yoga.

14. Gleichwie ein Spiegel, der mit Staub bedeckt war,

Wie Feuerschein erglänzt, wenn er gereinigt,
So wird nur, wer erkannt der Seele Wesen,
Des Ziels teilhaftig und befreit von Kummer.

15. Wem seiner Seele Wesen ward zur Fackel,

Im Yoga Brahmans Wesen zu erschauen,
Fest, ewig, rein von allen Daseinsformen, 
Wer so den Gott weiß, der wird frei von Banden.

16. Er ist der Gott in allen Weltenräumen,

Vormals geboren und im Mutterleibe;
Er ward geboren, wird geboren werden,
Ist in den Menschen und allgegenwärtig.

17. Der Gott, der im Feuer ist, im Wasser,

Der in die ganze Welt ist eingegangen,
Der in den Kräutern weilt und in den Bäumen,
Diesem Gotte sei Ehre! sei Ehre!

Dritter Adhyāya: Drittes Kapitel Shvetashvatara Upanishad

1. Der netzausbreitend herrscht mit Herrscherkräften,

Die ganze Welt beherrscht mit Herrscherkräften,
Einer bleibend beim Entstehen und Bestehen (der Welt),
Unsterblich werden, welche das verstehen!

2. Der eine Rudra , zu keinem zweiten stehn sie, 

Ist's, der die Welt beherrscht mit Herrscherkräften;
Er weilt in den Wesen, und wutentbrannt zur Endzeit
Zerschmettert er als Herr die Geschöpfe alle.

3. Allseitig Auge und allseitig Antlitz,

Allseitig Arme und allseitig Fuß,
Schweißt schaffend er mit Armen, schweißt mit Flügeln
Zusammen Erd' und Himmel, Gott, der Eine.

4. Er, der der Götter Ursprung und Hervorgang,

Der Herr des Alls, Rudra , der große Weise,
Er, der vormals Hiranyagarbha zeugte,
Der Gott begabe uns mit edler Einsicht.

5. In deiner gnäd'gen Form, Rudra,

Die nicht schrecklich, nicht unheilvoll,
In dieser, deiner Form, der heilbringendesten,
Lass uns, Bergwohner, dich erblicken.

6. Der Pfeil, den du, Bergfroher,

Zum Schleudern trägst in deiner Hand,
Den mach' uns gnädig, Berghüter;
Nicht schädige er Mensch und Tier.

7. Doch höher noch steht Brahman! Den höchsten, großen,

Der Leib für Leib versteckt in allen Wesen,
Den Einen, der das Weltall hält umschlossen, 
Wer den als Gott versteht, der wird unsterblich.

8. Ich kenne jenen Purusha, den großen,

Jenseits der Dunkelheit wie Sonnen leuchtend;
Nur wer ihn kennt, entrinnt dem Reich des Todes;
Nicht gibt es einen andern Weg zum Gehen.

9. Höher als der nichts andres ist vorhanden,

Nichts Kleineres und nichts Größeres, was auch immer,
Als Baum im Himmel wurzelnd steht der Eine,
Der Purusha, der diese ganze Welt füllt.

10. Was höher hoch als diese Welt,

Das ist gestaltlos, schmerzenlos,
Unsterblich werden, welche das verstehen,
Die andern gehen ein in lauter Leiden.

11. Mit Antlitz, Haupt und Hals allwärts,

Weilt er in aller Wesen Herz;
Er, der Heil'ge, durchdringt alles,
So wohnt er selig (shiva ) überall.

12. Groß, herrlich ist der Purusha,

Er regt an die Erkenntniskraft;
Zu jenem reinen Ort ist er
Herr des Zugangs, Licht, wandellos.

13. Der Purusha, zollhoch, als innre Seele

Ist stets zu finden in der Geschöpfe Herzen;
Nur wer an Herz und Sinn und Geist bereitet, 
Unsterblich werden, die ihn also kennen.

14. Der Purusha mit tausendfachen Häuptern,

Mit tausendfachen Augen, tausend Füßen
Bedeckt ringsum die Erde allerorten,
Zehn Finger hoch noch drüber hin zu fließen.

15. Nur Purusha ist diese ganze Welt,

Und was da war, und was zukünftig währt,
Herr ist er über die Unsterblichkeit, 
Diejenige, die sich durch Speise nährt.

16. Nach allwärts ist es Hand, Füße,

Nach allwärts Augen, Haupt und Mund,
Nach allen Seiten hin hörend,
Die Welt umfassend steht es da.

17. Durch aller Sinne Kraft scheinend

Und doch von allen Sinnen frei,
Als Gott und Herrn der Welt (ehrt ihn),
Als großen Hort des Weltenalls.

18. Der in der Stadt mit neun Toren

Als Schwan wohnend nach außen schweift,
Der ist der ganzen Welt Herrscher,
Alles dessen, was steht und geht.

19. Ohn' Hände greift er, ohne Füße läuft er,

Sieht ohne Augen und hört ohne Ohren,
Er weiß, was wissbar, aber ihn weiß niemand,
Er heißt der Erstlings-Purusha, der Große.

20. Des Kleinen Kleinstes und des Großen Größtes,

Wohnt er als Selbst im Herzen dem Geschöpf hier;
Den willensfreien schaut man, fern von Kummer,
Durch Gottes Gnade als den Herrn, als Größe.

21. Ich weiß ihn, jenen alterslosen Alten,

In allem, es durchdringend, gegenwärtig,
Als Selbst in allem, dem Entstehn absprechen
Die Brahmanwisser, das sie ewig nennen.

Vierter Adhyāya: Viertes Kapitel Shvetashvatara Upanishad

1. Er, der, selbst farblos, vielfach versehn mit Kräften,

Die vielen Farben verleiht zu bestimmten Zwecken.
Bis endlich das All zergeht in ihm, dem Anfang,
Der Gott begabe uns mit edler Einsicht.

2. Das ja ist Agni, Āditya,

Das ist Vāyu und Candramas,
Das ist das Reine, das Brahman,
Die Wasser und Prajāpati.

3. Du bist das Weib, du bist der Mann,

Das Mädchen und der Knabe,
Du wächst, geboren, allerwärts,
Du wankst als Greis am Stabe.

4. Schwarz bist als Vogel du, grün mit roten Augen,

Blitzschwanger als Wolke, Jahreszeiten, Meere,
Das Anfanglose bist du, das Allverbreitete,
Aus dem geworden sind die Wesen alle.

5. Die eine Ziege, rot und weiß und schwärzlich,

Wirft viele Junge, die ihr gleichgestaltet;
Der eine Bock in Liebesbrunst bespringt sie,
Der andre Bock verlässt sie, die genossen.

6. „Zwei schönbeflügelte, verbundene Freunde

Umarmen einen und denselben Baum;
Einer von ihnen speist die süße Beere,
Der andre schaut, nicht essend, nur herab.“

7. Zu solchem Baum der Geist, herabgesunken,

In seiner Ohnmacht grämt sich wahnbefangen;
Doch wenn er ehrt und schaut des andern Allmacht
Und Majestät, dann weicht von ihm sein Kummer.

8. „Des Hymnus Laut im höchsten Himmelsraume,

Auf dem gestützt die Götter alle thronen,
Wenn man den nicht kennt, wozu hilft der Hymnus dann? 
Wir, die ihn kennen, haben uns versammelt hier.“

9. Aus dem die Hymnen, Opfer, Werk, Gelübde,

Vergangnes, Künft'ges, Vedalehren stammen,
Der hat als Zauberer diese Welt geschaffen,
In der der andre ist verstrickt durch Blendwerk.

10. Als Blendwerk die Natur wisse,

Als den Zaub'rer den höchsten Gott;
Doch ist von seinen Teilstoffen
Durchdrungen diese ganze Welt.

11. Der jedem Mutterschoß als der Eine vorsteht,

In dem die Welt zergeht und sich entfaltet,
Wer den als Herrn, als Gott, reichspendend, preiswert
Erkennt, geht ein in jene Ruh für immer.

12. Er, der der Götter Ursprung und Hervorgang,

Der Herr des Alls, Rudra, der große Weise,
Der selbst entstehen sah Hiranyagarbha,
Der Gott begabe uns mit edler Einsicht.

13. Er, der der Götter Oberherr,

In dem die Welt gegründet ist,
„Zweifüßler hier beherrschend und Vierfüßler, 
Wer ist der Gott, dass wir ihm opfernd dienen?“

14. Wer ihn fein, überfein in dem Gemenge,

Als Weltenschöpfer vielfach sich gestaltend,
Den Einen, der das Weltall hält umschlossen,
Als Seligen (shiva) weiß, geht ein zur Ruh für immer.

15. Er in der Zeitlichkeit ist der Welt Behüter,

Der Herr des Alls, versteckt in allen Wesen;
In ihn vertieft sind Brahmanweise und Götter,
Wer ihn erkennt, zerreißt des Todes Stricke.

16. Feiner als Butter, überfein wie Sahne,

Weilt selig (shiva) er versteckt in allen Wesen.
Den Einen, der das Weltall hält umschlossen,
Wer den als Gott weiß, wird frei von allen Banden.

17. Ja, dieser Gott, allschaffend, hohen Sinnes,

Ist stets zu finden in der Geschöpfe Herzen;
Nur wer an Herz und Sinn und Geist bereitet, 
Unsterblich werden, die ihn also kennen.

18. Das Dunkel weicht; nun ist nicht Tag noch Nacht mehr,

Nicht seiend noch nichtseiend, selig (shiva) nur ist er:
Er ist der Om-Laut, „Savitars liebwertes Licht“,
Aus ihm erfloss das Wissen uranfänglich.

19. „Nicht in der Höhe, noch Breite,

Noch Mitte ist umspannbar er.
Nicht ist ein Ebenbild dessen,
Der da heißt: große Herrlichkeit.“

20. Nicht ist zu schauen die Gestalt desselben;

Nicht sieht ihn irgend wer mit seinem Auge;
Ihn, der im Herzen weilt, mit Herz und Sinnen, 
Unsterblich werden, die ihn also kennen.

21. Er ist der Ew'ge! so denkend

Mag man furchtsam ihm nahen wohl; 
O Rudra! mit deinem huldreichen Antlitz,
Mit dem schütz' mich allezeit!

22. „An Kindern und Nachkommen und am Leben auch,

An Rindern und an Rossen nicht verletze uns!
Erschlage nicht in deinem Grimm die Mannen uns,
Mit Opfern rufen wir dich auf der Stätte an.“

Fünfter Adhyāya: Fünftes Kapitel Shvetashvatara Upanishad

1. Zwei sind im ewig, endlos höchsten Brahman

Latent enthalten, Wissen und Nichtwissen;
Vergänglich ist Nichtwissen, ewig Wissen,
Doch der als Herr verhängt sie, ist der Andre.

2. Der jedem Mutterschoß als der Eine vorsteht,

Allen Gestalten, allen Ursprungsstätten,
Der mit jenem ersterzeugten, roten Weisen
Im Geist ging schwanger und ihn sah geboren,

3. Der Gott, der vielfach ein Netz nach dem andern

Im Raum ausbreitet hier und wieder einzieht,
Durch seine Helfer fortschaffend, hochsinnig,
Betätigt so als Herrscher seine Allmacht.

4. Wie alle Weiten, oben, unten, querdurch,

Erleuchtend, strahlt der Sonnenstier am Himmel,
So lenkt der Gott, der heilige, liebwerte,
Als einer alles Mutterschoßentsprungne.

5. Wenn seinem Wesen zureift aller Ursprung,

Was reifen soll, er macht es alles wachsen,
Er lenkt als einer alles hier und jedes,
Verteilend einzeln alle Sonderheiten.

6. Was im Veda-Geheimteil Upanishad-Geheimnis,

Gott Brahman kennt es als des Veda Urquell;
Die das erkannt, der Vorzeit Götter, Weise,
Zu ihm geworden, sind unsterblich worden.

7. Bestimmtheithaft, fruchtreicher Werke Täter

Und eben dessen, was er tat, Genießer,
So wandert er als Lebensherr allförmig,
Drei-Guna-haft, dreipfadig, je nach seinem Werk.

8. Zollhoch an Größe, sonnenähnlich leuchtend,

Mit Vorstellung und Ichheit ausgestattet,
Erscheint, kraft seiner Buddhi, seines Ātman,
Wie einer Ahle Spitze groß der Andre.

9. Spalt' hundertmal des Haares Spitze

Und nimm davon ein Hundertstel,
Das denk' als Größe der Seele,
Und sie wird zur Unendlichkeit.

10. Er ist nicht weiblich, nicht männlich,

Und doch ist er auch sächlich nicht;
Je nach dem Leib, den er wählte,
Steckt er in diesem und in dem.

11. Durch Wahn des Vorstellens, Berührens, Sehens,

Fährt er als Seele, seinem Werk entsprechend,
Durch Essens, Trinkens, Zeugens Selbsterschaffung,
Abwechselnd hier und dort in die Gestalten.

12. Als Seele wählt viel grobe und auch feine

Gestalt er, entsprechend seiner Tugend;
Und was ihn band, kraft seines Werks und Selbstes,
In diese, bindet wieder ihn in andre.

13. Wer ihn, anfanglos, endlos, in dem Gemenge

Als Weltenschöpfer vielfach sich gestaltend,
Den Einen, der das Weltall hält umschlossen,
Als Gott kennt, wird befreit von allen Banden.

14. Wer im Herzen den nestlosen (leiblosen),

Sein und Nichtsein bewirkenden,
Die (sechzehn) Teile bindenden
Sel'gen Gott sucht, verlässt den Leib.

Sechster Adhyāya: Sechstes Kapitel Shvetashvatara Upanishad

1. Die einen Lehrer reden von Natur uns,

Von Zeit die andern; sie gehen völlig irre:
Nein, es ist Gottes Allmacht, die im Weltall
Lässt jenes Brahmanrad im Kreis sich drehen.

2. Durch ihn regiert, der stets bedeckt das Weltall,

Als Geist, Zeitschöpfer, gunahaft, allwissend,
Entrollt dies Schöpfungswerk sich, das sich darstellt
Als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther.

3. Was er erschuf, nimmt dann zurück er wieder,

Zur Einheit werdend mit des Wesens Wesen;
Um dann, mit einem, zweien, dreien, achten,
Mit Zeit und feinen Gunas, die er selbst sind,

4. Das gunahafte Werk neu zu beginnen,

Verteilend einzeln die Beschaffenheiten, 
Wo sie nicht sind, da wird das Werk zu nichte,
Hin geht er werklos, wesentlich ein andrer.

5. Anfang und Grund, bewirkend die Verbindung,

Drei-Zeit-erhaben, ohne Teile ist er.
Den allgestalt'gen Werdegrund, preiswürdig
Als Gott, der in uns wohnt, zuerst verehrend, 

6. Höher als Weltbaum, Zeit und alle Formen

Ist er, aus dem entspringt die Weltausbreitung, 
Und ihn, der Recht schafft, Bösem wehrt, Glück austeilt,
Den ew'gen Allbefasser in uns wissend,

7. So lasst uns ihn, der Herren höchsten Großherrn,

Die höchste Gottheit unter allen Göttern,
Als höchsten Fürst der Fürsten, jenseits thronend,
Als Gott auffinden, als preiswerten Weltherrn.

8. Nicht gibt es an ihm Wirkung noch Organe auch,

Nicht ist ihm einer gleich noch überlegen auch,
Sein höchstes Können wird gelehrt als mannigfach,
Des Wissens, Tuns Werk sind ihm eingeboren.

9. Kein Fürst ist über ihm in allen Welten

Und kein Gebieter, kein Kennzeichen trägt er;
Ursache ist er, Herr des Herrn der Sinne,
Ihn zeugte keiner, niemand ist sein Oberherr.

10. Der spinnegleich durch Fäden, die aus ihm als Stoff (pradhānam)

Entsprungen, sich verbarg nach seinem Sein, der Gott
Verleih' Eingang in Brahman uns.

11. Der eine Gott, verhüllt in allen Wesen,

Durchdringend alle, aller inn're Seele,
Des Werks Aufseher, alles Sein durchduftend,
Zuschauer, bloßer Geist und frei von Gunas,

12. Der eine Freie, der den einen Samen

Vielfach macht vieler von Natur Werkloser,
Wer den, als Weiser, in sich selbst sieht wohnen,
Der nur ist ewig selig, und kein andrer.

13. Der, als der Ew'ge den Nichtew'gen, Freude,

Als Geist den Geistern schafft, als Einer Vielen,
Wer dies Ursein durch Prüfung (sānkyam) und Hingebung (yoga)
Als Gott erkennt, wird frei von allen Banden.

14. Dort leuchtet nicht die Sonne, nicht Mond noch Sternenglanz,

Noch jene Blitze, geschweige irdisch Feuer.
Ihm, der alleine glänzt, nachglänzt alles andre,
Die ganze Welt erglänzt von seinem Glanze.

15. Der eine Schwan in dieses Weltalls Mitte,

Als Feuer ging er ein in das Gewoge,
Nur wer ihn kennt, entrinnt dem Reich des Todes,
Nicht gibt es einen andern Weg zum Gehen.

16. Allmächtig und allweise, selbstentsprungen,

Als Geist, Zeitschöpfer, gunahaft, allwissend,
Des Urstoffs (pradhānam) Herr, der Einzelseele und Gunas,
Wirkt Stillstand, Wanderung er, Erlösung, Bindung.

17. Aus ihm besteht, unsterblich, in Gott ruhend,

Der Geist, der überall, des Weltalls Hüter,
Und ewig über diese Welt gebietet,
Nur dies verleiht ihm seiner Herrschaft Rechte.

18. Zu ihm, der den Gott Brahman schuf zu Anfang,

Und der ihm auch die Veden überliefert,
Dem Gott, der sich erkennen lässt aus Gnade,
Nehm' ich, Erlösung suchend, meine Zuflucht, 

19. Der teillos, wirkungslos, ruhig,

Ohne Tadel und fleckenlos,
Höchste Unsterblichkeitsbrücke,
Feuer gleich, wenn das Holz verbrannt.

20. Ja, wenn man sich erst wird wickeln

In den Luftraum wie in ein Kleid, 
Dann wird auch ohne Gottwissen
Des Leids Ende erreichbar sein.

21. Gestärkt durch Buße, mit dem Veda begnadigt,

Fand Brahman Shvetāshvatara und lehrt' es,
Als höchstes Heiligungsmittel gern genossen,
Dem Rishi-Kreis der Āshrama-Erhabnen.

22. Vor Zeiten ward im Vedānta

Höchstes Geheimnis ausgebracht;
Keinem gebt es, der nicht ruhig,
Der nicht Sohn oder auch Schüler ist.

23. Doch wer zuhöchst an Gott gläubig,

Wie an Gott an den Lehrer auch,
Dem, wenn er hohen Sinns, werden
Diese Lehren Erleuchtung sein,
diese Lehren Erleuchtung sein.


Swami Sivananda: Übersetzung und Erläuterung aller Verse Shvetashvatara Upanishad

Einleitung

Diese Upanishad enthält bloß 113 Verse bzw. mantras, die in sechs Kapitel eingeteilt sind. Sie gehört zum Kṛṣṇa-Yajur-Veda. Obwohl sie nicht zu den zehn Haupt-Upanishaden gerechnet wird, wird sie doch als eine alte und wichtige Upanishad angesehen. Ihren Namen hat sie von dem Seher Śvetāśvatara, der die darin enthal- tene Wahrheit seinen Schülern lehrte.

In dieser Upanishad wird Śiva (bzw. Rudra) als Schöpfer, Erhalter und Zerstörer dieser Welt erklärt. Er ist die materielle und wirkende Ursache der Welt. Man spricht von Ihm als der höchsten Gottheit und Er wird mit dem höchsten brahman gleichgesetzt.

Das Wort śvetāśvatara bedeutet: jemand, der seine Sinne kontrolliert hat (śveta rein; aśva Sinne). Viele der mantras dieser Upanishad werden von den Kommentatoren des Brahma-Sūtra zitiert, um ihre Lehren zu unterstützen.

Die Śvetāśvatara-Upaniṣad stellt eine Mischung von Lehren des vedānta, sāṅ-khya und Yoga dar. Sie behandelt brahman, Īśvara, die individuelle Seele, das Universum und Freiheit. Sie erwähnt auch die Mittel der Befreiung für den jīva, der an das Rad der Wiedergeburt gekettet ist. Dabei erklärt sie den Prozess des Yoga, dessen Ziel, seine Mittel, Bedingungen, Zwischenstufen und das letztendliche Ergebnis. Yoga wird in seinen drei Formen behandelt: karma-yoga, bhakti-yoga und jñāna-yoga.

Anfangs-Mantra

oṃ, saha nāvavatu। saha nau bhunaktu।

saha vīryaṁ karavāvahai। tejasvi nāvadhītamastu।
mā vidviṣāvahai। oṃ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ॥

Om. Möge Er uns beide beschützen (den Lehrer und den Schüler)! Möge Er uns beide die Glückseligkeit von mukti erfahren lassen! Mögen wir uns beide bemühen, die wahre Bedeutung der Schriften herauszufinden! Mögen unsere Studien Frucht bringen! Mögen wir niemals miteinander streiten! Om, Frieden! Frieden! Frieden!

Prathamo 'dhyāyaḥ: Erstes Kapitel Shvetashvatara Upanishad

hariḥ om। brahmavādino vadanti।

kiṃ kāraṇaṃ brahma kutaḥ sma jātā jīvāma kena kva ca saṃpratiṣṭhāḥ।
adhiṣṭhitāḥ kena sukhetareṣu vartāmahe brahmavido vyavasthām॥ 1॥

1. Hari om. Die brahman-Sucher sprechen untereinander: Was ist die Ursache? Ist es brahman? Woraus sind wir geboren? Durch wen leben wir? Wo bleiben wir am Ende? Durch wen gelenkt, erfahren wir Freude und Schmerz, o ihr Brahman-Kenner?

ERLÄUTERUNG: Brahmavādinaḥ – die brahman-Sucher; vadanti – sie sprechen miteinander; kim – was; kāraṇam – Ursache; kutaḥ – woher und warum; jātāḥ smaḥ – sind wir geboren; jīvāmaḥ – leben wir; kena – durch wen; kva – wo; ca – und; sampratiṣṭhāḥ – ruhen wir am Ende; adhiṣṭhitāḥ – gelenkt, regiert; kena – durch wen; sukhetareṣu – in Freude und Schmerz; vartāmahe – existieren wir; brahmavidaḥ – die Kenner des brahman; vyavasthām – Zustand, Lage. Kiṃ kāraṇaṃ brahma – Ist brahman die Ursache? Was ist die letzte Ursache dieser Welt? Ist es brahman? Was für eine Art von Ursache ist brahman? Ist es die materielle Ursache oder die Wirkungsursache – oder beides? Was ist die Quelle dieses Lebens? Gibt es einen, der dieses Leben unterstützt oder kontrolliert oder von innen regiert? Worauf ruhen wir zur Zeit der Zerstörung dieser Welt (pralaya)? Was wird aus der Seele nach dem Tod? Existiert die Seele nach dem Tod? Oder wird sie etwa völlig zerstört? Wird sie in brahman absorbiert? Gibt es einen höchsten Herrn, der die jīvas (individuellen Seelen) regiert?


kālaḥ svabhāvo niyatiryadṛcchā bhūtāni yoniḥ puruṣa iti cintyā।

saṃyoga eṣāṃ na tvātmabhāvādātmāpyanīśaḥ sukhaduḥkhahetoḥ॥ 2॥

2. Kann man die Zeit als die Ursache ansehen oder die innere Natur oder das Gesetz, d.h. die Notwendigkeit, oder den Zufall, oder aber die Elemente, die Materie oder den Mutterleib oder den Mann? Es ist keine Kombination all dieser, denn es gibt die Seele (ātman). Auch die (individuelle) Seele ist nicht frei, denn sie ist unter der Herrschaft von Vergnügen und Schmerz.

ERLÄUTERUNG: Kālaḥ – Zeit; svabhāvaḥ – die innewohnende Natur; niyatiḥ – Gesetz oder Notwendigkeit; yadṛcchā – Zufall; bhūtāni – Materie; yoniḥ – Mutterleib; puruṣaḥ – Mann (Selbst); eṣām – von diesen, aus diesen; saṃyogaḥ – Kombination; anīśaḥ – nicht selbst der Herr, nicht ihr eigener Herr. Hier wird eine mögliche Ursache nach der anderen in Betracht gezogen, und alle werden sie als unzulänglich verworfen.

Ist die Zeit Brahmā (als Ursache)? Nein. Die individuelle Seele ist nicht mächtig. Sie kann nicht der Urheber der Schöpfung sein. Sie ist impotent, insofern sie unter der Herrschaft von Vergnügen und Schmerz steht.


te dhyānayogānugatā apaśyandevātmaśaktiṃ svaguṇairnigūḍhām।

yaḥ kāraṇāni nikhilāni tāni kālātmayuktānyadhitiṣṭhatyekaḥ॥ 3॥

3. Diejenigen, welche Meditation praktizierten, sahen und erkannten als die Ursache der Schöpfung die Kraft Gottes (devātma-śaktim), die in Ihren eigenen Qualitäten (guṇas) verborgen ist und die allein über all diese Ursachen herrscht, angefangen von der Zeit bis hin zur individuellen Seele.

ERLÄUTERUNG: Te – sie; dhyāna-yogānugatāḥ – den Yoga der Meditation praktizierend; apaśyan – sie erkannten, sahen; devātma-śaktim – die Kraft Gottes; sva-guṇaiḥ – durch die guṇas; nigūḍhām – verborgen; yaḥ – die; nikhilāni – alle; tāni – jene; kāraṇāni – Ursachen; kālātma-yuktāni– angefangen mit der Zeit und endend mit der individuellen Seele; adhitiṣṭhati – regiert; ekaḥ – ohne ein Zweites.

Meditation führt zur Erkenntnis, zu Selbstverwirklichung.

Devātma-śaktim – dies ist die Kraft Gottes. Sie ist māyā. Ihre Qualitäten sind sattva (Reinheit, Tugendhaft), rajas (Aktivität, Leidenschaft) und tamas (Dunkelheit, Trägheit). Das Wort svaguṇa bezieht sich auf diese drei Qualitäten.


tamekanemiṃ trivṛtaṃ ṣoḍaśāntaṃ śatārdhāraṃ viṃśatipratyarābhiḥ।

aṣṭakaiḥ ṣaḍbhirviśvarūpaikapāśaṃ trimārgabhedaṃ dvinimittaikamoham॥ 4॥

4. Wir verstehen Ihn als ein Rad mit einer Felge mit einem dreifachen Reifen, mit sechzehn Enden, fünfzig Speichen, zwanzig Gegenspeichen, mit sechs Gruppen von Achteln, welches ein Seil hat von vielfacher Form, welches drei verschiedene Wege hat und das eine Umdrehung hat für zwei Spuren.

ERLÄUTERUNG: Tam – Ihn; eka-nemim – mit einer Felge; trivṛtam – mit einem dreifachen Reifen; ṣoḍaśāntam – mit sechzehn Enden; śatārdhāram – mit fünfzig Speichen; viṃśatipratyarābhiḥ – mit zwanzig Gegenspeichen; aṣṭakaiḥ ṣaḍbhiḥ – mit sechs Gruppen von acht; visvarūpaikapāśam – mit einem Seil von vielfältiger Form; trimārgabhedam – mit drei verschiedenen Wegen; dvinimittaikamoham – mit jeder Umdrehung, welche die Ursache von zweien ist.

Hier meditiert man über Gott als das Rad dieses Universums. Der Umfang des Rades (nemim) repräsentiert die Natur, die unter verschiedenen Namen bekannt ist: unmanifester Äther, māyā, prakṛti, śakti, ajñāna etc. Dies ist die Ursache, von der die ganze Schöpfung abhängt.

Die drei Reifen stellen die drei Qualitäten sattva, rajas und tamas dar – oder aber Zeit, Raum und Kausalität.

Die sechzehn Enden repräsentieren die sechzehn Modifikationen (vikṛtis) der sāṅkhya-Philosophie, durch welche die Schöpfung vervollständigt wird. Dies sind die fünf Organe des Wissens, die fünf Organe der Handlung, der manas und die fünf groben Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther). Nach einer anderen Erklärung sind die sechzehn Teile: virat, sūtrātman und die vierzehn Welten.

Fünfzig Speichen: Dies sind die fünf Klassen der Unwissenheit, nämlich tamas (Unklarheit), moha (Illusion), mahāmoha (extreme Illusion), timira (Dunkelheit) und andha-timira (extreme Finsternis); weiterhin die achtundzwanzig Unfähigkeiten, die neun tuṣṭis (Zufriedenheiten) und die acht siddhis (Vollkommenheiten), nämlich tāra, sutāra, tārayanti, pramoda, pramodita, pramodamāna, ramyaka und satpramodita.

Die zwanzig Gegenspeichen sind die zehn Sinne und ihre Objekte. Dies sind Keile aus Holz, welche die Speichen stärken sollen.

Die acht ...

1. -fache prakṛti (Erzeuger, Urmaterie) der sāṅkhya-Philosophie, nämlich die fünf Elemente, der manas, der Intellekt und das Ego.

2. dhātus (Bestandteile des Körpers), nämlich äußere Haut, innere Haut, Blut, Fleisch, Fett, Knochen, Knochenmark und Samen.

3. siddhis oder übermenschlichen Fähigkeiten, nämlich aṇiman (die Fähigkeit, sich klein zu machen), mahiman (die Fähigkeit, sich groß zu machen) etc.

4. bhāvas (geistigen Zustände), nämlich Tugend, Schlechtigkeit, Wissen, Unwissenheit, Leidenschaftslosigkeit, Anhaftung, übermenschliche Fähigkeit und Mangel an übermenschlicher Fähigkeit.

5. Gruppierungen übernatürlicher Wesen, nämlich Brahmā und Prajāpati sowie die devas, gandharvas, yakṣas, rākṣasas, pitṛs und piśācas.

6. Tugenden der Seele, nämlich Mitgefühl, Geduld, Freiheit von Neid, Reinheit, Freiheit von Trägheit (anāyāsa), glückliche Natur (maṅgala), Freiheit von Armut (akārpaṇya) und Wunschlosigkeit (niḥspṛha).

Die verschiedenen Pfade sind Tugend (dharma), Laster (adharma) und Wissen (jñāna).

Das Seil ist Wünschen. Es ist sehr vielfältig.

Moha bedeutet wörtlich „Täuschung“. Hier bezieht es sich auf die Umdrehung des Rades. Diese Umdrehung ist die Ursache von zweierlei: Tugend und Sünde bzw. Glück und Elend.


pañcasroto'mbuṃ pañcayonyugravakrāṃ

pañcaprāṇormiṃ pañcabuddhyādimūlām।
pañcāvartāṃ pañcaduḥkhaughavegāṃ
pañcāśadbhedāṃ pañcaparvāmadhīmaḥ॥ 5॥

5. Wir verstehen Ihn als einen Fluss aus fünf Strömen, von fünf Quellen, ungestüm und gewunden, dessen Wellen die fünf prāṇas sind, dessen ursprüngliche Quelle die fünffache Wahrnehmung ist (der manas), der fünf Strudel hat, der vorangetrieben ist durch die Geschwindigkeit des fünffachen Schmerzes, der aufgeteilt ist durch die fünf Arten des Elends und der fünf Windungen oder Flussarme hat.

ERLÄUTERUNG: Pañca-sroto'mbum – der die Wasser von fünf Strömen hat; pañca-yonyugravakrām – der fünf Quellen hat, ungestüm und gewunden; pañca-prā-ṇormim – dessen Wellen die fünf prāṇas sind; pañca-buddhyādimūlām – dessen ursprüngliche Quelle die fünffache Wahrnehmung, der manas, ist; pañcā-vartām – der fünf Strudel hat; pañca-duḥkhaughavegām – der vorangetrieben ist durch die Geschwindigkeit der fünf Arten von Schmerz, pañcāśad-bhedāṁ – der fünfzig Aspekte hat. Śaṅkara liest: Pañca-kleśa bhedām („Der geteilt ist in die fünf Arten des Elends“). Pañca-parvām – der fünf Flussarme hat; adhīmaḥ – wir denken bzw. verstehen.

Die fünf (pañcā) ...

• Sinne stellen die fünf Ströme dar.

• Elemente sind die fünf Quellen.

• prāṇas werden durch die fünf Wellen repräsentiert.

• Objekte der Sinne – śabda (Klang, Ton), sparśa (Gefühl, Berühren), rūpa (Farbe, Form), rasa (Geschmack) und gandha (Geruch) – werden Strudel genannt, denn die individuelle Seele ertrinkt darin.

• Arten von Leiden und Schmerz sind: Schmerz (durch die Existenz im Mut- terleib), Geburt, Alter, Krankheit und Tod.

Dieses Universum hängt völlig vom manas (Denken, Verstand, Fühlen etc.) ab. Wenn der manas da ist, ist auch das Universum da; wenn es keinen manas gibt, gibt es kein Universum. In nirvikalpa-samādhi (dem überbewussten Zustand) löst sich der manas und damit auch das Universum auf. Genau wie das Wasser eines Flusses aus dem Ozean kommt und zurückgeht zum Ozean, so ist auch diese Welt aus brahman hervorgegangen und wird wieder in brahman absorbiert.


sarvājīve sarvasaṃsthe bṛhante asminhaṃso bhrāmyate brahmacakre।

pṛthagātmānaṃ preritāraṃ ca matvā juṣṭastatastenāmṛtatvameti॥ 6॥

6. In diesem unendlichen Rad des brahman, in dem alles lebt und ruht, wird die wandernde Seele herumgewirbelt, wenn sie denkt, dass sie und der höchste Lenker getrennt sind. Sie erlangt Unsterblichkeit, wenn sie von Ihm gesegnet wird.

ERLÄUTERUNG: Sarvājīve – in dem alles lebt; sarva-saṃsthe – in dem alles ruht; brahma-cakre – in dem Rad des brahman; haṃsaḥ – die wandernde Seele, die sich immer wieder verkörpernde Seele; bhrāmyate – wird herumgewirbelt; amṛtatvam – Unsterblichkeit; eti – erlangt.

Haṃsaḥ – der jīva wird haṃsa genannt (Pilger, Wanderer), weil er entlang des Pfades des saṃsāra wandert. Haṃsaḥ bedeutet wörtlich „Schwan“ [genauer „Wildgans“,]. Der Mensch nimmt viele Geburten an, wandert durch viele Mutterleiber und entwickelt sich langsam und allmählich durch die verschiedenen Erfahrungen. Am Ende wird er eins mit brahman. Dies wird mit einer Pilgerreise verglichen. Wenn der jīva erkennt, dass er eins ist mit brahman (dem höchsten Sein), dann erlangt er Unsterblichkeit.

Brahma-cakre – das Rad brahmans ist diese Welt.

Nur durch die Gnade Gottes erhält man die vier Mittel der Befreiung, bekommt einen Geschmack des vedānta und verwirklicht schließlich seine Identität mit dem höchsten Selbst.


udgītametatparamaṃ tu brahma tasmiṃstrayaṃ supratiṣṭhā'kṣaraṃ ca।

atrāntaraṃ brahmavido viditvā līnā brahmaṇi tatparā yonimuktāḥ॥ 7॥

7. Dies wird wahrlich als das höchste brahman erklärt. Darin ist die Dreiheit. Es ist die feste Stütze. Es ist unzerstörbar. Wenn sie erkennen, was darin enthalten ist, geben sich die Kenner des brahman dem brahman hin und werden von der Wiedergeburt (Reinkarnation) befreit.

ERLÄUTERUNG: Su-pratiṣṭhā – feste Stütze, fester Grund; akṣaram – unzerstörbar; brahmavidaḥ – die Kenner des brahman; tatparāḥ – Ihm hingegeben, auf Es ausgerichtet; yoni-muktāḥ – befreit vom Mutterleib, d.h. von der Wiedergeburt; etat – dies, d.i. das absolute brahman, ohne Qualitäten; trayam – die Dreiheit, das ist die Welt, die individuelle Seele und die kosmische Seele. Vielleicht ist aber auch Wachen, Schlafen und Träumen gemeint. Die Kenner des brahman heben die begrenzenden Attribute – physische Hülle, Energie-Hülle etc. – auf durch vicāra, d.i. Selbsterforschung, und durch die neti-neti-Lehre („Nicht dies!“, „Nicht dies!“) und sie extrahieren die innere Essenz, d.i. brahman. Sie verschmelzen mit der Essenz. Su-pratiṣṭhā – brahman ist die feste Stütze, die feste Grundlage; Es ist das Substratum dieser Welt; die ganze Welt ruht in Ihm; Es allein bleibt nach dem kosmischen pralaya, der vollständigen Auflösung. Yoni-muktāḥ – sie sind von der Wiedergeburt befreit; sie sind frei von allem Übel, das mit Geburt, Alter und Tod verbunden ist.


saṃyuktametatkṣaramakṣaraṃ ca vyaktāvyaktaṃ bharate viśvamīśaḥ।

anīśaścātmā badhyate bhoktṛbhāvājjñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 8॥

8. Gott hält dieses Universum aufrecht, das aus der Verbindung des Vergänglichen und des Unvergänglichen besteht, des Manifesten und des Unmanifesten. Solange die Seele nicht Gott erkannt hat, ist sie den Sinnesfreuden verhaftet. Sie wird zum Genießenden und ist gebunden. Wenn sie Gott erkennt, wird sie frei von allen Fesseln.

ERLÄUTERUNG: saṃyuktam – verbunden; kṣaram – vergänglich; akṣaram – unvergänglich; vyaktāvyaktam – manifest und unmanifest; viśvam – das Universum; īśaḥ – Gott; bharate – stützt, unterstützt, erhält; anīśaḥ – ohne den Herrn; bhoktṛ-bhāvāt – weil sie der Genießende ist; badhyate – ist gebunden; sarvapāśaiḥ – von allen Fesseln; mucyate – ist befreit. Der unwissende jīva identifiziert sich ist dem Körper und den Sinnen und entwickelt die Einstellung, dass er der Erfahrende und der Handelnde ist (kartā bhoktā). Dies ist der Grund der Unfreiheit. Vyakta ist das manifeste Universum. Avyakta ist die unmanifeste mūla-prakṛti (Urmaterie), welche den Samen des manifesten Universums enthält.


jñājñau dvāvajāvīśānīśāvajā hyekā bhoktṛbhogyārthayuktā।

anantaścātmā viśvarūpo hyakartā trayaṃ yadā vindate brahmametat॥ 9॥

9. Der wissende Gott und die unwissende Einzelseele, der Allmächtige und die Machtlose – beide sind sie ungeboren. Auch die Natur (prakṛti), die verbunden ist mit dem Erfahrenden und dem Erfahrenen, ist ungeboren. Wenn diese drei als brahman erkannt werden, wird das Selbst unendlich, universal und nichttätig (frei von der Idee von Handlung und Handelndem).

ERLÄUTERUNG: jñājñau – der Wissende (Gott) und die unwissende Seele; īśānīśauḥ – der Allmächtige und die Machtlose; ajau – sind ungeboren; bhoktṛbhogyārtha-yuktā – verbunden mit dem Erfahrenden und den Objekten der Erfahrung; anantaḥ – unendlich; akartā – nichtaktiv; bhavati – wird. Auch māyā ist ungeboren (ajā). Sie bringt alles hervor. Sie ist die inhärente Kraft der höchsten Seele. Die tripuṭī (Dreiheit) von Erfahrendem, Erfahrung und Objekt der Erfahrung, ist nur ihre Modifikation. Insofern Gott mit der Illusionskraft der māyā versehen ist, erscheint Er als Besitzer dieser Unterschiede.

Der ātman ist immer das Subjekt, der Zeuge. Er ist immer unabhängig. Das Objekt ist immer abhängig von dem wahrnehmenden Subjekt. Im nirvikalpa-samādhi (überbewussten Zustand) verschwindet die tripuṭī. Subjekt und Objekt werden eins. Die tripūti verschmilzt in brahman. Wegen ihrer Unwissenheit denkt die individuelle Seele, dass sie der Täter und der Erfahrende sei. Das ist die Ursache der menschlichen Misere. Wenn die Seele ihre Einheit mit der höchsten Seele realisiert, verschwindet die Idee, dass sie der Handelnde sei. Sie erkennt ihre eigene Unendlichkeit, Universalität und absolute Freiheit.


kṣaraṃ pradhānamamṛtākṣaraṃ haraḥ kṣarātmānāvīśate deva ekaḥ।

tasyābhidhyānādyojanāttattvabhāvāt bhūyaścānte viśvamāyānivṛttiḥ॥ 10॥

10. Materie ist vergänglich, aber Gott (Hara) ist unsterblich und unvergänglich. Er, der einzige Gott, herrscht über die vergängliche Materie und die individuellen Seelen. Durch Meditation über Ihn, durch Verbindung mit Ihm und indem man eins mit Ihm wird, erreicht man schließlich das Ende aller Illusion.

ERLÄUTERUNG: Pradhānam – Materie, kṣaram – vergänglich; haraḥ – Gott; amṛta-akṣaram – unsterblich und unvergänglich; īśate – regiert; yojanāt – durch Verbindung, Vereinigung; tattvabhāvāt – dadurch, dass man eins mit Ihm wird; viśvamāyānivṛttiḥ – das Aufhören aller Illusion. Haraḥ – der Zerstörer. Gott wird „Hara“ genannt, weil er alle Unwissenheit der individuellen Seelen zerstört.

Pradhāna (bzw. mūla-prakṛti) ist selbst nicht vergänglich. Es ist ohne Anfang (anādi) und ungeboren (aja, siehe 1.9). Sie wird hier vergänglich genannt, um den Unterschied zwischen Gott und der Natur aufzuzeigen. Die ganze Natur verschwindet für den Weisen, der Befreiung erlangt hat. Aus dem Grund wird die Natur als vergänglich bezeichnet.

Konzentration mündet in Meditation; Meditation führt zu samādhi. Der Sucher erreicht zunächst die Vereinigung mit Gott – das ist savikalpa-samādhi. Dann verschmilzt er mit Ihm. Er geht in sein Sein ein. Das ist nirvikalpa-samādhi.

In der Bhagavad-Gītā (11.54) lesen wir: jñātum draṣṭuṃ ca tattvena praveṣṭuṃ ca paraṃtapa („Erkannt, gesehen und vollkommen vereint.“). In savikalpa-samādhi gibt es noch einen geringen Unterschied zwischen dem Meditierenden und dem Gegenstand der Meditation. Da ist noch tripūti, die Dreiheit. In nirvikalpa-samādhi geschieht tripūti-laya, d.h. die tripuṭī verschwindet völlig. Da ist nicht mehr die geringste Unterscheidung, denn der Meditierende verwirklicht seine Identität mit dhyeya, dem Gegenstand der Meditation. Dhyāta (Meditierende), dhyāna (Meditation) und dhyeya (Meditationsobjekt) werden eins. Die Meditation endet hier.


jñātvā devaṃ sarvapāśāpahāniḥ kṣīṇaiḥ kleśairjanmamṛtyuprahāṇiḥ।

tasyābhidhyānāttṛtīyaṃ dehabhede viśvaiśvaryaṃ kevala āptakāmaḥ॥ 11॥

11. Durch das Wissen um Gott werden alle Fesseln (der Unwissenheit) durchschnitten; Geburt und Tod gibt es nicht mehr und damit endet alles Leiden. Durch Meditation über Ihn erreicht man den dritten Zustand, nämlich Herrschaft über das Universum, wenn der Körper vergeht. Alle Wünsche sind befriedigt und man wird eins ohne ein Zweites (kevala).

ERLÄUTERUNG: Sarva-pāśāpahāniḥ – das Zerstören aller Fesseln; āpta-kāmaḥ – jemand, dessen Wünsche erfüllt sind; viśvaiśvaryam – Herrschaft über das Universum.

Wenn der Meditierende mit Gott verschmilzt, wird er eins ohne ein Zweites. Dieser Zustand wird kaivalya genannt. Wie könnte da noch ein Wunsch zurückbleiben, wenn er ein āpta-kāma wird, eins mit Gott wird und alles Weltliche überwunden hat? Alle göttlichen Herrlichkeiten liegen ihm zu Füßen und so sind all seine Wünsche befriedigt. Er ist nicht mehr im Stande, weltliche Vergnügungen oder Dinge zu begehren. Kleśa – Leiden (durch Unwissenheit und dessen Auswirkungen). Es gibt fünf Arten von kleśa: avidyā (Unwissenheit), asmitā (Egoismus), rāga (Mögen), dveṣa (Abneigung) und abhiniveśa (Anhaften am weltlichen Leben).


etajjñeyaṃ nityamevātmasaṃsthaṃ nātaḥ paraṃ veditavyaṃ hi kiñcit।

bhoktā bhogyaṃ preritāraṃ ca matvā sarvaṃ proktaṃ trividhaṃ brahma-metat॥ 12॥

12. Das gilt es zu erkennen als ewig im eigenen Selbst existierend. Wahrlich: Nichts Höheres als Das gibt es zu wissen. Wenn man den Erfahrenden, das Objekt der Erfahrung und den Waltenden oder höchsten Regenten erkennt, ist alles gesagt worden. Das ist das dreifache brahman.

ERLÄUTERUNG: Ātmasaṃstham – im eigenen Selbst existierend; jñeyam – zu wissen; veditavyam – zu wissen; bhoktā – der Erfahrende, der Genießende; bhogyam – das Erfahrene, das Genossene; proktam – ist erklärt in den Veden.

Wenn man diese drei – den Erfahrenden (die individuelle Seele), das Erfahrene und den Waltenden/Zuteilenden bzw. den höchsten Regenten – als brahman erkennt, erlangt man endgültige Befreiung.

Die individuelle Seele ist in ihrer Essenz das ewige brahman. Aufgrund von avidyā, Unwissenheit, ist sie sich ihrer eigenen Essenz nicht bewusst. Sie identifiziert sich mit dem physischen Körper und vergisst so ihre eigene göttliche Natur. Brahman, das Ewige, existiert schon vor der Erleuchtung im eigenen Selbst. Es leuchtet von Ewigkeit her in der Kammer des eigenen Herzens. Selbstverwirklichung, Erleuchtung, bedeutet nicht, dass man etwas Neues erlangt. Es bedeutet nur, dass man die eigene Natur erkennt, indem man die Schleier zerreißt, die Unwissenheit vernichtet und die drei Knoten (hṛdaya-granthis) zerschneidet, nämlich avidyā (Unwisssenheit), kāma (Wunsch) und karma (Handlung).

Indem man brahman erkennt, erkennt man alles andere. Das Wissen um das Selbst ist das Höchste. Nichts darüber hinaus muss gewusst werden. Brahman ist die zugrundeliegende Existenz von allem. So wie man alles, was aus Lehm gemacht ist, erkennt, wenn man den Lehm kennt, so hat man das Wissen von allem, wenn man brahman kennt. Deswegen fragte Śaunaka den Aṅgiras: kasmin bhagavo vijñāte sarvam idaṃ vijñātaṃ bhavati („Was ist Das, durch dessen Kenntnis alles andere gewusst wird?“). (Muṇḍaka-Upaniṣad, 1.3)

Ein Kenner des brahman kann auf jede Frage eine Antwort geben, selbst wenn er die spezielle Wissenschaft nicht studiert hat, denn er hat die Quelle allen Wissens angezapft.


vahneryathā yonigatasya mūrtir na dṛśyate naiva ca liṅganāśaḥ।

sa bhūya evendhanayonigṛhyastadvobhayaṃ vai praṇavena dehe॥ 13॥

13. So wie das Feuer nicht wahrgenommen wird, wenn es in seiner Ursache, dem Holz, verborgen ist, und so wie seine subtile Form niemals zerstört wird – was sich zeigt, wenn das Holz, seine Ursache, gerieben wird –, so wird auch der ātman im Körper wahrgenommen, wenn man über die heilige Silbe om meditiert.

ERLÄUTERUNG: Vahneḥ – Feuer; mūrtiḥ – die Form; liṅganāśaḥ – Zerstörung der subtilen Form.

Om ist ein Symbol für brahman. Wenn man mit Hingabe/Gefühl (bhava) über om und seine Bedeutung meditiert, erreicht man Selbstverwirklichung. Man nimmt den ātman in der Kammer seines Herzens wahr.

taj-japaḥ tad-artha-bhāvanam

„Ständige Wiederholung von om mit Gefühl und Bewusstsein seiner Bedeutung (führt zu samādhi).“ (Patañjali: Yoga-Sūtra, 1.28)

Die Meditation entspricht dem Reiben des Feuerholzes.

svadehamaraṇiṃ kṛtvā praṇavaṃ cottarāraṇim।

dhyānanirmathanābhyāsāddevaṃ paśyennigūḍhavat॥ 14॥

14. Indem man den eigenen Körper zum unteren Holzscheit macht und die Silbe om zum oberen Holzscheit, und indem man die Reibung der Meditation praktiziert, wird man Gott, der gewissermaßen verborgen ist, verwirklichen.

ERLÄUTERUNG: Svadeham – den eigenen Körper; araṇim – den unteren Holzscheit; praṇavam – die Silbe om; uttarāraṇim – das obere Holzstück; dhyāna-nirma-thanābhyāsāt – durch Reiben in der Form von Meditation; devam – Gott; paśyet – man soll sehen; niguḍhavat – wie etwas, das verborgen ist. So wie das Feuer sichtbar wird, wenn man die Hölzer aneinander reibt, so wird Gott sichtbar, wenn man auf om meditiert.

tileṣu tailaṃ dadhinīva sarpirāpaḥ srotaḥsvaraṇīṣu cāgniḥ।

evamātmātmani gṛhyate'sau satyenainaṃ tapasā yo'nupaśyati॥ 15॥

15. So, wie das Öl im Sesamsamen, die Butter in der Dickmilch, das Wasser im Flussbett und das Feuer im Feuerholz, wird der ātman im eigenen Selbst gesehen von einem Menschen, der Ihn durch Wahrhaftigkeit und Askese erblickt (durch Kontrolle der Sinne und des Geistes).

ERLÄUTERUNG: Tileṣu – in den Sesamsamen; tailam – Öl; dadhini – in der Dickmilch, im Yoghurt; sarpiḥ – Butter; srotaḥsu – in den Flussbetten; ātmani – im Selbst (Intellekt, buddhi). Das Bild soll zeigen, dass der ātman alldurchdringend ist und verborgen in allen Wesen.

sarvavyāpinamātmānaṃ kṣīre sarpirivārpitam।

ātmavidyātapomūlaṃ tadbrahmopaniṣat param tadbrahmopaniṣat

param iti॥ 16॥

16. Der ātman, der alle Dinge durchdringt, wie die Butter die Milch, gründet in Selbsterkenntnis und Askese. Dies ist die geheime Lehre (upaniṣad) hinsichtlich brahman.

ERLÄUTERUNG: Ātmavidyā-tapomūlam – hat seine Wurzel in Selbsterkenntnis und Askese.

HIER ENDET DAS ERSTE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.

Dvitīyo 'dhyāyaḥ (Zweites Kapitel)


yuñjānaḥ prathamaṃ manastattvāya savitā dhiyaḥ।

agnerjyotirnicāyya pṛthivyā adhyābharat॥ 1॥

1. Möge Savitṛ, nachdem er zuerst den Geist und die Sinne (auf brahman) konzentriert hat, um die Wahrheit zu erkennen, das leuchtende Feuer, das er gesehen hat, aus der Erde hervorbringen!

ERLÄUTERUNG: Prathamam – zuerst; manaḥ – Geist, Verstand, Denkorgan etc.; dhiyaḥ – die Sinne; tattvāya – um die Wahrheit zu verwirklichen; yuñjānaḥ – konzentrierend; agnerjyotiḥ – das erleuchtende Feuer der Weisheit. Das ist brahma-jñāna, Wissen um das Selbst, welches die Dunkelheit der Unwissenheit zerstört, das karma verbrennt und der Seele Erleuchtung bringt, indem es sie die Einheit mit der höchsten Seele erfahren lässt. Pṛthivīḥ – Erde, Materie im Allgemeinen. In diesem Kapitel werden die Mittel beschrieben, Konzentration auf brahman zu entwickeln. Die ersten vier Verse enthalten einen Lobpreis auf Savitṛ (Gottheit der Sonne), um Konzentration zu erlangen. Sie sind dem saṃhitā-Abschnitt des weißen Yajur-Veda entnommen. Der Wahrheitssucher ruft sehr eindringlich Savitṛ an und bittet um Inspiration und Selbstkontrolle. Er sollte zunächst seinen Geist reinigen – durch selbstlosen Dienst (niṣkāma-karma-yoga), mantra-Wiederholung (japa), gemeinsames Singen spiritueller Lieder (kīrtana), sattviges Essen, Dienst am spirituellen Lehrer (guru) und an den Armen. Nur dann wird er in der Lage sein, die Wirkung von Konzentration zu erfahren. Die Sinne sollten kontrolliert werden. Sie sollten von ihren Objekten abgezogen werden. Man kann keine wahre Konzentration erfahren, wenn die Sinne nicht kontrolliert sind. Disziplinierung der Sinne ist die erste spirituelle Praxis.


yuktena manasā vayaṃ devasya savituḥ save।

suvargeyāya śaktyā॥ 2॥

2. Durch die Gnade des göttlichen Savitṛ, lass uns, eifrig und mit konzentriertem Geist, nach der höchsten Glückseligkeit streben!

ERLÄUTERUNG: Yuktena manasā – mit konzentriertem manas (Geist); vayam – wir; śaktyā – eifrig, kräftig; suvargeyāya – nach der höchsten Glückseligkeit; suvarga steht hier für die höchste Glückseligkeit des brahman). Stetiges und eifriges sādhana bzw. abhyāsa ist notwendig, wenn man Selbstverwirklichung erlangen will. Regelmäßigkeit ist von höchster Wichtigkeit. Puruṣārtha ist essenziell. Gott hilft denen, die sich selbst helfen.

Asaṃśayaṃ mahābāho mano dur-nigrahaṃ calam abhyāsena tu kaunteya vairāgyeṇa ca gṛhyate

„Zweifellos, o mächtig Bewaffneter (Arjuna), der Geist ist schwer zu beherrschen und ruhelos; aber durch Übung und Leidenschaftslosigkeit kann er bezähmt werden.“ (Bhagavad-Gītā, 6.35)

Abhyāsa-vairāgyābhyāṁ tan-nirodhaḥ

„Er [der Geist] kann durch ununterbrochene Übung und Leidenschaftslosigkeit kontrolliert werden.“ (Patañjali: Yoga-Sūtra, 1.12)


yuktvāya manasā devānsuvaryato dhiyā divam।

bṛhajjyotiḥ kariṣyataḥ savitā prasuvāti tān॥ 3॥

3. Nachdem sie die Sinne, den manas und den Intellekt kontrolliert haben – wodurch der Himmel erreicht wird –, möge Savitṛ bewirken, dass sie das höchste göttliche Licht verwirklichen.

ERLÄUTERUNG: Yuktvāya – kontrolliert habend; manasā – mithilfe des Geistes; devān – die Sinne; suvar-yataḥ – den Himmel anstrebend; dhiyā – mithilfe des Intellekts; bṛhajjyotiḥ – das unendliche Licht; tān – sie. Die Sinne haben eine natürliche Tendenz in Richtung auf ihre äußeren Objekte. Der sādhaka sollte diese nach außen gehende Tendenz zügeln – durch die Übung von dama (Selbstbeherrschung) und pratyāhāra (Zurückziehen [der Sinne]). Er sollte den Sinnen nicht erlauben, in Kontakt mit ihren Gegenständen zu kommen. Er sollte die Sinne vom manas abkoppeln, indem er den manas ständig über die Form Gottes nachdenken lässt bzw. über die Qualitäten des brahman. Dies ist in der Tat eine herausfordernde Praxis, aber die Frucht davon sind immerwährender Friede und Unsterblichkeit. Deswegen musst du sie unter allen Umständen üben. Suvar (Himmel) bedeutet hier „Sinnesfreuden“, durch den Genuss äußerer Objekte. Du wirst die Sinne mithilfe eines reinen Geistes und Intellekts kontrollieren und den Geist mit japa, vairāgya etc. reinigen müssen. Die Sinne wirken mithilfe des Geistes (manas). Wenn dieser gereinigt ist, kommen die Sinne unter Kontrolle.


yuñjate mana uta yuñjate dhiyo viprā viprasya bṛhato vipaścitaḥ।

vi hotrā dadhe vayunāvideka inmahī devasya savituḥ pariṣṭutiḥ॥ 4॥

4. Groß ist die Herrlichkeit von Savitṛ, der alldurchdringend, unendlich und allwissend ist, der allein die Regeln kennt und der die Opferriten der Brahmanen festgelegt hat. Die Weisen kontrollieren ihren Geist und ihren Intellekt und üben Meditation.

ERLÄUTERUNG: Yuñjate – sie kontrollieren; manaḥ – der Geist (manas); dhīyaḥ – der Intellekt; viprāḥ – die Weisen; viprasya – alldurchdringend; vipaścitaḥ – all-wissend; pariṣṭutiḥ – Herrlichkeit; mahī – groß. Die vṛttis (Gedankenwellen des Geistes), sollten kontrolliert werden. Nur dann kann man das innere Selbst – das stets in sich ruht – verwirklichen. So wie der Meeresboden bei starker Wellengang nicht erkennbar ist, erkennt man auch bei aufgewühlten Gedanken den ātman nicht.

yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ

„Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist.“ (Patañjali: Yoga-Sūtra, 1.2)

Sobald die vṛttis unter Kontrolle sind, ruht der yogī im saccidānanda-svarūpa (glückseligen reinen Selbst).


yuje vāṃ brahma pūrvyaṃ namobhir vi śloka etu pathyeva sūreḥ।

śṛṇvantu viśve amṛtasya putrā ā ye dhāmāni divyāni tasthuḥ॥ 5॥

5. Ich verehre euer uraltes brahman mit Hingabe. Meine Verse schreiten dahin wie die Sonnen in ihrem Lauf. Mögen die Söhne der Unsterblichkeit zuhören, auch die, die himmlische Regionen bewohnen.

ERLÄUTERUNG: Pūrvyam – den offen sichtbaren; amṛtasya – der Unsterblichkeit; putrāḥ – die Söhne; divyāni – Regionen; tasthuḥ – die bewohnen. Ein ṛṣi (Seher), der Selbstverwirklichung erlangt hat, ermutigt andere, auch nach diesem höchsten Zustand zu streben – selbst jene, die in himmlischen Bereichen wohnen. Selbst Halbgötter [Wesenheiten aus anderen Dimensionen] genießen nicht dieselbe Glückseligkeit, wie die eines Selbstverwirklichten. Alle Wesen sind Nachkommen des unsterblichen brahman, denn sie sind aus brahman hervorgegangen. Sie sind die Kinder des Nektars. Brahman ist die Quelle von allem.


agniryatrābhimathyate vāyuryatrādhirudhyate।

somo yatrātiricyate tatra sañjāyate manaḥ॥ 6॥

6. Wo das Feuer entzündet wird, wo die Luft kontrolliert wird, wo der soma-Saft überfließt, dort wird der Geist (manas) geboren.

ERLÄUTERUNG: Agniḥ – Feuer; yatra – wo; abhimathyate – wird entzündet; vāyuḥ – Luft; yatra – wo; adhirudhyate – kontrolliert wird; somaḥ – der soma-Saft (Getränk mit berauschender Wirkung); atiricyate – überfließt; tatra – dort; manaḥ – der Geist (manas); sañjāyate – wird geboren. Nachdem das Feuer beim soma-Opfer entzündet und angefacht worden ist, trinken die Poeten den soma-Saft und werden dadurch inspiriert. Sie schaffen neue Gesänge aus dieser Inspiration heraus. Wenn das Feuer, d.h. das höchste Selbst (das Wissen um brahman), das alle Unwissenheit verbrennt, entzündet worden ist, indem der Körper mit der heiligen Schwingung om massiert worden ist, und wenn die die anāhata-Klänge (innere Töne die nur für den Meditierenden hörbar sind) durch prāṇāyāma erweckt worden sind, dann erlangt man die Selbstverwirklichung, d.h. brahman. Der Suchende beginnt mit dem Opfer, praktiziert dann Yoga und erreicht schließlich nirvikalpa-samādhi, vollkommenes Wissen und ewige Glückseligkeit. Feuer steht für das Wissen um das Selbst. Dieses höchste Wissen wird erweckt durch das Studium philosophischer Texte unter einem kompetenten Lehrer und durch stetige Meditation über brahman, das Absolute. Der guru wird durch das obere Holzscheit repräsentiert, der Schüler durch das untere. Die Meditation entspricht dem Vorgang des Reibens. Vāyuryatrādhirudhyate („wo die Luft kontrolliert wird“) – dies bezieht sich auf die Praxis des prāṇāyāma, d.h. der yogischen Kontrolle des Atems. Wenn man selbstlos handelt, wenn man der Menschheit mit nārāyaṇa-bhāva oder ātma-bhāva dient, ohne einen Nutzen für sich selbst zu erwarten, wenn man die Handlungen und ihre Früchte Gott opfert, erfährt man ungeheure Freude und Hochstimmung. Das bedeutet das Trinken des soma-Saftes. Dieser Vers empfiehlt eine Verbindung von jñāna-yoga, rāja-yoga und karma-yoga. Karma-yoga reinigt den Geist, rāja-yoga beruhigt ihn und jñāna-yoga beseitigt den Schleier der Unwissenheit. Der zentrale und grundlegende Yoga ist jñāna-yoga. Alle anderen Yogaarten wirken nur unterstützend (sahakārī).


savitrā prasavena juṣeta brahma pūrvyam।

yatra yoniṃ kṛṇavase na hi te pūrtamakṣipat॥ 7॥

7. Lass uns, durch die Gnade des Savitṛ, das uralte brahman lieben. Wenn du dort deine Quelle (brahman) erreichst, werden deine früheren Handlungen dich nicht mehr binden.

ERLÄUTERUNG: Yatra – wo; yonim – die Quelle; pūrtam – frühere Handlungen; pūrvyam – das uralte. Dieser Vers behandelt bhakti-yoga. Damit wird die Synthese des Yoga – aus dem vorgehenden Vers – vervollständigt. Ohne bhakti (Hingabe) kannst du nicht die Gnade erfahren, die wesentlich ist, um das Wissen um brahman zu erreichen. Wenn man die Quelle brahman erreicht, ist man nicht mehr gebunden durch frühere Handlungen. Das Feuer des Wissens verbrennt die Samen des karma. Daher wird der Weise nicht wiedergeboren. Die Regeln und Resultate des Yoga werden im folgenden Vers beschrieben.


trirunnataṃ sthāpya samaṃ śarīraṃ hṛdīndriyāṇi manasā saṃniveśya।

brahmoḍupena pratareta vidvānsrotāṃsi sarvāṇi bhayānakāni॥ 8॥

8. Der Weise sollte den Körper aufrecht halten, Brust, Nacken und Kopf gerade in einer Linie; er sollte die Sinne und den Geist in das Herz zurückziehen und so die fürchterlichen Strömungen (der Welt) durch das Floß (bzw. Boot) brahmans überqueren. ERLÄUTERUNG: Śarīram – den Körper; trirunnatam – mit Brust, Nacken und Kopf: samam – aufrecht gehalten; vidvān – der Weise; bhayānakāni – furchterregend; srotāṃsi – Ströungen, Strudel; brahma-uḍupena – mit dem Floß des brahman; pratareta – sollte überqueren.

samaṃ kāya-śiro-grīvaṃ dhārayann acalaṃ sthiraḥ।

samprekṣya nāsikāgraṃ svaṃ diśaś cānavalokayan॥

„Er halte seinen Körper unbewegt, Kopf und Nacken gerade und ruhig, den Blick auf die Nasenspitze gerichtet, ohne herumzusehen.“ (Bhagavad-Gītā, 6.13)

Die Sinne und der Geist haben die Tendenz, sich den äußeren Dingen zuzuwenden. Das wird bahirmukha-vṛtti genannt. Der sādhaka sollte antarmukha-vṛtti praktizieren, indem er wieder und wieder die Sinne und den Geist von den Objekten abzieht, durch pratyāhāra (Abwenden, Zurückziehen) und Fixieren des Geistes im Herzen. Die furchterregenden Strömungen sind rāga (Mögen, Verlangen), dveṣa (Abneigung), vāsanā (Wunsch) und tṛṣṇā (Begierde), die den Menschen hinabschleudern in den Ozean von Geburt und Tod. Das Floß brahmans ist om (praṇava). Stilles Wiederholen des om, zusammen mit einer Meditation über seine Bedeutung, wird helfen, den Ozean des saṃsāra zu überqueren und uns von dem Zyklus von Geburt und Tod zu befreien.


prāṇānprapīḍyeha saṃyuktaceṣṭaḥ kṣīṇe prāṇe nāsikayocchvasīta।

duṣṭāśvayuktamiva vāhamenaṃ vidvānmano dhārayetāpramattaḥ॥ 9॥

9. Der Weise sollte die Sinne kontrollieren, den Atem unterdrücken und regulieren, den Körper still halten, sanft durch die Nase atmen und ohne Ablenkung den Geist zügeln – jenes Gefährt mit unbändigen Pferden.

ERLÄUTERUNG: Prāṇān – die Sinne; vāham – die Zügel; dhārayeta – soll zügeln, zurückhalten. Er sollte den Geist überwachen, so wie der Wagenlenker auf seine störrischen Pferde aufpasst. Er sollte den Geist am Zügel halten, genau wie der Wagenlenker seine wilden Pferde zügelt.

sparśān kṛtvā bahir bāhyāṃś cakṣuś caivāntare bhruvoḥ।

prāṇāpānau samau kṛtvā nāsābhyantara-cāriṇau॥

„Wenn alle Kontakte (der Sinne) nach außen geschlossen sind und der Blick zwischen den Augenbrauen konzentriert ist; wenn der Atem harmonisch in den nasenlöchern ein- und ausströmt, ...“ (Bhagavad-Gītā, 5.27)

Duṣṭāśvayuktam vāham – Der Weise sollte die wilden Pferde (die Sinne) kontrollieren, indem er die Zügel (den Geist) fest anpackt. Eine ähnliche Metapher finden wir in der Kaṭha-Upaniṣad (1.3.3-9). Hier geht es um die Praxis des prāṇāyāma. Wenn man den Atem kontrolliert, kontrolliert damit auch den Geist. Es gibt eine enge Verbindung von Geist und Atem. Praktiziere zwei Monate lang Einatmung (pūraka) und Ausatmung (recaka). Dann übe ganz allmählich kumbhaka (Atemanhalten). Halte den Atem nicht zu lange an – 30 bis 60 Sekunden reichen aus. Passe auch deine Diät an. Nimm nur leichte und sattvige Nahrung zu dir. Überlade nicht den Magen; iss maßvoll (mitāhāra).


same śucau śarkarāvahnivālukāvivarjite śabdajalāśrayādibhiḥ।

mano'nukūle na tu cakṣupīḍane guhānivātāśrayaṇe prayojayet॥ 10॥

10. Man sollte seine Übungen mit Konzentration ausführen, auf einer ebenen Fläche, frei von Steinen, Feuer, Wind, Staub, Feuchtigkeit und störenden Geräuschen, wo die Umgebung angenehm für das Auge ist und wo Schatten, Höhlen und gute Wasserplätze sind – die den Konzentrationsübungen förderlich sind.

ERLÄUTERUNG: Same – wo der Untergrund eben ist; śucau – rein; śarkarā-vahni-vālukā-vivarjite – frei von Steinen und Kieseln, von Feuer und Staub; śabdajalā-śrayādibhiḥ – (frei von) störenden Geräuschen und von Feuchtigkeit; mano- 'nukūle – hilfreich für die Konzentration des Geistes. Wenn der Platz und die Umgebung angenehm sind, wenn die spirituelle Schwingung anhebend ist und der Platz abgelegen und still, wird es leicht sein, den Geist zu konzentrieren. Ein feuchter Platz oder Raum ist nicht günstig für die Übung von prāṇāyāma. Auch sollte man prāṇāyāma nicht an einem staubigen Ort praktizieren.


nīhāradhūmārkānilānalānāṃ khadyotavidyutsphaṭikaśaśīnām।

etāni rūpāṇi puraḥsarāṇi brahmaṇyabhivyaktikarāṇi yoge॥ 11॥

11. Wenn Yoga praktiziert wird, können Dinge wie Schnee, Frost, Rauch, die Sonne, Feuer, Wind, das Glühwürmchen, Blitz, Kristall und Mond erscheinen. Diese gehen der Manifestation brahmans voraus.

ERLÄUTERUNG: Nīhāradhūmārkānilānalānām – von Schnee, Rauch, Sonne, Wind und Feuer; khadyotavidyut-sphaṭikaśaśīnām – von Glühwürmchen, Blitz, Kristall und Mond; rūpāṇi – Formen; yoge – in der Ausübung des Yoga; puraḥ-sarāṇi – gehen voraus. Schnee, Frost, Rauch etc. – all das sind vorläufige Erscheinungen, die der Manifestation von brahman vorausgehen. Das Erscheinen dieser Formen zeigt an, dass du auf dem Weg der Konzentration voranschreitest und dass du sehr bald Selbstverwirklichung erlangen wirst. Diese Formen stellen verschiedene Stufen der Konzentration dar.


pṛthivyaptejo'nilakhe samutthite pañcātmake yogaguṇe pravṛtte।

na tasya rogo na jarā na mṛtyuḥ prāptasya yogāgnimayaṃ śarīram॥ 12॥

12. Wenn die fünffache Qualität des yoga – aus Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther – erzeugt worden ist, dann erhält der yogī einen Körper, der durch das Feuer des Yoga stark geworden ist; so wird er nicht von Krankheit, Alter und Tod angegriffen.

ERLÄUTERUNG: Pañcātmake – fünffach; yogaguṇe – Qualität des Yoga; yogāgni-mayaṃ śarīram – ein Körper, stark gemacht durch das Feuer des Yoga; na – nicht; rogaḥ – Krankheit; jarā – Alter; mṛtyuḥ – Tod. Die Qualität jedes Elements, d.i. der Geruch der Erde, der Geschmack des Wassers, der Klang des Äthers, die Form des Feuers und die Berührung der Luft nennt man den yogaguṇa. Durch die Konzentration des Geistes auf die Spitze der Nase erfährt der yogī göttlichen, übersinnlichen Geruch (divya-gandha). Durch Konzentration auf die Zungenspitze erfährt er göttlichen Geschmack. Durch Fixierung des Geistes auf den vorderen Teil des Gaumens erfährt er göttliche Farbe; durch Konzentration auf die Mitte der Zunge erfährt er göttliche Berührung und auf die Zungenwurzel erfährt er göttlichen Klang. Durch diese göttlichen Erfahrungen wird der Geist beruhigt und stetig gemacht, denn er wird nicht mehr durch äußere Objekte angezogen. Der yogī erhält einen festen Körper (vajra-kāya) durch prāṇāyāma, Konzentration und yogische Stellungen. Er kann seinen Körper so lange erhalten, wie er will. Der Legende nach behielt Changdev Maharaj von Maharashtra seinen Körper 1400 Jahre lang.


laghutvamārogyamalolupatvaṃ varṇaprasādaṃ svarasauṣṭhavaṃ ca।

gandhaḥ śubho mūtrapurīṣamalpaṃ yogapravṛttiṃ prathamāṃ vadanti॥ 13॥

13. Wenn der Körper leicht und gesund geworden ist, wenn der manas frei von Wünschen ist, wenn er eine leuchtende Hautfarbe hat, eine liebliche Stimme und einen angenehmen Geruch, wenn die Ausscheidungen minimal sind, dann sagt man, dass er die erste Stufe der Konzentration erreicht hat.

ERLÄUTERUNG: Laghutvam – Leichtigkeit; ārogyam – Gesundheit; alolupatvam – Freiheit von Wünschen, manchmal auch: Festigkeit, Stetigkeit des Geistes; varṇa-prasādaḥ – leuchtende, scheinende Hautfarbe; svara-sauṣṭhavam – liebliche, gefällige Stimme; śubhaḥ gandhaḥ – angenehmer Geruch; alpam mūtrapurīṣam – spärliche Ausscheidungen; ca – und; prathamām – das erste; yoga-pravṛttim – Zeichen des Eintritts in yoga (die ersten Auswirkungen des yoga machen sich bemerkbar); vadanti – sagen sie.


yathaiva bimbaṃ mṛdayopaliptaṃ tejomayaṃ bhrājate tatsudhāntam।

tadvātmatattvaṃ prasamīkṣya dehī ekaḥ kṛtārtho bhavate vītaśokaḥ॥ 14॥

14. So wie eine Metallplatte oder ein Spiegel, der verstaubt gewesen war, glänzt, wenn er gesäubert wird, so verwirklicht die verkörperte Seele, der jīvātman, die Einheit, erreicht das Ziel und ist frei von Kummer, wenn er die wahre Natur des ātman erkennt. ERLÄUTERUNG: Yathā eva – genau wie; mṛdayā upaliptam – verstaubt; tat – das; bimbam – Metallplatte, Spiegel; sudhāntam – wenn gereinigt; tejomayam – glänzend; bhrājate – leuchtet, glänzt; tadvā – ebenso; dehī – der Verkörperte; ātma-tattvam – die wahre Natur des ātman; prasamīkṣya – nachdem er gesehen hat; ekaḥ – eins; vītaśokaḥ – frei von Kummer; kṛtārthaḥ bhavate – erreicht das Ziel. Dieser Vers beschreibt die guten Auswirkungen der Selbstverwirklichung. Der jīva erfährt normalerweise Schmerzen und Kummer – durch seine Unwissenheit, seine Identifikation mit dem Körper und durch seine Idee von „Ich“ und „Mein“. Wenn er die wahre Natur des ātman verwirklicht und seine Einheit mit dem höchsten Selbst, hört aller Kummer auf. Er erfreut sich ewiger Glückseligkeit und immerwährender Freude. Das ist die Aussage dieses Verses.


yadātmatattvena tu brahmatattvaṃ dīpopameneha yuktaḥ prapaśyet।

ajaṃ dhruvaṃ sarvatattvairviśuddhaṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 15॥

15. Wenn der yogi durch die wahre Natur seines Selbst die wahre Natur des brahman sieht, so deutlich wie eine Lampe, dann ist er frei von allen Fesseln und Sünden, weil er den ungeborenen, ewigen Gott erkannt hat, der frei ist von allen Modifikationen der prakṛti.

ERLÄUTERUNG: Yadā – wenn; yuktaḥ – der yogī; dīpa-upamena – wie eine Lampe; ātmatattvena – durch die wahre Natur des Selbst; brahma-tattvam – die wahre Natur des brahman; prapaśyate – sieht; ajam – ungeboren; dhruvam – ewig; sarva-tattvaiḥ viśuddhaṃ – von allen Modifikationen frei, gereinigt; devam – Gott; jñātvā – nachdem er erkannt hat; vimucyate – ist befreit; sarvapāśaiḥ – von allen Fesseln. Tattva ist ein Begriff der sāṅkhya-Philosophie. Er bezeichnet ein Prinzip, etwas, von dem etwas anderes ableitet bzw. gewonnen wird. Tattva ist die Natur eines Dinges. Brahman ist jenseits der Natur und ihrer drei guṇas. Wenn der yogī Selbstverwirklichung erlangt, wird er frei von aller Bindung durch karma.



eṣa ha devaḥ pradiśo'nu sarvāḥ pūrvo ha jātaḥ sa u garbhe antaḥ।

sa eva jātaḥ sa janiṣyamāṇaḥ pratyaṅjanāstiṣṭhati sarvatomukhaḥ॥ 16॥

16. Er ist wahrlich der Gott, der alle Gegenden durchdringt. Er ist der Erstgeborene (hiraṇya-garbha). Er ist in den Mutterleib eingetreten. Er allein ist geboren und Er wird geboren werden. Er ist im Innern aller Menschen als das innere Selbst, in alle Richtungen schauend.

ERLÄUTERUNG: Sarvāḥ pradiṣaḥ – alle Richtungen; saḥ ha – Er ist; pūrvaḥ jātaḥ – der Erstgeborene; garbhe antaḥ – im Innern des Mutterleibs; janiṣyamāṇaḥ – wird geboren werden; pratyaṅ-janāḥ tiṣṭhati – sitzt in allen Menschen als der Innewohnende, der antar-yāmī; sarvato-mukhaḥ – in alle Richtungen schauend, Sein Gesicht in alle Richtungen. Hiraṇya-garbha ist der kosmische manas, der kosmische prāṇa, die Summe aller jīvas. Er ist allgegenwärtig und so hat er sein Gesicht in alle Richtungen. Er wohnt in allen Geschöpfen als das Selbst von allen.


yo devo'gnau yo'psu yo viśvaṃ bhuvanamāviveśa।

ya oṣadhīṣu yo vanaspatiṣu tasmai devāya namo namaḥ॥ 17॥

17. Verehrung an die Gottheit, die im Feuer ist, die im Wasser ist, die in den Pflanzen ist, die in den Bäumen ist, die das ganze Universum durchdrungen hat.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – welcher; devaḥ – Gott; agnau – im Feuer; yaḥ – welcher; apsu – im Wasser; yaḥ – welcher; viśvam – all, ganz; bhuvanam – Universum; āviveśa – ist eingetreten; yaḥ – welcher; oṣadhīṣu – in den Pflanzen; vanaspatiṣu – in den Bäumen; tasmai devāya – zu jenem Gott; namo namaḥ – Verehrung, Verehrung. Brahman steht hinter allen Phänomenen. Es lebt in all diesen Namen und Formen. Es ist die zugrundeliegende Substanz von allem. Es ist die Stütze von allem.

HIER ENDET DAS ZWEITE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.

Tṛtīyo 'dhyāyaḥ (Drittes Kapitel)


ya eko jālavānīśata īśanībhiḥ sarvāṃllokānīśata īśanībhiḥ।

ya evaika udbhave sambhave ca ya etadviduramṛtāste bhavanti॥ 1॥

1. Er, der allein durch Seine Macht regiert, der all diese Welten durch seine Macht regiert, der Ein und Derselbe ist und bleibt, zur Zeit der Schöpfung und der Auflösung der Welten – die Ihn erkannt haben, werden unsterblich.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; ekaḥ – eins; īśata – regiert; lokān – Welten; sarvān – alle; udbhave – zur Zeit der Schöpfung; sambhave – zur Zeit der Auflösung; amṛtāḥ – unsterblich; bhavanti – werden. Dieses Kapitel offenbart das höchste Selbst als īśa (Gott), als Rudra, der durch seine Schöpferkraft der māyā regiert. Nirguṇa-brahman, das unpersönliche Absolute, ist frei von māyā. Es ist frei von allen upādhis (nirupādhika), d.h. von allen begrenzenden Attributen. Īśvara, der persönliche Gott (saguṇa-brahman), ist mit māyā verbunden. Māyā ist Sein upādhi oder kāraṇa-śarīra (Handlungskörper). Er ist sopādhika-brahman. Er hat māyā unter Seiner vollkommenen Kontrolle. Para-brahman und saguṇa-brahman sind ein und dasselbe. Saccidānanda ist svarūpa-lakṣaṇa. Allmacht, Allwissenheit etc. sind Seine taṭastha-lakṣaṇa. Dasselbe unperönliche Absolute wird der persönliche Gott – für die hingebungsvolle Meditation der Verehrer und Sucher. Jāla bedeutet Schlinge oder māyā. Māyā ist die geheimnisvolle, unauslotbare Kraft Gottes. Sie ist der Same für diese Welt.


eko hi rudro na dvitīyāya tasthurya imāṃllokānīśata īśanībhiḥ।

pratyaṅjanāṃstiṣṭhati sañcukocāntakāle saṃsṛjya viśvā bhuvanāni gopāḥ॥ 2॥

2. Es gibt nur einen Rudra, der die Welten durch Seine Kraft regiert. Neben Ihm gibt es niemanden, der Ihn an die zweite Stelle verweisen könnte. Er ist gegenwärtig im Herzen aller Wesen. Er schafft alle Welten, erhält sie und zieht sie in Sich Selbst zurück.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; imān – diese; īśata – regiert, lenkt; īśanībhiḥ – durch Seine eigene Kraft; sañcukoca – zieht sie in Sich Selbst zurück; lokān – die Welten; antakāle – am Ende der Zeit. Rudra repräsentiert hier para-brahman (das höchste Selbst, das Unendliche, das Absolute). Nachdem Rudra alle Dinge geschaffen hat, zieht er sie wieder zusammen, d.h. Er nimmt sie zurück in Sich Selbst am Ende der Zeit, während des kosmischen pralaya (der Auflösung). Im Śiva-Purāṇa ist „Rudra“ ein anderer Name für Śiva. Rudra ist derjenige, der die Sünden zerstört, das Elend Seiner Anhänger beseitigt und ihnen Weisheit und Glückseligkeit bringt. Rudra ist der antar-yāmī, der innere Lenker aller Wesen. Er ist der stille Zeuge der Handlungen und Gedanken der Menschen und teilt ihnen die Früchte ihrer Taten zu.


viśvataścakṣuruta viśvatomukho viśvatobāhuruta viśvataspāt।

saṃ bāhubhyāṃ dhamati saṃ patatrairdyāvābhūmī janayandeva ekaḥ॥ 3॥

3. Jener eine Gott, der Seine Augen, Sein Gesicht, Seine Arme und Füße an jedem Platz hat, schafft Himmel und Erde und schmiedet sie zusammen mit Seinen Armen und Flügeln.

ERLÄUTERUNG: Viśvataścakṣuruta viśvatomukho viśvatobāhuruta viśvataspāt – der Augen, Gesicht, Arme und Füße an jedem Platz hat; dyāvā-bhūmī – Himmel und Erde; dhamati – er verbindet die Menschen mit Armen und die Vögel mit Flügeln (saṃyojayati). „Virāṭ“ ist ein Name des Schöpfers. Alle Augen, Gesichter, Hände und Füße gehören Ihm allein. Die Summe aller physischen Körper der jīvas ist virāṭ-puruṣa.


yo devānāṃ prabhavaścodbhavaśca viśvādhipo rudro maharṣiḥ।

hiraṇyagarbhaṃ janayāmāsa pūrvaṃ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu॥ 4॥

4. Möge Rudra, der Schöpfer und Erhalter der Götter, der große Seher, der Gott aller, der am Anfag hiraṇya-garbha schuf – möge Er uns gute Gedanken (einen reinen Intellekt) geben.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; devānām – Götter; prabhavaḥ – Schöpfer; udbhavaḥ – der Erhalter; viśvādhipaḥ – der Gott aller; maharṣiḥ – der große Seher; buddhyā śubhayā – mit reinem Intellekt; saṃyunaktu – möge Er geben. (Dieser Vers wird in Kapitel 4 Vers 12 wiederholt.) Rudra repräsentiert hier para-brahman. Maharṣiḥ – der allwissende Seher ist Zeuge aller Gedanken und Handlungen der Menschen, deswegen kann er ihnen den Lohn ihrer Handlungen gerecht zuteilen. Hiraṇya-garbha – goldenes Ei, brahman, kosmische/r Seele/manas/prāṇa. Dies ist ein Gebet an Rudra, um einen reinen, glückbringenden und verfeinerten Intellekt zu erhalten. Der Wahrheitssucher kann den subtilen, reinen ātman nur mit einem reinen, scharfen und verfeinerten Intellekt wahrnehmen. „Dieser ātman ist verborgen in allen Wesen und zeigt sich nicht, aber er kann von feinsinnigen Sehern, mithilfe ihres scharfen Intellekts, wahrgenommen werden.“ (Kaṭha-Upaniṣad, 3.12)


yā te rudra śivā tanūraghorā'pāpakāśinī।

tayā nastanuvā śantamayā giriśantābhicākaśīhi॥ 5॥

5. O Rudra, mit Deiner Form, die glückbringend ist, die nicht furchtbar ist und die alles Heilige zum Vorschein bringt – mit jener gesegneten Form erscheine vor uns, o Bewohner der Berge!

ERLÄUTERUNG: Yā – was; te – Deine; śivā – glückbringend, glückverheißend; aghorā – nicht furchtbar; tanuvā – Körper; tayā – mit dem. Śiva wohnt in dem schneebedeckten Gipfel des Berges Kailash im Himalaya. Deswegen spricht Ihn der Wahrheitssucher folgendermaßen an: „O Bewohner der Berge!“ Śiva offenbart sich entweder in einer frommen und gütigen (śanta) oder in einer schreckenerregenden (ghora) Form.


yāmiṣuṃ giriśanta haste bibharṣyastave।

śivāṃ giritra tāṃ kuru mā hiṃsīḥ puruṣaṃ jagat॥ 6॥

6. O Herr der Berge! Lass den Pfeil, den Du in Deiner Hand bereithältst, uns wohlgesonnen sein. Zerstöre den Menschen und die Welt nicht, o Beschützer der Berge!

ERLÄUTERUNG: Yām – den; iṣum – Pfeil; giriśanta – o Zuteiler von Glück von den Bergen; haste – in Deiner Hand; bibharṣi – Du hältst; astave – zu schießen, giritra – o Beschützer der Berge. Der Pfeil ist das mahā-vākya (der Spruch) tat tvam asi („Das bist du.“) oder praṇava (die heilige Silbe om). Dies ist eine machtvolle Waffe Gottes, um die Unwissenheit Seiner Verehrer zu vernichten.


tataḥ paraṃ brahmaparaṃ bṛhantaṃ yathānikāyaṃ sarvabhūteṣu gūḍham।

viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāramīśaṃ taṃ jñātvā'mṛtā bhavanti॥ 7॥

7. Höher als dieser persönliche Gott ist das höchste brahman, das unendlich ist, das in allen Wesen verborgen ist, ihren Körpern angepasst, und das allein das ganze Universum durchdringt. Wer Es als Gott kennt, wird unsterblich.

ERLÄUTERUNG: Tataḥ – als dieser (persönliche Gott); param – höchste; brahma – brahman; param – höher; bṛhantam – unendlich; yathānikāyam – entsprechend den Körpern; sarva-bhūteṣu – in allen Wesen; gūḍham – verborgen; viśvasya – des Universums; ekam – einzig, allein; pariveṣṭitāram – Durchdringer; īśām –Gott; tam – Ihn; jñātvā – erkannt habend; amṛtāḥ – unsterblich; bhavanti – werden. Wer saguṇa-brahman (Gott mit Eigenschaften) verwirklicht, erlangt krama-mukti (fortschreitende Befreiung). Er tritt in brahma-loka ein. Wer aber die Einheit mit nirguṇa-brahman (Gott ohne Eigenschaften) verwirklicht – d.h. frei ist von māyā –, erreicht kaivalya-mukti (höchste Befreiung). Die Gnade des persönlichen Gottes ist notwendig, um diese höchste Verwirklichung zu erreichen. Der persönliche Gott (saguṇa-brahman) und das unpersönliche Absolute (nirguṇa-brahman bzw. para-brahman) sind nicht zwei verschie- dene Entitäten. Sie sind nur zwei Aspekte desselben Gottes. Das unpersönliche Absolute nimmt eine persönliche Form an, um dem Verehrer (bhakta) zu Gefallen. Wenn ein bhakta Tränen vor Sehnsucht zu Gott vergießt und sein Herz voller Liebe zu Ihm ist, nimmt Gott genau die Form an, über die der Verehrer meditiert. Gott wird sozusagen zum Diener seines Verehrers.


vedāhametaṃ puruṣaṃ mahāntamādityavarṇaṃ tamasaḥ parastāt।

tameva viditvā'ti mṛtyumeti nānyaḥ panthā vidyate'yanāya॥ 8॥

8. Ich kenne dieses mächtige Wesen (puruṣa), das strahlt und leuchtet wie die Sonne jenseits der Dunkelheit. Nur wenn man Ihn kennt, lässt man den Tod hinter sich. Es gibt keinen anderen Weg, Befreiung zu erlangen.

ERLÄUTERUNG: Veda – weiß; aham – ich (hier: der Seher Śvetāśvatara); etam – dieses; puruṣam –Wesen; mahāntam – mächtig; ādityavarṇam – strahlend wie die Sonne; tamasaḥ – Dunkelheit/Unwissenheit, die Ursache für Geburt und Tod ist; parastāt – jenseits; tameva – Ihn allein; viditvā – erkannt habend; ati mṛtyum eti – überschreitet den Tod; na – nicht; anyaḥ – anderer; panthāḥ – Weg; vidyate – es gibt; ayanāya – dafür. Śvetāśvataras Aussage ist sehr kühn. Sie enthält nicht die leiseste Spur von Zweifel. Hat man in den Werken von Philosophen aus dem Abendland jemals eine derart kühne Behauptung gefunden? In ihren Schriften behaupten sie, dass das Absolute nicht verwirklicht werden kann, dass nichts über den Intellekt hinausgeht. Sie haben keine Verwirklichung erfahren. Sie haben nicht einen derart reinen, feinsinnigen und scharfen Intellekt. Sie haben weder Erfahrungen mit spirituellen Übungen noch mit Meditation. Die Hindu-Seher (ṛṣis) hingegen erfuhren nirvikalpa-samādhi (unmittelbare Wahrnehmung des Absoluten). Daher können sie mit voller Überzeugung sagen: „Ich kenne dieses mächtige Wesen.“ Nur das Wissen über brahman kann Dunkelheit/Unwissenheit zerstören und den Menschen aus dem Kreislauf von Geburt und Tod befreien. Es gibt keinen anderen Weg.


yasmātparaṃ nāparamasti kiṃcidyasmānnāṇīyo na jyāyo'sti kaścit।

vṛkṣa iva stabdho divi tiṣṭhatyekastenedaṃ pūrṇaṃ puruṣeṇa sarvam॥ 9॥

9. Es gibt nichts, das höher wäre als Er oder von Ihm verschieden ist, nichts, das größer wäre oder auch kleiner als Er. Er allein ragt in den Himmel wie ein Baum – Eins ohne ein Zweites und unbeweglich. Die ganze Welt ist durch dieses Wesen gefüllt.

ERLÄUTERUNG: Yasmāt – als Er, param – höher; aparam – verschieden von; kiṃcit – irgendetwas; yasmāt – als Er; aṇīyaḥ – kleiner; jyāyaḥ – größer; kaścit – irgendjemand; na asti – ist nicht; vṛkṣaḥ iva – wie ein Baum; stabdhaḥ – unbeweglich; ekaḥ – ein; divi – im Himmel; tiṣṭhati – steht; tena puruṣeṇa – durch dieses Wesen; idam sarvam – die ganze Welt; pūrṇam – ist gefüllt. Brahman ist die Quelle, die Ursache, der Mutterleib von allem. Wie könnte es dann etwas geben, was höher oder verschieden von Ihm wäre? Was könnte größer oder kleiner sein? Brahman durchdringt alles. Es ist die Essenz von allen Wesen. Es ist feiner als prāṇa, manas und ākāśa (Äther). Wie könnte es etwas geben, das kleiner und winziger wäre als Es? Die Unendlichkeit ist eine; das Absolute ist eines. Es kann keine zwei Unendlichkeiten geben. Daher ist brahman Eins ohne ein Zweites. Die ganze Welt ist gefüllt von Ihm – von innen und von außen. Es ist pari-pūrṇa (ganz und gar voll, überzogen von ..., angefüllt etc.). Beispiel: Wenn du ein mit Wasser gefülltes Gefäß in einem anderen größeren Gefäß, das ebenfalls mit Wasser gefüllt ist, aufbewahrst, ist das kleine Gefäß innen mit Wasser gefüllt und außen von Wasser umhüllt, also pari-pūrṇa. Das ist das Prinzip von brahman.


tato yaduttarataraṃ tadarūpamanāmayam।

ya etadviduramṛtāste bhavantyathetare duḥkhamevāpiyanti॥ 10॥

10. Das, was jenseits dieser Welt ist, ist ohne Form und ohne Leiden. Die, die Es kennen, werden unsterblich. Die anderen haben nur Schmerz zu erdulden.

ERLÄUTERUNG: Tataḥ – als das; yat – welches; uttarataram – höher; tat – das; arū-pam – ohne Form; anāmayam – ohne Leiden; ye – die; etat – dies; viduḥ – wissen; te – sie; amṛtāḥ – unsterblich; bhavanti – werden; atha – aber; itare – andere; duḥkham – Schmerz; eva – nur; apiyanti – leiden. Brahman ist niravayava (unteilbar, grenzenlos, ohne Glieder), alldurchdringend und äußerst subtil. Deswegen kann Es keine Form haben. Nur grobstoffliche Objekte haben eine Form. Es ist frei von den drei Arten von Schmerz: ādhyātmika (durch den eigenen Körper, wie etwa Krankheit etc.), ādhibhautika (durch die bhūtas, wie etwa Schlange, Tiger etc.) und adhidaiva (durch die devas, wie etwa Blitz, Regen etc.). Es ist jenseits dieser Welt. Es transzendiert diese Welt der Namen und Worte. Es hat keine Beziehung zu diesem Universum, da Es caitanya (reines Bewusstsein) ist. Wie könnte es eine wirkliche Beziehung zwischen Materie und Seele geben? Und doch ist brahman die Stütze dieser Welt und der Materie.

sarvendriyaguṇābhāsaṃ sarvendriyavivarjitam asaktaṃ sarvabhṛccaiva nirguṇaṃ guṇabhoktṛ ca

„Durch die Funktion aller Sinne strahlend und doch ohne Sinne; unverhaftet und doch alles tragend; ohne Eigenschaften und doch der, der sie erfährt, ...“ (Bhagavad-Gītā , 13.14)

Dies ist in der Tat ein großes Mysterium!


sarvānanaśirogrīvaḥ sarvabhūtaguhāśayaḥ।

sarvavyāpī sa bhagavāṃstasmātsarvagataḥ śivaḥ॥ 11॥

11. Er (Gott) ist das Gesicht, der Kopf und der Hals von allen. Er wohnt im Herzen aller Wesen. Er durchdringt alles. Daher ist Er allgegenwärtig und gnädig.

ERLÄUTERUNG: Sarvānana-śirogrīvaḥ – Er ist Gesicht, Kopf und Hals von allen; sarvabhūta-guhāśayaḥ – im Herzen aller wohnend; sarvavyāpī – alldurchdringend; saḥ – Er; bhagavān – der Ehrwürdige (Gott); tasmāt – deshalb; sarvagataḥ – allgegenwärtig; śivaḥ – gnädig. Bhagavān ist der Eine, der die sechs göttlichen Eigenschaften besitzt, deswegen wird Er „der Ehrwürdige“ (bhagavān) genannt. Im Viṣṇu-Purāṇa (6.5.47) werden diese sechs Eigenschaften erwähnt:

aiśvaryasya samagrasya vīryasya yaśasaḥ śriyaḥ jñāna-vairāgyayoś caiva ṣaṇṇāṃ bhaga itīraṇā

aiśvarya (übernatürliche Kräfte), vīrya (Stärke), yaśas (Ruhm), śrī (Reichtum), jñāna (Weisheit) und vairāgya (Leidenschaftslosigkeit)

Alle Gesichter gehören dem Herrn. Er ist der virāṭ-puruṣa. Er ist der antar-yāmī, der innere Lenker aller Wesen. Er lenkt die Sinne, den manas, den Intellekt und die Handlungen. Der vorangegangene Vers handelte von dem reinen, formlosen, transzendenten brahman. In diesem Vers geht es um den persönlichen Gott, den saguṇa-brahman. In dieser Upanishad finden wir eine wunderschöne Synthese der Vorstellungen vom persönlichen Gott und vom unpersönlichen Absoluten, dem saguṇa-brahman und dem nirguṇa-brahman. So wie Wasser verschiedene Formen annimmt, z.B. Dampf und Eis, so nimmt auch der formlose brahman verschiedene Formen an, um Suchende und Verehrer zufrieden zu stellen.


mahānprabhurvai puruṣaḥ sattvasyaiṣa pravartakaḥ।

sunirmalāmimāṃ prāptimīśāno jyotiravyayaḥ॥ 12॥

12. Jene Person (puruṣa) ist wahrlich der große Gott. Er kontrolliert alles. Er ist Licht. Er ist ewig während. Er lenkt den Intellekt aller Wesen, sodass sie den höchsten reinen Zustand (mokṣa) erreichen können.

ERLÄUTERUNG: Mahān – groß; prabhuḥ – Herr, Gott; vai – wahrlich; puruṣaḥ – Person, Urseele; sattvasya – des Intellekts aller Wesen; eṣaḥ – Er; pravartakaḥ – Lenker; sunirmalām – äußerst rein; imām – diesen; prāptim – das Erreichen; īśānaḥ – der Lenker; jyotiḥ – Licht; avyayaḥ – ewig während. Wenn der Geist gereinigt ist, wird der Wahrheitssucher die lenkende Hand Gottes spüren, denn Gott wohnt in seinem Intellekt. Gott ist das Licht aller Lichter. Er ist selbstleuchtend. Er entfernt den Schleier der Unwissenheit, der den manas umhüllt, und hilft der Seele, den reinen und glückseligen Zustand von mukti zu erlangen, die endgültige Befreiung.


aṅguṣṭhamātraḥ puruṣo'ntarātmā sadā janānāṃ hṛdaye sanniviṣṭaḥ।

hṛdā manīṣā manasābhikḷpto ya etadviduramṛtāste bhavanti॥ 13॥

13. Der puruṣa von der Größe eines Daumens, der durch das Herz, den Intellekt und den manas verborgen ist, wohnt immer in den Herzen aller Lebewesen als ihr inneres Selbst. Die, die Ihn kennen, werden unsterblich.

ERLÄUTERUNG: Aṅguṣṭhamātraḥ – von der Größe eines Daumens; puruṣaḥ – die Person; antarātmā – das innere Selbst; sadā – immer; janānām – der Wesen; hṛdaye – im Herzen; sanniviṣṭaḥ – wohnt; hṛdā manīṣā – durch Herz und Intellekt; manasā – und durch den Geist; abhikḷptaḥ – verborgen; ye – die; etat – dies; viduḥ – kennen; amṛtāḥ – unsterblich; te – sie; bhavanti – werden. Aṅguṣṭhamātraḥ puruṣo'ntarātmā – diese Aussage finden wir auch in der Kaṭha-Upaniṣad (4.12-13). Es ist sehr schwierig für den Neuling, seinen Geist auf das Unendliche zu fixieren. Daher wird er aufgerufen, zunächst über ein Wesen von Daumengröße in seinem Herzen zu meditieren.


sahasraśīrṣā puruṣaḥ sahasrākṣaḥ sahasrapāt।

sa bhūmiṃ viśvato vṛtvā'tyatiṣṭhaddaśāṅgulam॥ 14॥

14. Die Person (Urseele) hat tausend Köpfe, tausend Augen und tausend Füße. Sie umhüllt die ganze Welt von allen Seiten und ragt zehn Finger (endlos) weit über sie hinaus.

ERLÄUTERUNG: Dieser Vers ist aus dem Puruṣa-Sūkta [Hymne des Ṛg-Veda, in der das Göttliche als die Seele des Universums besungen wird] übernommen worden. Er stellt eine berühmte Passage aus dem Ṛg-Veda (10.90.1) dar. Im ersten Teil des Verses geht es um die Immanenz Gottes, in der zweiten Hälfte um Seine Transzendenz. Sahasraśīrṣā – hat tausend Köpfe; puruṣaḥ – der/die Mensch, Person, Urseele; sahasrākṣaḥ – hat tausend Augen; sahasrapāt – hat tausend Füße; saḥ – Er; bhūmim – die Welt; viśvataḥ – auf allen Seiten; vṛtvā – umhüllt habend; atyatiṣṭhat – ragt darüber hinaus; daśāṅgulam – zehn Finger oder endlos. Er (Gott) überschreitet die Welt. Es kann sich aber auch auf das Herz beziehen, das zehn Finger oberhalb des Nabels liegt: Gott wohnt in den Herzen aller Geschöpfe als das innere Selbst – obwohl Er groß und unendlich ist und obwohl Er die Seele des Universums ist. Er ist immanent in allen Wesen. Sahasraśīrṣā weist darauf hin, dass Gott (virāṭ-puruṣa) unzählbar viele Köpfe hat. Alle Köpfe (sowie Organe und Gliedmaßen) gehören Gott. Er ist es, der durch alle Hände wirkt, mit allen Mündern isst, durch alle Augen sieht, durch alle Ohren hört, mit allen Füßen geht und durch alle manas denkt. Wenn du beständig diesen Vers im Bewusstsein hast, wird das Ego allmählich verschwinden. Du wirst dich mit dem virāṭ-puruṣa (der kosmischen Seele) identifizieren und ein großzügiges Herz bekommen.


puruṣa evedaṃ sarvaṃ yadbhūtaṃ yacca bhavyam।

utāmṛtatvasyeśāno yadannenātirohati॥ 15॥

15. Jene Person (Urseele) allein ist all dies, was war und was sein wird. Er ist auch der Gott der Unsterblichkeit. Er ist alles, was durch Nahrung wächst.

ERLÄUTERUNG: Puruṣaḥ – die Person, das Wesen; eva – allein; idam – dies; sarvam – alles; yadbhūtam – was war; yacca bhavyam – was sein wird; uta – auch; amṛtat-vasya – der Unsterblichkeit; īśānaḥ – Gott; yadannenātirohati – Er ist alles, was durch Nahrung wächst und gedeiht. Obwohl der puruṣa (die Urseele) sich in diesem Universum manifestiert hat, wird er doch nicht durch es berührt oder beeinflusst. Und doch ist Er der Gott der Unsterblichkeit. Asaṅgo'yaṃ puruṣa iti – „Die Urseele ist unberührt/unverhaftet“. Das ist die Aussage der śrutis. Sāyaṇa (ind. Philosoph aus dem 14. Jh. n. Chr.) gibt eine andere Erklärung: „Er ist auch der Gott aller Unsterblichen, also der Götter, weil diese zu ihrem erhöhten Status aufsteigen durch (geopferte) Nahrung oder auch um der Nahrung willen.“ Anna bedeutet „Nahrung“. Es bezeichnet aber auch die Materie der Welt. So wie Nahrung der Gegenstand des Genusses für die Lebewesen ist, so ist auch die Welt Gegenstand der Freude für Gott.

Im Brahma-Sūtra (2.1.33) heißt es: lokavat-tu līlā-kaivalyam („Wie in der Welt gesehen, aber nur Zeitvertreib.“). Gott bringt die Welt aus sich hervor, für sein eigenes Vergnügen, als sein Spiel (līlā).


sarvataḥpāṇipādaṃ tat sarvato'kṣiśiromukham।

sarvataḥśrutimalloke sarvamāvṛtya tiṣṭhati॥ 16॥

16. Mit Händen und Füßen überall, mit Augen, Köpfen und Mündern überall, mit Ohren überall – existiert Das alles in der Welt umfassend.

ERLÄUTERUNG: Sarvataḥ pāṇipādam – mit Händen und Füßen überall; sarvataḥ akṣiśiromukham – mit Augen, Köpfen und Mündern überall; sarvataḥ śrutimat – mit Ohren überall; loke – in der Welt; sarvam āvṛtya – alles umfassend; tiṣṭhati – existiert. Diese Gedichtform finden wir auch in der Bhagavad-Gītā (13.13). Hier wird die göttliche Immanenz beschrieben. Alle Hände, alle Füße, alle Augen gehören allein Gott. Diese wunderschöne Synthese der Vorstellungen des persönlichen Gottes und des unpersönlichen Absoluten ist ein spezieller Zug dieser upaniṣad. Śaṅkara erklärt das Wort loke hier mit nikāya („Wohnung“, Körper).


sarvendriyaguṇābhāsaṃ sarvendriyavivarjitam।

sarvasya prabhumīśānaṃ sarvasya śaraṇaṃ suhṛt॥ 17॥

17. Er scheint und leuchtet mit den Qualitäten aller Sinne, und dennoch ist er ohne alle Sinne. Er ist der Gott aller, der Lenker aller, die Zuflucht für alle und der Freund aller.

ERLÄUTERUNG: Sarvendriyaguṇābhāsam – mit den Funktionen aller Sinne scheinend; sarvendriyavivarjitam – ohne alle Sinne; sarvasya prabhum – der Gott aller; īśānam – der Lenker; sarvasya śaraṇam – die Zuflucht aller; suhṛt – der Freund. Sarvendriyaguṇābhāsam bezieht sich sowohl auf die äußeren als auch auf die inneren Sinnesorgane sowie auf den manas, deren Qualitäten Klang, Farbe, Geschmack, Tastgefühl, Geruch, Zweifel und Entscheidung sind. Die erste Zeile vom Vers erscheint auch in der Bhagavad-Gītā (13.14). Gott sieht ohne Augen, hört ohne Ohren, riecht ohne Nase. Er ist caitanya (reines Bewusstsein). Daher weiß Er alles, auch ohne die Wahrnehmungsorgane.


navadvāre pure dehī haṃso lelāyate bahiḥ।

vaśī sarvasya lokasya sthāvarasya carasya ca॥ 18॥

18. Er wohnt in dem Körper, der Stadt mit neun Toren. Er ist die Seele (haṃsa), die sich in der äußeren Welt vergnügt. Er ist der Lenker der ganzen Welt, der ruhenden und der bewegten.

ERLÄUTERUNG: Navadvāre pure – in der Stadt mit neun Toren; dehī – der Verkörperte; haṃsaḥ – er ist die Seele; lelāyate – spielt, vergnügt sich; bahiḥ – außen; vaśī – der Herrscher, der Lenker; sarvasya lokasya – der ganzen Welt; sthāva-rasya – stationär, ruhend; carasya – bewegt; ca – und. Gott zerstört die Wirkungen der Unwissenheit. Er wird haṃsa genannt, weil Er (Seine Seele) der Straße entlang reist (gleitet). Das Wort bedeutet ursprünglich „Schwan“*. Gott vergnügt sich in diesem Universum und wird doch nicht davon beeinflusst – so wie ein Schwan nicht vom Wasser beeinflusst wird, obwohl er im Wasser schwimmt. Navadvāre pure („der Stadt mit neun Toren“) bezieht sich auf die Körperöffnungen. (Vgl. Kaṭha-Upaniṣad, 5.1 und Bhagavad-Gītā, 5.13)


apāṇipādo javano grahītā paśyatyacakṣuḥ sa śṛṇotyakarṇaḥ।

sa vetti vedyaṃ na ca tasyāsti vettā tamāhuragryaṃ puruṣaṃ mahāntam॥ 19॥

19. Ohne Hände und Füße geht Er schnell und ergreift; ohne Augen sieht Er, ohne Ohren hört Er. Er weiß alles, was gewusst werden kann, doch Ihn erkennt niemand. Sie nennen Ihn den Ersten, die große Seele.

ERLÄUTERUNG: Apāṇipādaḥ – ohne Hände und Füße; javanaḥ – Er geht schnell; grahītā – Er ergreift; paśyaty acakṣuḥ – Er sieht ohne Augen; saḥ – Er; śṛṇoti –hört; akarṇaḥ – ohne Ohren; saḥ – Er; vetti – weiß; vedyam – was zu wissen ist; na – nicht; ca – und; tasya – von Ihm; vettā – Wissender; tam – Ihn; āhuḥ – sie sagen; agryam – den Ersten; puruṣam – Mensch, Person, Seele; mahāntam – groß. Gott sieht, hört, schmeckt etc. ohne Sinne, denn Er ist eine Verkörperung von Bewusstsein (cit-svarūpa). Er ist allmächtig. Er benötigt keine Instrumente, Hilfsmittel oder Organe, deswegen wird Er der Erste, die große Seele genannt.


aṇoraṇīyānmahato mahīyānātmā guhāyāṃ nihito'sya jantoḥ।

tamakratuḥ paśyati vītaśoko dhātuḥ prasādānmahimānamīśam॥ 20॥

20. Feiner als das Feinste, größer als das Größte – so ist der ātman versteckt im Herzen des Geschöpfes. Man wird frei von allem Kummer und allen Wünschen durch die Gnade des wunschlosen Schöpfers und man erkennt Ihn als den großen Gott.

ERLÄUTERUNG: Aṇoḥ aṇīyān – kleiner als das Kleinste; mahataḥ mahīyān – größer als das Größte; ātmā – das Selbst; guhāyām – im Herzen; nihitaḥ – ist versteckt; asya jantoḥ – des Geschöpfes (aller belebten Wesen); tam – Ihn; akratuḥ – wunschlos; paśyati – sieht; vītaśokaḥ – frei von Kummer; dhātuḥ – des Schöpfers; prasādāt – durch die Gnade; mahimānam – den großen; īśam – Gott. Dieser Vers erscheint auch in der Kaṭha-Upaniṣad (2.20), in der das Wort ātman anstelle von īśam auftaucht. Die Gnade Gottes ist notwendig für die Verwirklichung der Einheit (nach advaita). Bhakti ist dem Wissen nicht entgegengesetzt. Im Gegenteil: Es hilft dem Wissen. Die Urseele belebt sowohl die Ameise als auch den Elefanten. Sie durchdringt das ganze Universum. Sie ist ewig. Deswegen ist der ātman feiner als das Feinste und größer als das Größte.


vedāhametamajaraṃ purāṇaṃ sarvātmānaṃ sarvagataṃ vibhutvāt।

janmanirodhaṃ pravadanti yasya brahmavādino hi pravadanti nityam॥ 21॥

21. Ich kenne diesen Unvergänglichen, Uralten, die Seele von allen, der allgegenwärtig ist durch Seine alldurchdringende Natur und den die Kenner des brahman als frei von Geburt, als ewig erklären.

ERLÄUTERUNG: Veda – weiß; aham – ich; etam – Ihn; ajaram – unvergänglich; purāṇam – uralt; sarvātmānam – die Seele von allen; sarvagatam – allgegenwärtig; vibhutvāt – wegen Seiner alldurchdringenden Natur; janmanirodham – frei von Geburt; pravadanti – sie sagen, sie erklären; yasya – von dem; brahma-vādinaḥ – die Kenner des brahman; hi – wahrlich; pravadanti – sie erklären; nityam – ewig. Nur der Körper – der aus Fleisch, Fett und Kochen besteht – ist Geburt, Verfall etc. unterworfen. Wie könnte es Geburt und Verfall geben für die alldurchdringende, unendliche, selbstleuchtende Seele, die körperlos (aśarīram), ohne Gliedmaßen (niravayavam) und ewig ist? Brahman ist uralt. Es existierte schon, bevor du mit deiner Erforschung und deiner Suche begannst. Es ist der Erforschende sowie auch das Erforschte und Es ist der Gegenstand der Untersuchung. Es existiert, ewig leuchtend, ob du nun Seine Existenz zugibst oder nicht. Es existierte vor hiraṇya-garbha, vor Manu (Stammvater der Menschheit), vor den ṛṣis und den devas. Insofern ist Es uralt. Es ist der ursprüngliche puruṣa.

HIER ENDET DAS DRITTE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.

Caturtho 'dhyāyaḥ (Viertes Kapitel)


ya eko'varṇo bahudhā śaktiyogādvarṇānanekānnihitārtho dadhāti।

vi caiti cānte viśvamādau sa devaḥ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu॥ 1॥

1. Möge jenes Göttliche Wesen, das selbst ohne Farbe ist und doch viele Farben schafft in verschiedener Weise, durch Seine eigene Kraft und mit klarer Absicht, und das die ganze Welt am Ende in sich selbst hinein auflöst – möge dieser Gott uns einen reinen Intellekt geben.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; ekaḥ – eins; avarṇaḥ – ohne Farbe; bahudhā – in vielfacher Weise; śakti-yogāt – durch Seine eigene Kraft; anekān varṇān – vielfältige Farben; nihitārthaḥ – mit fester Absicht (nihita kann auch „verborgen“ bedeuten); dadhāti – schafft; vi caiti – auflöst; ca – und; ante – am Ende; viśvam – die Welt; devaḥ – jenes Göttliche Wesen; saḥ – Er; naḥ – uns; buddhyā śubhayā – mit reinem Intellekt; saṃyunaktu – möge uns geben; varṇān – Farbe, Qualität, Verschiedenheit. Er, der ganz eins ist und ohne Unterscheidungen, schafft zahllose Unterscheidungen gemäß deren Notwendigkeit, durch Seine Verbindung ist vielen Kräften (śaktis). So wie ein Lichtstrahl, der durch ein Prisma geschickt wird, viele Farben annimmt, so nimmt auch das formlose brahman vielfältige Formen an, durch Seine eigene līlā, das göttliche Spiel.


tadevāgnistadādityastadvāyustadu candramāḥ।

tadeva śukraṃ tadbrahma tadāpastatprajāpatiḥ॥ 2॥

2. Das ist das Feuer, Das ist die Sonne, Das ist die Luft, Das ist auch der Mond; Das ist das Leuchtende (sternenbesetzte Firmament); Das ist brahman, Das ist das Wasser und der Schöpfer aller Wesen.

ERLÄUTERUNG: Tat eva – Das (das Selbst) ist; agniḥ – das Feuer; tat ādityaḥ – Das (ist) die Sonne; tat vāyuḥ – Das (ist) die Luft; tat u candramāḥ – Das (ist) auch der Mond; tat eva śukram – Das alleine ist das Strahlende/Leuchtende; tat brahma – Das (ist) brahman; tat āpaḥ – Das (ist) das Wasser; tat prajāpatiḥ – Das (ist) der Schöpfer aller Wesen. Die Seher benutzten maskuline und neutrale Pronomen, wenn sie das höchste Wesen charakterisierten. Die verschiedenen Götter sind nur verschiedene Aspekte ein und derselben Gottheit/Wesenheit. Śankara lehrte, dass brahman als hiraṇya-garbha die universelle Seele ist, die alle feinstofflichen Körper durchdringt, und dass der Schöpfer aller Wesen (Prajā-pati) als virāṭ-puruṣa die universelle Seele ist, die alle grobstofflichen Körper durchdringt.


tvaṃ strī tvaṃ pumānasi tvaṃ kumāra uta vā kumārī।

tvaṃ jīrṇo daṇḍena vañcasi tvaṃ jāto bhavasi viśvatomukhaḥ॥ 3॥

3. Du bist die Frau. Du bist der Mann. Du bist der Junge. Du bist auch das Mädchen. Du bist der/die Betagte, der/die mit dem Stock gebeugt umherwandert. Du bist geboren mit einem Gesicht, das in alle Richtungen zeigt.

ERLÄUTERUNG: Tvam – du bist; strī – die Frau; tvam – du bist; pumān – der Mann; tvam – du bist; kumāraḥ – der Junge; uta vā kumārī – du bist auch das junge Mädchen; tvam – du bist; jīrṇaḥ – abgenutzt, betagt; daṇḍena – mit dem Stock (wandern/gehen); vañcasi – gebeugt (umher); tvam – du bist; jātaḥ – geboren; bhavasi – wirst; viśatomukhaḥ – mit Deinem Gesicht in alle Richtungen. Das Wort viśatomukhaḥ weist auf die Allgegenwärtigkeit Gottes hin. Alle Dinge der Welt sind nur Manifestationen von brahman. Wenn du dich stets an diesen Vers erinnerst, wirst du frei von Vorlieben und Abneigungen. Du wirst die Einheit des Selbst erkennen. Sarvaṃ khalvidaṃ brahma („Alles ist in der Tat brahman.“). Du wirst inspiriert werden. Dein Geist wird sich erheben. Du wirst Gott in allen Gesichtern sehen.


nīlaḥ pataṅgo harito lohitākṣastaḍidgarbha ṛtavaḥ samudrāḥ।

anādimattvaṃ vibhutvena vartase yato jātāni bhuvanāni viśvā॥ 4॥

4. Du bist die dunkelblaue Fliege; der grüne Papagei mit roten Augen; die dunkle Gewitterwolke; die Jahreszeiten und die Ozeane. Du bist ohne Anfang; unendliche Allmacht; der, aus dem alle Welten geboren sind.

ERLÄUTERUNG: Nīlaḥ – dunkelblau; pataṅgaḥ – Fliege, Vogel, Insekt; haritaḥ – grüne (Papagai); lohitākṣaḥ – rote Augen; taḍid-garbhaḥ – „Schoß des Blitzes“, Gewitterwolke; ṛtavaḥ – Jahreszeiten; samudrāḥ – Ozeane; anādimat – ohne Anfang; tvam – du; vibhutvena – unendliche Allmacht; vartase – existierst; yataḥ – von/aus dem; jātāni – geboren sind; bhuvanāni – Welten; viśvā – alle. Alles, was du siehst, sind die Manifestationen Gottes. Vāsudevaḥ sarvamiti – („Alle sind Vāsudeva allein.“). Brahman ist ohne Anfang. Es ist parama-kāraṇa (höchste Ursache) von allem. Es ist ursachelose Ursache. Wie könnte das Unendliche einen Anfang haben? Nur Wirkungen können einen Anfang haben.


ajāmekāṃ lohitaśuklakṛṣṇāṃ bahvīḥ prajāḥ sṛjamānāṃ sarūpāḥ।

ajo hyeko juṣamāṇo'nuśete jahātyenāṃ bhuktabhogāmajo'nyaḥ॥ 5॥

5. Da ist eine Ungeborene von roter, weißer und schwarzer Farbe, die viele Nachkommen wie sie selbst hervorbringt. Da ist ein Ungeborener, der sie liebt und bei ihr bleibt und da ist ein anderer Ungeborener, der sie verlässt, nachdem er sich an sie erfreut hat.

ERLÄUTERUNG: ajām – Ungeborene; ekām – eine; lohita-śukla-kṛṣṇām – von roter, weißer und schwarzer Farbe; bahvīḥ – viele; prajāḥ – Nachkommen; sṛjamānām – welche produziert; sarūpāḥ – von derselben Form; ajaḥ – ungeboren; ekaḥ – ein; juṣamāṇaḥ – angezogen oder geliebt; anuśete – liegt neben ihr; jahāti – verlässt; enām – sie; bhukta-bhogām – nachdem er sich an ihr erfreut hat; ajaḥ – ungeboren; anyaḥ – anderes. Das ungeborene weibliche Wesen von roter, weißer und schwarzer Farbe ist prakṛti (Materie) mit ihren drei guṇas (Qualitäten): sattva (Reinheit), rajas (Leidenschaft) und tamas (Dunkelheit). Sattva ist weiß, rajas ist rot und tamas ist schwarz. Andere interpretieren die drei als die drei Urelemente: Feuer, Wasser und Erde. Die zahllosen Nachkommen sind die vielfältigen Gegenstände der Schöpfung. Die Nachkommen ähneln ihrer Mutter (prakṛti), da sie sie die Geschöpfe und Wirkungen der prakṛti sind. Sie sind aus denselben konstituierenden Elementen gemacht. Das ungeborene männliche Wesen, das sie liebt, ist die kosmische Urseele, der Vater aller Wesen. Es ist hiraṇya-garbha bzw. brahman. Das andere ungeborene männliche Wesen ist die individuelle Seele, die sich aus der Gebundenheit durch die Materie befreit hat, also ein jīvan-mukta. Die (nichtbefreite) individuelle Seele läuft – trotz Widerstände, Stöße und Schläge – den sinnlichen Vergnügungen hinterher. Sie hat noch nicht erkannt, dass Sinnesfreuden illusorisch und stets mit Leid verbunden sind. Ein jīvan-mukta hingegen sucht die Gemeinschaft mit mahātmās (großen Seelen), erhält Belehrungen von ihnen, praktiziert Meditation und erreicht Selbstverwirklichung. Er verlässt prakṛti und das von ihr Hervorgebrachte (alle Sinnes- objekte) und ruht in seinem eigenen saccidānanda-svarūpa. – Das ist die Grundaussage dieses Verses.


dvā suparṇā sayujā sakhāyā samānaṃ vṛkṣaṃ pariṣasvajāte।

tayoranyaḥ pippalaṃ svādvattyanaśnannanyo abhicākaśīti॥ 6॥

6. Zwei Vögel mit schönem Gefieder, untrennbare Freunde, hocken auf demselben Baum. Der eine von beiden isst die süße Frucht, der andere schaut zu, ohne zu essen.

ERLÄUTERUNG: Vers 6 (also dieser) und Vers 7 tauchen ebenfalls in der Muṇḍaka-Upaniṣad (3.1.1-2) auf. Dvā –zwei; suparṇā – Vögel mit schönem Gefieder; sayujā – untrennbar; sakhāyā – Freunde; samānam – derselbe; vṛkṣam – Baum; pariṣasvajāte – wohnen; tayoḥ – von diesen; anyaḥ – der eine; pippalam – Frucht; svādu – süß; atti – isst; anyaḥ – der andere; anaśnan – ohne zu essen; abhicākaśīti – schaut zu. Die zwei Vögel repräsentieren die individuelle Seele (jīva) und die höchste Seele (paramātman), Gott. Der jīva ist nur eine Reflektion des paramātmans. Insofern sind sie untrennbar. Der Baum ist der Körper. Die Früchte des Baumes sind Vergnügen und Schmerz, die Resultate vergangener Taten. Die individuelle Seele identifiziert sich mit dem Körper und handelt aus Egoismus und in Erwartung der Früchte. Sie lebt mit der Vorstellung: „Ich bin der Handelnde.“ (kartṛtvābhimāna). Deshalb erntet sie die Früchte ihrer Handlungen und wird wiedergeboren, während die höchste Seele als stiller Zeuge daneben steht. Sie (die höchste Seele) ist völlig unbeteiligt. Daher ist sie immer glücklich.


samāne vṛkṣe puruṣo nimagno'nīśayā śocati muhyamānaḥ।

juṣṭaṃ yadā paśyatyanyamīśamasya mahimānamiti vītaśokaḥ॥ 7॥

7. Auf demselben Baum wohnend, verstrickt sich die (nichtbefreite) Seele und fühlt sich elend. Sie ist verblendet und leidet ob ihrer Ohnmacht. Wenn sie die Zufriedenheit des anderen, Gottes, sieht und dessen Herrlichkeit erkennt, wird sie frei von Leiden.

ERLÄUTERUNG: Samāne – demselben; vṛkṣe – auf dem Baum; puruṣa – sie Seele; nimagnaḥ – wird verstrickt, verwickelt; anīśayā – ihre Natur vergessend; śocati – leidet; muhyamānaḥ – verblendet, getäuscht; juṣṭam – von allen verehrt; yadā – wenn; paśyati – sieht; anyam – den anderen; īśam – Gott; asya – Seine; mahimānam – Herrlichkeit; iti – so; vītaśokaḥ – wird frei von Leiden. Wenn der Mensch aufgrund seiner Unwissenheit seine wahre göttliche Natur vergisst, wird er hilflos und lebt im Wahn. Wenn er, ichbezogen und voller Begierde, durch äußere Dinge angezogen wird und diese mit dem Gedanken „Ich bin der Handelnde.“ zu besitzen versucht, dann ist er im Strudel des saṃsāra gefangen. Wenn der Mensch sich, durch Meditation und tugendhaftes Handeln, von Anhaftung und Ichbezogenheit befreit, erfährt er Gottverwirklichung. Kummer und Leid verschwinden und er erlangt ewige Wonne und Unsterblichkeit.


ṛco akṣare parame vyomanyasmindevā adhi viśve niṣeduḥ।

yastaṃ na veda kimṛcā kariṣyati ya ittadvidusta ime samāsate॥ 8॥

8. Was nützen die Verse des Ṛg-Veda demjenigen, der jenes unzerstörbare, höchste und himmlische Wesen nicht kennt, in dem der Ṛg-Veda und alle Götter wohnen? Siehe, diejenigen, die Das kennen, ruhen in Zufriedenheit.

ERLÄUTERUNG: Ṛcaḥ – Verse des Ṛg-Veda; akṣare – unzerstörbar; parame – höchste; vyoman – in dem himmlischen Wesen; yasmin – in dem; devāḥ viśve – alle Götter; adhi niseduḥ – wohnen; yaḥ – dem(-jenigen); tam – Ihn; na veda – nicht weiß; kim – was; ṛcā – mit dem Ṛg-Veda; kariṣyati –wird tun; ye – die(-jenigen); it – siehe; tat – das; viduḥ – wissen; te ime – diese; samāsate – leben in Zufriedenheit. Das Studium der Veden allein bzw. rein theoretisches Wissen über brahman (parokṣa-brahma-jñāna) wird uns nicht weiterhelfen, Selbstverwirklichung zu erlangen. Diejenigen, die unmittelbar das höchste Selbst schauen (aparokṣa-brahma-jñāna), werden den höchsten Frieden und ewige Zufriedenheit erreichen.


chandāṃsi yajñāḥ kratavo vratāni bhūtaṃ bhavyaṃ yacca vedā vadanti।

asmānmāyī sṛjate viśvametattasmiṃścānyo māyayā sanniruddhaḥ॥ 9॥

9. Der Gott der māyā* bringt die Veden aus sich hervor, ebenso die Opfer, die Rituale, die religiöse Regeln, alles, was ist und was sein wird, alles, was die Veden erklären und überhaupt diese ganze Welt und uns selbst. Der andere ist darin durch māyā gebunden.

ERLÄUTERUNG: chandāṃsi – die Veden; yajñāḥ – Opfer; kratavaḥ – die Rituale; vratāni – religiöse Regeln; bhūtam – was war; bhavyam – was sein wird; yat – was; vedāḥ – die Veden; vadanti – sagen, erklären; asmān – diese, uns eingeschlossen; māyī – der Gott der māyā; sṛjate – schafft, bringt hervor; viśvam etat – diese Welt; tasmin – in diesem; ca – und; anyaḥ – der andere (bezieht sich auf die individuelle Seele); māyayā – durch māyā; sanniruddhaḥ – ist gebunden. Īśvara (Gott) erschafft alles durch māyā bzw. devātma-śakti. So wie die Kobra nicht durch ihr eigenes Gift angegriffen wird, so wird auch Īśvara nicht durch māyā beeinflusst, wohingegen die individuelle Seele durch māyā gebunden und gefesselt wird.

māyāṃ tu prakṛtiṃ vidyānmāyinaṃ tu maheśvaram।

tasyāvayavabhūtaistu vyāptaṃ sarvamidaṃ jagat॥ 10॥

10. Wisse nun, dass prakṛti (Natur, Materie) māyā ist; und der große Gott der Herr der māyā ist. Die ganze Welt ist erfüllt von Wesen, die Seine Teile sind. ERLÄUTERUNG: Māyām – māyā; tu – in der Tat; prakṛtim – Natur, Materie; vidyāt – wisse; māyinam – der Herr der māyā; ca – und; maheśvaram – der große Herr (Gott); tasya – Sein; avayava-bhutaiḥ – durch Wesen, die Seine Teile sind; vyāp-tam – durchdrungen, angefüllt; sarvam – alles, die ganze; idam – diese; jagat – die Welt. Māyin (bzw. māyī) ist der Erzeuger der māyā. – Hier liegt ein Versuch vor, die Lehre des vedānta mit der des sāṅkhya zu vereinen. Die fünf großen Elemente sind Seine Teile – so eine andere Interpretation.


yo yoniṃ yonimadhitiṣṭhatyeko yasminnidaṃ saṃ ca vi caiti sarvam।

tamīśānaṃ varadaṃ devamīḍyaṃ nicāyyemāṃ śāntimatyantameti॥ 11॥

11. Derjenige gewinnt unendlichen Frieden, der Gott erkennt, den anbetungswürdigen Gott, den Segensgeber, der, obwohl eins, über die verschiedenen Aspekte der prakṛti herrscht; in den hinein sich dieses Universum auflöst und in dem es erneut erscheint in vielfältiger Form.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; yoniṃ yonim – all die verschiedenen Aspekte der prakṛti; adhitiṣṭhati – herrscht über; ekaḥ – eins; yasmin – in dem; idam – dieses; saṃ ca vi caiti – erscheint und sich auflöst; tam – Ihn; īśānam – Gott; varadam – den Geber von Segen; īḍyam – anbetungswürdig; nicāyya – erkennend; imām – dies; śāntim – Frieden; atyantam – ewig; eti – erreicht. Gemäß der Sicht der sāṅkhyas (Anhänger der sāṅkhya-Philosophie) ist der erste Schöpfer avyaktam (die nichtmanifeste Urseele) bzw. prakṛti (die Urmaterie, Urnatur). Mahat, Ichbezogenheit, manas, tan-mātras und die fünf Elemente sind vikṛtis (Produkte, Modifikationen) von prakṛti. Mahat und Ichbezogenheit sind sowohl Erzeuger wie auch Hervorgebrachtes.


yo devānāṃ prabhavaścodbhavaśca viśvādhipo rudro maharṣiḥ।

hiraṇyagarbhaṃ paśyata jāyamānaṃ sa no buddhyā śubhayā saṃyunaktu॥ 12॥

12. Möge Rudra, der Schöpfer und Erhalter der Götter, der große Seher, der Gott von allem, der zuschaute, wie Hiraṇyagarbha geboren wurde, möge Er uns einen reinen und glückbringenden Intellekt geben.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; devānām – der Götter; prabhavaḥ – der Schöpfer; ca – und; udbhavaśca – und Erhalter; viśvādhipaḥ – der Gott von allem; rudraḥ – Rudra; maharṣiḥ – der große Seher; hiraṇya-garbham – Hiraṇyagarbha; paśyata – sah, jāyamānam – geboren werdend; saḥ – Er; naḥ – uns; buddhyā – mit Intellekt; śubhayā – rein und glückbringend; saṃyunaktu – möge geben. Dies ist fast eine genaue Wiederholung von 3.4. Rudra wird hier mit dem höchsten Selbst (para-brahman) gleichgesetzt.


yo devānāmadhipo yasmiँllokā adhiśritāḥ।

ya īśe asya dvipadaścatuṣpadaḥ kasmai devāya haviṣā vidhema॥ 13॥

13. Lass uns Verehrung erweisen, zusammen mit Opfergaben, jenem glückseligen Gott, der das Oberhaupt der devas ist, der über die Zweibeiner und Vierbeiner herrscht und in dem all die Welten ruhen.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der (das); adhipaḥ – Oberhaupt, Herrscher; devānām – der Götter; yasmin – in dem; lokāḥ – die Welten; adhiśritāḥ – ruhen; yaḥ – der; īśe – herrscht; asya – dies; dvipadaḥ – Zweibeiner; catuṣpadaḥ – Vierbeiner; kasmai devāya – jenem Gott; haviṣā vidhema – lass uns Verehrung erweisen zusammen mit Opfergaben. Einige (Kommentatoren) lesen tasmai statt kasmai.


sūkṣmātisūkṣmaṃ kalilasya madhye viśvasya sraṣṭāramanekarūpam।

viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā śivaṃ śāntimatyantameti॥ 14॥

14. Wer Ihn erkennt und verwirklicht, der feiner ist als das Feinste, der die Welt schafft inmitten des Chaos, der viele Formen annimmt, der als einziger die Welt umfasst, den Glückseligen (Śiva), erlangt unendlichen Frieden.

ERLÄUTERUNG: Sūkṣmāti-sūkṣmam – feiner als das Feinste; kalilasya madhye – in der Mitte des Chaos; viśvasya – der Welt; sraṣṭāram – Schöpfer; anekarūpam – der viele Formen annimmt; viśvasya – der Welt; ekam – eins; pariveṣṭitāram – der einzige, der umhüllt; śivam – den Glückseligen; jñātvā – erkannt habend; atyantam – unendlich; śāntim – Frieden; eti – erlangt.

sa eva kāle bhuvanasya goptā viśvādhipaḥ sarvabhūteṣu gūḍhaḥ।

yasminyuktā brahmarṣayo devatāśca tamevaṃ jñātvā mṛtyupāśāṃ-

śchinatti॥ 15॥

15. Er allein ist es, der die Welt zur rechten Zeit beschützt. Er ist das Oberhaupt der Welt, verborgen in allen Wesen. In Ihn gehen die brahma-rṣis und die Götter ein. Wer Ihn auf diese Weise kennt, zerschneidet die Fesseln des Todes.

ERLÄUTERUNG: Saḥ – Er; eva – allein; kāle – zur rechten Zeit; bhuvanasya – der Welt; goptā – Beschützer; viśvādhipaḥ – das Oberhaupt/Herrscher der Welt; sarvabhūteṣu – in allen Wesen; gūḍhaḥ – verborgen; yasmin – in denen; yuktāḥ – verschmolzen, absorbiert; brahmarṣayaḥ – die großen Seher; ca – und; devatāḥ – die Gottheiten; tam – Ihn; evam – so, auf diese Weise; jñātvā – gewusst habend; mṛtyu-pāśāṃśchinatti – zerschneidet die Fesseln des Todes. Die brahma-rṣis (hochrangige Seher wie Vasiṣṭha), Seher allgemein und die Gottheiten finden ihre wahre Essenz allein in brahman.


ghṛtātparaṃ maṇḍamivātisūkṣmaṃ jñātvā śivaṃ sarvabhūteṣu gūḍham।

viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 16॥

16. Wer den Glückseligen (Śiva) kennt, der in allerfeinster Form in allen Wesen verborgen ist, feiner als die Essenz von Ghee, der allein das Universum umhüllt, ist befreit von allen Bindungen und Fesseln.

ERLÄUTERUNG: Ghṛtāt – als Ghee (ghī = gereinigtes Öl/Fett, das meist aus Butter hergestellt wird); param – feiner; maṇḍam – Essenz; iva – wie; atisūkṣmam – äußerst fein; jñātvā – erkannt habend; śivam – den Glückseligen; sarvabhūteṣu gūḍham – verborgen in allen Wesen; viśvasya – des Universums; ekam – allein; pariveṣṭitāram – Umhüller; jñātvā – erkannt habend; devam – die Gottheit; mucyate – wird befreit; sarva-pāśaiḥ – von allen Fesseln. Butter, Sahne und Ghee existieren in der Milch in Form winziger, unsichtbarer Teilchen. Wenn die Milch gebuttert und geschäumt wird, werden diese verborgenen Teilchen sichtbar, so ähnlich wie der feine ātman durch Meditation „aufgerührt“ und verwirklicht wird.


eṣa devo viśvakarmā mahātmā sadā janānāṃ hṛdaye sanniviṣṭaḥ।

hṛdā manīṣā manasābhikḷpto ya etadviduramṛtāste bhavanti॥ 17॥

17. Jener Gott, der Schöpfer des Universums, die höchste Seele, wohnt immer in den Herzen aller Wesen, wobei er (scheinbar) durch Herz, Intellekt und manas begrenzt wird. Jene, die das wissen, werden unsterblich.

ERLÄUTERUNG: Eṣaḥ – dieser; devaḥ – Gott; viśvakarmā – der Schöpfer des Universums; mahātmā – die höchste Seele; sadā – (für) immer; janānām – der Wesen; hṛdaye – im Herzen; sanniviṣṭaḥ – wohnt; hṛdā – durch das Herz; manīṣā – durch den Intellekt; manasā – durch den manas; abhikḷptaḥ – begrenzt, ye – die; etat – dies; viduḥ – wissen; amṛtāḥ – unsterblich; te – die; bhavanti – werden. Die zweite Hälfte dieses Verses kommt auch in der Kaṭha-Upaniṣad (6.9) vor.


yadā'tamastanna divā na rātrirna sanna cāsacchiva eva kevalaḥ।

tadakṣaraṃ tatsaviturvareṇyaṃ prajñā ca tasmātprasṛtā purāṇī॥ 18॥

18. Wenn die Unwissenheit verschwunden ist, dann gibt es weder Tag noch Nacht, weder Existenz noch Nichtexistenz. Dann ist da nur Śiva, der Allgesegnete, der unvergänglich ist, das anbetungswürdige Licht von Savita (Gottheit der Sonne). Aus Ihm kam die uralte, zeitlose Weisheit hervor.

ERLÄUTERUNG: Yadā – wenn; atamaḥ – Abwesenheit von Dunkelheit; tat – dann; na divā – kein Tag; na – nicht; rātri – Nacht; na sat – weder Sein; na cāsat – noch Nichtsein; śivaḥ eva kevalaḥ – dann ist da nur Śiva, der Allgesegnete; tat – das; akṣaram – unvergänglich; tat savituḥ vareṇyam – das anbetungswürde Licht von Savitṛ (siehe auch Gāyatrī-Mantra); prajñā – Weisheit; ca – und; tasmāt – von und aus Ihm; prasṛtā – ist hervorgekommen; purāṇī – die uralte. Atamas – keine Dunkelheit (das Licht des Wissens). Wenn die Dunkelheit der Unwissenheit und Illusion vertrieben worden ist, dann verschwinden alle Unterscheidungen und Verschiedenheiten. Es gibt weder sat noch asat, wenn die Dunkelheit der Unwissenheit fort ist. Das bedeutet aber nicht, dass brahman, das Absolute, nur eine Leere ist. Es bedeutet, dass brahman alles Relative dieses Universums transzendiert. Daher wird gesagt: „Es ist der glückselige Śiva, der Unvergängliche, das anbetungswürdige Licht“ etc. Brahman ist die Quelle der Veden. Die Veden sind Sein Atem. Es ist die Quelle allen uralten Wissens, das uns in der Form der Veden überliefert worden ist. Daher wir gesagt, dass das alte Wissen aus Ihm hervorgekommen ist.


nainamūrdhvaṃ na tiryañcaṃ na madhye na parijagrabhat।

na tasya pratimā asti yasya nāma mahadyaśaḥ॥ 19॥

19. Niemand kann Ihn fassen, oben, quer oder in der Mitte. Es gibt nichts, das Ihm gleicht. Sein Name ist große Herrlichkeit.

ERLÄUTERUNG: Ūrdhvam – oben; tiryañcam – quer; madhye – in der Mitte; na parijagrabhat – niemand kann ergreifen; na tasya pratimā asti – es gibt nichts, das Ihm gleicht/ es gibt kein Bild von Ihm; yasya – dessen; nāma – Name; mahat – groß; yaśaḥ – Herrlichkeit. Da brahman äußerst fein, formlos, ohne Gliedmaßen, nichtbegrenzbar, alldurchdringend und unteilbar ist, kann Es durch die Sinnesorgane der Menschen nicht erfasst werden.


na saṃdṛśe tiṣṭhati rūpamasya na cakṣuṣā paśyati kaścanainam।

hṛdā hṛdisthaṃ manasā ya enamevaṃ viduramṛtāste bhavanti॥ 20॥

20. Seine Form kann nicht gesehen werden. Niemand nimmt Ihn durch das Auge wahr. Die, die Ihn durch Intuition, im Herzen wohnend, erkennen, werden unsterblich.

ERLÄUTERUNG: Na – nicht; saṃdṛśe (sandṛśe) – im Bereich der Wahrnehmung; tiṣṭhati – steht; rūpamasya – Seine Form; na cakṣuṣā paśyati – wird nicht gesehen durch die Augen; kaścana – irgendetwas; enam – dieses; hṛdā – durch das Herz; hṛdistham – im Herzen wohnend; manasā – durch den Geist; ye – die; enam – dies; viduḥ – wissen, erkennen; amṛtāḥ te bhavanti – werden unsterblich. Brahman ist außer Reichweite der Sinne und des Geistes. Hṛdā manasā – dies ist das Auge der Intuition bzw. das göttliche Auge (jñāna-cakṣus bzw. divya-cakṣus). Wenn alle vṛttis (Modifikationen) des Geistes zur Ruhe kommen durch brahma-cintana (Meditation über brahman), dann wird brahma-kāra-vṛtti erzeugt. Das ist das Auge der Intuition. Der Meditierende verwirklicht brahman durch brahma-kāra-vṛtti. Brahma-kāra-vṛtti entspricht dem Auge der Intuition. Brahma-kāra-vṛtti entsteht durch das sattvige antaḥ-karaṇa des Meditierenden, der ausgerüstet ist mit den vier Mitteln der Erlösung und der über die Bedeutung des mahā-vākya „tat tvam asi“ meditiert (einen der „großen Sprüche“ der Upanishaden). Brahma-kāra-vṛtti zerstört den āvaraṇa, den Schleier der Unwissenheit, und dadurch leuchtet brahman durch sich selbst auf. Die Einzelseele verschmilzt mit der höchsten Seele, indem sie die Einheit mit Ihm erkennt.


ajāta ityevaṃ kaścidbhīruḥ prapadyate।

rudra yatte dakṣiṇaṃ mukhaṃ tena māṃ pāhi nityam॥ 21॥

21. Manch einer nähert sich Dir in Furcht, wissend, dass Du der Ungeborene bist. O Rudra, sei gnädig und beschütze mich für immer durch Dein gütiges Antlitz!

ERLÄUTERUNG: Ajāta iti evam – als den Ungeborenen; kaścit – manch einer; bhīruḥ – in Furcht; prapadyate – nähert sich; rudra – o Rudra; yat – welches, te – Dein; dakṣiṇam – wohlwollend, gütig; mukham – Gesicht; tena – mit dem; mām – mich; pāhi – beschütze; nityam – für immer. Einige Sucher, die Leidenschaftslosigkeit und Unterscheidungsfähigkeit erworben haben, sind in Angst vor saṃsāra und māyā. Sie möchten den Ozean von Geburt und Tod so schnell wie möglich überqueren. Sie blicken auf Gott und hoffen auf Hilfe, Führung und Schutz. Sie beten zu Ihm, meditieren über Ihn und singen Sein Lob. Schließlich finden sie Ihn und verschmelzen mit Ihm. Sie werden eins mit Gott.


mā nastoke tanaye mā na āyuṣi mā no goṣu mā no aśveṣu rīriṣaḥ।

vīrān mā no rudra bhāmito vadhīrhaviṣmantaḥ sadamit tvā havāmahe॥ 22॥

22. O Rudra, füge unseren Kindern und Enkeln keinen Schaden zu! Verschone unser Leben, unsere Kühe und Pferde! Erschlage nicht, in Deinem Zorn, unsere tapferen Männer! Wir rufen Dich allzeit an mit unseren Gaben.

ERLÄUTERUNG: Mā – nicht; naḥ – unsere; toke – Kinder; tanaye – Enkel; āyuṣi – in Bezug auf Leben; goṣu – Vieh; aśveṣu – Pferde, rīriṣaḥ – verletze; vīrān – tapfer; bhāmitaḥ – im Zorn; mā vadhīḥ – töte nicht; haviṣmantaḥ – mit Opfergaben; sadamit tvā – Dich immer; havāmahe – rufen an. Dies ist ein schönes Gebet für das Wohlergehen der ganzen Welt. Die Sucher sind wahrlich tapfere Helden, denn sie führen einen ständigen und furchtbaren Krieg mit dem Geist, den Sinnen, den vāsanās und alten saṃskāras. Sie begegnen vielen Hindernissen. Mit Geduld und Anstrengung überwinden sie diese, wachsam und klug. Sogar der große Weltkrieg wird nach einigen Jahren zu Ende sein, aber der innere Krieg wird lange andauern. Daher werden die Sucher als Helden angesehen, tapferer als die Heerführer. Die getöteten Soldaten werden ihr Haupt nicht mehr erheben, aber in dem inneren Krieg werden die vāsanās und die Sinne immer wieder auferstehen.

HIER ENDET DAS VIERTE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.

Pañcamo 'dhyāyaḥ (Fünftes Kapitel)


dve akṣare brahmapare tvanante vidyāvidye nihite yatra gūḍhe।

kṣaraṃ tvavidyā hyamṛtaṃ tu vidyā vidyāvidye īśate yastu so'nyaḥ॥ 1॥

1. Unwissenheit ist wahrlich sterblich. Wissen ist wahrlich unsterblich. In dem unvergänglichen und unendlichen höchsten brahman sind Wissen und Unwissenheit verborgen. Vollkommen verschieden von diesen ist brahman, der sowohl Unwissenheit als auch Wissen kontrolliert.

ERLÄUTERUNG: Dve – zwei; akṣare – in dem unsterblichen; brahmapare – in dem höchsten brahman; tu – wahrlich; anante – in dem Undendlichen; vidyāvidye – Wissen und Unwissenheit; nihite – existieren; yatra – in dem; gūḍhe – verborgen; kṣaram – sterblich, vergänglich; tu – wahrlich; avidyā – Unwissenheit; hi – wahrlich; amṛtam – unsterblich; tu – wahrlich; vidyā – Wissen; vidyāvidye – Wissen und Unwissenheit; īśate – kontrolliert; yaḥ – der; tu – wahrlich; saḥ – Er, anyaḥ – verschieden. Kṣaram – Ursache für Bindung und Unfreiheit (saṃsṛti-kāraṇam); amṛtam – Ursache für Befreiung (mokṣa-hetu). Brahman ist verschieden von Wissen und Unwissenheit. Es ist der Zeuge (sākṣī). Wissen und Unwissenheit sind nur Modifikationen des manas. Sie existieren in brahman. Brahman herrscht über sie. Brahmapare – Er, der größer als Brahmā bzw. Hiraṇyagarbha ist – das höchste brahman.


yo yoniṃ yonimadhitiṣṭhatyeko viśvāni rūpāṇi yonīśca sarvāḥ।

ṛṣiṃ prasūtaṃ kapilaṃ yastamagre jñānairbibharti jāyamānaṃ ca paśyet॥ 2॥

2. Er ist der Eine, der jedem Mutterschoß (yoni) und jeder Form vorsteht. Er schaut der Geburt des erstgeborenen Sehers von goldener Farbe (ṛṣi Kapila) zu und gibt ihm alle Arten von Wissen, am Anfang der Schöpfung.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; yoniṃ yonim – jedem Mutterschoß; adhitiṣṭhati – steht vor; ekaḥ – einer; viśvāni – alle; rūpāṇi – Formen; yonīḥ – Mutterschöße; sarvāḥ – alle; ṛṣim – den Seher; prasūtam – sieht die Geburt; kapilam – der Goldfarbene; yastamagre – der zu Beginn der Schöpfung; jñānaiḥ – mit allen Arten von Wissen; bibharti – versieht ihn; jāyamānam – geboren werdend; ca – sieht. Das höchste Selbst trägt in seinen Gedanken den weisen Sohn (Hiraṇyagarbha) wie eine Mutter und sieht auf ihn wie ein Vater, wenn er geboren wird. Der erstgeborene Seher von goldener Farbe ist Hiraṇyagarbha bzw. Brahmā, der dieses Universum erschafft. Kapila ist ein anderer Name von Hiraṇyagarbha. Hiraṇyagarbha ist ausgestattet mit vier Arten von Wissen: Tugend, Wissen der Veden, Überwindung der Wünsche (vibhūtis) und übermenschliche Kräfte (aiśvarya).


ekaika jālaṃ bahudhā vikurvannasminkṣetre saṃharatyeṣa devaḥ।

bhūyaḥ sṛṣṭvā patayastatheśaḥ sarvādhipatyaṃ kurute mahātmā॥ 3॥

3. Dieser Gott wirft ein Netz nach dem anderen aus, auf vielfältige Weise, und zieht jedes wieder ein, in jenem Feld. Wenn Er auf diese Weise die Herrscher geschaffen hat, hält er wiederum Seine Oberherrschaft über sie alle aufrecht.

ERLÄUTERUNG: Kṣetre – das Feld (oder mūla-prakṛti, ist der Same dieser Welt, auch bekannt als māyā, pradhāna, avyaktam, das Unmanifeste etc.); jālam – das Netz (des saṃsāra); ekaikam (oder pratyekam) – jedes einzelne Geschöpf (seien es Götter, Menschen, Tiere, Vögel etc. Gott erschafft vielfältige Unterschiede, z.B. Geschlecht, Art, Typ); bhūyaḥ – immer wieder, stets (bezieht sich auf die Schöpfungszyklen); patayaḥ – die Herren (bezieht sich auf die Weltenhüter, wie z.B. Marīci und andere hochrangige Seher).


sarvā diśa ūrdhvamadhaśca tiryakprakāśayanbhrājate yadvanaḍvān।

evaṃ sa devo bhagavānvareṇyo yonisvabhāvānadhitiṣṭhatyekaḥ॥ 4॥

4. So wie die Sonne strahlt und damit alle Richtungen erleuchtet, oben, unten und quer, so herrscht jener eine anbetungswürdige Gott, der Gesegnete, über alle Geschöpfe, die aus dem Mutterleib geboren werden.

ERLÄUTERUNG: Sarvāḥ – alle; diśaḥ – Richtungen; ūrdhvam – oben; adhaḥ – unten; tiryak – quer; prakāśayan – erleuchtend; bhrājate – scheint, strahlt; anaḍvān – die Sonne; evam – so; saḥ – Er; devaḥ – Gott; bhagavān – der Erhabene (Gott); vareṇyaḥ – anbetungswürdig; yoni-svabhāvān – alles, das die Natur der Ursache hat; adhitiṣṭhati – lenkt, regiert, steht vor; ekaḥ – einer. Yoni-svabhāvān ist prakṛti und alles, was sie hervorbringt, nämlich mahat (Intellekt), ahaṅ-kāra (Ego, Ichbewusstsein), manas (Geist, Denkorgan) etc. sowie alles, das ihr gleicht, nämlich die fünf Elemente, die Ihrer Ursache/Natur (prakṛti) gleichen. Yoni-svabhāvān könnte aber auch anders interpretiert werden: „Er (Brahmā), die Ursache der ganzen Welt, herrscht über die Elemente, die an seiner Natur teilhaben.“


yacca svabhāvaṃ pacati viśvayoniḥ pācyāṃśca sarvānpariṇāmayedyaḥ।

sarvametadviśvamadhitiṣṭhatyeko guṇāṃśca sarvānviniyojayed yaḥ॥ 5॥

5. Er, welcher der Ursprung der Welt ist, bringt die Natur von allem zur Reife und führt die zur Vollkommenheit, die zur Reife gebracht wurden. Er gibt allen Wesen ihre spezifischen Eigenschaften und herrscht über dieses gesamte Universum.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; ca – und; svabhāvam – seine eigene Natur; pacati – bringt zur Reife; viśvayoniḥ – der Ursprung der Welt; pācyān – die soweit sind, dass sie zur Vollkommenheit gebracht werden können; sarvān – alle; pariṇāmayet – verändert; etat – dies, viśvam – Universum; adhitiṣṭhati – regiert; ekaḥ – eins; guṇān – die Qualitäten; sarvam – alles; viniyojayet – verteilt, verleiht; yaḥ – der. Die gesamte Evolution des Universums ist allein in den Händen Gottes. Er ist der Lenker, Herrscher und der Kontrollierende. Er verteilt die Qualitäten an die passenden und dafür vorgesehenen Objekte. Er teilt die Früchte der Handlungen zu, gemäß dem Gesetz von Ursache und Wirkung (karma).


tadvedaguhyopaniṣatsu gūḍhaṃ tadbrahmā vedate brahmayonim।

ye pūrvaṃ devā ṛṣayaśca tadviduste tanmayā amṛtā vai babhūvuḥ॥ 6॥

6. Er ist verborgen in den Upanishaden, die wiederum in den Veden verborgen sind. Hiraṇyagarbha kennt Ihn als die Ursache seiner selbst (oder als die Ursache der Veden). Jene Gottheiten und Seher, die Ihn in uralten Zeiten erkannt haben, wurden eins mit ihm und wurden in der Tat unsterblich.

ERLÄUTERUNG: Tat – das; vedaguhyopaniṣatsu – in den Upanishaden, die in den Veden verborgen sind; gūḍham – ist verborgen; tat brahmā – jener Brahmā bzw. Hiraṇyagarbha; vedate – weiß; brahma-yonim – als die Quelle seiner selbst/ der Veden; ye – die; pūrvam – in alten Zeiten; devāḥ – die Gottheiten; ṛṣayaḥ – die Seher; tat – das; viduḥ – verwirklichten, erkannten; te – sie; tanmayāḥ – wurden identisch mit Ihm; amṛtāḥ – unsterblich; vai – wahrhaftig; babhūvuḥ – sie wurden. Die Erkenntnis der Identität der individuellen Seele mit dem höchsten Selbst führt zur Unsterblichkeit und zu mokṣa.


guṇānvayo yaḥ phalakarmakartā kṛtasya tasyaiva sa copabhoktā।

sa viśvarūpastriguṇastrivartmā prāṇādhipaḥ saṃcarati svakarmabhiḥ॥ 7॥

7. Der, der an den Eigenschaften (guṇas) verhaftet ist, vollbringt Handlungen mit Blick auf deren Früchte und genießt dann die Früchte seiner Handlungen. Obwohl er in Wahrheit der Herrscher des Lebens ist, wird er durch die drei guṇas gebunden, nimmt verschiedene Formen an und wandert, aufgrund seiner eigenen Handlungen, entlang der drei Pfade.

ERLÄUTERUNG: Guṇānvayaḥ – den Eigenschaften/Qualitäten verhaftet; yaḥ – der; phala-karma-kartā – vollbringt Handlungen, um deren Früchte zu bekommen; kṛtasya tasya – seiner eigenen Handlungen; upabhoktā – Genießender, Erfahrender; saḥ – er; viśvarūpaḥ – nimmt verschiedene Formen an; tri-guṇaḥ – gebunden durch die drei Eigenschaften/Qualitäten; tri-vartmā – durch die drei Pfade; prāṇādhipaḥ – der Herrscher des Lebens; sañcarati – wandert; sva-karma-bhiḥ – aufgrund seiner eigenen Handlungen. Die drei Pfade sind dharma (Tugend), adharma (Laster) und jñāna (Wissen). Es könnten aber auch die drei Pfade gemeint sein, denen die Seele nach dem Tod folgen kann: deva-yāna (der Weg der Götter), pitṛ-yāna (der Weg der Vorväter) und tiryaṅ-mārga (der Pfad [mārga] der niedrigen/rückgängigen [tiryañc] Geburten).


aṅguṣṭhamātro ravitulyarūpaḥ saṅkalpāhaṅkārasamanvito yaḥ।

buddherguṇenātmaguṇena caiva ārāgramātro hyaparo'pi dṛṣṭaḥ॥ 8॥

8. Fein wie die Spitze einer Ahle, strahlend wie die Sonne, wird Er doch wahrgenommen als etwas anderes (verschieden von der universalen Seele), das die Größe eines Daumens, ein Ich und einen Willen (saṅkalpa) hat. Das geschieht durch die Begrenzungen des Intellekts und des Herzens.

ERLÄUTERUNG: aṅguṣṭhamātraḥ – von der Größe eines Daumens; ravitulyarūpaḥ – strahlend wie die Sonne; saṅkalpāhaṅkāra-samanvitaḥ – versehen mit Ego und Willen; buddherguṇenātmaguṇena caiva – auch aufgrund der Begrenzungen des Intellekts und des Herzens; ārāgramātraḥ – wie die Spitze einer Ahle (Nadel); aparaḥ – ein anderes (die individuelle Seele); api – auch; dṛṣṭaḥ – wird wahrgenommen. Das reine, alldurchdringende brahman wird wahrgenommen als Mensch oder Einzelseele, mit Wille und Ichbewusstsein, mit Intellekt und Körper. Das geschieht durch das begrenzende Prinzip der Unwissenheit. Intellekt, Herz, manas, Körper, Ego – all das sind Modifikationen oder Auswirkungen von avidyā (Unwissenheit). Wenn diese Begrenzungen transzendiert werden, verschmilzt die Seele mit brahman, wird eins mit Ihm und wird selbst brahman. Avidyā wirkt durch die drei guṇas. Man sollte die drei guṇas überwinden. Nur dann kann man mit dem höchsten Wesen eins werden. Das Überwinden der guṇas bedeutet: Zerstören der Unwissenheit und der Begrenzungen des Menschen.


vālāgraśatabhāgasya śatadhā kalpitasya ca।

bhāgo jīvaḥ sa vijñeyaḥ sa cānantyāya kalpate॥ 9॥

9. Die individuelle Seele ist so fein wie der hundertste Teil einer Haarspitze, und das noch durch Hundert geteilt. Und doch ist sie (in ihrer Essenz) unendlich. Sie sollte gekannt werden.

ERLÄUTERUNG: Vālāgraśatabhāgasya – wie der hundertste Teil einer Haarspitze; śatadhā kalpitasya ca – und das geteilt durch Hundert; bhāgaḥ – Teil; jīvaḥ – die Einzelseele; saḥ – die; vijñeyaḥ – sollte gekannt werden; saḥ – sie; ānantyāya – für/zu Unendlichkeit; kalpate – ist fähig. Der ātman ist außerordentlich subtil und feinstofflich (ati-sūkṣma).

bahirantaśca bhūtānām acaraṃ carameva ca sūkṣmatvāttadavijñeyaṃ dūrasthaṃ cāntike ca tat

„(Dieser ātman ist) außerhalb und innerhalb aller beweglichen und unbeweglichen Wesen. Wegen Seiner Feinstofflichkeit ist Er nicht zu erkennen. Er ist (zugleich) ganz nahe und ganz weit weg.“ (Bhagavad-Gītā, 13.15)

Um dieses subtile ātma-tattva zu erkennen, braucht es einen reinen, feinsinnigen und scharfen Intellekt.

eṣa sarveṣu bhūteṣu gūḍhotmā na prakāśate ।

dṛśyate tvagryayā buddhyā sūkṣmayā sūkṣmadarśibhiḥ ॥

„Dieser ātman ist verborgen in allen Wesen und ist nicht äußerlich sichtbar (leuchtet nicht), kann aber von denen, die einen scharfen und subtilen Intellekt haben, gesehen werden.“ [Kaṭha-Upaniṣad, 3.12]


naiva strī na pumāneṣa na caivāyaṃ napuṃsakaḥ।

yadyaccharīramādatte tene tene sa yujyate॥ 10॥

10. Er ist weder weiblich noch männlich noch neutral. Welchen Körper er auch immer annimmt, mit dem verbindet oder identifiziert er sich.

ERLÄUTERUNG: Naiva strī – nicht weiblich; na pumān – nicht männlich; eṣaḥ – dieser; na – nicht; caivāyam – auch nicht; napuṃsakaḥ – neutral; yat yat – was auch immer; śarīram – Körper; ādatte – annimmt; tena tena – mit jedem von denen; yujyate – wird verbunden. Das Geschlecht bezieht sich nur auf den physischen Körper. Wie könnte sich Geschlechtszugehörigkeit an dem alldurchdringenden, unendlichen, körperlosen, gliedlosen, reinen ātman zeigen, dem höchsten Selbst?


saṅkalpanasparśanadṛṣṭimohairgrāsāmbuvṛṣṭyā cātmavivṛddhijanma।

karmānugānyanukrameṇa dehī sthāneṣu rūpāṇyabhisamprapadyate॥ 11॥

11. Durch Gedanken, Kontakte, Sehen und Täuschung nimmt die verkörperte Seele nacheinander an verschiedenen Orten verschiedene Formen an – abhängig von ihren Handlungen – so wie der Körper durch Essen und Trinken wächst.

ERLÄUTERUNG: Saṅkalpana-sparśana-dṛṣṭi-mohaiḥ – durch Gedanken, Kontakt, Sehen und Täuschung; grāsāmbuvṛṣṭyā – durch Schauer von Nahrung und Getränken; ātmāvivṛddhijanma – das Wachstum des Körpers; karmānugānyanu-krameṇa –nacheinander in Abhängigkeit von seinen Handlungen; dehī – die verkörperte Seele; sthāneṣu – an verschiedenen Orten; rūpāṇi – Formen; abhisamprapadyate – nimmt an. So wie Essen und Trinken das Wachstum des Körpers fördern, so tragen die verschiedenen Handlungen zum Wachstum der Seele bei. Der Mensch entwickelt sich schnell durch gute Handlungen. Rechtmäßige Handlungen reinigen das Herz. Essen und Trinken nähren den Körper. Gute Taten nähren die Seele.


sthūlāni sūkṣmāṇi bahūni caiva rūpāṇi dehī svaguṇairvṛṇoti।

kriyāguṇairātmaguṇaiśca teṣāṃ saṃyogaheturaparo'pi dṛṣṭaḥ॥ 12॥

12. Die inkarnierte Seele nimmt viele Formen an, grob und fein, entsprechend ihrer eigenen Qualitäten, der Qualität ihrer Taten und der ihres Geistes. Die Ursache der Verbindung mit diesen Formen ist noch eine andere.

ERLÄUTERUNG: Sthūlāni – grob; sūkṣmāṇi – fein; bahūni – viele; caiva – und auch; rūpāṇi – Formen; dehī – die inkarnierte Seele; svagūṇaiḥ – durch die eigenen Qualitäten; vṛṇoti – wählt oder übernimmt; kriyāguṇaiḥ – durch die Qualitäten der Handlungen; ātmaguṇaiḥ – durch die Qualitäten des Geistes; teṣām – ihr; saṁyoga-hetuḥ – die Ursache der Vereinigung; aparaḥ – eine andere; api – auch; dṛṣṭaḥ – ist gefunden. Die eigenen Qualitäten sind die des Körpers. Der Mensch nimmt einen neuen Körper an – entsprechend der Qualitäten seines vorangegangenen Körpers, Geistes und seiner Handlungen. Er wählt einen Körper entsprechend den Eindrücken, die durch seine früheren Handlungen in seinem früheren Körper zurückgeblieben sind. Die Ursache der Vereinigung mit dem Körper ist Gott.


anādyanantaṃ kalilasya madhye viśvasya sraṣṭāramanekarūpam।

viśvasyaikaṃ pariveṣṭitāraṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 13॥

13. Wer Ihn kennt, der keinen Anfang und kein Ende hat, der die Welt inmitten des Chaos schafft, der verschiedene Formen annimmt und der das Universum umhüllt, der wird von allen Fesseln befreit.

ERLÄUTERUNG: Anādyanantam – ohne Anfang und Ende; kalilasya – des Chaos; madhye – in der Mitte; viśvasya – der Welt; sraṣṭāram – Schöpfer; anekarūpam – der verschiedene Formen annimmt; viśvasya – des Universums; ekam – eins; pariveṣṭitāram – der umhüllt; jñātvā – gewusst habend, devam – Gott; mucyate – befreit sich selbst; sarvapāśaiḥ – von allen Fesseln. (Vgl. 3.7 und 4.14, 16)


bhāvagrāhyamanīḍākhyaṃ bhāvābhāvakaraṃ śivam।

kalāsargakaraṃ devaṃ ye viduste jahustanum॥ 14॥

14. Jene, die den Gott kennen, der durch unmittelbare intuitive Wahrnehmung verwirklicht werden muss, der ohne Körper ist, der die Ursache von Existenz und Nichtexistenz ist, der allgesegnet und die Ursache der (sechzehn) Teile ist, sind befreit von erneuter Verkörperung.

ERLÄUTERUNG: Bhāvagrāhyam – durch direkte intuitive Wahrnehmung zu verwirklichen; anīḍākhyam – der ohne Körper, nichtmateriell ist; bhāvābhāvakaram – der die Ursache von Existenz und Nichtexistenz ist; śivam – der Allgesegnete; kalāsargakaram – „der die Ursache des Entstehens der sechzehn Teile (kalā) ist“/ „der durch seine innewohnende Kraft erschafft“/ „der die Veden und andere Wissenschaften erschafft“; devam – Gott; ye – die; viduḥ – wissen, te – die; jahuḥ – geben auf; tanum – Körper. Die sechzehn kalās sind: prāṇa (Lebensatem), śraddhā (Glaube), kha (hier: Äther), vāyu (Wind), jyoti (Feuer, Licht), apa (Wasser), pṛthvī (Erde), indriyas (Organe), manas (Verstand, Geist etc.), anna (Nahrung), vīrya (männlicher Same), tapas (Askese), mantra (heiliger Vers), karma (Handlung), kāla (Zeit) und nāma (Name).

HIER ENDET DAS FÜNFTE KAPITEL DER ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.

Ṣaṣṭho 'dhyāyaḥ (Sechstes Kapitel)


svabhāvameke kavayo vadanti kālaṃ tathānye parimuhyamānāḥ।

devasyaiṣa mahimā tu loke yenedaṃ bhrāmyate brahmacakram॥ 1॥

1. Einige verwirrte Denker sagen, dass die Natur die Ursache des Universums ist, andere sprechen von der Zeit als Ursache. Es ist aber in Wahrheit die Herrlichkeit Gottes, durch die sich dieses Rad brahmans bewegt und dreht.

ERLÄUTERUNG: Svabhāvam – Natur; eke – einige; kavayaḥ – Denker; vadanti – sagen; kālam – Zeit; tathā – auch; anye – andere; parimuhyamānāḥ – verwirrte, getäuschte; devasya – Gottes; mahimā – Größe; tu – in der Tat; loke – in der Welt; yena – durch das; idam – dieses; bhrāmyate – wir gedreht; brahma-cakram – das Rad brahmans. (siehe auch Seite 445f., 1.4) Das brahman-Rad wird durch die Größe Gottes bewegt. Gott steht hinter allen Naturphänomenen. Gott ist die eigentliche Kraft hinter allem. Er ist der Herr der māyā, der Natur. Es sind nur die verwirrten und in der Täuschung lebenden Denker, die die Natur oder die Zeit als die erste Ursache dieses Universums ansehen.


yenāvṛtaṃ nityamidaṃ hi sarvaṃ jñaḥ kālakāro guṇī sarvavidyaḥ।

teneśitaṃ karma vivartate ha pṛthivyaptejo'nilakhāni cintyam॥ 2॥

2. Es ist unter dem Befehl dessen, der ewig diese Welt durchdringt, der allwissend ist, der Schöpfer der Zeit, der Schöpfer der guṇas, alles überblickend, dass dieses Werk (die Schöpfung) sich entfaltet, das man als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther bezeichnet.

ERLÄUTERUNG: Yena – durch den; āvṛtam – durchdrungen; nityam – ewig; idam – dieses; hi – in der Tat; sarvam – alles; jñaḥ – allwissend; kāla-kāro guṇī – Schöpfer/Ursache/Quelle von Zeit und Eigenschaften; sarvavit – allwissend; yaḥ – der; tena – durch Ihn; īśitam – beherrscht, gelenkt; karma – Werk (die Schöpfung); vivartate – entfaltet; pṛthivyaptejo'nilakhāni – als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther; cintyam – wird genannt bzw. gedacht als. Mit dem Wort vivartate wird hier der Vivarta-Vāda von Śaṅkara angedeutet: Brahman erscheint als die Welt, ohne in Wahrheit selbst einer Veränderung unterworfen zu sein – so wie das auf dem Boden liegende Seil als Schlange erscheint.


tatkarma kṛtvā vinivartya bhūyastattvasya tattvena sametya yogam।

ekena dvābhyāṃ tribhiraṣṭabhirvā kālena caivātmaguṇaiśca sūkṣmaiḥ॥ 3॥

3. Er schafft diese Welt und ruht dann wieder, nachdem er eine Einheit eingegangen ist mit einem Prinzip (tattva) nach dem anderen, mit einem, mit zweien, mit dreien oder mit acht, und auch mit der Zeit und mit den subtilen Qualitäten des Geistes.

ERLÄUTERUNG: Tatkarma – Schöpfung; kṛtvā – hervorgebracht habend; vinivartya – zieht sich zurück; bhūyaḥ – wieder; tattvasya – des Prinzips; tattvena – mit den Prinzipien; sametya – eingegangen seiend; yogam – Einheit; ekena – mit einem; dvābhyām – mit zwei; tribhiḥ – mit drei; aṣṭabhiḥ – mit acht; vā – oder; kālena – mit der Zeit; ca – und; eva – allein, wahrlich; ātmaguṇaiḥ – Qualitäten des Geistes (Liebe, Ärger etc.); sūkṣmaiḥ – subtil. Gott erschafft dieses Universum und bleibt dann der stille Zeuge. Das bedeutet für Gott ein „Ruhen“. Er wird von dem Prozess dieser Welt in keiner Weise berührt. Er bleibt ganz unverhaftet, wie der Äther, und unterstützt doch alles.

sarvendriyaguṇābhāsaṃ sarvendriyavivarjitam asaktaṃ sarvabhṛccaiva nirguṇaṃ guṇabhoktṛ ca

„Durch die Funktion aller Sinne strahlend und doch ohne Sinne; unverhaftet und doch alles tragend; ohne Eigenschaften und doch der, der sie erfährt,“ (Bhagavad-Gītā, 13.15)

Die acht Prinzipien sind die acht Erzeuger der sāṅkhyas: avyaktam (das Unmanifestierte und die Wurzel von allem), der Intellekt, das Ego und die fünf tan-mātras (subtilsten Urelemente) – oder: die fünf Elemente, der manas, der Intellekt und das Ego. Prinzip eins ist avyaktam (bzw. prakṛti) und mit der Seele verbunden; Prinzip zwei sind avyaktam und Intellekt; Prinzip drei sind avyaktam, Intellekt und Ego. Es gibt noch eine andere Interpretation: Prinzip eins ist avidyā (Unwissenheit); Prinzip zwei sind dharma und adharma (Richtig und Falsch); rāga und dveṣa (Wünsche und Abneigungen); Prinzip drei sind die drei Körper (physisch, subtil, kausal), guṇas (tamas, rajas, sattva), avasthās (Wachen, Träumen, Tiefschlaf) oder das Raum-Zeit-Kontinuum (Zeit, Raum und Kausalität).


ārabhya karmāṇi guṇānvitāni bhāvāṃśca sarvānviniyojayedyaḥ।

teṣāmabhāve kṛtakarmanāśaḥ karmakṣaye yāti sa tattvato'nyaḥ॥ 4॥

4. Er bestimmt den Beginn der Schöpfung, verbunden mit den drei guṇas und ordnet alle Dinge. Er verursacht die Zerstörung des Werkes, wenn die guṇas nicht mehr wirken, und Er bleibt allein für sich, in seiner Essenz, nach der Zerstörung.

ERLÄUTERUNG: Ārabhya – beginnend; karmāṇi – Schöpfung; guṇānvitāni – verbunden mit den guṇas; bhāvān – Dinge; ca – und; sarvāni – alle; viniyojayet – ordnet und lenkt; yaḥ – der; teṣām – ihr; abhāve – Abwesenheit; kṛtakarmanāśaḥ – verursacht die Zerstörung des Werkes; karmakṣaye – nach der Zerstörung; yāti bleibt; saḥ – Er; tattvataḥ – in Seiner Essenz; anyaḥ – anders. Dieser Vers ist nicht ganz eindeutig, denn er wird auch folgendermaßen interpretiert: „Wer immer seine Werke Gott hingibt und Ihm opfert, versehen mit ihren Qualitäten, ist befreit von dem Kreislauf von Geburt und Tod, wenn die Folgen seiner Taten durch Nichtanhaftung zerstört sind. Er wird nicht länger von den Auswirkungen seiner Handlungen berührt.“ Śaṅkaras Interpretation dazu lautet: „Wenn seine Taten zerstört und seine Natur gereinigt ist, bewegt sich der Mensch weiter, abgetrennt von allen Dingen (tattva) und von den Auswirkungen der Unwissenheit. Er weiß, dass er brahman ist.“ Oder falls wir anyad („verschieden von“) lesen, heißt es: „Er geht zu brahman, der verschieden ist von allen Dingen bzw. von allen Prinzipien der Natur, d.h. er wird wie brahman.“ Wenn die Unwissenheit zerstört ist, hört die Arbeit, die ein Mensch tut, auf. Wenn seine Arbeit endet, wird die Seele frei vom saṃsāra, weil er in Wahrheit ein anderer ist, nämlich verschieden von Unwissenheit und deren Produkten. Vijñānātma (der Autor von Tātparyārthadyotinī, ein Kommentar zum Pañca-pādikā) sagt: „Wenn ein Mensch, nachdem er seine Taten vollbracht hat, sich von ihnen abwendet und Einheit des einen tattva (des tvam, des Selbst) mit dem wahren tattva (dem Das, Gott) gewinnt, dann wird er frei. Die Werkzeuge dazu sind: (1) die Lehren des guru, (2) die Liebe zum guru und zum Gott, (3) Hören (śravaṇa), Erinnern (manana) und tiefe Meditation (nididhyāsana); weiterhin die folgenden acht Dinge: Selbstbeherrschung, Askese, Körperhaltungen (āsanas), Atemkontrolle (prāṇāyāma), Zurückziehen der Sinne, Konzentration, Meditation und samādhi. Weiterhin: die Zeit (die rechte Zeit für die Tätigkeit), tugendhafte Charaktereigenschaften, z.B. Mitgefühl etc., und Hunger nach Wissen.“ Teṣām abhāve – in Abwesenheit der guṇas. Wenn die drei guṇas im Gleichgewicht sind (guṇa-sāmyāvasthā), dann kommt es zur Auflösung (pralaya), oder „Involution“, der Welt. Wenn das Gleichgewicht gestört ist (viṣamāvasthā), dann entsteht die Schöpfung.


ādiḥ sa saṃyoganimittahetuḥ parastrikālādakalo'pi dṛṣṭaḥ।

taṃ viśvarūpaṃ bhavabhūtamīḍyaṃ devaṃ svacittasthamupāsya pūrvam॥ 5॥

5. Er ist der Beginn, Er ist die erste Ursache der Verbindung von Körper und Seele. Er ist jenseits der drei Unterteilungen der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und Er ist überhaupt ohne Teile. Der anbetungswürdige Gott, der als die Welt erscheint, der die wahre Quelle aller Geschöpfe ist und im eigenen Herzen wohnt, wird erfahren durch den, der Ihn vorher in seinem Herzen verehrt und vergegenwärtigt hat.

ERLÄUTERUNG: Ādiḥ – Beginn; saḥ – Er; saṃyoganimittahetuḥ – die Ursache der Vereinigung; paras trikālāt – jenseits der drei Unterteilungen der Zeit; akalaḥ – ohne Teile; api – auch; dṛṣṭaḥ – wird gesehen; tam – Ihn; viśvarūpam – der als das Universum erscheint; bhavabhūtam – die wahre Quelle aller Geschöpfe; īḍyam – anbetungswürdig; devam – Gott; svacittastham – wohnend im eigenen Herzen; upāsya – meditiert habend; pūrvam – vorher. Dieses Universum ist ganz und gar eine Manifestation Gottes. Es ist der Körper von virāṭ (Makrokosmos). Er ist die erste Ursache der Vereinigung von Geist und Materie. Er ist jenseits der drei Zeiten und Er ist auch ohne Zeit (akāla). Er ist ohne Teile und unteilbar (akhaṇḍa). Wer vorher upāsana oder Verehrung geübt hat, erreicht jñāna oder Wissen um brahman. Bhakti führt zu Wissen. Para-bhakti und jñāna sind eins. Der unsterbliche ātman wohnt unmittelbar im eigenen Herzen. Er ist das innerste Selbst aller Wesen. Er ist der antar-yāmī (der innere Lenker).


sa vṛkṣakālākṛtibhiḥ paro'nyo yasmātprapañcaḥ parivartate'yam।

dharmāvahaṃ pāpanudaṃ bhageśaṃ jñātvātmasthamamṛtaṃ viśvadhāma॥ 6॥

6. Er transzendiert den Weltenbaum, die Zeit und die Form. Er ist es, aus dem das Universum hervortritt. Er ist die Quelle aller Tugenden, der Zerstörer aller Sünden, der Meister aller guten Eigenschaften. Erkenne Ihn als das eigene Selbst, als den unsterblichen Urgrund des ganzen Universums.

ERLÄUTERUNG: Saḥ – Er; vṛkṣakālākṛtibhiḥ paraḥ – den Baum des saṃsāra transzendierend sowie auch Zeit und Form; anyaḥ – anders; yasmāt – von dem; pra-pañcaḥ – Universum; parivartate – tritt hervor; ayam – dieses; dharmāvaham – die Quelle aller Tugenden; pāpanudam – der Zerstörer aller Sünden; bhageśam – Meister aller guten Eigenschaften; jñātvā – erkannt habend; ātmastham – im eigenen Herzen wohnend; amṛtam – unsterblich; viśvadhāma – der Wohnsitz des Universums. Die Welt ist der Baum des saṃsāra bzw. māyā. Die Beschreibung des Baumes finden wir in der Kaṭha-Upaniṣad (6.1) und in der Bhagavad-Gītā (15.1). Er wird als Das erkannt, wenn man Ihn verehrt hat oder Ihn in sich selbst erkannt hat. Das Universum bewegt sich in Zyklen: von Erschaffung über Erhaltung zu Zerstörung und von dort wieder zur Schöpfung etc. Er etabliert die Tugenden, Er zerstört das Böse, Er ist der Gott aller Herrlichkeiten und aller Fülle. Er wohnt in unserem eigenen Selbst und ist unsterblich – wer Ihn als solchen erkennt, gewinnt etwas, das anders ist als die materiellen Prinzipien der Schöpfung.


   tamīśvarāṇāṃ paramaṃ maheśvaraṃ taṃ devatānāṃ paramaṃ ca daivatam।  
   patiṃ patīnāṃ paramaṃ parastādvidāma devaṃ bhuvaneśamīḍyam॥ 7॥

7. Mögen wir Ihn erkennen, den transzendenten und anbetungswürdigen Lenker der Welt, der der große, höchste Gott aller Götter ist, die höchste Gottheit aller Gottheiten und der höchste Gebieter aller Gebieter.

ERLÄUTERUNG: Tam – Ihn; īśvarāṇām paramam maheśvaram – der große, höchste Gott der Götter; tam – Ihn; devatānām paramam ca daivatam – die höchste Gottheit aller Gottheiten; patīnām paramam patim – der höchste Gebieter aller Gebieter; parastāt – transzendent; vidāma – mögen wir erkennen; devam – Gottheit; bhuvaneśam – den Lenker der Welt; īḍyam – anbetungswürdig. Die Götter sind Brahmā, Viṣṇu, Rudra, Vaivasvata, Yama u.a. Die Gottheiten sind Indra, Agni, Varuṇa u.A. Die Regierenden sind die prajāpatis, z.B. Kasyapa, Hiraṇyagarbha etc.


na tasya kāryaṃ karaṇaṃ ca vidyate na tatsamaścābhyadhikaśca dṛśyate।

parāsya śaktirvividhaiva śrūyate svābhāvikī jñānabalakriyā ca॥ 8॥

8. Bei ihm gibt es keine Wirkung und keine Ursache. Wir sehen keinen, der Ihm gleich wäre oder gar über Ihm stünde. Seine große Macht und Kraft wird (in den Veden) als vielfältig beschrieben. Sein Wissen, Seine Stärke und Seine Handlungen werden als zu Seiner Natur gehörig beschrieben.

ERLÄUTERUNG: Na – nicht; tasya – Seine; kāryam – Wirkung; karaṇam – Ursache; ca – und; dṛśyate – wird gesehen; asya – Seine; parā śaktiḥ – große Kraft; vividhā – vielfältig; śrūyate – wird erklärt; svābhāvikī – natürlich; ca – und. Für Ihn gibt es keine Wirkung (kāryam) und keine Ursache (karaṇam). Mit „Wirkung“ ist der Körper gemeint, mit „Ursache“ die Organe.


na tasya kaścitpatirasti loke na ceśitā naiva ca tasya liṅgam।

sa kāraṇaṃ karaṇādhipādhipo na cāsya kaścijjanitā na cādhipaḥ॥ 9॥

9. Es gibt keinen Gebieter über Ihn in dieser Welt, keinen, der über Ihn herrscht, und es gibt nicht einmal ein Zeichen von Ihm (durch das Er erschlossen werden könnte). Er ist die Ursache, der Herrscher über die Vorsteher der Organe. Er hat keinen Erzeuger und es gibt auch niemanden, der Sein Gebieter wäre.

ERLÄUTERUNG: Na – nicht; tasya – von Ihm; kaścit – irgendein; patiḥ – Herr; asti – ist; loke – in dieser Welt; na – nicht; īśitā –Herrscher; na eva – es gibt nicht; tasya – von Ihm; liṅgam – Zeichen; saḥ – Er; kāraṇam – Ursache; karaṇādhipa-adhipaḥ – das Oberhaupt der Organe; na – nicht; ca asya – und Sein; kaścit-janitā – irgendein Erzeuger, na ca – noch; adhipaḥ – Herrscher, Oberhaupt. Ein liṅga ist ein Zeichen, ein Merkmal, aus dem Seine Existenz erschlossen werden könnte. Wenn es ein solches Zeichen gäbe, wäre da keine Notwendigkeit für die Veden, Ihn zu offenbaren. Er ist jenseits von Logik und Schlussfolgerung. Die Existenz Gottes kann nicht mit Logik bewiesen werden. Er kann nur intuitiv in samādhi wahrgenommen werden, durch das Auge der Weisheit, d.h. durch brahmakāra-vṛtti (ständiges Denken an brahman).


yastantunābha iva tantubhiḥ pradhānajaiḥ svabhāvataḥ।

deva ekaḥ svamāvṛṇoti sa no dadhādbrahmāpyayam॥ 10॥

10. Möge jener alleinige Gott, der sich – ganz aus sich selbst heraus – mit dem Hervorgebrachten der prakṛti, der Natur, umhüllt – so wie eine Spinne sich mit ihren eigenen Fäden einwickelt (die aus ihrem Nabel kommen) – möge dieser Gott uns die Einheit mit brahman gewähren.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; tantunābhaḥ – Spinne; iva – wie; tantu-bhiḥ – mit Fäden; pradhānajaiḥ – mit den Produkten der prakṛti (Urnatur); sva-bhāvataḥ – spontan; devaḥ – Gott; ekaḥ – einer; āvṛṇoti – bedeckt, umhüllt; saḥ – Er; naḥ – uns; dadhāt – möge gewähren; brahmāpyayam – Einheit mit brah⁠man, d.i. brahman-apyayam (in das Absolute eingehen), ekībhāvam (das Einswerden). Pradhāna ist ein anderer Name für avyaktam, mūla-prakṛti oder māyā, also die erste Ursache und der Same der Welt.


eko devaḥ sarvabhūteṣu gūḍhaḥ sarvavyāpī sarvabhūtāntarātmā।

karmādhyakṣaḥ sarvabhūtādhivāsaḥ sākṣī cetā kevalo nirguṇaśca॥ 11॥

11. Gott ist einer und Er ist verborgen in allen Wesen. Er durchdringt alles und ist die innere Seele von allen. Er überwacht alle Handlungen; alle Wesen leben in Ihm. Er ist der Zeuge und Er ist reines Bewusstsein. Er steht für sich allein und ist frei von allen Eigenschaften.

ERLÄUTERUNG: Ekaḥ – eins; devaḥ – Gott; sarvabhūteṣu – in allen Wesen; gūḍhaḥ – verborgen; sarvavyāpī – durchdringt alles; sarvabhūtāntarātmā – die innere Seele aller Wesen; karmādhyakṣaḥ – überwacht alle Handlungen; sarvabhūta-adhivāsaḥ – alle Wesen wohnen und leben in Ihm; sākṣī – der Zeuge; cetā – reines Bewusstsein; kevalaḥ – allein; nirguṇaḥ – ohne Qualitäten; ca – und. Gott ist verborgen in allen Wesen, so wie Feuer im Holz, Butter in der Milch. Er ist die Wohnstätte für alle Wesen. Er ist frei von der Dreiheit der Qualitäten sattva (Güte, Reinheit, Harmonie), rajas (Aktivität, Leidenschaft) und tamas (Dunkelheit, Trägheit).


eko vaśī niṣkriyāṇāṃ bahūnāmekaṃ bījaṃ bahudhā yaḥ karoti।

tamātmasthaṃ ye'nupaśyanti dhīrāsteṣāṃ sukhaṃ śāśvataṃ netareṣām॥ 12॥

12. Er ist der eine Gebieter der Vielen, die nicht wirklich selbst handeln. Er vervielfältigt den einen Samen. Die Weisen, die Ihn in ihrem eigenen Selbst wahrnehmen, erfahren ewige Glückseligkeit; andere nicht.

ERLÄUTERUNG: Ekaḥ – der eine; vaśī – Gebieter, Herrscher; niṣkriyāṇām – ohne Handlung; bahūnām – der Vielen; ekam – einer; bījam – Samen; bahudhā – viele; yaḥ – der; karoti – macht; tam – Ihn; ātmastham – in ihrem eigenen Selbst wohnend; ye – die; anupaśyanti – nehmen wahr; dhīrāḥ – die Weisen; teṣām – ihnen; sukham – Glück; śāśvatam – ewig; na itareṣām – nicht den anderen. Die Handlungen der Lebewesen werden durch ihre Organe ausgeführt. Sie berühren nicht das höchste Wesen, das immer untätig (niṣkriya) und immer der stille Zeuge (sākṣī) bleibt. Nur die Natur ist aktiv. Die Seele ist der Zuschauer; sie sieht den Aktivitäten der prakṛti (Urnatur) zu. (Vgl. Kaṭha-Upaniṣad, 5.12-13) Bījam (Same) – ist avyaktam bzw. mūla-prakṛti, aus dem sich alles entwickelt. Die Organe, der manas, der Intellekt etc. bekommen ihre Kraft nur von Gott. Er kontrolliert alle Handlungsorgane, manas und individuellen Seelen.


nityo nityānāṃ cetanaścetanānāmeko bahūnāṃ yo vidadhāti kāmān।

tatkāraṇaṃ sāṃkhyayogādhigamyaṃ jñātvā devaṃ mucyate sarvapāśaiḥ॥ 13॥

13. Er ist der Ewige in allen Ewigen und der Intelligente in allen Intelligenten. Obwohl eins, gewährt Er doch die Wünsche der Vielen. Wer Ihn erkannt hat, der die Ursache von allem ist und der durch sāṅkhya(-Philosophie) und Yoga zu begreifen ist, ist frei von allen Fesseln.

ERLÄUTERUNG: Nityaḥ – ewig; nityānām – der Ewigen; cetanaḥ – der Intelligente, cetanānām – der Intelligenten; ekaḥ – einer; bahūnām – der Vielen; yaḥ – der; vidadhāti – gewährt; kāmān – Wünsche; tatkāraṇam – jenen Grund; sāṃkhya-yogādhigamyam – zu begreifen durch sāṅkhya(-Philosophie) und Yoga; jñātvā – erkannt habend; devam – Gott; mucyate – wird frei; sarva-pāśaiḥ – von allen Fesseln. „Ewig“ (nityaḥ) mag sich auf die Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther beziehen. Diese werden von vielen Menschen und einigen Philosophen als ewig angesehen. Aber in Wahrheit ist das Absolute (brahman) die einzig ewige Substanz (vastu). Cetanaścetanānām – die Sinne, der manas und der Intellekt erscheinen als intelligent. Aber sie borgen ihre Intelligenz von brahman, das die einzig intelligente Entität ist. Nur Gott teilt die Früchte der Handlungen allen Einzelseelen zu. Zunächst sollte man ein umfassendes Verständnis von brahman gewinnen – durch das Studium der Upanishaden (parokṣa-brahma-jñāna). Man sollte yama (Selbstkontrolle, Askese) und niyama (religiöse/ethische Regeln) praktizieren und Sinne und Geist disziplinieren. Dann sollte man stetige und regelmäßige Meditation üben und dadurch eine intuitive Wahrnehmung von brahman gewinnen. Erst dann kann man von allen Fesseln und Bindungen befreit werden. Die Fesseln sind avidyā (Unwissenheit), kāma (Wunsch) und karma (Handlung).


na tatra sūryo bhāti na candratārakaṃ nemā vidyuto bhānti kuto'yamagniḥ।

tameva bhāntamanubhāti sarvaṃ tasya bhāsā sarvamidaṃ vibhāti॥ 14॥

14. Die Sonne scheint dort nicht, noch der Mond und auch nicht die Sterne. Dort leuchten diese Blitze nicht; und wie sollte das Feuer dort scheinen? Wenn Er leuchtet, leuchtet alles nach Ihm. Durch Sein Licht leuchtet all dies.

ERLÄUTERUNG: Na – nicht; tatra – dort; sūryaḥ – die Sonne; bhāti – scheint; na – nicht; candratārakam – Mond und Sterne; na – nicht; imāḥ – diese; vidyutaḥ – Blitze; bhānti – scheinen; kutaḥ – wo; ayam – dieses; agniḥ – Feuer; tam – Er; eva – allein; bhāntam – scheinend; anubhāti – scheint; sarvam – alles; tasya – Sein; bhāsā – Licht; sarvam – alles; idam – dies; vibhāti – scheint.

(Siehe Kaṭha-Upaniṣad, 5.15; Muṇḍaka-Upaniṣad, 2.2.10; Bhagavad-Gītā, 15.6)

„Licht“ bedeutet hier „Wissen“. Das Auge ist ein Licht. Man gewinnt durch das Auge Wissen über diese Welt. Das Ohr ist ein Licht. Man hört Klänge und durch Klänge erhält man artha und jñāna. Auch buddhi (Intellekt) ist ein Licht und man gewinnt Wissen durch den Intellekt. Alle Sinne, der manas und der Intellekt erhalten ihre Kraft und das Wissen von brahman, Quelle und Ursprung allen Wissens.


eko haṃso bhuvanasyāsya madhye sa evāgniḥ salile saṃniviṣṭaḥ।

tameva viditvā'ti mṛtyumeti nānyaḥ panthā vidyate'yanāya॥ 15॥

15. Er ist die eine Seele (haṃsa), der Zerstörer der Unwissenheit inmitten dieser Welt. Er allein ist das Feuer, das im Wasser enthalten ist. Wenn man Ihn wahrhaft kennt, überwindet man den Tod. Es gibt keinen anderen Weg zur Befreiung.

ERLÄUTERUNG: Die letzten beiden Zeilen finden wir auch in Kapitel 3 Vers 8. Ekaḥ – eins; haṃsaḥ – Seele; bhuvanasya – dieser Welt; madhye – in der Mitte; saḥ – Er; eva – wahrlich; agniḥ – das Feuer; salile – im Wasser; saṃniviṣṭaḥ – wohnend; tam – Ihn; eva – wahrlich; viditvā – erkannt habend; mṛtyum – Tod; atyeti – überwindet; anyaḥ – anderer; na – nicht; panthāḥ – Weg; vidyate – existiert; ayanāya – zur Befreiung. Mit dem Wort haṃsaḥ (Seele, Wildgans, Schwan) ist hier das höchste Selbst, der Zerstörer der Unwissenheit gemeint. Brahman ist in das Herz eingetreten, wie ein Feuer, das alle Unwissenheit verbrennt. Dieser Vers beschreibt die Immanenz Gottes. So wie das Feuer im Ozean verborgen ist, so ist auch brahman in dieser Welt verborgen. Feuer und Wasser sind völlig verschieden, sie haben völlig entgegengesetzte Qualitäten und doch ist Feuer im Wasser enthalten. So ist auch brahman, das rein, subtil und geistig ist, verborgen in dieser Welt, die grob, materiell und unrein ist. Die alten ṛṣis verehrten das Feuer, das im Wasser enthalten ist. Dieses Feuer entspricht brahman, das in dieser Welt verborgen ist.


sa viśvakṛdviśvavidātmayonirjñaḥ kālakālo guṇī sarvavid yaḥ।

pradhānakṣetrajñapatirguṇeśaḥ saṃsāramokṣasthitibandhahetuḥ॥16॥

16. Er schafft das Universum und kennt das Universum. Er ist Seine eigene Quelle. Er ist allwissend und Er ist die Zeit der Zeit (der Zerstörer der Zeit). Er hat alle Qualitäten der Vollkommenheit. Er weiß alles bis ins Einzelne. Er ist der Herrscher von Natur, Menschen und guṇas. Er ist die Ursache der Gebundenheit, der Existenz und der Befreiung der Welt.

ERLÄUTERUNG: Saḥ – Er; viśvakṛt – der Schöpfer des Universums; viśvavit – der Kenner des Universums; ātma-yoniḥ – Seine eigene Ursache; jñaḥ – allwissend; kāla-kālaḥ – die Zeit der Zeit, der Zerstörer der Zeit; guṇī – der alle Qualitäten der Vollkommenheit hat; sarva-vidyaḥ – weiß alles im Einzelnen; pradhāna-kṣetrajña-patiḥ – der Herrscher der Natur und des Menschen; guṇeśaḥ – der Herrscher der Qualitäten; saṃsāra-mokṣa-sthiti-bandha-hetuḥ – die Ursache der Gebundenheit, der Existenz und der Befreiung der Welt.


sa tanmayo hyamṛta īśasaṃstho jñaḥ sarvago bhuvanasyāsya goptā।

ya īśe asya jagato nityameva nānyo heturvidyata īśanāya॥ 17॥

17. Er ist wie Er selbst, unsterblich und Er bleibt immer in der Position des Herrschers. Er ist der Allwissende, der Alldurchdringende, der Beschützer dieser Welt, der ewige Herrscher. Niemand kann über Ihn herrschen.

ERLÄUTERUNG: Saḥ – Er; tanmayaḥ – wie Er selbst; hi – wahrlich; amṛtaḥ – unsterblich; īśasaṃsthaḥ – Er bleibt der Herrscher; jñaḥ – allwissend; sarvagaḥ – all-durchdringend; asya bhuvanasya – dieser Welt; goptā – Beschützer; yaḥ – der; īśe – herrscht; asya jagataḥ – dieser Welt; nityam-eva – ewig; nānyaḥ – keine andere; hetuḥ – Ursache; vidyate – existiert; īśanāya – über Ihn zu herrschen. Tanmayaḥ kann (hier) auch „wie diese Welt“ bedeuten.


yo brahmāṇaṃ vidadhāti pūrvaṃ yo vai vedāṃśca prahiṇoti tasmai।

taṃ ha devam ātmabuddhiprakāśaṃ mumukṣurvai śaraṇamahaṃ prapadye॥ 18॥

18. Ich, der ich Befreiung erstrebe, nehme Zuflucht zu dem Gott, dessen Licht den Intellekt auf den ātman ausrichtet, der am Beginn der Schöpfung Brahmā erschuf und ihm die Veden übergab.

ERLÄUTERUNG: Yaḥ – der; brahmāṇam – Brahmā; vidadhāti – schuf; pūrvam – vor der Schöpfung; yaḥ – der; vai – wahrlich; vedāṃśca – und die Veden; pra-hiṇoti – gab; tasmai – ihm; tam – Ihn; devam – Gott; ātmabuddhi-prakāśaṃ – dessen Licht den Intellekt zum ātman hinwendet; mumukṣuḥ – Befreiung wünschend; śaraṇam – Zuflucht; aham – ich; prapadye – nehme.


niṣkalaṃ niṣkriyaṃ śāntaṃ niravadyaṃ nirañjanam।

amṛtasya paraṃ setuṃ dagdhendhanamivānalam॥ 19॥

19. Der, der ohne Teile ist und ohne Handlung, der friedvoll ist, ohne Makel, ohne Unreinheit, die erhabene Brücke der Unsterblichkeit, der wie das Feuer ist, welches das Holz aufzehrt (bei Ihm nehme ich Zuflucht).

ERLÄUTERUNG: Niṣkalam – ohne Teile; niṣkriyam – ohne Handlung; śāntam – friedvoll; niravadyam – ohne Makel; nirañjanam – ohne Unreinheiten; amṛtasya – der Unsterblichkeit; param setum – die höchste Brücke; dagdhendhanam ivānalam – wie das Feuer, welches das Holz aufgezehrt hat. Analam iva – so wie das Feuer das Holz verbrennt, so zerstört Gott die Unwissenheit seiner Verehrer bzw. der Sucher, die den Pfad der Wahrheit beschreiten.


yadā carmavadākāśaṃ veṣṭayiṣyanti mānavāḥ।

tadā devamavijñāya duḥkhasyānto bhaviṣyati॥ 20॥

20. So nicht die Menschen den Himmel aufrollen wie eine Haut, so wird es kein Ende des Elends geben – außer wenn Gott erkannt worden ist.

ERLÄUTERUNG: Yadā – wenn; carmavat – wie Haut; ākāśam – Äther; veṣṭayiṣyanti – rollen auf; mānavāḥ – die Menschen; tadā – dann; devam avijñāya – Gott nicht kennend; duḥkhasyāntaḥ – Ende des Leidens; bhaviṣyati – wird geschehen. Nur wenn das Unmögliche möglich wird, wird das Leiden enden – es sei denn, Gott wird im Herzen erkannt. Elend und Kummer werden nur enden, wenn Gott verwirklicht wird. Wenn jemand versuchen sollte, das Leiden zu beenden, ohne Gott zu verwirklichen, so ist das ein vergebliches Unterfangen – so vergeblich wie der Versuch, den Himmel aufzurollen.


tapaḥprabhāvāddevaprasādācca brahma ha śvetāśvataro'tha vidvān।

atyāśramibhyaḥ paramaṃ pavitraṃ provāca samyagṛṣisaṅghajuṣṭam॥ 21॥

21. Nachdem er kraft seiner Askese und durch Gottes Gnade brahman verwirklicht hatte, erklärte der Weise Śvetāśvatara dem obersten Orden der sannyāsīs sehr gründlich die Wahrheit über jenes höchste und heilige brahman, zu dem alle Seher Zuflucht nehmen.

ERLÄUTERUNG: Tapaḥprabhāvāt – durch die Kraft der Askese; devaprasādācca – und auch durch die Gnade Gottes; brahma – brahman; śvetāśvataraḥ – (der Weise) Śvetāśvatara; vidvān – verwirklicht habend; atyāśramibhyaḥ – zu dem obersten Orden der sannyāsīs; paramam – des höchsten; pavitram – heilig; provāca – lehrte, erklärte; samyak – gut, wohl; ṛṣisaṅghajuṣṭam – zu dem alle Seher Zuflucht nehmen. Gott hilft dem, der sich selbst hilft. Eigene Bemühung (puruṣārtha) und die Gnade Gottes sind beide notwendig, um Selbstverwirklichung zu erlangen. Nur wer Wissen um brahman hat, kann ein Lehrer werden.


vedānte paramaṃ guhyaṃ purākalpe pracoditam।

nāpraśāntāya dātavyaṃ nāputrāyāśiṣyāya vā punaḥ॥ 22॥

22. Dieses höchste Geheimnis des vedānta, das in einem früheren Zeitalter gelehrt worden ist, sollte nicht an jemanden weitergegeben werden, dessen Leidenschaften nicht beherrscht sind, auch nicht an jemanden, der kein würdiger Sohn ist und auch nicht an einen unwürdigen Schüler.

ERLÄUTERUNG: Vedānte – im vedānta ; paramam – höchstes; guhyam – Geheimnis; purākalpe – in einem früheren Zeitalter; pracoditam – gelehrt; na – nicht; apra-śāntāya – jemandem mit unkontrollierten Leidenschaften; dātavyam – sollte gegeben werden; na – nicht; aputrāya – der kein würdiger Sohn ist; aśiṣyāya – einem unwürdigen Schüler; vā punaḥ – auch nicht. Die Unterweisungen werden nur Früchte tragen, wenn sie einem geeigneten und würdigen Schüler gegeben werden. Aputrāya – einer, der seine Pflichten den Eltern gegenüber nicht erfüllt hat und der keine guten Charaktereigenschaften aufweist. Aśiṣyāya – einer, der kein würdiger Schüler ist, der nicht gehorsam ist, der arrogant, frech, bösartig, unreligiös ist und der seinen Lehrer kritisiert.


yasya deve parā bhaktiryathā deve tathā gurau।

tasyaite kathitā hyarthāḥ prakāśante mahātmanaḥ।

prakāśante mahātmana iti॥ 23॥

23. Wenn diese Wahrheiten einem Schüler mit einer großen Seele mitgeteilt werden, der höchste Verehrung gegenüber Gott und Verehrung gegenüber dem Lehrer hat, wie zu Gott, dann und nur dann werden sie aufleuchten; nur dann werden sie aufleuchten.

ERLÄUTERUNG: Yasya – für den; deve – zu Gott; parā bhaktiḥ – höchste Verehrung und Hingabe; yathā deve – wie zu Gott; tathā – so; gurau – zum Lehrer; tasya – Seine; ete – diese; kathitāḥ – gelehrt; arthāḥ – Wahrheiten; prakāśante – leuchten auf; mahātmanaḥ – einer mit einer großen Seele. Die Wahrheiten des vedānta werden nur dem Sucher offenbart, der höchste Verehrung Gott gegenüber hat und eine ebenso große Verehrung gegenüber dem Lehrer– so groß wie gegenüber Gott! Dieser Vers betont die Hingabe und Verehrung gegenüber dem guru. Guru und Gott sind eins.

HIER ENDET DAS SECHSTE KAPITEL UND SOMIT AUCH DIE ŚVETĀŚVATARA-UPANIṢAD.

Abschluss-Mantra (om, saha nāvavatu)


om, saha nāvavatu। saha nau bhunaktu। saha vīryaṃ karavāvahai।

tejasvi nāvadhītamastu mā vidviṣāvahai।
oṃ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ॥

Om. Es soll uns beide fördern, soll mit uns beiden genießen. Wir beide wollen zusammen Kraftvolles tun, strahlend soll uns beiden das Gelernte sein, wir beide wollen keine Feindschaft hegen. Oṃ, Frieden, Frieden, Frieden.





Essenz der Svetasvatara Upanishad von Swami Sivananda

Swami Sivananda hat die Svetasvatara Upanishad zusammengefasst. So bekommst du einen guten Überblick und Verständnis darüber, worum es in der Svetasvatara Upanishad geht:

1. Diese Upanishade gehört zum Krishna Yajurveda. Sie erhielt ihren Namen vom Rishi Svetasvatara, der die darin enthaltene Wahrheit seinen Schülern lehrte. Sie enthält Lehren aus dem Vedanta, Sankhya und dem Yoga.

2. In dieser Upanishad wird Shiva oder Rudra als derSchöpfer, Erhalter und Zerstörer der Welt beschrieben. Er ist der materielle und effiziente Grund für diese Welt. Er wird mit dem allerhöchsten Brahman identifiziert.

Om. Möge Es uns beide beschützen (Lehrer und Schüler). Möge Es uns beide die Glückseligkeit (vonMukti) genießen lassen. Mögen wir uns beide bemühen, die wahre Bedeutung der Schriften zu erkennen. Mögen wir uns niemals streiten!

Om Frieden, Frieden, Frieden!

Adhyaya Eins: Die endgültige Ursache

"Was ist die Ursache? Ist es Brahman? Woher kommen wir? Wodurch leben wir? Wo werden wir letztlich verbleiben?" Zitat Svet. Up.

3. Die nach Brahman Suchenden unterhalten sich miteinander: Was ist die Ursache? Ist es Brahman? Woher kommen wir? Wodurch leben wir? Wo werden wir letztlich verbleiben? Wodurch, in Vergnügen und Schmerz beherrscht, leben wir über verschiedene Zustände, O jenes, Kennende des Brahman!

4. Zeit, innewohnende Natur, Gesetz oder Unvermeidlichkeit oder Zufall oder die Elemente oder Materie oder eine Gebärmutter oder ein Mann werden als die Ursache in Betracht gezogen. Es ist nicht eine Kombination dieser Dinge, aufgrund der Existenz der Seele (Atman). Die Seele (die individuelle Seele) ist ebenfalls nicht frei, da sie den Schwankungen von Vergnügen und Schmerz ausgesetzt ist.

5. Jene, die Meditation praktizierten, erkannten oder sahen die Kraft Gottes (Devatma Shakti), versteckt in Seinen eigenen Qualitäten (Gunas), als die Ursache derSchöpfung, welche einzig über all die oben genannten Gründe herrscht, angefangen bei der Zeit und mit der indiviuellen Seele endend.

Das göttliche Rad

6. Wir begriffen Ihn als ein Rad, welches nur eine Felge mit einem dreifachen Reifen mit sechzehn End-Teilen, fünfzig Speichen, zwanzig Gegenspeichen, mit sechs Sets von Achteln, welches ein Seil in verschiedenen Formen hat, welches drei verschiedene Straßen oder Pfade hat und welches eine Umdrehung für zwei Ursachen hat.

7. Man meditiert über Gott als das Rad des Universums und der Umfang dieses Rades ist Maya.

8. Die drei Reifen sind die drei Qualitäten von Sattva, Rajas und Tamas oder Zeit, Raum und Ursächlichkeit.

9. Die sechzehn End-Teile sind sechzehn Modifikationen oder Vikritis, nämlich die fünf Organe des Wissens, die fünf Organe der Handlung und die fünf grobstofflichen Elemente.

10. Die fünfzig Speichen sind

(a) die fünf Klassen der Unwissenheit, nämlich Tamas, Moha, Maha Moha, Timira (Dunkelheit) und Andha Timira (totale Dunkelheit);
(b) Die 28 Unfähigkeiten;
(c) die neun Tushtis oder Befriedigungen;
(d) die acht Siddhis oder Vervollkommnungen, nämlich Tara, Sutara, Tarayanti, Pramoda, Pramodita, Pramodamana, Ramyaka and Satpramodita.

11. Die zwanzig Gegenspeichen sind die zehn Sinne und ihre zehn Objekte.

12. Sechs Sets von Acht:

(1) Die acht Produzenten der achtfachen Prakriti des Sankhya, nämlich die fünf Elemente, Geist, Intellekt und Egoismus.
(2) Die acht wesentlichen Bestandteile des Körpers oder Dhatus, nämlich äußere Haut, innere

Haut, Blut, Fleisch, Fett, Knochen, Knochenmark und Samen.

(3) Ashta Siddhis oder acht übermenschliche Kräfte, nämlich Anima, Mahima etc.
(4) Acht geistige Zustände (Bhava), nämlich Tugend, Ungerechtigkeit, Wissen, Unwissenheit,Leidenschaftslosigkeit, Anhaftung, übermenschliche Kraft und das Wollen übermenschlicher Kraft.
(5) Die acht Gottheiten, nämlich Brahma, Prajapati, Devas, Gandharvas, Yakshas, Rakshasas, Pitris und Pisachas.
(6) Die acht Tugenden der Seele, nämlich Mitgefühl,Duldsamkeit, Abwesenheit von Eifersucht, Reinheit,

Freiheit von Ermüdung, Glück, Freiheit von Armut und Begierdenlosigkeit.

(7) Die drei verschiedenen Straßen sind Tugend, Untugend und Wissen.
(8) Das Seil ist Verlangen.

13. Wir begreifen Ihn als einen Fluss mit fünf Quellen, ungestüm und gewunden, dessen Wellen die fünf Pranas oder vitale Atem sind, deren ursprüngliche Quelle die fünffache Wahrnehmung ist, die fünf Strudel hat, die getrieben ist von der Geschwindigkeit des fünffachen Elends oder Schmerz, welche von den fünf Arten des Elends geteilt ist und die fünf Abzweigungen oder Zweige hat. Die fünf Sinne repräsentieren die fünf Flüsse. Die fünf Pranas repräsentieren die Wellen. Die fünf Objekte der Sinne, nämlich Klang, Berührung etc. werden Strudel genannt, weil die individuelle Seele in sie hineingezogen wird. Die fünf Arten des Schmerzes sind die Schmerzen hervorgerufen durch Existenz im Mutterleib, durch Geburt, Alter, Krankheit und Tod.

14. Im unendlichen Rad von Brahman, in welchem alles lebt und ruht, wird die Pilgerseele, oder das reinkarnierte Selbst, umhergewirbelt, wenn sie denkt, dass sie und der höchste Herrscher verschieden oder voneinander getrennt sind. Sie erlangt Unsterblichkeit, wenn sie von Ihm gesegnet oder begünstigt wird.

"Im unendlichen Rad von Brahman, in welchem alles lebt und ruht, wird die Pilgerseele, oder das reinkarnierte Selbst, umhergewirbelt, wenn sie denkt, dass sie und der höchste Herrscher verschieden oder voneinander getrennt sind. Sie erlangt Unsterblichkeit, wenn sie von Ihm gesegnet oder begünstigt wird." Zitat Svet. Up.

15. Dies ist wahrlich das höchste Brahman. In ihm ist die Triade. Es ist der stabile Urgrund. Es ist das Unzerstörbare. Durch das Erkennen des Innewohnenden widmen sich die Wissenden des Brahman hingebungsvoll Brahman, werden eins mit Ihm und werden befreit vom Kreislauf der Wiedergeburt.

16. Die Triade sind die Welt, die individuelle Seele und die absolute Seele. Die Triade sind der Genießer, die Objekte des Genusses und die höchste Seele. Es kann auch den Wachzustand, Traum und Tiefschlaf bedeuten. Gott, Welt, Mensch

17. Der Herr trägt dieses Universum, welches aus einer Kombination aus Vergänglichem und Unvergänglichem besteht, dem Offensichtlichen und dem nicht Offensichtlichen. So lange die individuelle Seele den Herrn nicht erkennt, haftet sie den Sinnesfreuden an. Sie wird zum Genießer und ist gebunden. Wenn sie den Herrn erkennt, wird sie von allen Fesseln befreit.

18. Der wissende Herr und die unwissende individuelle Seele, das Allmächtige und das Unfähige, sind beide ungeboren. Sie (Prakriti), die verbunden ist mit dem Genossenem und den Objekten des Genusses, die die Erkenntnis des Genießenden und des Genusses verursacht, ist ebenfalls ungeboren. Wenn all diese drei als Brahman erkannt werden, wird das Selbst unendlich, universell und inaktiv (frei vom Gefühl zu handeln und ein Handelnder zu sein).

19. Materie ist vergänglich, aber Gott ist unsterblich und unvergänglich. Er, der einzige Gott, regiert über die vergängliche Materie und die individuellen Seelen. Indem man über ihn meditiert, durch Einheit mit Ihm, wird letztlich alle Illusion enden.

20. Durch das Wissen über Gott werden all die Fesseln der Unwissenheit zerstört; es ist ein Ende von Geburt und Tod und Verzweiflung. Indem man über Ihn meditiert, erlangt man den dritten Zustand, nämlich universelle Herrschaft und die Auflösung des Körpers. All seine Begierden werden befriedigt und er wird eins ohne ein Zweites.

21. Dies ist bekannt als ewige Existenz im eigenen Selbst. Wahrlich gibt es kein höheres Wissen als dieses. Wenn jemand das Glück, das Objekt des Glücks und den Verteiler oder höchsten Herrscher erkennt, dann gibt es nichts mehr zu sagen. Dies ist dreifach Brahman.

22. Erkenntnis bedeutet nicht etwas zu erreichen. Es ist nur das Erkennen der eigenen, unendlichen Natur durch das Zerreißen der Schleier, das Auslöschen der Unwissenheit, das Zerteilen der drei Knoten, nämlich Unwissenheit, Begierde und Handlung.

23. Feuer wird nicht wahrgenommen, wenn es in seiner Ursache, dem Feuerholz, verborgen ist, und dennoch geschieht keine Zerstörung seiner feinstofflichen Form, wenn es erneut in seiner Ursache, dem Feuerholz, durch Reibung wahrgenommen wird. Und ebenso wird auch der Atman im Körper wahrgenommen, indem man auf die heilige Silbe Om meditiert.

24. Indem man seinen eigenen Körper zum unteren Holzstück oder Reibungsstab und die Om-Silbe zum oberen Holzstück oder Reibungsstab macht und indem man die Reibung oder das Anwenden der Meditation praktiziert, wird man Gott, welcher gewissermaßen verborgen ist, erkennen.

25. So wie Öl in Sesamsamen, Butter im Quark, Wasser in Flussbetten und Feuer im Holz, ebenso wird der Atman im eigenen Selbst von einer Person, die Ihn durch Wahrheit und Entbehrungen betrachtet, wahrgenommen (durch das Kontrollieren der Sinne und des Geistes).

26. Der Atman, welcher alle Dinge durchdringt so wie Butter die Milch, ist im Wissen um das Selbst und in Entbehrungen verwurzelt. Dies ist die mystische Doktrin, welche Brahman anbelangt.

Adhyaya Zwei: Der Prozess der Meditation

27. Indem die Konzentration von Geist und Sinnen zuerst auf Brahman gerichtet wird, um die Wahrheit zu erkennen, möge Savitri, welcher das erleuchtende Feuer (der Weisheit) gesehen hat, es aus der Erde hervorbringen (Materie im Allgemeinen).

28. Durch die Gnade des göttlichen Savitri, lasst uns, mit konzentriertem Geist energisch nach dem Erlangen höchster Glückseligkeit streben.

29. Nachdem die Sinne unter Kontrolle gebracht wurden, durch welche das Himmelreich mit dem Geist und dem Intellekt erlangt wird, lasst Savitri sie dazu bringen, dass sich das göttliche Licht manifestiert.

30. Groß ist der Ruhm von Savitri, welcher alles-durchdringend, unendlich, allwissend, der Alleinige, der den Herrscher kennt, der all die Opferrituale der Brahmanen angeordnet hat. Er wird ihren Geist und Intellekt kontrollieren und Meditation üben.

31. Ich verehre deinen alten Brahman mit Ehrfurcht. Meine Verse gehen hervor wie die Sonne auf ihrer Bahn. Mögen die Söhne des Unsterblichen zuhören, sogar jene, die göttliche Regionen bewohnen.

32. Wo Feuer entfacht oder produziert wird, wo Luft kontrolliert wird, wo der Somasaft überfließt, dort wird der Geist geboren.

33. Feuer steht für das Wissen um das Selbst.

34. Man erfährt Glückseligkeit während der Mediation. Dies ist das Trinken des Somasaftes.

35. Lasst uns den uralten Brahman durch die Gnade von Savitri leben. Wenn du dort die Quelle (Brahman) erlangst, dann wird dich deine einstige Arbeit nicht länger binden.

36. Ohne Bhakti kannst du die Gnade, welche essenziell für das Erlangen des Wissens um Brahman ist, nicht erlangen.

37. Indem er eine gerade Körperhaltung einnimmt, die Brust und den Kopf aufrecht hält und die Sinne und den Geist ins Herz zurückzieht, sollte der Weise die angsterfüllten Strömungen der Welt mit Hilfe des Floßes (oder Bootes) von Brahman überqueren.

38. Die angsterfüllten Strömungen sind die Strömungen von Raga, Dvesha (Vorlieben und Abneigungen), Vasanas oder subtilen Begierden und Trishna (Begierden), welche den Menschen in den Ozean von Geburten und Tod schleudern.

39. Das Floß von Brahman ist Om. Stilles Japa von Om mit dem Meditieren über dessen Bedeutung wird einem helfen, den Ozean des Samsara zu überqueren, bzw. sich selbst aus dem Rad von Geburten und Tod zu befreien.

40. Die Sinne kontrollierend, den Atem unterdrückend und regelnd, die Bewegungen des Körpers überprüfend, sanft durch die Nasenlöcher atmend, sollte der Weise ohne dabei abgelenkt zu werden seinen Geist zurückhalten, diesen Wagen, an den tückische Pferde angespannt sind.

41. Man sollte seine Übungen konzentriert durchführen, auf flachem Untergrund, frei von Kieselsteinen, Feuer, Wind, Staub, Feuchtigkeit und störenden Geräuschen, wo die Landschaft schön und angenehm für das Auge ist und wo es Lauben, Höhlen und Wasserstellen gibt, die dabei helfen, sich zu konzentrieren.

42. Wenn Yoga ausgeführt wird, dann erscheinen Formen wie Schnee oder Frost, Rauch, die Sonne, Feuer, Wind, Leuchtkäfer, Blitze, Kristalle und der Mond. Sie gehen der Manifestation von Brahman voraus.

43. Wenn die fünffache Qualität des Yoga, die aus Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther entspringt, produziert wurde, dann ist der Yogi mit einem durch das Feuer des Yoga gestärkten Körper ausgestattet und dadurch wird er von Krankheit, Alter oder Tod nicht beeinflusst werden.

44. Wenn der Körper leicht und gesund ist, wenn sein Geist frei von Begierden ist, wenn er eine leuchtende Gesichtsfarbe hat, eine süße Stimme und einen angenehmen Geruch hat, wenn die Ausscheidungen spärlich werden, dann sagt man, dass er den ersten Grad der Konzentration erreicht hat.

45. So wie eine Metallscheibe oder ein Spiegel, der zuvor von Staub bedeckt war, brilliant leuchtet, wenn er gereinigt wurde, eben so realisiert das verkörperte Wesen Einheit, erlangt das Ende oder Ziel, und ist frei von Sorge, wenn er die wahre Natur des Atman erkennt.

46. Wenn er durch die Hilfsmittel der wahren Natur seines Selbst, was der Yogi als eine Lampe, die wahre Natur von Brahman, sieht, dann, nachdem er den ungeborenen, ewigen Gott, der frei von allen Modifikationen von Prakriti ist, erkannt hat, dann ist er frei von allen Fesseln oder Sünden.

47. Er ist in der Tat der Gott, der alle Regionen durchdringt. Er ist der Erstgeborene (Hiranyagarbha). Er ging in den Mutterleib ein. Er ist in allen Personen als das innewohnende Selbst, in alle Richtungen blickend (sein Gesicht zeigt in alle Richtungen).

48. Grüße, Grüße an den Gott, der im Feuer ist, der im Wasser ist, der inPflanzen ist, der in Bäumen ist und der das gesamte Universum durchdrungen hat.

Adhyaya Drei: Die Erkenntnis

49. Er, welcher allein durch seine Kräfte regiert, der alle Welten durch Seine Kräfte regiert, der ein und der Selbe zur Zeit der Schöpfung und Auflösung der Welt ist, jene, die Ihn kennen werden unsterblich.

50. Es gibt nur einen Herrscher, der all die Welten durch Seine Kräfte regiert. Es gibt niemanden neben ihm, der ihn zum Zweiten machen könnte. Er ist in den Herzen aller Wesen anwesend. Er schafft all die Welten und erhält und zieht sie letztlich wieder in sich selbst zurück.

51. Rudra repräsentiert hier Parabrahman oder das Höchste Selbst, das Unendliche oder das Absolute.

52. Dieser eine Gott, der Seine Augen, Sein Gesicht, Seine Arme und Seine Füße an jedem Ort hat, wenn er Himmel und Erde produziert, schmiedet er sie mit Seinen Armen und Seinen Schwingen zusammen.

53. Möge Rudra, der Schöpfer und Erhalter der Götter, der große Seher, der Herr aller Dinge, der zuerst Hiranyagarbha erschuf, uns mit guten Gedanken ausstatten (reinem Intellekt).

54. O Rudra, mit deiner Form, welche Glück verheißend ist, welche nicht schrecklich ist, und welche manifestiert, was heilig ist, mit dieser all-gesegneten Form, erscheine uns, O Bewohner unter den Bergen!

55. O Herr der Berge; sei gnädig mit dem Pfeil, den du in deinen Händen schussbereit hältst. Verletzte nicht die Menschen oder die Welt, O Beschützer der Berge!

56. Höher als der persönliche Gott ist der allerhöchste Brahman, welcher unendlich ist, welcher verborgen in allen Wesen entsprechend ihrer Körper ist und welcher der einzige Durchdringer des gesamten Universums ist. Indem man ihn als den Herrn erkennt, wird man unsterblich.

57. Ich kenne dieses mächtige Wesen (Purusha), welches glänzend wie die Sonne erstrahlt, jenseits der Dunkelheit. Man geht jenseits des Todes, nur durch die Erkenntnis von Ihm. Es gibt keine andere Straße, um Befreiung zu erlangen.

58. Nichts ist höher als Er oder anders als Er, nichts größer oder winziger als Er. Er allein steht im Himmel wie ein Baum, einer ohne Gleichen, und unbeweglich. Die ganze Welt ist erfüllt von diesem Wesen.

59. Jenes, welches jenseits dieser Welt ist, ist ohne Form und ohne Leiden. Jene, die Es erkennen, werden unsterblich; aber andere stattdessen, erleiden nur Schmerz.

60. Er (der Herr) hat sein Gesicht, seinen Kopf und Hals überall (in allen Dingen). Er verweilt im Herzen aller Wesen. Er durchdringt alles. Deshalb ist Er allgegenwärtig und gnädig.

61. Diese Person (Purusha) ist in der Tat der große Herr. Er kontrolliert alle Dinge. Er ist Licht. Er ist immerwährend. Er leitet den Intellekt aller Wesen, um ihnen diesen extrem reinen Zustand zu ermöglichen (Moksha).

62. Der Purusha von der Größe eines Daumens, welcher im Herzen, Intellekt und Geist verborgen ist, verweilt immer in den Herzen derKreaturen als ihr inneres Selbst. Jene, die ihn erkennen, werden unsterblich.

63. Es ist sehr schwer für einen Neuling den Geist auf das Unendliche auszurichten. Aus diesem Grund soll er damit beginnen, über ein Wesen von der Größe eines Daumens, in seinem Herzen, zu meditieren.

64. Die Person (Purusha) hat tausend Köpfe, tausend Augen und tausend Füße. Er umhüllt die ganze Welt und erstreckt sich jenseits davon in einer Breite von zehn Fingern.

65. 'Zehn Finger' bedeutet endlos. Brahman umhüllt die ganze Welt in alle Richtungen und erstreckt sich jenseits davon in die Unendlichkeit. Er transzendiert die Welt.

66. 1409.Tausend Köpfe: Dies zeigt an, dass der Herr (Virat Purusha) zahllose Köpfe besitzt. Alle Köpfe, alle Augen, alle Hände, alle Füße gehören dem Herrn. Er ist es, der durch alle Hände wirkt, durch alle Münder isst, durch alle Augen sieht, durch alle Ohren hört, durch alle Füße geht und durch den Geist aller denkt. Wenn du dich stetig an diesen Vers erinnerst, dann wird sich Egoismus auflösen. Du wirst ein erweitertes Herz haben. Du wirst kosmisches Bewusstsein erfahren. Du wirst dich mit dem Virat Purusha identifizieren.

67. Diese Person allein (Purusha) ist all das, was war und was sichtbar ist. Er ist ebenfalls der Herr der Unsterblichkeit. Er ist, was auch immer durch Nahrung wächst.

68. Mit Händen und Füßen überall, mit Augen, Köpfen und Mündern überall, mit Ohren überall, jenes existiert, alles in der Welt umfassend.

69. Er leuchtet heraus mit den Qualitäten aller Sinne, und doch ist Er ohne alle Sinne. Er ist der Herr von allem, der Herrscher von allem, das Refugium aller und der Freund aller.

70. Er verweilt im Körper, der Stadt mit den neun Toren. Er ist die Seele (Hamsa), die sich in der äußeren Welt bewegt. Er ist der Kontrollierende der ganzen Welt, zugleich ruhend und sich bewegend.

71. Ohne Hände und Füße geht Er schnell und greift; ohne Augen sieht Er; ohne Ohren hört Er. Er weiß alles, was gekannt werden kann. Und doch gibt es niemanden, der Ihn kennt. Man nennt ihn den Ersten, die großartige Person.

72. Feinstofflicher als das Feinste und größer als das Größte, der Atman, ist verborgen im Herzen aller Kreaturen. Man wird frei von Kummer und Verlangen durch die Gnade des begierdenlosen Schöpfers, und erkennt Ihn als den Großartigen.

73. Bhakti steht nicht im Widerspruch zu Wissen. Im Gegenteil, es ist ein Hilfsmittel zum Wissen.

74. Die Gnade des Herrn ist notwendig für die Erkenntnis advaitischer Einheit.

75. Die selbe Seele ist in der Ameise und im Elefanten zugleich. Die selbe Seele durchdringt ebenso das gesamte Universum. Sie ist unendlich. Somit ist der Atman feinstofflicher als das Feinstofflichste und größer als das Größte.

76. Ich kenne diese nicht-verfallende, diese uralte, die Seele aller Dinge, die allgegenwärtig als Folge seiner alles durchdringenden Natur und die die Kennenden des Brahman als frei von Geburt erklären, die die Kennenden des Brahman als unendlich verkünden.

Adhyaya Vier: Gebet

77. Möge das göttliche Wesen, der Eine, obgleich selbst farblos, viele Farben durch die Mittel seiner eigenen Kraft und absichtlich auf verschiedene Arten schöpfend, und welches die ganze Welt in sich selbst zurückzieht am Ende, möge Er uns mit reinem Intellekt ausstatten.

78. So wie ein Lichtstrahl, der an sich farblos ist, verschiedene Farben annimmt, wenn er durch ein Prisma strahlt, eben so nimmt der formlose Brahman verschiedene Formen für seine eigene Lila oder Unternehmungslust an.

79. Jenes selbst ist Agni (Feuer). Jenes ist Aditya (die Sonne). Jenes ist Vayu (Luft). Jenes ist Chandramas (der Mond). Jenes ist auch das sternübersäte Firmament. Jenes ist der Brahman (Hiranyagarbha). Jenes ist Wasser. Jenes ist Prajapati.

80. Du bist Frau, Du bist Mann, Du bist die Jugend. Du bist ebenso die Jungfrau. Du bist der alte Mann, der dahinwackelt, auf seinem Gehstock gelehnt. Du bist geboren mit Deinem Gesicht in alle Richtungen gewandt.

81. Du bist die dunkle, blaue Fliege. Du bist der grüne Papagei mit roten Augen. Du bist die Gewitterwolke, die Jahreszeiten und die Ozeane. Du bist ohne Anbeginn. Du bist das Unendliche. Du bist Er aus dem alle Welten geboren werden.

82. Es gibt ein ungeborenes Wesen, eine Frau von roter, weißer und schwarzer Farbe, die viele Nachkommen produziert, die wie sie sind. Da ist ein ungeborenes Wesen, männlich, welches sie liebt und bei ihr liegt. Da ist ein weiterer ungeborener Mann, der sie verlässt, nachdem er sie genossen hat.

Gleichnis von den zwei Vögeln

"Die zwei Vögel sind die individuelle Seele (Jiva) und die höchste Seele (Paratman). Der Jiva ist nur eine Reflektion der höchsten Seele. Deshalb sind sie unzertrennlich." Zitat Svet. Up.

83. Zwei Vögel mit prachtvollem Gefieder, die unzertrennliche Freunde sind, verweilen auf ein und demselben Baum. Einer der beiden verzehrt eine süße Frucht, während der andere zusieht, ohne zu fressen.

84. Die zwei Vögel sind die individuelle Seele (Jiva) und die höchste Seele (Paratman). Der Jiva ist nur eine Reflektion der höchsten Seele. Deshalb sind sie unzertrennlich.

85. Der Baum ist der Körper. Die Früchte des Baumes sind Vergnügen und Schmerz, das Ergebnis vergangener Handlungen.

86. Auf dem selben Baum verweilend, verwickelt sich die individuelle Seele und fühlt sich schrecklich. Er fühlt sich getäuscht und beklagt seine Machtlosigkeit. Wenn er den anderen sieht, der zufrieden ist, und seine Herrlichkeit erkennt, dann wird er frei von Sorge.

87. Was für einen Nutzen haben die Veden für jenen, der das Unzerstörbare, höchste, himmlische Wesen nicht kennt, in dem all die Veden verweilen? Nur jene, die es erkennen, ruhen zufrieden.

88. Der Herr der Maya beschützt oder erschafft die Veden, die Opferrituale, die Zeremonien, religiöse Bräuche, was geschehen ist, was geschehen soll, alles, was die Veden erklären und diese gesamte Welt, einschließlich uns selbst. Der andere ist an Maya gebunden.

89. Wisse, dass Prakriti (Natur) Maya ist, und der große Gott ist der Herr der Maya. Diese ganze Welt ist durchdrungen von Wesen, die seine Teile sind. Die Straße des Friedens.

90. Man erlangt unendlichen Frieden, wenn man den Herrn erkennt, den anbetungswürdigen Gott, den Verleiher von Segnungen, der, obgleich eins, den verschiedenen Aspekten von Prakriti vorsitzt, und in dem dieses Universum sich auflöst und in dem es in verschiedenen Formen erscheint.

91. Möge Rudra, der Schöpfer und Unterstützer der Götter, der große Seher, der Herr aller Dinge, der sah, wie Hiranyagarbha geboren wurde, uns mit reinem, glückverheißendem Intellekt ausstatten.

92. Lasst uns Ehrfurcht durch Opfergaben erweisen an diesen glückseligen Gott, der der Herr der Devas ist, der über die Zweibeiner und die Vierbeiner herrscht, und in welchem alle Welten ruhen.

93. Er, der Ihn erkennt, welcher feinstofflicher als das Feinstofflichste ist, welcher die Welt inmitten des Chaos erschafft, der viele Formen annimmt, der der Einzige ist, der die Welt umhüllt, der Glückselige (Shiva) erlangt unendlichen Frieden.

94. Er allein ist der Beschützer der Welt zur richtigen Zeit. Er ist der Herr der Welt verborgen in allen Wesen. In ihm verschmelzen sich die Brahma Rishis und die Gottheiten. Er, welcher Ihn kennt, schneidet die Fesseln des Todes entzwei.

95. Er, welcher Shiva, den Glückseligen, kennt, der in allen Wesen in extrem subtiler Form verborgen ist, feiner als die Essenz von Ghee, der einzig und allein das Universum umhüllt, ist befreit von allen Fesseln.

96. Dieser Gott, der Schöpfer des Universums, die höchste Seele, verweilt immer im Herzen aller Wesen, begrenzt durch das Herz, den Intellekt und den Geist. Jene, die dies erkennen, werden unsterblich.

97. Wenn die Unwissenheit sich aufgelöst hat, wenn da weder Tag noch Nacht ist, weder Existenz, noch nicht-Existenz, dann ist da nur Shiva, der allgesegnete Eine, der unauslöschlich ist, das anbetungswürdige Licht von Savita (die Gottheit der Sonne). Aus Ihm ging die uralte Weisheit hervor.

98. Niemand kann Ihn greifen, darüber oder hindurch oder in der Mitte. Es gibt kein Ebenbild oder etwas Gleichwertiges von Ihm, dessen Name große Herrlichkeit ist.

99. Seine Form kann nicht gesehen werden. Niemand nimmt Ihn mit dem Auge wahr. Jene, die ihn kennen, kennen ihn durch Intuition, deshalb im Herzen verweilend, werden sie unsterblich.

100. Jemand, der denkt, dass du der Ungeborene bist, nähert sich Dir furchtsam. Geruhe, mich ewig zu beschützen mit Deinem wohlwollenden Gesicht.

101. ORudra, verletze nicht unsere Kinder, noch unsere Enkelkinder, noch unsere Leben, Kühe oder Pferde, noch schlachte in deinem Zorn unsere tapferen Männer. Wir rufen dich stets mit Opfergaben an.

Adhyaya Fünf: Die verborgene Wahrheit

102. Unwissenheit ist wahrlich sterblich, Wissen ist wahrlich unsterblich. Im unauslöschlichen und unendlich höchsten Brahman sind Wissen und Unwissenheit verborgen. Komplett verschieden davon ist Brahman, der zugleich Unwissenheit und Wissen kontrolliert.

103. Es ist Er, der, nur eines seiend, über jede Quelle der Produktion und jede Form vorsitzt. Er sieht die Geburt des erstgeborenen Sehers von goldener Farbe und stattet ihn mit jeder Art von Wissen am Anbeginn der Schöpfung aus.

104. Dieser Gott breitet ein Netz nach dem anderen auf verschiedene Weisen aus und zieht sie alle wieder in diesem Feld zurück. Dadurch hat Er erneut die Herrscher geschaffen und hält Seine Herrschaft über alle.

105. So wie die Sonne erstrahlt und von überall her alles beleuchtet, oben, unten und durch alles, so erstrahlt dieser anbetungswürdige Gott, der Gesegnete, herrschend über alle Kreaturen, die aus einem Leib geboren wurden.

106. Er, der die eine Quelle der Welt ist, bringt die Reife der Natur aller und führt Kreaturen, die zur Reife gebracht werden können, zur Perfektion und stattet jedes Wesen mit seinen charakteristischen Qualitäten aus und regiert dieses gesamte Universum.

107. Er ist verborgen in den Upanishaden, die in den Veden verborgen sind. Hiranyagarbha kennt Ihn als die Quelle von sich selbst (oder als die Quelle der Veden). Jene Götter und Seher, die Ihn in den frühen Tagen erkannt haben, haben sich mit ihm identifiziert und wurden wahrlich unsterblich.

108. Er (die individuelle Seele), der die Qualitäten hinzugefügt sind, führt Handlungen um ihrer Früchte Willen aus und genießt die Früchte seiner Taten. Obgleich Er in Wirklichkeit der Herr des Lebens ist, wird er durch die drei Gunas gefesselt, nimmt verschiedene Formen an und wandert auf den drei Pfaden aufgrund seiner eigenen Handlungen.

109. Fein wie die Spitze einer Nadel, glänzend wie die Sonne, Er allein wird sogar als ein Anderer wahrgenommen (verschieden zu der universellen Seele) von der Größe eines Daumens, ausgestattet mit Egoismus und Willen, als Folge der Begrenzung von Intellekt und Herz.

110. Diese individuelle Seele ist so subtil wie der hundertste Teil der Spitze eines Haars einhundert mal geteilt. Und doch ist Er in seiner Essenz unendlich. Er ist es, was erkannt werden muss.

111. Er ist weder weiblich, noch männlich, noch Neutrum. Was auch immer für einen Körper er annimmt, mit diesem identifiziert er sich oder ist damit verbunden.

112. Mit Hilfe vonGedanken, Kontakt, Sicht und Täuschung nimmt die verkörperte Seele nacheinander verschiedene Formen in verschiedenen Orten an, entsprechend ihrer Handlungen, so wie der Körper durch das Einnehmen von Essen und Getränken wächst.

113. Die individuelle Seele wählt oder nimmt viele Formen an, grob- und feinstofflich, entsprechend ihrer eigenen Qualitäten, den Qualitäten ihrer Handlungen und den Qualitäten ihres Geistes. Der Grund für die Verbindung mit diesen Formen ist jedoch ein anderer.

114. Der Grund für die Verbindung mit dem Körper ist der Herr.

115. Er, der Ihn, der keinen Anbeginn und kein Ende hat, kennt, der die Welt inmitten des Chaos erschafft, der viele Formen annimmt und der das Universum umhüllt, wird von allen Fesseln befreit.

116. Jene, die den Gott kennen, der durch direkte, intuitive Wahrnehmung erkannt werden muss, der ohne Körper oder unsterblich ist, der der Grund für die Existenz und die Nicht-Existenz ist, der allgesegnet und der Grund für die sechzehn Teile ist, werden von weiteren Verkörperungen befreit.

Adhyaya Sechs: Der Pfad zur Befreiung

117. Manche verwirrte Denker sprechen von der Natur, und andere sprechen von der Zeit als der Ursache des Universums. Aber es ist die Herrlichkeit Gottes, durch welche sich das Rad von Brahma dreht.

118. Es unterliegt seiner Gewalt, Ihm, der immerwährend die Welt umhüllt, der allwissend ist, der Herr der Zeit, Besitzer von Qualitäten, allwissend, dass diese Arbeit (die Schöpfung) sich selbst entfaltet, welche als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther genannt oder gedacht wird.

119. Er erschafft seine Arbeit und ruht wieder, nachdem er eine Einheit mit Prinzip um Prinzip eingegangen ist, mit einem, mit zwei, mit drei, oder mit acht, mit Zeit ebenfalls, und mit den subtilen Qualitäten des Geistes.

120. Die acht Prinzipien sind die acht Produzenten der Samkhyas, nämlich Avyakta, welches die Wurzel aller ist, Intellekt, Egoismus und die fünf feinstofflichen Elemente der Materie (Tanmatras), oder die fünf Elemente, Geist, Intellekt und Egoismus. Das eine Prinzip, mit welchem die Seele verbunden ist, ist Avyakta oder Prakriti. Die zwei sind Avyakta und Intellekt; und die drei sind Avyakta, Intellekt und Egoismus.

121. Es gibt eine weitere Interpretation. Das eine Prinzip ist Avidya oder Unwissenheit; zwei sind Dharma und Adharma (richtig und falsch), oder Raga Dvesha (Vorlieben und Abneigungen); die drei sind die drei Körper, materiell, feinstofflich und kausal, oder die drei Gunas, Sattva, Rajas und Tamas; oder die drei Avasthas, Wachzustand, Traum und Tiefschlaf; oder Zeit, Raum und Kausalität.

122. Er löst die Schöpfung aus, assoziiert mit den drei Gunas, und ordnet alle Dinge. Er verursacht Zerstörung der Arbeit in Abwesenheit der Gunas und verbleibt abseits in Seiner Essenz nach der Zerstörung.

123. Er ist der Anbeginn, der Ursprung der Ursachen, durch die (der Körper) vereint wird (mit der Seele). Er ist jenseits der drei Abteilungen von Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Er ist ferner ohne Teile. Der anbetungswürdige Herr, der als die Welt erscheint, der die wahre Quelle aller Kreaturen ist, verbleibt in seinem eigenen Herzen, wird durch jenen, der zuvor meditierte, wahrgenommen.

124. Höher und anders als der Weltenbaum, Zeit und Formen ist Er, aus dem dieses Universum weiter verläuft, die Quelle aller Tugenden, der Zerstörer aller Sünden, der Herr all der guten Qualitäten, erkenne Ihn als im eigenen Selbst, als den unsterblichen Aufenthaltsort des gesamten Universums.

125. Mögen wir Ihn erkennen, den transzendenten und anbetungswürdigen Herren der Welt, der der große, höchste Herr aller Herren ist, die höchste Gottheit aller Gottheiten, und der höchste Herrscher aller Herrscher.

126. Keine Handlung (oder Anstrengung) und kein Organ (Karanam) von Ihm können gefunden werden. Nichts, dass ihm gleich ist, kann gesehen werden, noch viel weniger etwas, das überlegen wäre. Seine große Kraft wird in den Veden erklärt; und sie ist in vielfältiger Form. Sein Wissen, seine Stärke und Handlungen werden als ihm innewohnend beschrieben.

127. Niemand ist sein Meister in dieser Welt, niemand regiert Ihn, nicht einmal eine Spur von Ihm (aus der er geschlussfolgert werden kann). Er ist die Ursache, der Herr der Herren der Organe. Er hat weder einen Vorläufer, noch gibt es irgendjemanden, der Sein Herr ist.

128. Möge dieser einzige Gott, der sich spontan mit den Produkten von Prakriti oder der Natur bedeckt, so wie eine Spinne es mit den Fäden tut (die aus ihrem eigenen Nabel hervorgehen), uns Identität mit Brahman gewähren.

129. Der eine Gott ist in allen Wesen verborgen. Er durchdringt alles und Er ist die innere Seele aller Wesen. Er sitzt allen Handlungen vor und alle Wesen verweilen in Ihm. Er ist der Augenzeuge, und Er ist das reine Bewusstsein. Er ist allein, oder einzig und ist frei von allen Qualitäten.

130. Er ist der eine Wächter der inaktiven Vielen. Er macht die eine Saat vielfältig. Die Weisen, die Ihn in ihrem Selbst wahrnehmen, ihnen gehört ewige Glückseligkeit; nicht anderen.

131. Er ist der Ewige unter den Ewigen, und der Intelligente unter allen, die intelligent sind. Obgleich eins, gewährt Er die Begierden vieler. Jener, der Ihn erkannt hat, die Ursache aller Dinge, der durch Sankhya (Philosophie) und Yoga (religiöse Übungen) begriffen werden muss, wird von allen Fesseln befreit.

132. Weder scheint die Sonne dort, noch der Mond, noch die Sterne. Dort erstrahlen diese Lichter nicht, wie dann dieses Feuer? Wenn Er leuchtet, leuchtet alles nach Ihm. Durch Sein Licht leuchtet all dies.

"Durch Sein Licht leuchtet all dies." Zitat Svet. Up.

133. Jener, der die eine Seele (Hamsa) ist, Zerstörer der Unwissenheit inmitten der Welt, Er allein ist das Feuer, welches im Wasser sitzt. Wer Ihn wahrhaftig erkennt, überwindet den Tod. Es gibt keinen anderen Pfad, der zur Freiheit führt.

134. Er erschafft das Universum und kennt das Universum. Er ist Seine eigene Quelle. Er ist allwissend, und er ist die Zeit der Zeit (Zerstörer der Zeit). Er ist mit allen Qualitäten der Perfektion ausgestattet. Er kennt alle Dinge im Detail. Er ist der Meister der Natur und der Menschen und der Herr der Gunas. Er ist die Ursache für die Bindung, die Existenz und die Befreiung der Welt.

135. Er ist wie Er selbst, unsterblich und verweilt in Form des Herrschers. Er ist der allwissende, alles-durchdringende Beschützer der Welt, der ewige Herrscher. Niemand ist in der Lage, darüber zu herrschen.

136. Ich, begierig nach Befreiung, begebe mich zu dem Gott, um Zuflucht zu finden, dessen Licht den Intellekt zum Atman lenkt, der zu Anbeginn der Schöpfung Brahma erschuf und ihm die Veden gab.

137. Wer ist ohne Teile, ohne Handlung, wer ist gelassen, schuldlos, unbefleckt, die höchste Brücke der Unsterblichkeit und wer ist wie das Feuer, das seinen Brennstoff verzehrt hat (zu Ihm begebe ich mich als meine Zuflucht).

138. Nur wenn der Mensch den Himmel wie eine Haut abrollt, wird es ein Ende der Verzweiflung geben, es sei denn Gott wurde zuerst erkannt.

139. Nur wenn das Unmögliche möglich wird, so wie das Abrollen des Himmels durch den Menschen, wird die Verzweiflung enden, es sei denn, Gott wurde im Herzen erkannt. Verzweiflungen und Sorgen werden nur ein Ende haben, wenn man Gott erkennt. Wenn jemand danach strebt, sich selbst von seinem Elend zu befreien, ohne Gott zu erkennen, werden all seine Bemühungen sinnlos wie der Versuch, den Himmel abzurollen, sein. Dies ist die Bedeutung dieses Verses.

140. Nachdem der Weise Svetasvatara Brahman durch die Kraft seiner Anstrengungen und durch die Gnade Gottes erkannt hatte, erklärte er dem höchsten Orden der Sannyasins die Wahrheit dieses höchsten, heiligen Brahman, zu dem sich all die Seher zurückziehen.

141. Dieses höchste Geheimnis oder Mysterium im Vedanta, erklärt in einem früheren Zeitalter, sollte nicht an jene gegeben werden, deren Leidenschaften nicht gezähmt wurden, noch an jemanden, der kein würdiger Sohn oder kein würdiger Schüler ist.

142. Wenn diese Wahrheiten jemanden mit einer hochentwickelten Seele gelehrt wurden, jemanden, der die höchste Hingabe an Gott hat und ebensoviel Hingabe an seinen Guru oder jemandem mit vorbildlicher Lebensführung, einzig dann werden sie hervorleuchten, einzig dann werden sie, in der Tat, hervorleuchten.

Aus Swami Sivananda: Essence of Principle Upanishads, Divine Life Society Sivananda Ashram Rishikesh

Die Svetasvatara Upanishad des schwarzen Yajurveda - Erläuterungen nach Paul Deussen

Artikel aus „Upanishaden. Die Geheimlehre des Veda“ in der Übersetzung von Paul Deussen, herausgegeben von Peter Michel, Marix Verlag, 2. Auflage, 2007, Wiesbaden, S. 368 - 372.

Die Svetasvataras werden zwar im Caranavyuha (Ind. Stud. III, 257) unter den Schulen des schwarzen Yajurveda aufgeführt, aber alle gelegentlichen Erwähnungen derselben führen, soweit uns dieselben noch vorgekommen, nur auf unsere Upanishad, welche von Shankara (zu Svet. p. 274,11. zu Brahmasutra p. 110,5) als Svetasvataranam Mantropanishad zitiert wird, sich selbst aber (6,21) auf einen persönlichen Urheber, den Svetasvatara ("weiße Maultiere habend") zurückführt, welcher diese Offenbarung nicht von einem Lehrer, sondern "durch die Macht der Kasteiung und die Begnadigung mit dem Veda" empfangen habe, und dieselbe "den Asrama-Erhabenen" mitteilte, unter denen sicherlich keine mit Samhita und Brahmanam ausgerüstete Vedaschule, sondern irgend ein Kreis von Asketen zu verstehen ist.

Ein individuelles Gepräge zeigt unsere Upanishad mehrfach; so namentlich in der Kritik fremder Ansichten zu Anfang des ersten und sechsten Adhyaya. Auf der anderen Seite kann dieses Werk, bei dem Mangel eines geordneten Gedankenganges, bei der Regellosigkeit und willkürlichen Abwechslung der Versmaße und bei der Masse der eingeschobenen Zitate, nicht wohl (wie etwa die Karika des Gaudapada) für das Werk eines einzelnen Autors gelten. Möglich, daß aus einer individuellen Grundlage durch fortgesetzte Einfügung von Erläuterungen und Zitaten allmählich das Werk unter den Händen einer darauf sich gründenden Gemeinde zu seiner vorliegenden Gestalt erwachsen ist. Dieser Umstand würde freilich eine kritische Betrachtung außerordentlich erschweren, und alle Kombinationen derselben können nur insoweit Gültigkeit beanspruchen, als an der Einheitlichkeit der Komposition festgehalten werden darf.

Unter diesem Vorbehalt würde zunächst die Zeit unserer Upanishad nicht nur nach den alten Prosa-Upanishaden, sondern auch nach Kathaka Upanishad anzusetzen sein, da diese mehrfach in dem Werk mit einer Deutlichkeit zitiert wird, welche wohl kaum einen Zweifel übrig läßt. So kann sich die Berufung 2,9 auf "jenen Wagen mit den schlechten Rossen" wohl auf keine andere Stelle als Kath. 3,4 beziehen; der Baum, der im Himmel wurzelt, 3,9. 6,6, der zollgroße Purusha 3,13. 5,8, das Feuer, dessen Holz verbrannt ist 6,19, der "Genießer", Bhoktar 1,8. 9. 12. 5,7 dürften alle auf Kathaka Upanishad zurückgehen, und so zahlreiche, ganz oder teilweise und mit Variationen aus derselben entlehnte Verse. Ja, die ganze Versgruppe 6,12-14 ist aus Kath. 5,12-15 herübergenommen, mit Auslassung des wegen Tad Etad nicht passenden Verses 14, welcher jedoch für das Verständnis des folgenden Verses notwendig ist, wodurch sich die Entlehnung als solche verrät.

Diesem fortgeschritteneren Standpunkt entspricht es, daß nicht nur der Yoga, welcher als Weg zur Erlösung schon Kath. 8,10-13 und entwickelter Kath. 6,6-13 gelehrt wurde, Svet. 2,8-15 zu einer vollständigen Theorie ausgebildet erscheint, sondern auch viele wichtige Lehrbegriffe des Vedanta, die in frühern Upanishaden gar nicht oder nur andeutungsweise vorkamen, in Svetasvatara zuerst mehr oder weniger bestimmte Formen annehmen. Solche sind namentlich: das Selbst als Grund aller Gewißheit (Atmabhavat, 1,2); - das intellektuelle Weltprinzip (Hiranyagarbha, Brahma) als Erstgeborner der Schöpfung (3,4. 4,12. 4,18. 5,2. 6,17. 6,18); - die Weltvernichtung durch Brahman am Ende des Kalpa (3,2. 4,1. 4,11. 5,3. 6,3) und das periodisch damit abwechselnde Neuhervortreten der Welt aus Brahman (5,3. 6,4); - der Isvara als der Reifmacher der Werke und Verteiler ihrer Frucht (5,5. 6,4. 11. 12); - die Deutung des "dritten" der drei Pfade nach dem Tod (1,4. 5,7), nämlich des Devayana, als einer stufenweise erfolgenden Erlösung (1,11; später Kramamukti genannt, Syst. d. Ved., S. 430. 472); - endlich und vor allem, nachdem die Nichtigkeit der vielheitlichen Welt schon Brih. 4,4,19. Kath. 4,10-11 mit einer nichts zu wünschen übrig lassenden Deutlichkeit ausgesprochen worden war, die Svet. 4,9-10 (vgl. 1,10) zuerst vorkommende Erklärung der Welt als eines durch Brahman als Zauberer (Mayin) hervorgebrachten Blendwerkes (Maya).

Bei einem so feinen und fruchtbaren Denker, als welcher uns der Dichter der Upanishad in allen diesen Dingen entgegentritt, ist schwer zu begreifen die Vorliebe desselben für die personifizierende Auffassung des Göttlichen in der Weise der Volksreligion, wie diese, nachdem schon 2,1,-5 ein förmliches Gebet an Savitar um Erleuchtung aus dem Yajurveda eingeflochten war, namentlich in den Stücken 3,1-6 und 4,11-22 hervortritt, welche, unter einem Schwall vedischer Zitate, das Brahman als Isa, Isana (persönlichen Gott) und speziell als Rudra (identisch mit Hara 1,10) feiern, sei es infolge individueller Neigungen, sei es vermöge einer unwürdigen Akkomodation an herrschende Zeitströmungen. Zwar an einer Stelle (3,7) scheint es, als sei dem Verfasser das Symbolische dieser Personifikation bewußt (Isam Tam Jnatva), und als erkläre er das unpersönliche Brahman für das Höhere (Tatah Param), aber wir wissen nicht, ob wir doch nicht seine Worte zu wohlwollend interpretiert haben. Die Benennung des Rudra als Siva, welche ja noch in Atharvasiras fehlt und erst in Atharvasikha mit dem Anschein der Neuheit proklamiert wird (vgl. die Einleitungen dort), ist in unserer Upanishad noch nicht nachweisbar, wohl aber kommt siva als Adjektivum ("selig") siebenmal (3,5. 6. 11. 4,14. 16. 18. 5,14) in Zusammenhängen vor, welche zeigen, daß das Adjektivum siva auf dem Wege ist, zum Eigennamen des höchsten Gottes zu erstarren.

Ganz besondere Schwierigkeiten macht es, das Verhältnis unserer Upanishad zum Samkhyasysteme richtig zu bestimmen. Wenn schon die Kathaka Upanishad viele Anschauungen der Samkhyas antizipiert hatte (vgl. die Einleitung, oben S. 265), so treten uns in Svetasvatara Upanishad nicht nur eine ganze Reihe von Termini und Grundbegriffen der Samkhya-Philosophie]] entgegen (so, vom Purusha, Jna nicht zu reden, Prakriti 4,10, Pradhanam 1,10. 6,10. 16, Vyaktam und Avyaktam 1,8, die drei Gunas 1,4. 5,7. 6,2. 4. 16, das Lingam vielleicht 6,9, die fünfzig Bhavas 1,4. 5), sondern auch das verschiedenartige Verhalten der Purushas zur Prakriti kann gar nicht treffender illustriert werden als durch das Bild von den Böcken und der Ziege 4,5. Und doch steht der Monismus, Theismus und Idealismus unseres Dichters einem Dualismus, Atheismus, Realismus, wie ihn das Samkhyasystem vertritt, durchaus schroff und feindlich gegenüber: er betont mit Nachdruck "Gottes Selbstkraft, welche sich in ihre eigenen Gunas hüllt" 1,3, er behauptet, daß nun und nimmer ohne Gott ein Ende des Leidens erreicht werden könne 6,20, und er erklärt die ganze Prakriti für eine bloß von Gott hervorgebrachte Maya, 4,10. - Wie ist nun, bei so schroffem Gegensatz, die vielfache innere Verwandtschaft mit der Samkhyalehre zu erklären?[1] Hat vielleicht der Autor der Upanishad das Samkhyasystem des Kapila gekannt, aus ihm entlehnt, was ihm paßte, und das mit dem Vedanta Unvereinbare um so strenger verurteilt? Wäre dem so, hätte unser Dichter schon das Samkhyam des Kapila als gegnerisches System vor Augen gehabt, so würde sein Werk nicht Stellen enthalten, welche so ausgelegt werden konnten und tatsächlich ausgelegt worden sind, als würde in ihnen Kapila als der höchste Weise und das Samkhyam als der Weg zum Heil gepriesen. Solche Stellen sind 5,2 und 6,13. Wie in ihnen die Worte Kapila und Samkhyam zu verstehen sind, haben wir in den Anmerkungen gezeigt. Und diese Worte, weit entfernt für die Abhängigkeit der Upanishad vom Samkhyasystem zu zeugen, sind gerade das stärkste Argument gegen diese Abhängigkeit und beweisen, daß dem Autor der Upanishad Samkhyam als Name des von ihm bekämpften Systems und Kapila als Name seines Urhebers noch völlig unbekannt waren. Es bleibt somit nichts anderes übrig als anzunehmen, daß nicht die Upanishad von dem Samkhyasystem abhängig ist, sondern, umgekehrt, das Samkhyasystem, wir wollen nicht sagen geradezu aus unserer Upanishad, wohl aber aus der Zeitrichtung und dem Gedankenboden, aus welchem auch sie erwuchs, hervorgegangen ist. - In diesem Sinne ist die Svetasvatara Upanishad eine der wichtigsten Urkunden aus der Vorgeschichte des Samkhyasystems, in welchem wir, - trotz der glatten und abgerundeten Form, in der die Samkhyakarika es darbietet, - nicht die ursprüngliche einheitliche Gedankenarbeit eines individuellen Philosophen, sondern nur einen Kompromiß aus vielen und heterogenen Vorstellungen zu sehen vermögen, deren innere Widersprüche mit großer Kunst zu einem scheinbar einheitlichen System verarbeitet worden sind.

Fußnoten

  1. Scharfer Gegensatz im Äußeren bei tiefer innerer Verwandtschaft kommt in der Philosophie nicht selten vor. So steht die Metaphysik des Aristoteles der des Platon viel näher, als es wohl dem Aristoteles selbst bewußt gewesen ist. So, um ein noch näher liegendes Beispiel zu wählen, entlehnt Leibniz die beste Definition seiner Monade als automaton spirituale einer Abhandlung des so oft von ihm perrhorreszierten Spinoza; und wenn derselbe Leibniz am Schluß der Monadologie seine Ansicht dahin rekapituliert (§81): "ce système fait, que les corps agissent comme si (par impossible) il ny avait point d'ames, et que les ames agissent, comme s'il n y avait point de corps, et que tous deux agissent comme si l'un influait sur l'autre", - so wüßte ich nicht, was an diesen Worten zu ändern wäre, um sie voll und ganz auch auf Spinoza zu beziehen. - Die Upanishadlehrer, Platon und (wenn auch weniger hochstehend) Spinoza sind Metaphysiker, deren Lehren sich daher nicht völlig nach der Schablone der empirischen Anschauung konstruieren lassen. Platon wird von Aristoteles, Spinoza von Leibniz, der Vedanta vom Samkhyam in empirische Formen gepreßt und dadurch verdorben.

Siehe auch

Literatur

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