Offenbarung: Unterschied zwischen den Versionen
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Offenbarung ist wenn etwas was vorher verschlossen war, offen vor einem liegt. Im engeren Sinn ist Offenbarung etwas, was Gott einem enthüllt hat. Manchmal spricht man von den Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam, weil in diesen Religionen ganz besonders Bezug auf Offenbarung durch Gott gelegt wird. Allerdings gibt es auch im Hinduismus Offenbarungen durch die Rishis, und auch Krishna und Rama gaben Offenbarungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch kann man auch sagen, dass etwas wie eine Offenbarung war: Man hat plötzlich etwas ganz klar gesehen, das einem vorher vollständig verborgen war. So kann man Offenbarungserlebnisse haben. Im juristischen Sprachgebrauch gibt es auch den Offenbarungseid, bei dem jemand all sein Vermögen offen legen muss. In einem christlichen Kontext spricht man auch von der Offenbarung des Johannes als einem der Heiligen Texte des Neuen Testaments der christlichen Bibel. | |||
==Der Ort des Kultbildes in der Welt des Gläubigen== | ==Der Ort des Kultbildes in der Welt des Gläubigen== | ||
'''Artikel aus: Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild, 1987, S. 225 bis 249''' | '''Artikel aus: Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild, 1987, S. 225 bis 249''' |
Version vom 7. August 2015, 16:03 Uhr
Offenbarung ist wenn etwas was vorher verschlossen war, offen vor einem liegt. Im engeren Sinn ist Offenbarung etwas, was Gott einem enthüllt hat. Manchmal spricht man von den Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam, weil in diesen Religionen ganz besonders Bezug auf Offenbarung durch Gott gelegt wird. Allerdings gibt es auch im Hinduismus Offenbarungen durch die Rishis, und auch Krishna und Rama gaben Offenbarungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch kann man auch sagen, dass etwas wie eine Offenbarung war: Man hat plötzlich etwas ganz klar gesehen, das einem vorher vollständig verborgen war. So kann man Offenbarungserlebnisse haben. Im juristischen Sprachgebrauch gibt es auch den Offenbarungseid, bei dem jemand all sein Vermögen offen legen muss. In einem christlichen Kontext spricht man auch von der Offenbarung des Johannes als einem der Heiligen Texte des Neuen Testaments der christlichen Bibel.
Der Ort des Kultbildes in der Welt des Gläubigen
Artikel aus: Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild, 1987, S. 225 bis 249
Avalokiteshvara - Die sechssilbige große Weisheit
Ein bedeutender Text des jüngeren Buddhismus, »die Entfaltung des Korbes der Eigenschaften des Avalokiteshvara« gipfelt in der Übermittlung der »sechssilbigen großen Weisheit«. Sie ist es, die das Wesen des großen Heilbringers Avalokiteshvara mit magischen Silben im Reich der Sprache ausprägt, der rastlos in vielerlei Gestalt die Welten durchwandert, um ihre Wesen zur Erleuchtung zu führen, wofern er nicht dem Allerbarmer Amitabha im westlichen Paradiese bei seinem Erlösungswerke zur Seite steht. »Diese sechssilbige große Weisheit ist das innerste Herz des Avalokiteshvara, und wer um dieses innerste Herz weiß, der weiß um die Erlösung. In ihr, die zum nationalen Gebet und Kennspruch im Bereich der lamaistischen Theokratie Tibets geworden ist, weil sein Kirchenhaupt, der Dalai Lama, als immer erneute Menschwerdung Avalokiteshvaras gilt, erscheint das hohe Wesen in weiblicher Gestalt, »Juwelenlotusblüte« (Manipadma) genannt; wie Avalokiteshvara auch in China und Japan als Kwanyin-Kwannon vorwiegend in weiblicher Form verehrt wird.
Die »sechssilbige große Weisheit« ist eine Gebetsformel wie jene zahllosen anderen Mantras, mit denen ein Eingeweihter einen Aspekt des Göttlichen aufruft, um ihn innerlich zu verehren oder für den Kultakt in ein Yantra einzusetzen. Sie lautet: »Om Manipadme Hum«. Der Karandavyuha nennt sie, da sie Avalokiteshvaras Wesen ausdrückt, die »Essenz des Großen Fahrzeugs« — jener späteren Buddhalehre, die besagt, daß alle Wesen werdende Buddhas sind — und legt dem Bodhisattva »Der alle Hindernisse entriegelt« (Sarvanivaranavishkambhin) die Worte in den Mund: »Wer mir die große sechssilbige Weisheit gibt, dem wollte ich die vier Weltteile voll siebenerlei Juwelen schenken. Wenn er zum Schreiben nicht Birkenrinde fände, noch Tintenschwarz und Papier, so sollte er mit meinem Blute Tinte machen, meine Haut statt Birkenrinde nehmen, mir einen Knochen spalten und zum Schreibrohr machen, und alles das täte meinem Leibe nicht weh. Er soll mir wie Vater und Mutter sein und Ehrwürdigster der Ehrwürdigen.«
Der Buddha Padmottama (»Höchster Lotus«) hat unendlich viele Welten durchwandert, um in den Besitz der Königlichen Großen Weisheit zu kommen. Umsonst. Schließlich gelangt er zum Buddha Amitabha und bittet ihn um die heilige Formel. »Da sprach der in der Wahrheit Gekommene, Heilige, Wahrhaft Erleuchtete Amitabha zu Avalokiteshvara, dem Bodhisattva und Großen Wesen, mit einer Stimme, die klang wie der Ruf des Kuckucks: >Sieh o Sohn aus edlem Hause, hier ist der in der Wahrheit Gekommene, Heilige, Wahrhaft Erleuchtete Padmottama um der Sechssilbigen Großen Weisheit willen durch viele hunderttausend Millionen zehn Millionen Welten umhergewandert — gib ihm, o Sohn aus edlem Hause, die Sechssilbige Große Weisheit, die Königin. Der in der Wahrheit Gekommene wandert so umher!< (Das tiefste Geheimnis seines Wesens, das »innerste Herz des Avalokiteshvara« vermag niemand so zu offenbaren wie er selbst.)
Da sagte Avalokiteshvara zum Erhabenen: >Sie darf keinem gegeben werden, der nicht ihr Mandala gesehen hat — wie sollte er die >Lotuszeichen<-Fingerhaltung (Padmankamudra) annehmen? Wie sollte er die >Juwelenhaltende<-Fingerhaltung (Manidhara Mudra) verstehen? Wie sollte er die Handhaltung >Herrscherin aller Könige< (Sarvarajendra) verstehen? Wie sollte er das völlige Reinwerden des Mandala verstehen?< — Dieses ist das Zeichen des Mandala: Ein Vierspitz (Caturasra) fünf Handbreit im Umkreis. In der Mitte des Mandala soll er Amitabha zeichnen. Zermahlener Saphir, Rubin, Smaragd und Kristall, zermahlenes Gold und Silber sind im Bilde des In der Wahrheit Gekommenen Amitabha zu vereinigen.
Auf der rechten Seite ist der Bodhisattva »Großer Träger des Juwels« (Mahamanidhara: augenscheinlich ein männlicher Aspekt Avalokiteshvaras, dem als weibliche Erscheinungsform Manipadma entspricht, wie die Manidhara Mudra sein Wesen mittels Fingerstellung ausdrückt) anzubringen, auf der linken Seite ist die Sechssilbige Große Weisheit anzubringen (die im Reiche der Gesten als Sarvarajendra Mudra erscheint): vierarmig, gelbfarben, mit mannigfachem Schmucke geziert. In ihrer linken Hand ist ein Lotus anzubringen, in der rechten Hand ein Gebetskranz aus Nüssen. Zwei Hände sind zusammengefügt darzustellen in der Haltung (Mudra) genannt »Herrscherin aller Könige« (Sarvarajendra). Zu Füßen der Sechssilbigen Großen Weisheit ist ein (dienender) Geist voll magischen Wissens (Vidyadhara) hinzustellen. In seiner rechten Hand ist ein Weihrauchlöffelchen anzubringen, das Rauch ausströmt. In seiner linken Hand ist ein Korb anzubringen, der voll von vielerlei Schmucksachen ist. Und an den vier Toren dieses Mandala sind die Vier Großkönige (die göttlichen Welthüter) anzubringen mit verschiedenen Waffen in den Händen. In den vier Ecken des Mandala sind vier volle Gefäße anzubringen, die mit vielerlei Edelsteinen angefüllt sind.«
Der Buddha Amitabha fragt Avalokiteshvara, wie sich ein Eingeweihter helfen soll, wenn er zu arm ist, die kostbaren Farbpulver aufzubringen, mit denen das Bild des Mandala verfertigt werden soll, und erhält den Bescheid, dann sollten statt zermahlener Edelsteine und -metalle Blumen und Wohlgerüche von den entsprechenden Farben verwendet werden. Amitabha fragt weiter, was geschehen soll, wenn auch diese nicht zu beschaffen sind? »Dann soll ein geistiges Mandala vom Lehrer vorgestellt werden« und »die Merkmale der Mantras und Mudras sind durch den Lehrer zu zeigen.« — Erst nach dieser Beschreibung erhält der Buddha Padmottama die sechssilbige hohe Weisheit.
Es entspricht der Heiligkeit und unendlichen Kraft, Wesen zu erlösen, die dieser Formel innewohnen, daß ihre Entsprechung im Reiche der Sichtbarkeit wenn möglich aus edelsten Stoffen gefertigt sein soll. Aber wenn Avalokiteshvara die sechs Silben ohne eine Beschreibung des Mandala nicht mitteilen will, so hat das seinen Grund darin, daß die Formel als Gebilde im Reich des Schalls unvollständig und unbrauchbar ist, wenn nicht ihre Geschwister im Reiche inneren und äußeren Gesichts und in der Sphäre der Gesten hinzutreten. Soll diese Formel ein Geschöpf wandeln und zum Stand der Erleuchtung hinüberführen, so muß ihr Wesen, das wunderwirkende und vorbildliche Wesen Avalokiteshvaras, alle Sphären der Wirklichkeit und Aktivität im Eingeweihten besetzen können: Sprache, Vorstellungswelt, körperliche Haltung und Bewegung.
Der Guru - Göttliche Offenbarung
Das Yantra — im Fall des Karandavyuha ein Mandala — steht eben funktional in keinem Falle für sich; es bedarf, um zu wirken, des Wissens und der Übung jener andersgearteten Manifestationen des »innersten Herzens« einer göttlichen Wesenheit, die es selbst in der Sphäre des Sichtbaren zur Anschauung bringt. Aber auch im Reiche des Sichtbaren steht es nicht als einzige Manifestation da. Der hinduistische Tantrismus kennt den Menschen der dem Eingeweihten als Offenbarung des Göttlichen gegenübertritt. In männlicher Erscheinung als Lehrer (Guru) wie das Kularnava-Tantra lehrt: »Shiva, der allgegenwärtige, zu fein um wahrgenommen zu werden, der Trunkene, Ungeteilte, Unvergängliche — der dem Himmel gleicht, der Ungeborene, Unendliche, wie wird er verehrt?
Darum eben hat Shiva die leibhaftige Gestalt des Lehrers angenommen und verleiht, wenn er hingebungsvoll verehrt wird Weltglück (Bhukti) und Erlösung (Mukti). In Haut von Menschen gebunden wandelt der Höchste Shiva selbst leibhaftig zur Freude wahrer Schüler über die Erde.
Das dritte Auge auf meiner Stirn (Shiva selbst spricht) und die Sichel des Mondes und ein Paar meiner Arme verberge ich und wandele in Gestalt des Lehrers (Guru) auf Erden dahin. So wie >Ghata<, >Kalasha< und >Kumbha< alle dasselbe Ding meinen (nämlich einen Topf), so wird >Gott< (Deva), >heiliges Wort< (Mantra) und >Lehrer< (Guru) gesagt, um ein und dasselbe zu bezeichnen.«
Ebenso lehrt das Tantraraja-Tantra: »Wie zum Gott, so zum heiligen Wort, wie zum heiligen Wort so zum Lehrer, wie zum Lehrer, so zum eigenen Selbst (sei die Liebe des Eingeweihten): das ist die Rangordnung der Liebe (Bhakti). Den Lehrer soll er nicht für einen Sterblichen achten, achtet er ihn aber dafür, erlangt er niemals Vollendung (Siddhi) durch heilige Sprüche (Mantra) oder Verehrungen des Gottes (Devapujana).«
Darum wird der Guru in Preisstrophen, die der eingeweihte Schüler zu seinem Geburtstage sprechen soll, »Shiva« genannt und »der die Form Shivas hat« (Shivarupin), »der viele Gestalten annimmt« aber »in Wahrheit eine einzige hat« — er ist »die Sonne, die alles Nichtwissens Dunkel zerspaltet«, ist »greifbar gewordenes Geistiges« (Cid-Ghana) und »sein Wesen ist Shiva. (Shivatman).
Der Guru wird als Gott verehrt, aber er ist nicht von sich aus Gott, sondern ein vollendeter Eingeweihter der göttlichen Wahrheit; wer an seiner Hand wandelt, befindet sich auf dem Wege zu seiner eigenen Vergottung, wenn er den Guru als Gott verehrt. Da die Liebe zu Gott, zum Lehrer und zum eigenen Selbst im Grunde dasselbe meinen — wie beim Topf sind nur die Namen verschieden —, ist die Vergottung des Lehrers der Weg zur eigenen Vollendung (Siddhi):
»Völlig ein und denselben wisse er sich immerdar mit seinem Lehrer, nicht daß sie zwei Wesen seien. Allen Geschöpfen erweise er Liebe, als wären sie er selbst«, heißt es im XII. Kapitel des Kularnava-Tantra, das von den »Merkmalen der Liebe zu den Sandalen des Lehrers« handelt.
Die Haltung des Schülers zum Lehrer
In solchen Vorstellungen und Vorschriften offenbart sich in der letzten Epoche rein-indischen Geistes die gottähnlich-aristokratische Haltung, die der brahmanische Eingeweihte altvedischer Überlieferung Jahrtausende vorher an sich entfaltet hat, die Haltung der Geweihten als »Götter auf Erden«. Der Mensch erkennt sich als Erscheinungsform des Göttlichen. Die Identität der Gottnatur in der zwiefachen Erscheinung von Lehrer und Schüler als letzte Wesenheit ihres Beieinander, die Aufhellung dieser Identität und ihre unterschiedslose Ausdehnung auf alles als Ziel dieser Beziehung erklären besser als der esoterische Charakter der Tantralehre allein die strengen Anforderungen, die an das Wesen von Lehrer und Schüler gestellt werden:
»Wer die Wahrheit nur sehen läßt, und sein Schüler wird im selben Augenblick zu Wahrheit und weiß sein Selbst (Atman) als erlöst — der allein ist Guru, kein anderer«, heißt es im XIII. Kapitel des Kularnava-Tantra, das die Eigenschaften von Lehrer und Schüler angibt (Vers 96); aber dieses Wunder der Belehrung kann sich nur an erlesenen Schülern vollziehen, wie das Kapitel über die Einweihung zeigt: »Ein ganzes Jahr, oder ein halbes oder ein viertel Jahr soll ein Lehrer seinen Schüler sorgfältig mit dem Geiste oder auch mit der Tat prüfen«, ob er würdig und reif ist, die Weihe zu empfangen. Denn zwischen dem echten Lehrer und dem berufenen Schüler wirkt die Weihe wie ein alchemistischer Wandlungsvorgang: »Wie vom Könige metallischer Essenzen (Rasendra) durchtränktes Eisen zum Gold-Sein gelangt, so erlangt ein von der Weihe durchtränktes Selbst Shiva-Sein.«
Wie das Verhältnis des Schülers zum Lehrer durchaus in der Identität göttlichen Wesens seinen Sinn hat, jenseits der menschlichen Bewußtseinsspaltung in Ich und Anderes (Du, Welt); und wie dieses Verhältnis in umfassender Liebe, die sich mit allem eines weiß, auf alle Geschöpfe ausgedehnt werden muß, wenn das Ziel der Einweihung, zu seiner eigenen Gottnatur zu gelangen, erreicht werden soll, kann auch das Verhältnis von Mann und Frau zueinander durchaus kein anderes sein, als die völlige Einheit Shivas mit seiner Shakti, der Höchsten Göttin, als das Verhältnis des göttlichen Paares, in dem das attributlose Eine (Nirgunam Brahman) zur höchsten Maya-haften Entfaltung in einer Urpolarität auseinandertritt. Die Gattin ist des Mannes Shakti, und wie im Lehrer das männliche Element der obersten polaren Entfaltung des Göttlichen, Shiva, dem Eingeweihten als Mensch gegenübertritt, so begegnet ihm in seinem eigenen Weibe, dann aber auch in allem Weiblichen die göttliche Shakti in personaler Form, deren spielende Entfaltung die ganze Welt und sein eigenes Selbst sind.
Die Verehrung der weiblichen Kraft
An Stelle eines figuralen Kultbildes oder eines linearen Yantras, in das der Eingeweihte das Göttliche, das in ihm selbst schlummert, einsetzt und verehrt, nachdem er es durch Mantra, Dhyana und Auflegen der Hand auf seine Glieder (Nyasa) erweckt und ins Bewußtsein gehoben hat, kann er im Ritus des Kulatantra auch ein lebendes weibliches Geschöpf, Kind, Mädchen oder Frau, als Erscheinung der göttlichen Shakti verehren. Das Kularnava-Tantra handelt ausführlich davon in seinem X. Kapitel: »Im Monat Ashvina soll er an neun Mädchen Verehrung vollziehen, in der Frühe soll der Eingeweihte sie einladen voller Gottesliebe (Bhakti), reinen Sinnes.«
»Ein reizendes kleines Mädchen, das ein Jahr alt ist und mit glückbedeutenden Zeichen versehen, soll der Eingeweihte baden und darauf reinen Wesens die Verehrung der Göttin in der gehörigen Reihenfolge an ihm vollziehen. Wenn das Mädchen durch Baden und Salben rein ist, bringe er es auf den Sitz der Verehrung, setze es ein in das Gefäß der Gottheit (Devatasannidhi, nämlich in das lineare Yantra, in das die lebende Gestalt als figurale Füllung eingeht) und verehre das Kind. Mit Wohlgerüchen, Blumen usw., mit Räucherwerk und Lichtern, mit leckeren Bissen, Speise, Trank usw., mit Milch, zerlassener Butter, Honig und Fleisch, mit Banane, Kokosnuß und anderen Früchten soll er sie erfreuen.«
Ein menschliches Abbild der Göttlichen Kraft, die sich attributhaft in weiblicher Gestalt offenbart, ist als figurales Yantra geeignet, wenn der Eingeweihte in ihm nicht das individuelle menschliche Wesen sieht, sondern in ihm die Gottheit weiß: »Wenn er ein geschmücktes kleines Mädchen (Bala) sieht, soll er denken, es sei die Gottheit seines Herzens, darauf soll er es in der Meinung, es sei die Gottheit (Devatabuddhi) verehren und dann wegschicken.« Aber diese Verehrung der Gottheit in Gestalt lebender Weiblichkeit ist an die Verwendung eines Yantras als kultischer Sitz der verehrten Person gebunden: »Geschieht die Verehrung ohne Yantra, so hat die Gottheit keinen Gefallen daran.« — eine Vorschrift, die nebenbei dazu dienen konnte, dem Kultakt seine rituelle Strenge zu sichern. Ihr Hauptsinn ist, durch Einsetzung der menschlichen Figur in das lineare Ordnungsschema der göttlichen Wesenheit, das Menschenkind zum vollgültigen Gefäß des Göttlichen zu machen, das verehrt werden soll. Ebenso soll man »am neunten Tag der zu- und abnehmenden Mondphase neun kleine Mädchen, die ein bis neun Jahr (d. h. eines immer ein Jahr älter als das andere) alt sind« verehren. Sie stellen neun Aspekte der Gottheit dar. »In der Meinung, sie seien die Gottheit (Devata-Buddhi), verehrt sie der Eingeweihte.«
»Oder aber der Eingeweihte (Mantravid) verehre in Gottesliebe (Bhakti) neun Nächte hindurch neun junge Mädchen im ersten Jugendschmelz (Yauvanarudha Pramada), die schön sind«, mit dem gleichen Ritual.
Weiter heißt es: »Am Freitag soll er ein schönes Mädchen, das er mag, (Kanta) im ersten Jugendschmelz, mit allen Gutes verheißenden Zeichen versehen, das ihm gefällig ist, das reizend (...) und schon über die Pubertät hinaus ist«, einladen und zu sich rufen. Er soll ihren Leib durch Baden und Salben rein machen und sie auf den Sitz setzen. Mit Wohlgerüchen, Blumen, Gewand und Schmuck soll er sie schmücken, wie es Vorschrift ist, darauf soll er sich selbst mit Wohlgerüchen, Blumen usw. schmücken. Er soll die Gottheit in das Mädchen hineinversetzen und ihr Opfer darbringen durch die Reihe der Handauflegungen (Nyasakrama). Nachdem er die Verehrung in den üblichen Formen abgewandelt hat und ihr Weihrauch und Licht (...) dargebracht hat in der Meinung, sie sei die Gottheit, soll er sie in Gottesliebe mit Dingen, die die sechs Geschmacksarten an sich haben, mit Fleisch und anderen Speisen und Leckerbissen erfreuen. Sieht er sie auf der Höhe der Freude angelangt (Praudhantollasasahita), soll er den heiligen Spruch der Göttin (Manu-Mantra) murmeln, selbst von der Lust der Jugendkraft erfüllt (Yauvanollasasahita), mit seinen Gedanken ganz in das Schaubild der Gottheit versenkt. Nachdem er, ohne daß in seinem Geiste eine Veränderung vor sich geht, eintausendundachtmal ihr den gemurmelten Spruch usw. dargebracht hat, verbringe er die Nacht mit ihr. Wer in dieser Form drei, fünf, sieben oder neun Freitage Verehrung übt, dessen frommer Gewinn (Punya) ist nicht zu zählen.«
Das Tantraraja-Tantra lehrt, wie die Verehrung eines bestimmten Aspektes der universalen Göttlichen Shakti »Nitya Nitya« genannt, mit Hilfe von sieben jungen Frauen vollzogen werden soll: »(...) diese Göttinnen (Aspekte der Nitya Nitya) stelle er in der beschriebenen Erscheinung vor seine innere Schau und verehre sie in den Cakras. (...) Ebenso setze er in den sieben Cakras sieben junge Frauen ein, die das Aussehen der Göttinnen haben (Tadvarna) und reizende Erscheinungen sind, und verehre sie der Reihe nach, wie oben beschrieben ist. Mit Blumen, Gewändern, Wohlgerüchen, Blut und anderen Speisen stelle er sie zufrieden. Sind sie zufriedengestellt, so sind auch die Shaktis, die ihnen gleichen, zufriedengestellt.«
Neben diesen zu besonderen Kultzwecken herangeholten Offenbarungen der göttlichen Shakti in menschlicher Gestalt, steht ihre naturgegebene Erscheinung als Gattin des Eingeweihten. Sie heißt »Sva-Shakti«, »die eigene Shakti«. Im Kulacudamani-Tantra, dem »Scheiteljuwel der Kula-Lehre« faßt die göttliche Shakti ihre Beziehung zum Göttlich-Männlichen, zu Shiva, in Worten zusammen, die das Verhältnis der Gatten zueinander in den Vorstellungen und Bräuchen der Tantras erhellen:
»Ich gehe ein in deinen Leib; mit der Shakti vereint sei voller Macht (Prabhu). Außer mir ist keine Mutter, die Erzeugtes zur Erscheinung bringt. Darum wenn Erzeugtes sich entfaltet, findet sich Sohnschaft bei dir. Außer dir ist kein Vater, der Erzeugtes zur Erscheinung bringt, darum bist du allein (mein) Vater und kein anderer. Zuweilen hast du die Form des Vaters, zuweilen trägst du des Lehrers Form, zuweilen stehst du im Stande des Sohnes, zuweilen bist du mein Schiller! Aus der Vereinigung von Shiva und Shakti entfaltet sich die Welt. Alles besteht aus Shiva und Shakti, was immer in der Welt ist. Darum bist du überall — überall bin ich, o Großer Herr! Alles bist du, o Herr der Götter, und alles bin ich, du Ewiger.«
In solchen Worten ist das unlösliche Verbundensein altindischer Gatten, ihr »Zwei-in-Eins«, das durch den Flammentod der Witwe den letzten und nach außen sichtbarsten Ausdruck fand, das in ihm über die Episoden von Tod und Wiedergeburt sein eigenes Dasein für die unendliche Fluchtlinie indischer Zeiträume bejahen wollte, zum anschaulichen Symbol göttlichen Wesens erhoben. Das Geheimnis des Göttlichen, daß es, von seinem weiblichen Aspekt aus betrachtet, Vater und Sohn zugleich sei, ist die Spiegelung einer alten Anschauung von der Rolle der Frau als Gebärerin des Gatten. Manus Gesetzbuch hat diese Anschauung in der Formel zusammengefaßt: »Die Gattin (Jaya) ist darum Gattin (Jaya), weil der Mann in ihr von neuem geboren wird (Jayate).« — Die Gattin ist die Mutter des Gatten, weil sie Mutter seines Sohnes ist, in dem der Mann zu neuem Leben, zu irdischer Unsterblichkeit ersteht.
Alles was in der Welt ist, ist Shiva und Shakti: in der Vereinigung der Gatten stürzt die polar gespannte Zweiheit des Göttlichen in eins, in ihr tritt menschliches Bewußtsein über die Grenzen seiner Vereinzelung ins Reich der Übergegensätzlichkeit und hebt sich in seiner Polarität auf (es wird Nirdvandva). Die eheliche Erotik ist ein Weg zur Erfahrung der eigenen Gottnatur in der Aufhebung von Ich und Du, im Versinken der Welt, in der Übergegensetzlichkeit von Lust und Schmerz usw.
Diese Auffassung des ehelischen Eros, in der die Gatten sich als Shiva und Shakti begreifen, bringt das primitive Triebleben zur Selbsterkenntnis seines Wesens, wandelt natürlichen Drang zum gelassenen Spiele des Göttlichen, verklärt das Sinnliche und vergöttlicht die eheliche Gemeinschaft.
So schildert das Kularnava-Tantra im XIII. Kapitel, das dem Liebesgotte geweiht ist, die Vereinigung der Gatten als Heimkehr des Göttlichen aus seiner Zerspaltenheit im menschlichen Bewußtsein in der Begriffssprache der Samkhyalehre: »>Der Mann, dessen Leib schillernd-spielendes Ich-Gefühl ist (Ahamkara), dessen Glied der innere Sinn (Manas) ist, der Stätte der Wahnbefangenheit ist, soll sich mit dem Weibe vereinen, dessen Leib Vernunft (Buddhi), dessen Schoß Denken (Cittam) ist.< Wer, die Liebesvereinigung sich immer so deutend, seine Frau liebt, der erlangt Lebensglück (Bhukti) und Erlösung (Mukti) und berückt das Frauenherz.«
Die Samkhya-Lehre
Die Samkhyalehre läßt aus dem »Unentfalteten« (Avyaktam) als stoffliches Wandlungsprodukt die Vernunft (Buddhi) als das »Große« hervorgehen, aus der sich in weiterer Wandlung das Ich-Gefühl abspaltet; aus ihm differenziert sich wiederum der Innere Sinn, die fünf äußeren Sinnesvermögen und fünf Vermögen der Aktivität, aus dem Ich-Gefühl wächst schließlich in grober und feiner Stofflichkeit die äußere Welt hervor, entsteht zum Ich das Andere. Das Denken (Cittam) hat in der Reihe der Samkhyabegriffe keinen besonderen Platz für sich, es ist Funktion der Vernunft (Buddhi). Hier wird gelehrt, daß die Vereinigung von Mann und Frau zu begehen sei als der entscheidende Heimgang der höchsten Entfaltungsformen des Unentfalteten in seine eigene unterschiedslose Einheit. Der menschliche Akt ist symbolischer Vorgang und sinnliches Substrat, an dem die einzelne Seele zur Erfahrung ihrer allumfassenden Gottnatur kommen soll, ist ein Sakrament, das den verwandeln soll, der in seine Bedeutung eingeweiht ist.
Die Kula-Lehre
In allem Weiblichen die göttliche Shakti sehend, überschreitet der Tantrismus in der »Kula-Lehre« die Grenze der ehelichen Gemeinschaft »Kula«; die »Familie« als Gemeinschaft von Mann, Weib und Nachkommenschaft als das >Drei-in-Eins< ist das Zeichen für die völlige Identität von Erkennendem, Erkennen und Erkennbaren — vom >Messenden< (Matr), wie es heißt, >Maß< (Mana) und Ermeßbaren (Meya), das heißt von >Einzelseele< (Jiva), >Erkenntnis< (Jnana) und >Allem< (Vishvam), nämlich der Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt. Sie sind >Drei-in-Einem< als Manifestationen ein und derselben Shakti, die nur dem Unwissenden in seinem vereinzelnden Kontur befangenen Bewußtsein verschieden erscheinen.
Die Erfahrung ihrer Einheit ist durch keine bloße Reflexion zu gewinnen, ihre wahre Einverleibung kann nur das Ergebnis eines Wandlungsprozesses sein, der — wie aller Yoga — die Aktivität des ganzen Menschen fordert. Die Schranken menschlichen Einzeldaseins müssen nicht nur gedanklich überflogen werden, sie müssen kultisch aufgelöst und zertan werden, denn die Heimkehr des Göttlichen aus der Unterschiedlichkeit zur übergegensätzlichen Einheit ist kein Flug des Geistes, sondern eine Wandlung in der Sphäre des Seins. Als Einzelwesen ist der indische Mensch in seinem ganzen Lebensgange gebunden durch sittlich-religiöse Ordnungen, die, als göttlich gesetzt, ihn von der Stunde seiner Geburt an umfangen und je nach seiner Herkunft und seinem Geschlecht in ihrem Pflichtenkreise differenziert sind. In ihrer Erfüllung weiß und betätigt sich der Mensch fortlaufend in seiner Besonderheit, ihre treue Erfüllung verheißt ihm zwar ein glückliches Dasein auf Grund rechten Wandels in diesem wie im kommenden Leben, hält aber sein Wesen in seiner Vereinzelung unerlöst fest. Daher erschaut die Kula-Lehre einen Weg zur göttlichen Übergegensätzlichkeit darin, die Bindungen, die das Einzelleben halten und tragen, zu durchbrechen — nicht in profaner Unmoral, sondern in kultisch streng geregeltem Ritus, in den Kula-Gebräuchen (Kulacara).
Wie lebenzerstörende Gifte, die, in richtiger Form zur rechten Zeit verabfolgt, das Leben retten können, verordnet der Kulacara das im Alltagsleben Verbotene als kultische Ingredienzen seines Sakraments, die dem Eingeweihten den Weg zur Vergottung auftun. Diese Ingredienzen werden kurzweg die »fünf Ms« (Ma-Kara-Pancaka) genannt: Alkohol (Madya), Fleisch (Mamsa), Fisch (Matsya) und außereheliche Liebesvereinigung (Maithuna).
Als Fünftes kommen Hand- und Fingerstellungen (Mudras) hinzu. Diese alle »erfreuen die Gottheit«. Der Genuß der ersten vier gilt im profanen Leben als mehr oder minder schwere Sünde. Es ist nicht nur ihre elementare Funktion, berauschend und entfesselnd zu wirken, die sie zu sakramentalen Essenzen macht, viel mehr ihre Eigenschaft, daß sie, kultisch geadelt und in ein Zeremoniell gebracht, den Eingeweihten der moralischen Ordnungssphäre seines Alltagsmenschentums entrücken. Das Pathos der Antithese gibt dem Verworfenen die Würde des Geheiligten. Die Gebote, die dem Einzelnen im profanen Leben seine Grenzen ziehen und seine Haltung bestimmen und die äußeren Dinge als erlaubt oder verboten konturieren, werden rituell aufgehoben, um einer kultischen Erlebnissphäre des Unterschiedslosen, Übergegensätzlichen Raum zu geben.
Aufgabe des Eingeweihten ist es, in diese Sphäre einzutreten, um sich in ihrem Medium als ein völlig anderer zu erfahren, als er sich im Alltagsleben wissen konnte und durfte. Die Haltung des Vollendeten, übergegensätzlichen Vergotteten wird im Ritual vorweggenommen, um, erfahren und geübt, vom Eingeweihten sich einverleibt zu werden, damit die Wesenswandlung sich an ihm vollziehe. Die ideale Haltung, die der Eingeweihte als Ziel erstrebt, muß von ihm in ritueller Aktivität vorweggenommen werden, um ihm zur Natur zu werden.
Wie der buddhistische Adept des »Kreises der Seligkeit« sich selbst als Mahasukha mit der weiblichen Gestalt im innersten des Mandala vorstellt, so nimmt der Eingeweihte des Kulacara die Haltung des höchsten Shiva ein, der unlöslich mit der Shakti verschmolzen ist. Und da Shiva und Shakti allerwärts sind, hebt er die begrenzende Bindung an die eigene Gattin (Svashakti), die ihn als Einzelexistenz bestimmt, auf und eint sich für die Dauer des Kultakts mit einer Para-Shakti. Er verlegt dabei ins Reich des Sinnlich-Leibhaftigen, was der buddhistische Adept des Shri-Cakra-Sambhara in der Aktivität innerer Bildvorstellung vollzieht. Wer eine Wahrheit wahrhaft lebt — in innerer oder äußerer Aktivität—, kann erfahren, daß sie wahr ist. Es gibt keinen anderen Weg zu ihr — nur einen anderen von ihr her: die Gnade.
Es ist das technische Geheimnis des Kulacara, kultisch zu verordnen, was profan verpönt ist, denn die unterschiedslose übergegensätzliche Haltung des reinen Göttlichen und das um und um unterschiedlich bestimmte und begrenzte menschliche Sein stehen einander polar gegenüber. Zwischen ihnen scheint kein Weg der Übergänge, nur der Aufhebung möglich.
»Die Freude, die aus der Hingabe an Alkohol, Fleisch und Frauen entsteht, ist Erlösung (Moksha) für die Wissenden, Todsünde aber für die Nichteingeweihten. Shiva hat den Kula-Pfad gezeigt: was in der Welt (der Nichteingeweihten) gemein ist, ist erhaben, was in der Welt erhaben ist, ist gemein. Schlechter Wandel (Anacara) ist rechter Wandel, was verboten ist (Akaryam) ist höchste Pflicht (Karyam). Was zu trinken verboten ist, soll Getränk sein, und was zu essen verboten ist, soll Speise sein, womit man sich nicht vereinigen darf (Agamya), damit soll man sich vereinigen (Gamya), wenn man ein Kaulika (Anhänger des Kulacara) ist.«
Damit man die unterschiedslose Einheit aller Dinge erfahre: »Nicht Gebot noch Verbot, nicht frommes Werk noch Sünde, nicht Himmel noch Hölle gibt es für die Kaulikas, Feinde werden zu Freunden, offenbar werden Herren der Erde zu Sklaven, alle Menschen werden zu Verwandten für Kaulikas. Die ihr Gesicht abwandten kehren es freundlich zu, alle Stolzen bezeigen Ehrfurcht, die Hemmenden werden zu Förderern für die Kaulikas, der Tod wird zum Arzt, offenbar wird das Haus zum Himmel, heilig wird der Verkehr mit Frauen für die Kaulikas.«
Der Adept des Kulacara ist ein Yogin und wenn er sein Ziel übergegensätzlichen Seins erreicht hat, ist er der Welt, die in Unterschiedlichkeit und Konturen lebt, Ärgernis, Gespött und Rätsel: »Der Erlöste spielt wie ein törichtes Kind, der Herr des Kula wandelt einher wie ein Stumpfsinniger (Jada, Idiot), wie ein Irrer (Unmatta) redet der Weise, der Yogin des Kula.«
Lebt der Vergottete wie andere Menschen, so geschieht es in Anpassung an ihr Treiben, um ihnen zu helfen: »Der Yogin genießt die Sinnenfreuden, um den Menschen zu helfen, nicht aus Verlangen; allen Menschen gefällig spielt er auf Erden«, und verhüllt damit sein wahres Wesen: »Alles verdorrend wie die Sonne, alles verzehrend wie das Feuer ist der Yogin; alle Genüsse genießt er und doch bleibt kein Makel an ihm haften. Er ist allesberührend wie der Wind, allesdurchdringend wie der Äther. Denn er ist Shiva geworden. Shiva sagt von sich: »Nicht auf dem Kailasha wohne ich, nicht auf dem (Weltberg) Meru, noch auf dem (Berge) Mandara: wo die >Wisser des Kula< weilen, da weile ich.«
Shiva, mit Shakti unauflöslich vereint, ist Zwei-in-Eins. Wer das weiß, sieht zwei große Ziele indischer Spekulation und des Yoga unter sich: das Eine, »Zweitlose« des Vedanta, und die »Zweiheit«, deren rechte Scheidung (Viveka) die Seele aus der Verstrickung in den Samsara löst (Samkhya-Yoga). Shiva-Shakti sind eines und zwei: sie sind das in sich Ruhende, unterschiedslose Göttliche und sind seine Entfaltung zur Welt im Spiel der eigenen Maya, die Shakti ist.
»Manche streben nach dem Zweitlosen (Advaitam), und andere streben nach dem Zweihaften (Dvaitam). Mein wahres Sein (Tattva) erkennen sie nicht, das der Zweiheit wie der Zweitlosigkeit bar ist.«
Darum sind Weltgebundenheit (Samsara) und Erlösung eines, darum sind dem Adepten des Yoga die Freuden der Welt (Bhoga) nichts Verwehrtes. Solange zwischen Askese und Sinnenfreude eine Grenze gezogen wird, ist das Wesen des Göttlichen, das Zwei-in-Eins von Shiva und Shakti, von reinem Sein und Spiel der Maya nicht begriffen. Freilich muß die Sinnenfreude als Ingrediens des Yoga gefaßt und als Bestandteil heiligen Lebens geheiligt werden durch das Wissen, daß sie es ist, die den Menschen Shiva-Shakti-haft: gotthaft macht.
Shiva spricht zur Shakti: »Wozu viele Worte — vernimm, Geliebte meines Lebens: nicht ist ein Wandel (Dharma) gleich dem Kula-Wandel (...). Wenn der Asket (Yogin) nicht zugleich Sinnenmensch (Bhogin) ist, wenn der Sinnenmensch (Bhogin) nicht zugleich Asket (Yogin) ist, findet sich keine Vollendung der Übergegensätzlichkeit. Darum ist die Kula-Lehre, deren Wesen Askese und Sinnenfreude ist (Yogabhogatmaka) allem überlegen, Oh Liebe! Offenbar wird Sinnenfreude (Bhoga) zur Askese (Yogayate), Sünde wird zu frommem Werk, und zur Erlösung (Mokshayate) wird der Samsara im Kula-Wandel, Oh Herrin des Kula.«
In der Gleichsetzung von Yogin und Bhogin findet der jahrtausendalte Gegensatz von Askese und Weltfreude seinen Ausgleich, die Kluft zwischen dem Absoluten und der Welt der Maya schließt sich: beide sind eines in der Shakti.
Shiva-Shakti und Parashakti
Die Verwendung der Parashakti als lebendiges Ingrediens des Yantras der Göttin findet seine Rechtfertigung in dem Satze: »Zwei Worte bezeichnen Bindung (Bandha) und Erlöstheit (Moksha): »mein« und »mein-los« (Nirmama); mit »mein« wird die Einzelseele festgehalten, mit »nicht mein« wird sie erlöst. »Die kultische Vereinigung mit der Parashakti geschieht im »Shri-Cakra«, im »Kreise der Seligkeit«, dessen Aktualisierung auf der Ebene innerer Schau für Buddhisten z. B. der »Shri-Cakra« des Mahasukha, dessen Darstellung im figuralen Kultbilde z. B. Bilder Vajradharas sind, denen als rein lineares Yantra hinduistischer Prägung das Shri Yantra mit seinen ineinander verschlungenen männlichen (Vahni-) und weiblichen (Shakti-) Dreispitzen entspricht.
In der »Cakra-Puja«, in der Verehrung des Shri-Cakra, wird der Verehrende selbst zum Ingrediens des Yantra (hier Cakra genannt). Er selbst wird zusammen mit der Parashakti wesentlicher Bestandteil seiner figuralen Füllung, um sich, vereint mit der Parashakti, als Shiva-Shakti zu erfahren. »Nur Göttliches mag Gott verehren« — der Eingeweihte projiziert die Gottheit seines Herzens, seine verborgene Gottnatur, um deren übergegensätzliche Erfahrung er ringt, nicht in ein Yantra, sondern weckt die schlummernde Gottheit in sich selbst, um als das Göttliche, das er ist, den kultischen Kreis zu betreten. Mit seiner Parashakti spielt er den Gott — er mimt ihn — um das Wissen von der eigenen Gottnatur zum Sein zu wandeln.
Im Yantra der Cakra-Puja, dem der Eingeweihte selbst als figurales Füllsel dient, erreicht das Yantra dem Formenbestand nach den äußersten Grad stofflicher Dichte, leibhaftiger Wirklichkeit. Hier steht der Gegenpol zum Yantra rein innerlicher Schau, das vor dem inneren Auge aufgebaut, verehrt und eingeschmolzen wird. Zwischen diesen beiden esoterischen Typen des Yantras, von denen wir Uneingeweihten des Westens nur durch die literarische Tradition bekannt gewordener Geheimlehren wissen, stehen die figuralen Kultbilder (Pratima), die figural gefüllten Ordnungsschemata (Mandala) und die rein linearen Gebilde (Yantra), deren Funktion und Wesen von diesen beiden esoterischen Extremen her für unser Auge Licht empfängt, deren Ort in der geistigen Welt Indiens durch ihre Mittelstellung zwischen diesen beiden und durch die Ideologie, die allen stofflich und formal so verschiedenen Yantra-Typen gemeinsam ist, bestimmt wird.
Gegenüber der Rolle der Vorstellungskraft im Akt der Andacht ist die Rolle des Geräts (Yantra), dessen sie sich als Stütze bedient, sekundär: darum kann es so grundverschiedene Formen tragen. An Stelle der lebendigen menschlichen Pratima, die in ein lineares Ordnungsschema als Sitz (Pitha) eingeht, kann auch ein Topf mit abgekochtem Wasser als Behältnis der Gottheit treten, in dem sie eingesetzt und verehrt wird. — Oder ein Ding, das formal mit den von Menschenhand gefertigten Yantras nichts gemein hat, kann zum Stützpunkt des inneren Schaubildes dienen. Neben der spiegelnden Wasserfläche eines Topfes in linearem Ordnungsschema eignen sich leuchtende Objekte gut. Der Eingeweihte projiziert etwa sein inneres Schaubild der Gottheit samt den Gestalten ihres Gefolges in die Flamme einer Lampe und verehrt sie in ihr der Vorschrift entsprechend.
Während der täglichen Morgenandacht (Sandhya) geschieht die Verehrung der Gottheit des eigenen Herzens, indem ihr Schaubild in die Sonnenscheibe, die eben über den Horizont heraufkommt, hineingeschaut wird. Samt ihren Gefolgsgottheiten geht sie in das Sonnen-Rund (Surya-Mandala) ein: die vollständige figurale Füllung eines linearen Yantra oder Mandala. Schließlich kann auch der kultische Akt des Heimgangs zur übergegensätzlichen Gottnatur, den der Eingeweihte in Bildentfaltung und -einschmelzung übt oder durch Betreten des Shri Cakra, auch durch Mudras (Hand- und Fingerstellungen) vollzogen werden. Das Kularnava-Tantra lehrt z. B.: »Die Shakti seines eigenen Inneren läßt der Eingeweihte sich erheben und erfreut die Gottheiten seines Leibes« — nämlich indem er ihre liebende Vereinigung herbeiführt. Er selbst ist ja Shiva und Shakti. »Der Daumen« — das ist der lingamhafte unter den Fingern — »ist Gott Bhairava (d. i. Shiva); »der Mittelfinger« — im Indischen weiblich: Madhyama, »die Mittelste« (d. i. auch die Yoni) — »ist Candika (ein Aspekt der Shakti Shivas). Indem er Daumen und Mittelfinger vereinigt, stellt er die >Familie< (Kula-Santati) zufrieden.« D. h. er vollzieht mit den Fingern die kultische Zeremonie der Cakra-Puja der Kula-Lehre.
Höchste und Niedere Andacht
Die verschiedenen Formen der Yantras stehen nicht gleichwertig nebeneinander. Es gibt eine Rangordnung zwischen dem menschlich-leibhaftigen und dem Abbild in Stein, Erz oder Holz, wie andererseits auch zwischen dem figural erfüllten und dem rein linearen Ordnungschema. Das Göttliche ist geistig-unkörperlich in seinem reinen Wesen; die Gottheit besteht in ihrer Leiblichkeit aus Mantra (Devata Mantrarupini): darum haben die geistigeren Formen des Kultbildes und der Andacht vor den stofflich gröberen den Vorrang. Alles Yantra ist ja nur Behelfsmittel, genau wie äußere Darbringungen, Blumen, Wohlgerüche, Lichterschwenken, deren entraten kann, wer den ganzen Akt der Andacht nur mehr auf der Ebene, die einzig gültig und fruchtbringend ist: auf der Ebene innerer Vorstellungen zu vollziehen vermag, deren beständiges Spiel ja auch für den äußeren sinnlichen Akt unerläßlich ist, soll er nicht fruchtlose Mechanik sein. Je weniger der fromme Akt sinnlich greifbar ist, desto stärker spannt er das Innere des Andächtigen an und desto größer ist seine Wirkung. Höher als der laut rezitierte Spruch steht der geflüsterte, höher als der geflüsterte der nur innerlich aufgesagte.
»Der höchste Stand ist der eingeborene Stand (Sahaja Avastha: die eingeborene Gottnatur des Menschen), der mittlere Stand ist das Festhalten des inneren Schaubildes (Dhyanadharana), der niedere Stand ist Rezitation von Sprüchen zum Preise der Gottheit (Japastuti), der niederste der Niederen ist Verehrung durch Darbringungen (Homa Puja), die ein Yantra voraussetzt.«
»Nicht-Tun (Akriya) ist der höchste Kult (Puja, Akt der Verehrung), Schweigen ist die höchste Rezitation, Nicht-Denken ist die höchste Schaubildentfaltung (Dhyana), Wunschlosigkeit ist die höchste Erfüllung.«
Diese Anschauung zieht dem Anspruch des Kultbildes auf Würde eine obere Grenze, verweist es in ein unteres Bereich der Stofflichkeit, in dem es zwar Mittler und Führer zum Göttlichen ist, aber noch in der Sphäre erheblicher Gottesferne. Alle Schau des Göttlichen spiegelt seinen Schein, seine Maya, nicht sein Wesen und gilt als Wesensaussage nur auf der unteren Stufe, die noch augenhaft ist, wo nur das Auge des Eingeweihten in das Göttliche eingeht (das darum Erscheinung ist) und nicht sein Sein in göttliches Sein. Das Nicht-Denken (die Leere, die undifferenzierte Geistigkeit) ist die höchste Schaubildentfaltung: mit diesem natürlichen Paradoxon wird die Rolle des Kultbildes als eines bloßen Yantra umschrieben.
Rückbezug auf die klassische Kunst
Hier wird der Gegensatz des indischen Kultbildes zur westlichen Kunst deutlich, die, soweit sie irgend von klassischen Ideen befruchtet ist, einen platonischen Zug an sich trägt. Wie ein Seitenblick auf klassische Kunst der Betrachtung zum Sprungbrett diente, um den Absprung in die indische Welt fühlbar zu machen, kann ein Seitenblick auf die Ideologie westlich-klassischer Kunst Gesagtes und Erkanntes noch einmal gegensätzlich umfassen.
Der antike Geist hat der Bildung des Abendlandes und der Ideologie seiner Kunst als ein wesentliches Erbstück die Form hinterlassen, in der er das Göttlich-Absolute sah. Für Platon ist es die Welt der Ideen: ein Reich transzendenter Schaubilder, die gegenüber den Erscheinungen das Allgemeine, den idealen Typus darstellen, die aber unter sich durchaus individuell und durch und durch konturiert sind. Das Absolute ist ein Reich idealer Differenziertheit. Und Gott als Geist, wie Aristoteles ihn zeichnet, ist nicht konturlos leere Geistigkeit, übergegensätzliche Inhaltsreinheit, selbstleuchtender Spiegel ohne Bild, sondern ist gleichzeitige Allgegenwart aller geistigen Inhalte, ist das Geistige, das sich selbst in der Totalität seiner Bezüge denkt und weiß. (Die Form dieses Wissens ist Leben.)
Aristoteles Gottesvorstellung beherrscht als adäquate Formel des Göttlichen die mittelalterliche Scholastik und Mystik und beschließt auf dem Gipfel systematischer Philosophie im 19. Jahrhundert Hegels »Encyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«. Neben sie gehört die Idee des Logos. Die Johannesstelle »Am Anfang war das Wort.« ist bezeichnend für die abendländische Auffassung vom Absoluten: als Wort ist es konturerfüllte Klarheit, es sagt sich selbst aus und es hat Vernunft in sich.
Es steht also der indischen Idee vom reinen Göttlichen polar gegenüber. Ihrem Gegensatze entspricht ein Unterschied in der Funktion der Kunst in Indien und im Westen. In beiden Sphären leitet die Kunst, wenn sie sich höchste Ziele steckt, den Menschen vom Schein zum Wesen. Alle Kunst des Westens — nicht nur die klassisch stilisierte —, die in der klassisch-christlichen Ideologie vom Absoluten verwurzelt ist (z. B. die Plastik der Kathedralen), begnügt sich nicht mit der Schilderung der Erscheinungen als solchen, sondern sieht im irdischen Formenschatz, auf den die menschliche Erfahrung beschränkt ist, den farbigen Abglanz einer reinen Welt der Ideen und Idealtypen. Sie sucht das Wesenhafte an den Dingen und Personen darzustellen und wird als anschaulicher Niederschlag seiner Erkenntnis zur Quelle der Ergriffenheit und zum Wegweiser für das Leben.
Die Anschauung, die sie vermittelt, ist die zweite große Form, in der die Wahrheit über die göttliche und menschliche Welt dem Menschen gegeben ist, neben der unanschaulichen von Begriff und Idee. Als Spiegel des Wesenhaften aller Dinge und als anschauliche Bilder der Ideen sind westliche Kunstwerke letzte, unaufhebbare Wesensaussagen. Eben diese Geltung trennt sie von den indischen Yantras, die nur notwendige Spiegelung des ewigen Wesens auf der Ebene der Scheinbefangenheit sind, die Wahrheit nur für den sind, der noch nicht weiß, was Wahrheit heißt, der noch nicht Wahrheit ist. Das Geistesauge der platonischen Seele tränkt sich mit den ewigen Ideen, die sie rings umschweben, wenn sie im Kreise der Götter selig schauend in oberster Sphäre einherfährt, und die Erinnerung an die reinen Urbilder leitet die herabgestürzte durch die Erscheinungswelt. Indien hat keinen Himmel des anschaulichen Absoluten; das indische Absolute steht in ewigem Gegensatz zur Anschauung, die ausgedehnte Unterschiedlichkeit in sich schließt.
Siehe auch
- Kapitel 1: Einleitung - Indisches Kultbild und klassische Kunst (Indische Kunst)
- Kapitel 2: Yoga und figurales Kultbild
- 2.1 Die Andacht zum fuguralen Kultbild - Pratima
- 2.2 Äußeres Sehen und inneres Schauen (Visualisierung)
- Kapitel 2: Yoga und figurales Kultbild
- Kapitel 3: Yoga und lineares Kultbild - Yantra und Mandala
- 3.5.1 Figurales Kultbild und lineares Yantra (Bild)
- 3.5.2 Die Formensprache des rein linearen Yantra (Form)
- 3.5.3 Das Shri Yantra
- Kapitel 4: Zeichensprache und Proportion im Kanon indischer Kunst (Zeichensprache)
- Kapitel 5: Der Ort des Kultbildes in der Welt des Gläubigen (Offenbarung)
- Heinrich Zimmer
- Indische Mythen und Symbole
- Indische Geschichten
- Himmelsfrau
- Yantra
- Mandala
- Chakra
- Hinduismus
- Buddhismus
- Meditation
- Kontemplation
- Maya
Literatur
- Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild (1926)
- Heinrich Zimmer, Der Weg Zum Selbst (1944)
- Heinricht Zimmer, Die Indische Weltenmutter (1980)
- Heinrich Zimmer, Buddhistische Legenden (1985)
- Helmut Hansen: Die Physik des Mandala (2007)
- Lama Anagarika Govinda: Mandala – Gedichte und Betrachtungen (1961)
- Paramahansa Satyananda, Tantra und Yoga Panorama
- Paul Deussen, Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahabharatam. Übersetzung der Bhagavadgita (1911)
- Swami Sivananda, Götter und Göttinnen im Hinduismus
- Swami Sivananda: Konzentration und Meditation
- Swami Sivananda, Parabeln
- Swami Vishnu-devananda: Meditation und Mantras, Sivananda Yoga Vedanta Zentrum
Weblinks
- Meditation Portal
- Mantra Meditation
- Yantra Yoga
- Universallexikon - Kultbilder
- Kultbilder
- Mandalas - Kraftkreise der Buddhas. Aus: Buddhismus heute
- Mönche erschaffen farbenprächtiges Mandala
- C. G. Jungs Begegnungen mit dem Osten
- Erkenntnisreiche Beschreibung eines Mandalas
- Über Mandalas
- Das Mandala - der heilige Kreis im tantrischen Buddhismus
- Mandala Ikonografie
- Das Mandala der Tibeter
- Trailer des Dokumentarfilmes MANDALA von Christoph Hübner und Gabriele Voss. Sechs Mönche aus der Drugpa-Kagyü-Schule des bhutanischen Buddhismus stellen ein Sandmandala her.
- Mandalas and their Symbolism
- Englische Einführung und Konstruktionsbeschreibung eines Mandalas
- Mandalas: Sacred Art and Geometry