Yoga als Ressource für ein ge-glück-tes Leben

Aus Yogawiki
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Bei der nachfolgenden Arbeit des Bereichs "Allgemeine Pädagogik" handelt es sich um die Diplomarbeit von Helena Feldmeier-Vogel, vorgelegt im WS 2009/2010 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg; betreuende Dozenten: Prof. Dr. Wolfgang Knörzer und Dr. Helmut Wehr.


Yoga als Ressource für ein ge-glück-tes Leben

Körpererfahrung und mentales Training zur ganzheitlichen Persönlichkeitsförderung und zum individuellen Wohlbefinden

“Lokah Samastah Sukhino Bhavanthu1

Übersetzung: Mögen alle Wesen Glück und Harmonie erreichen / erfahren.


Vorwort

Die Idee zu dieser Arbeit reifte gemeinsam mit Prof. Dr. Wolfgang Knörzer, der sich selbst seit vielen Jahren mit dem Thema Körpererfahrung und Selbstmanagement beschäftigt. An dieser Stelle möchte ich den beiden betreuenden Dozenten, Wolfgang Knörzer und Helmut Wehr, danken, dass sie mich vor allem bei der bürokratischen Durchsetzung des Themas und der Frage der Betreuungszuständigkeit unterstützt haben. Die Diplomarbeit wäre sonst in dieser Form nicht möglich gewesen.

Die vorliegende Arbeit profitiert von meiner eigenen Yogapraxis und meiner Erfahrung als Yogalehrerin. Alle beschriebenen Phänomene und Methoden im Zusammenhang mit Yoga habe ich selbst erlebt und bereits an viele Schüler weitergeben können. Aufgrund meiner Wahrnehmungen und Beobachtungen bin ich nach wie vor überwältigt vom Potential des Yoga in Bezug auf Wohlbefinden, psychische und physische Gesundheit, Glück, Freude, Fähigkeiten zur Selbstregulation, Harmonie- und Balancefähigkeit. Yoga bietet auch für Menschen in der heutigen Gesellschaft alles, was sie brauchten, um sich körperlich und geistig wohl zu fühlen und das Leben selbstbestimmt genießen zu können.

So ganzheitlich wie ich selbst Yoga erlebe und lehre, soll auch diese Arbeit sein. Yoga ist für mich nicht auf Stressmanagement, Fitnessaspekte oder Bewusstseinsschulung zu reduzieren. Körpererfahrungen in Form von Yoga-Asanas und Atemübungen (Pranayama), sowie auch mentales Training durch Meditation, positives Denken und Affirmationen können den Menschen ganzheitlich ansprechen und dazu beitragen, seine Grundbedürfnisse1a zu befriedigen. Der Körper und die mentale Achtsamkeit sind Ressourcen2, die jedem Menschen zugängig sind und die die Lebensqualität und Lebensfreude erheblich steigern können.


Einleitung

Körpererfahrung und mentales Training für ein ge-glück-tes Leben!

Problemstellung

Die Annahme, dass der Mensch einen Verstand hat, der ihn wie ein Autopilot steuert und der sein Wesen grundlegend definiert, ist mittlerweile überholt. Die Vorstellung von einer tiefen und untrennbar verwobenen Einheit von Körper, Geist und Seele ist jedoch keineswegs eine Erfindung unserer Zeit, denn es gab sie bereits vor Jahrtausenden in den Anfängen und Wurzeln des Yoga und in vielen anderen östlichen Lehren und Traditionen (z.B.: im Buddhismus und im Daoismus). Das Zusammenspiel und die Wechselwirkung der Einheit von Körper und Geist hat einen großen Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen. Selbst an vermeintlich rein kognitiven Prozessen, wie Entscheidungsfindung, ist der Körper beteiligt3. Trotzdem wurde in der Wissenschaft bisher meist der Intellekt und der Geist, also kognitive Prozesse, berücksichtigt und der Körper wurde oft vernachlässigt oder manchmal sogar als unsittlich abgewertet4. Dabei haben bewusste, achtsame Körpererfahrungen großen Einfluss auf unsere geistige und körperliche Gesundheit und unser Wohlbefinden. Sie vermitteln uns unter anderem eine gesteigerte Sensibilität der eigenen Befindlichkeit bzw. Bedürfnisse bis hin zu einem allgemein gesünderen Lebensstil. Wer sich in Einheit mit sich und seiner Umwelt fühlt, ist nicht nur gesünder, sondern auch glücklicher. Glück hat also durchaus körperliche Aspekte: wir können es als Körpergefühl spüren und unser Körper kann uns Glücksmomente bescheren.

Die Forschungsergebnisse der Embodiment-Theorie5, der Yoga Tradition und der Neurobiologie definieren Körper und Geist als eine unzertrennliche Einheit, die so miteinander verwoben sind, dass jeder Prozess im Menschen von beiden Teilen beeinflusst wird. Der Mensch ist also weder nur sein Körper, noch reiner Geist. Forschungen und Studien der Neurowissenschaften belegen diese These: das Denken, der Verstand alleine, ist kein geeignetes Instrument, um sich damit in der Welt zurecht zu finden, denn er versagt oft, wenn es darum geht, komplexe Zusammenhänge zu erkennen oder sinnvolle Entscheidungen zu treffen, die das alltägliche (Über-)Leben ermöglichen. Im alltäglichen Sprachgebrauch nennt man diese Intuition auch Bauchgefühl. Empfindungen und körperliche Erfahrungen sind sogar unbedingt notwendig, damit der Mensch nicht (psychisch) krank wird und ein zufriedenes, glückliches Leben führen kann6.

Es gibt bereits viele verschiedene Studien7, die nachweisen, inwiefern Yoga die Heilung oder Besserung gesundheitlicher Beschwerden im physischen und psychischen Bereich unterstützt. Yoga wirkt aber auch präventiv - unabhängig davon, ob es sich um Korrekturen von Fehlstellungen des menschlichen Körpers, die Verbesserung der emotionalen Grundverfassung oder um Stressbewältigung handelt. Nicht nur in Bezug auf die genannten Wirkungen kann Yoga unsere Lebensqualität entscheidend verbessern. Yoga kann uns dazu veranlassen, unsere Lebensgewohnheiten grundlegend zu verändern: aufgrund einer verbesserten (Selbst-)Wahrnehmung durch die bewussten Körperübungen (Asanas), die Atemübungen (Pranayama) und die Bewusstseinsschulung in der Meditation kann man besser spüren und erkennen: "Was tut mir gut oder was schadet mir?!" Jede Form der Befindlichkeitsstörung frühzeitig wahrzunehmen und mit einer entsprechenden Veränderung der Lebensweise entgegen zusteuern ist zudem ein entscheidendes Kriterium nachhaltiger Gesundheitsbildung und -förderung8! In der sensibilisierten (Selbst-)Wahrnehmung gründen auch Harmonie- und Balancefähigkeit, eine grundlegend positivere Einstellung zu sich selbst und das Vermögen, selbst sein eigener Lehrer sein zu können. Das alles sind weitere wichtige Faktoren, die zu einem ge-glück-ten Leben beitragen.


Zielsetzung

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einen Beitrag zur ganzheitlichen9 Persönlichkeitsförderung und -entfaltung zu leisten und den möglichen Einfluß von Yoga zu beschreiben, zu begründen und mit Hilfe von Fragebögen zu dokumentieren. Dafür werde ich Methoden auf körperlicher und geistiger Ebene aus dem Yoga und anderen Übungskonzepten vorstellen, die Menschen dazu befähigen, ihr Wohlbefinden10 positiv zu beeinflussen bzw. herzustellen und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.

Gesundheit, Erfüllung und Lebensfreude können durch achtsame Körperarbeit und mentales Training aktiv mitgestaltet und beeinflusst werden. Yoga vereint Körpererfahrung und mentales Training in Form von Meditation, wodurch man nicht nur den Alltag besser und gelassener bewältigen, sondern sich selbst auch besser kennen und lieben lernen kann. Das hat auch positive Folgen für die (Selbst-)Wahrnehmung, die Lebensgewohnheiten und den Umgang mit den Mitmenschen. Yoga hilft, mit den eigenen Emotionen und denen anderer umzugehen.Yoga kann außerdem an sich eine sehr freudvolle, erfüllende Erfahrung im Sinne des "Flow"-Erlebens darstellen.

Ein gewisses Hintergrundwissen in Bezug auf Körpererfahrung und -wahrnehmung (siehe 2.3), die Einheit von Körper und Geist (siehe 1.5.) und mentalem Training (siehe 3.) ist notwendig, um zu verstehen, warum gerade Yoga ein besonders geeigneter Übungsweg zu einem physisch und psychisch gesunden, zufriedenen und ausgeglichenen Leben ist, das viele unserer psychischen Grundbedürfnisse (siehe 1.3) befriedigt.

Ich möchte darlegen, inwiefern Yoga durch Körpererfahrung (dazu gehören Körperübungen, die sogenannten Asanas und Atemübungen, das Pranayama) und Meditation einen Beitrag dazu leisten kann, die Lebensqualität und Lebensfreude zu steigern. Der Fokus liegt dabei auf der Verbesserung bzw. Herstellung der nachfolgenden Kriterien, die jeweils in den entsprechenden Kapiteln der Arbeit noch genauer definiert werden.

  • Sensibilisierung/Achtsamkeit: die Körperwahrnehmung, und gesteigertes Körperbewusstsein (siehe 2.3.)
  • Harmonie- und Balancefähigkeit11 (siehe 2.3)
  • das Selbstkonzept (siehe 1.3.: Das Selbstwertgefühl und das Schulfach Glück)
  • veränderte Lebensgewohnheiten/ ein positiverer Lebensstil (siehe 2.3)
  • freudvolle Erfahrungen (Flow-Erlebnisse) beim Yoga (siehe 2.4.)

Mit Hilfe anthropologischer (siehe 1.5.), psychologischer (siehe 1.2.-1.3.) und therapeutischer bzw. praktischer (siehe 2.4.- 5. und 3.3.- 4.) Modelle versuche ich darüber hinaus diese bekannten Vorzüge von Yoga wissenschaftlich zu untermauern.


Aufbau der Arbeit

Zunächst möchte ich an dieser Stelle einen groben Überblick über die einzelnen Kapitel und deren Inhalte geben.

Im ersten Kapitel möchte ich die Grundlagen dieser Arbeit mit Hilfe theoretischer Modelle darlegen. Dazu gehören neben der Yoga Tradition und den anthropologischen Grundlagen (die ganz- heitliche Weltsicht und das Zusammenspiel von Körper und Geist) philosophische und psycholo- gische (die psychischen Grundbedürfnisse des Menschen und der Ressourcenbegriff) Erkenntnisse und Modelle, die ebenso den Begriff Glück genauer beleuchten.

Das zweite Kapitel stellt nicht nur den Bezug zwischen Körpererfahrung und Glück her, sondern vermittelt zudem wichtige Grundannahmen, in Bezug auf einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff und den Zusammenhang zwischen Gesundheit bzw. Wohlbefinden und Glück. Darüber hinaus möchte ich die psychologischen Aspekte von Körpererfahrung und die Rolle des Körpers in selbstregulativen Prozessen12 in Beziehung zu einem glücklichen und zufriedenen Leben setzen.

Im dritten Kapitel geht es um die Glücksmöglichkeiten, die mentales Training bzw. Meditation bie ten. Desweiteren stelle ich ein aktuelles Praxismodell zur Steuerung mentaler Prozesse vor und verdeutliche anschließend dessen Parallelen zum Yoga. Abgerundet wird das Kapitel durch die aktuellsten Erkenntnisse zum mentalen Selbstmanagement aus der Psychologie.

Das vierte Kapitel beinhaltet eine kleine Studie in Form einer Befragung 39 Yogis13 zur Verfizierung der Wirksamkeit des Yoga in Bezug auf ein glückliches, zufriedenes und selbstbestimmtes Leben. Die Hypothesen und der verwendete Fragebogen sind dazu in drei Sinnabschnitte (Gesundheit/ Wohlbefinden, Glück und Selbstmanagement) gegliedert und laufen in der Frage nach der generellen Verbesserung der Lebensqualität durch Yoga zusammen. Das Fazit der Studienergebnisse wird durch eine kritische Perspektive ergänzt und mit einem Ausblick abgeschlossen.

Grundlagen

Die Yoga Tradition

Definition

Yoga ist ein uraltes, ganzheitliches Übungssystem aus Indien, das sich über die Jahrtausende immer weiter entwickelt hat und sich den Bedürfnissen der Menschen angepasst hat. Yoga ist in seiner reinen und klassischen Form nicht religiös, sondern beschäftigt sich mit universaler Spiritualität. Man könnte es genauso wie die Psychologie als neutrale Wissenschaft zur Ergründung des Geistes und der Psyche verstehen. Ursprünglich war Yoga ein rein spiritueller Weg, der durch Meditation die Erleuchtung und Befreiung versprach. Die körperliche Seite des Yoga, die in der westlichen Welt besonders betont wird, entwickelte sich jedoch erst später mit der Entstehung des Hatha Yoga. In den ältesten yogischen Schriften, den Veden, wird Yoga als Praxis disziplinierter Innenschau oder meditativer Konzentration, die mit Opferritualen verbunden waren, dargestellt. Heute umfasst Yoga eine Reihe geistiger (Meditation und Konzentrationstechniken, Verhaltensregeln) und körperlicher Übungen (Körperübungen: Asanas, Atemübungen: Pranayama), die Körper, Geist und Seele harmonisieren.

Yoga lässt sich jedoch nicht als homogenes System darstellen, denn es gibt eine Vielzahl yogischer Pfade und Orientierungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und theoretischen Bezugsrahmen. Alle Richtungen haben jedoch eines gemeinsam: sie beschäftigen sich mit einem Seins- bzw. Bewusstseinszustand jenseits des alltäglichen Zustandes und verstehen sich als Weg zur Transzendenz oder Transformation des Ich. Es geht darum, eine innere Freiheit zu erlangen und unabhängig von äußeren Einflüssen zu werden14. Anna Trökes formuliert es in ihrem Standardwerk zum Yoga besonders treffend: „Yoga will die Menschen in einen Zustand führen, der sie unabhängig, handlungsfähig und so frei wie möglich macht. Ein Anliegen, das nie an Aktualität eingebüßt hat15.“

Im engeren Sinn steht der Begriff Yoga für das System des klassischen Yoga nach Patanjali, der Theorien und Praktiken in seinen Yoga Sutras16 beschreibt, welches heute noch als essentielles Grundlagenwerk praktizierender Yogis gilt. Auch Patanjali definiert in einigen Sutren den Begriff Yoga:

“yogas chitta vritti nirodha. Thada dratsu swarupe vastham.” (Yoga Sutras 1.2. und 1.3.) Übersetzt bedeutet dies: “Yoga ist das zur Ruhe bringen der Bewegungen des Geistes. Dann ruht der Wahrnehmende in seiner wahren Natur.”

Der Begriff Yoga kommt von der Wortwurzel yuja im Sinne von Konzentration17. Die indogermanische Wortwurzel yuj bedeutet “anschirren, zusammenführen oder vereinigen von Pferden vor einem Wagen”. Im Yoga werden die Sinne wie wilde Pferde gezügelt und vor einen Wagen gespannt, der als Sinnbild für den menschlichen Körper dient. Der Wagenlenker ist unser Geist, der bestimmt, wohin Körper und Seele fahren. Moderne Indologen verwenden deshalb gerne die Übersetzung „Gespann“ für den Begriff Yoga18.


Geschichte

Zu den wichtigsten Schriften des Yoga gehören die Veden, deren ältester Teil der Rig Veda ist; sie sind etwa im 3. Jahrtausend v. Chr. entstanden. Einige Teile wurden vermutlich schon im 4. und 5. Jahrtausend v. Chr. verfasst. Zu dieser Zeit siedelten entlang der Flüsse Sarasvati und Indus Sanskrit sprechende Arier19, die später weiter nach Osten Richtung Ganges zogen. Entgegen vieler früherer Vermutungen wurde der Yoga also nicht von fremden Invasoren in die Region des heutigen Indiens gebracht20.

Die früheren Praktiken des Yoga, so weiß man es aus den Veden, beinhalteten viele aufwendige Rituale und Opferhandlungen, die später durch symbolische Opfer ersetzt wurden. Brachte man früher Tiere, Reis oder Blumen dar, geht es heute eher um Verzicht oder um Stille im Geist. Unterstützt wird diese These durch Reflexionen in den Upanishaden (altindische, philosophische und religiöse Texte, etwa 800 v. Chr. verfasst), die in Gesprächen zwischen Meister und Schüler über existentielle Fragen der Menschheit nachdenken. Die Weisheiten des Yoga wurden früher mündlich von Lehrer zu Schüler weitergegeben. Nach den Upanishaden sind Gott und die Schöpfung identisch, wodurch Opfer und Rituale überflüssig werden, denn Alles ist Eins! Der Fokus liegt mehr darauf, Selbsterkenntnis zu erlangen, indem man das unsterbliche Selbst (Atman) in sich entdeckt. Eine Besonderheit des Yoga war damals die freie Zugänglichkeit für jeden. Jeder der Yoga praktizieren wollte, konnte dies ohne fremde Hilfe selbstständig tun, denn die Menschen waren für ihre Yogapraxis nicht mehr auf Priester angewiesen, die ihnen religiöses Wissen vermittelten oder Rituale zugänglich machten. Das Weltbild des Yoga unterstützt ebenfalls die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung des Einzelnen: Jeder kann Gott in seinem Inneren finden und somit sein Leben selbst in die Hand nehmen.

In der vorklassischen Periode (1000 -100 v. Chr.) entstand das philosophische Heldenepos „Mahabharata“, das in einem Teil das früheste komplette Werk über den Yoga enthält. In einem Dialog zwischen Gott Krishna (Meister) und Krieger Arjuna (Schüler) werden drei Yogawege erklärt, die den Menschen mit ihren individuellen Charakteren in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen helfen, ihren Umständen gerecht zu werden und das Beste aus ihrem Leben zu machen. Dabei geht es darum, seine Lebenssituation anzunehmen und bestmöglich zu handeln, was auch als „Geschicklichkeit im Handeln“ bezeichnet wird. Die drei Yogawege gliedern sich in einen Weg des aktiven Handelns (Karma Yoga), in einen Weg der Erkenntnis über den Intellekt (Jnana Yoga) und in die Hingabe und Liebe (Bhakti Yoga)21.

Der nachfolgenden Zeit, der Klassischen Periode (100 v. Chr. -500 n. Chr.), entstammt eines der bedeutendsten Werke des Yoga: die Yoga Sutras des Patanjali. Mit diesem Werk begründet der Weise Patanjali, über dessen Existenz es keine gesicherten Nachweise gibt, systematisch die Wissenschaft des Yoga, welche bis heute gültig ist. Patanjali beschreibt einen achtgliedrigen Pfad, der nach wie vor die Basis des Raja Yoga (Königsyoga) bildet.

Unter dem Einfluss der Tantriker ab 500 n. Chr., die alles als Ausdruck des Göttlichen sahen, änderte sich die Wertschätzung des menschlichen Körpers entscheidend. Der Körper, der früher als hinderlich und zu bezwingendes Übel betrachtet wurde und der Kommandozentrale Geist unterstand bekam plötzlich eine neue Bedeutung. Im 8. Jahrhundert n. Chr. entwickelte sich dann auf der Grundlage des Tantrismus der körperorientierte Hatha Yoga22.

Ab dem 15. Jahrhundert n. Chr. verliert der Yoga immer mehr an Bedeutung, bis er im 20. Jahrhundert eine ungeahnte Wiederbelebung erfährt: Die kolonialisierten Inder besinnen sich zurück auf ihre eigenen kulturellen Wurzeln und mit Hilfe einiger Indologen und Religionswissenschaftler werden wichtige Grundlagenwerke des Yoga an die Öffentlichkeit gebracht.

Im Westen gibt es Hatha Yoga seit den 1930er Jahren, wobei er erst seit den 1960er Jahren richtig populär wurde, unterstützt durch einige bekannte Anhänger wie beispielsweise den Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung oder den Dirigent und Violinvirtuosen Yehudi Menuhin. Bis heute wird Yoga im Westen oft aus der körperorientierter Perspektive gesehen und geübt, wobei die spirituelle Entwicklung dabei meist gänzlich in den Hintergrund rückt. Aspekte der Selbstverwirklichung und der Spiritualität setzen sich jedoch seit den späten 1990er Jahren wieder stärker durch. Es gibt mittlerweile neben den klassischen vier Yogawegen unzählige Unterformen, die hauptsächlich dem Hatha Yoga zuzuordnen sind23.


Die vier traditionellen Yogawege auf einen Blick24


Karma Yoga:

Karma Yoga wird als Yoga der Tat bezeichnet und sieht den Sinn des Lebens im selbstlosen Dienen. Indem man seine Lebensumstände annimmt und sein Schicksal als Chance begreift, handelt man im Sinne des Karma Yoga. Die wichtigste Schrift des Karma Yoga ist die Bhagavad Gita, die Hinweise zum richtigen Handeln und Entscheiden im täglichen Leben gibt und dabei hilfreich ist, spirituelle Werte im Alltag zu integrieren und zu leben.

Übersetzt bedeutet das Wort “Karma” Handlung, Produkt, Arbeit oder Wirkung. Im Karma Yoga geht es darum, Freiheit im Handeln zu erlangen und alle egoistischen Motivationen aufzulösen. Ideal ist es, wenn das Handeln nicht mehr durch das Ego getrieben wird und das selbstlos getan wird, was getan werden muss. Wir opfern durch dieses egofreie Handeln unser Ich. Grundannahme des Karma Yoga ist, dass man nicht Nicht-Handeln kann, aber genau deshalb handelt man auch, indem man nicht handelt. Einer der bekanntesten Karma Yogis war der gewaltfreie Widerstandskämpfer Mahatma Gandhi. Er übernahm Verantwortung für sich und ein ganzes Volk und diente selbstlos und ohne Groll, um seine Pflicht zu erfüllen.


Bhakti Yoga:

Bhakti Yoga ist der Yoga der Liebe und Hingabe (zum Göttlichen). Durch verschiedene Praktiken wie Gebete, Mantra Singen, Rituale und das Erzählen von Mythen und Heiligengeschichten soll das Herz geöffnet werden, damit der Übende in Kontakt mit dem Göttlichen gelangen kann. “Bhakti” bedeutet “in Gott sein” und ist höchste selbstlose Liebe zu Gott.


Jnana Yoga:

Jnana Yoga wird als philosophischer Teil des Yogas oder Yoga des Wissens betrachtet. Genau wie die Philosophie stellt er Fragen wie: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist wirklich? Was ist Glück?

Jnana Yoga gliedert sich als Weg der Erkenntnis in vier Stufen:

  • Die erste Stufe umfasst das Hören bzw. Lesen von Weisheit;
  • die zweite Stufe das Nachdenken darüber (und eventuell diskutieren);
  • der dritte Schritt beinhaltet das Meditieren, um über das intellektuell Erfassbare hinauszugehen und es intuitiv begreifen zu können.
  • Der vierte und letzte Schritt besteht darin, die Wahrheit vollständig zu erkennen und sie zu verwirklichen.

Die meisten Schriften im Jnana Yoga sind in Dialogform, Gespräche zwischen Meister und Schüler, verfasst. Es geht darum, zwischen Realem und Nicht-Realem unterscheiden zu lernen, um so zur Erfahrung des höheren Selbst zu gelangen. Mit Hilfe der nondualistischen25 Vedanta-Philosophie lernt der praktizierende Jnana Yogi, dass Brahman (das Göttliche) die unendliche, ewige und somit höchste Wirklichkeit ist und jedes Individuum eins mit ihm ist. Die Welt ist nichts als trügerischer Schein und nur Brahman ist die Quelle von Weisheit und Glückseligkeit.


Raja Yoga :

Dieser Yogaweg ist der jüngste unter den vier traditionellen Yogawegen und wird seit dem 16. Jahrhundert vermehrt praktiziert. Der Raja Yoga wird auch Königsyoga genannt und befasst sich vor allem mit der Schulung und Konzentration des Geistes und mit dem Ziel der meditativen Selbsterforschung. Dazu gehören Techniken des mentalen Trainings und der Meditation. Übungstechniken des Raja Yoga umfassen Affirmationen (z.B. “Ich bin geduldig”), Visualisierungen (Techniken zur geistigen Vorstellung von gewünschten Zuständen), Achtsamkeit, Selbstbeobachtung und verschiedene Meditationstechniken.

Der Raja Yoga stützt sich auf die Yoga Sutras des Patanjali, der in einem achtgliedrigen Pfad (Ashtanga Marga) die Funktionsweise des Geistes beschreibt, die Ursachen von Leid erklärt und wie man künftiges Leid vermeiden kann. Es ist deshalb so wichtig zu wissen, wie der Geist beschaffen ist, da das gesamte menschliche Handeln durch den Zustand des Geistes bestimmt wird. Nur ein klarer Geist lässt ein erfolgreiches und konzentriertes Handeln zu. Im Alltag beschäftigt sich der Geist jedoch oft mit bereits Vergangenem oder Zukünftigem und ist mit seiner Aufmerksamkeit nicht in der Gegenwart, sondern zerstreut und abgelenkt. Ein weiterer wichtiger Punkt, den Patanjali anspricht, sind die Hindernisse für mehr Klarheit und Ruhe, die sogenannten Kleshas. Dazu gehört die falsche Einschätzung der eigenen Person; das Verlangen, etwas haben zu wollen; Abneigung oder Abwehr (etwas vermeiden wollen); Ängste und falsches Wissen. Die menschliche Wahrnehmung ist nie objektiv, sondern immer von Wünschen, Projektionen, Ängsten etc. geprägt.

Jede der acht Stufen des Yogaweges baut auf der anderen auf. Die ersten beiden Stufen beinhalten Verhaltensregeln, die das tägliche Leben erleichtern sollen. Sie geben Richtlinien, wie man sich anderen gegenüber verhalten soll und welche Werte für jeden Einzelnen gelten sollten. Es muss also mit der ersten Stufe (Yama) begonnen werden, die Vorschläge für das Handeln in der Welt und den Umgang mit anderen Menschen enthält. Man soll gewaltfrei, liebevoll, offen und wahrhaftig gegenüber seinen Mitmenschen sein.

Die zweite Stufe (Niyama) beinhaltet Ratschläge, die man selbst umsetzen muss: dazu gehören Qualitäten wie Zufriedenheit, Selbstreflexion, körperliche und geistige Reinheit, Vertrauen und stetiges Bemühen.

Die dritte und vierte Stufe sind äußerliche Körperübungen, die Körperstellungen (Asanas) und Atemkontrolle (Pranayama). Die Asanas helfen den Menschen, sich zu sammeln und zu zentrieren. Patanjali beschreibt auch genau, welche Qualität eine Asana haben soll: sie soll stabil und gleichzeitig leicht (Anm.: unverkrampft) sein. Die Regulierung des Atems hilft, Zugang zu den eigenen Gefühlen zu bekommen und den Geist zu klären bzw. zu beruhigen. Diese ersten vier Stufen sind für die meisten Menschen gut zugänglich und zudem gut geeignet, um die eigenen Ressourcen zu aktivieren und diese nutzen zu können. Der Beitrag von Asanas und Pranayama liegt hierbei deutlich auf der Hand, denn sie verhelfen direkt zu mehr Klarheit und innerer Zentrierung. (Mehr dazu in den folgenden Kapiteln.)

Die nächsten vier Stufen sind anspruchsvollere geistige Übungen, die damit beginnen, die Sinne in die innere Mitte des Menschen zurückzuziehen (5.Stufe: Pratyahara), langsam die Konzentration zu steigern (6.Stufe: Dharana) bis man völlig selbstvergessen und mühelos in der Meditation (7.Stufe: Dhyana) sitzen kann. Die letzte Stufe des achtgliedrigen Pfades ist Samadhi und beschreibt den Zustand der vollständigen inneren Freiheit. In Samadhi verschmilzt das, was man tut und empfindet und man fühlt die Einheit zwischen sich und der Welt. Dieser letzte Zustand wird auch Befreiung oder Erleuchtung genannt und nur von sehr wenigen Menschen erreicht. Auch wenn man demnach auf dem Yogapfad kaum Aussicht auf diese vollkommene Erlösung hat, lohnt es sich, die innere Sammlung der Stufen 5 bis 7 zur Schulung des Geistes zu üben, um dem Glück ein Stück näher zu kommen. Die mentalen Prozesse im Yoga und deren Auswirkungen auf die Lebensqualität erkläre ich ausführlich im dritten Kapitel.


Hatha Yoga:

Hatha Yoga entwickelte sich im Mittelalter und ist der wohl im Westen bekannteste Yoga, wobei er häufig auf seine körperliche Komponente reduziert wird. Es gibt zwar viele praktische und körperliche Übungen im Hatha Yoga wie Yogastellungen (Asanas), Atemübungen (Pranayama), Tiefenentspannungstechniken, Ratschläge für eine gesunde Lebensführung und Ernährung, die jedoch alle einem höheren, spirituellen Ziel dienen: das Transzendieren des Ich, des Selbst und die Verwirklichung des Göttlichen. Hatha Yoga ist eine Unterform des Raja Yoga und soll den Menschen zum Raja Yoga befähigen und vorbereiten. “Hatha” bedeutet übersetzt soviel wie Anstrengung. Die Silbe “Ha” bedeutet Sonne (wärmende, aktivierende Energie), “Tha” bedeutet Mond (kühlende, aufbauende Energie), was im übertragenen Sinn so gedeutet werden kann, dass Hatha Yoga die Vereinigung und Harmonisierung der beiden Energien darstellt. Der Yogi sorgt für sich und seine Gesundheit verantwortungsvoll. Der Körper ist der Tempel der Seele und wird dementsprechend gepflegt. Der Mensch wird jedoch nicht nur auf den physischen Körper reduziert, sondern als Ganzes betrachtet: als Einheit von Geist, Körper und Seele. Neben den körperorientierten Übungen werden auch positives Denken und intensive Meditation geübt.


Kundalini Yoga:

Kundalini Yoga ist auch eine Unterform von Raja Yoga und dient der Energieerweckung. Kundalini Yoga ist ein Teil des Tantra und wird deshalb auch oft weißer Tantra genannt. Zum weißen Tantra gehören Praktiken zur Reinigung des Astralkörpers und zur Erweckung der Schlangenenergie (Kundalini). Es gibt fünf Zweige des Kundalini Yoga:

  • Mantra Yoga: Durch Klangenergien in Worten oder Buchstaben werden Energiekanäle (Nadis) und Energiezentren (Chakras) angesprochen.
  • Nada Yoga: Klangenergien in Form von Noten und Musikinstrumenten wirken auf den Menschen.
  • Yantra Yoga: Mit Hilfe von Konzentration auf geometrische Formen und Figuren, Farben und Symbole werden Energien geweckt.
  • Laya Yoga: Im Yoga der Auflösung werden grobstoffliche Energien durch Meditation transformiert und als göttliche Energie wahrgenommen.
  • Hatha Yoga: Praktiken, die den Körper vorbereiten. (siehe Hatha Yoga)


Glück - Philosophische Aspekte und Phänomenologie

Glück hängt sehr eng mit Gesundheit und Wohlbefinden, sowie auch mit Körpererfahrung und Wahrnehmung zusammen. Bevor ich jedoch im Laufe dieser Arbeit die genauen Zusammenhänge und Parallelen zwischen den einzelnen Begriffen verdeutlichen werde, möchte ich einen kleinen Exkurs wagen, um den komplexen Begriff des Glücks näher zu beleuchten.

Das Thema Glück beschäftigt die Menschen seit jeher. Philosophen jeder Epoche sinnierten über das Glück, angefangen von Aristoteles bis zu Kant und Marx. Aristoteles zum Beispiel beschreibt das Glück als höchstes Gut (im Gebiete des Handelns) und als Ziel der Staatskunst26. Somit wird deutlich: Jeder Mensch strebt danach, glücklich zu sein. Dieses Streben nach Glück (the pursuit of happiness) ist sogar als Grundrecht eines jeden Amerikaners in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verankert.

Die tiefe intrinsische Motivation zur Suche nach dem persönlichen Glück ist das einzige Ziel, das der Mensch um seiner selbst Willen anstrebt. Geld, Macht und Gesundheit sowie viele andere Ziele verfolgen die Menschen lediglich deshalb, weil sie denken, es mache sie glücklich.27 Glücklich sein ist ein Wunsch, der jedoch nicht mit bloßem Willen erreicht werden kann. Nicht umsonst findet man unzählige, unterschiedlichste Literatur zu dem Schlagwort “Glück”.28 Glück scheint außerdem nicht gleich Glück zu sein - es gibt demnach verschiedene Gestalten des Glücks. Gibt es also irgendeinen gemeinsamen Nenner, einen kleinsten gemeinsamen Teiler sozusagen, der in Bezug auf Glück (für alle Menschen) gültig ist?

Um die Komplexität des Begriffes Glück zu verdeutlichen, möchte ich einige Zitate und Definitionen vorstellen:


  • “Als Glückseligkeit gilt ihnen gut leben und sich gut gehaben mit glückselig sein als eins. Was aber die Glückseligkeit sein soll, darüber entzweit man sich und die Menge erklärt sie ganz anders als die Weisen. Die einen erklären sie für etwas Greifbares wie Lust, Reichtum und Ehre, andere für etwas anderes, mitunter auch dieselben Leute bald für dies, bald für das: der Kranke für Gesundheit, der Notleidende für Reichtum...”
(Aristoteles, Nikomachische Ethik, I. Eudämonie)


  • “Glück ist der Grad, in dem ein Mensch die allgemeine Qualität seines gegenwärtigen Lebens insgesamt positiv bewertet. Die Person mag also das Leben, das sie führt.”

(Definition aus der Soziologie)29


  • Mit Glück meinen wir jenen Zustand, in dem uns unmittelbare Freude möglich scheint.”
(André Comte- Sponville)


  • “Glück ist ein tief empfundenes Gefühl - ein Wohlbefinden, beruhend auf innerem Reichtum und Überfluss, entsprungen aus einem gesunden Geist. Dieses Gefühl ist ein nicht zu übertreffender Seinszustand und nicht einfach nur ein flüchtige Emotion. Glück beinhaltet aber auch, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise deuten zu können.”
(Matthieu Ricard)30


  • “Glück ist das Gesamtkonstrukt einzelner Glücksbausteine, die nicht isoliert, sondern nur als Einheit ein lust- und freudvolles Leben ermöglichen.”
(Fritz Ernst-Schubert: Schulfach Glück)


Eine Gemeinsamkeit aller Glücksdefinitionen, unabhängig, ob es sich um dauerhaftes Glück oder um kleine Momente der Freude oder des Vergnügens handelt, ist die Abwesenheit von Konflikten. Der Mensch fühlt sich in Momenten des Glücks mit sich und seiner Umwelt im Einklang und kümmert sich um nichts anderes als den gegenwärtigen Augenblick31. Die Stimmigkeit und Harmonie, die wir beim Flow-Erleben durch das Präsentsein im Augenblick erfahren, passt übrigens hervorragend zur sprachlichen Wurzel des Wortes Glück.32 Das Wort “Gelücke” aus dem Mittelhochdeutschen bedeutet ursprünglich, dass ein Topf genau zu seinem zugehörigen Deckel passt. Im übertragenen Sinne sind das zwei Teile, die stimmig und harmonisch ein Ganzes ergeben.33

Aus psychologischer Sicht ist Glück eine zeitlich begrenzte Hochstimmung, die mit enormer Energie verbunden ist. Wir erfahren dieses Glück beispielsweise in besonderen Glücksmomenten wie nach einem Sieg. Ein wichtiger Unterschied ist die Differenzierung von dauerhaftem Glück, das in einer tiefen inneren Zufriedenheit gründet, von kurzen Freuden des Alltags, die vor allem von äußeren Dingen abhängen. Im Englischen ist die Unterscheidung des Glücksbegriffes bereits durch eine sprachliche Differenzierung deutlicher und somit einfacher. Die Vokabel luck bedeutet das zufällige Glück im Sinne von “Glück gehabt”, wogegen happiness “glücklich sein” meint.


Glück ein Geisteszustand?

Einige Glücksforscher behaupten, dass nur das dauerhafte Glück einen Weg zu einem erfüllten Leben eröffnen kann. Sie haben beobachtet, dass Menschen, die dieses dauerhafte Glück in sich verinnerlicht haben, meist eine tiefe Einsicht in die Wirklichkeit und die Natur des Geistes erfahren. Innere Ruhe und Gelassenheit oder auch innerer Frieden lassen sie ihren Mitmenschen mit Güte und Wohlwollen gegenüber treten. Wie man diesen “Geisteszustand” erreichen und kultivieren kann, beschreiben Jahrtausend alte Schriften aus dem Yoga, buddhistische Mönche, aber Ratschläge sind auch in den zahlreichen aktuellen Lebensratgebern zu finden. Die Kontrolle des eigenen Bewusstseins ist ein Schlüssel zum Glück - dies haben bereits viele unterschiedliche Traditionen erkannt (Christliche Mönchsorden, Zen-Buddhismus, Taoismus, Psychoanalyse nach Freud). Durch ständiges Bemühen und eine Schulung des Geistes (z.B. durch Meditation oder das Üben positiver Gedankenkraft) sowie die Entwicklung einer Reihe menschlicher Qualitäten wie Liebe, Ruhe und Achtsamkeit, lässt sich diese tiefe innere Zufriedenheit herstellen, die wir brauchen, um Glück von dauerhafter Qualität zu kultivieren.34

Ein weiterer wichtiger Hinweis, um das persönliche Glück zu finden, ist ebenfalls in fast allen Kulturen zu finden. Er lautet sinngemäß, dass das Glück nur in uns selbst zu finden ist und nicht auf Reisen oder in anderen Menschen. Die Yoga Tradition teilt dieses Verständnis von Glück. Der Yoga erklärt die Theorie, dass nur der Mensch selbst der Urquell seines Glückes sein kann, noch einmal sehr anschaulich. Demnach trägt der Mensch bereits alle Anlagen, die er zum Glücklichsein braucht, in sich selbst. Jeder müsste also aufgrund dieser selbstverständlichen Glücksveranlagung in sich selbst ohne Weiteres glücklich sein können. Die Ursache des Problems der “unglücklichen” Menschen ist, dass sie das Glück, das sie in sich tragen, nicht immer bzw. in gewissen Zeiträumen nicht wahrnehmen können. Indem man Kontrolle über den eigenen Geist erlangt, zum Beispiel durch Meditationsübungen, kann man auch das Glück wieder entdecken. Das bedeutet, dass man seine Wahrnehmung durch Methoden der Geistesschulung soweit schärfen kann, dass das innere Glück, das man vorübergehend nicht mehr wahrnehmen konnte, wieder in voller Präsenz spürbar ist und realisiert werden kann.


Glück als (Körper)Gefühl

Glück(-serleben) kann man auch mit einem bestimmten körperlichen Gefühl, den sogenannten somatischen Markern,35 verbinden, so die Psychologin Maja Storch. Man kann sehr genau beobachten, in welchen Momenten man dieses körperlich spürbare Glücksgefühl in sich wahrnehmen kann. Beispielsweise könnte das ein warmes Gefühl im Bauch sein; es könnte eine bestimmte Farbe oder Form haben oder mit einem Bild (z.B. einem Tier) verbunden sein.36 Diese automatischen Körperempfindungen können als eine Art eigenes Bewertungssystem bezeichnet werden, das nach folgendem Prinzip funktioniert: “Was fühlt sich gut an oder wo empfinde ich Unbehagen?”

Aus meiner persönlichen Yogapraxis und Erfahrung als Yogalehrerin kann ich bestätigen, dass ein blockadefreies und positives Körpergefühl erheblich dazu beiträgt, Glück empfinden zu können. Körpergefühl bedeutet in diesem Fall nicht nur, eine generelle Sensibilität für sich und seinen Körper zu entwickeln. Ein verbessertes Körpergefühl durch Yoga heißt vor allem, dass sich der physische Körper auch wirklich anders, d.h. besser, anfühlt. Er fühlt sich wärmer, länger, blockadefrei(er), gelöster und wohlgespannter (d.h. im richtigen Maß entspannt und aktiv zugleich) an. Das beeinflusst natürlich automatisch den Geist, die Psyche und die gesamte Wahrnehmung positiv. Die Tatsache, dass sich der Körper durch Yoga subjektiv besser anfühlt, kann Glücksgefühle auslösen. Manche Menschen verbinden auch ihr individuelles wohliges, gelöstes Körpergefühl nach dem Yoga mit Glück - es ist sozusagen sein somatischer Marker dafür.

Außerdem wird während der Yogaübungen die Wahrnehmung durch ein notwendiges Maß an Achtsamkeit und Konzentration geschärft. Man ist deshalb auch im Alltag wacher, bewusster bzw. präsenter und kann seine Umwelt durch die sensibilisierten Sinne viel differenzierter und intensiver wahrnehmen. Man kann öfter und bewusster wahrnehmen, was genau einen glücklich macht und was man dabei empfindet.


Kritik am “Glück”

Nicht zu vergessen sind auch die kritischen Stimmen zum Thema Glück. Auch sie haben nicht unrecht, wenn sie behaupten, dass ein dauerhafter Zustand des Hochgefühls nicht erstrebenswert sein kann und unrealistisch ist. Der Mensch sei auf Stabilität ausgerichtet und das Leben sei nun einfach nicht konfliktfrei zu regeln.

Meines Erachtens haben diese Kritiker eine andere Vorstellung von Glück / vom Glücklichsein. Für mich und andere, oft spirituell erfahrene, Menschen bedeutet Glück kein “High- Gefühl” in Form eines aktivierten Ausnahmezustandes, sondern eher ein Gefühl von innerem Frieden und innerer Harmonie - ein Ankommen bei sich selbst. Dabei kann auch mal ein Konflikt oder eine schwierigere Lebensphase ausgestanden werden, ohne dass das Glück dadurch vollständig verschwindet.

Es ist richtig, dass viele äußere Umstände wie Krieg, Hunger, Armut und schwere Krankheiten unser Leben derart prägen bzw. verändern können, dass “glücklich sein” schwierig und zweitrangig wird. Alles, was in irgendeiner Art lebensbedrohlich und nicht steuerbar ist, lässt den Gedanken an das “selbst gemachte Glück” zur Farce werden. Völlig unabhängig von äußeren Umständen ist Glück jedoch nicht. Man darf nicht den Fehler machen, jedes Ereignis und jeden alltäglichen Umstand als Hindernis vorzuschieben, warum man jetzt (noch) nicht glücklich sein kann. Von der eigenen Definition des Glücks hängt es auch ab, ob man kleine Momente im Alltag als Glücksauslöser empfinden kann. Ein Blätterregen im Wald, Kuscheln mit dem Haustier, das freundliche Lachen eines fremden Menschen - diese Beispiele könnten ein “Kleines Glück” sein.

Ein kleiner Erfahrungsbericht zur Absurdität des Glücks:

Die glücklichsten Menschen, die ich in meinem Leben bisher erfahren habe, fand ich in einem der ärmsten Länder der Erde vor. Die Bevölkerung Nepals lacht auffallend viel, die Menschen strahlen eine unheimliche Gelassenheit und Zufriedenheit aus und sie scheinen unglaublich viel Zeit für alles zu haben. Das Leben geht dort viel beschaulicher und langsamer zu und Vieles wird eben einfach improvisiert (Waschen am Dorfbrunnen, Duschen mit einem Eimer) oder geteilt (ein Eis reicht immer für zwei Kinder). Auch wenn nur das Nötigste zum Leben da ist, scheint das dort noch lange kein Kriterium für ein glückliches und zufriedenes Leben zu sein. Die Menschen in den Bergregionen, die fast abgeschnitten sind von der Gesellschaft und nur das zur Verfügung haben, was andere in Rucksäcken bzw. Körben zu Fuß liefern oder was sie selbst anbauen können, wirken schon fast erhaben und glückselig. Zurück in Deutschland bekam ich einen Kulturschock: schon lange nicht mehr so viele mürrische, unzufriedene, gereizte, negative und einfach unerträgliche Menschen erlebt! Die Atmosphäre erschien mir regelrecht vergiftet und den Menschen scheint hier, obwohl sie eigentlich alles haben, das Glück in extrem weite Ferne gerückt zu sein.

Leider haben die Menschen oft unrealistische Vorstellungen von dem, was sie angeblich glücklich macht. Sie haben obendrein noch nicht einmal eine Ahnung von dem, was sie in ihrem Leben bisher wirklich glücklich gemacht hat. Oft werden Glücksvorstellungen anderer oder gesellschaftliche Ideale unreflektiert als die eigenen übernommen. Kein Wunder also, dass so viele Menschen nicht glücklich sind. Nur weil der eine sein Glück in der Familie findet, bedeutet das nicht, dass jeder nach Heirat und Kind automatisch glücklich ist.


Zusammenfassung

Für die einen gründet Glück eher in einem Seinszustand in Form eines emotionalen Gleichgewichtszustandes oder eines stabilen Selbst, als dass es an äußere Umstände und Annehmlichkeiten geknüpft ist.37 Der Nächste lebt und zehrt vom Augenblick des “kleinen Glücks” im Alltag. Es gibt also keinen einheitlichen Glücksbegriff, der alle zufrieden stellt. Jeder Mensch muss Glück individuell für sich definieren.

In einem scheinen sich jedoch alle einig zu sein: Glück ist eine Lebenskunst bzw. Fertigkeit, die wir erlernen können. Wir können aktiv unsere Lebensfreude und unser Glück mitgestalten. Das findet sich auch im deutschen Sprichwort: “Jeder ist seines Glückes Schmied.” wieder. Genauso betont das Grundrecht des Strebens nach Glücks (pursuit of happiness) der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung den Gedanken der Selbstbestimmung und Machbarkeit aus eigenem Antrieb. Der Entdecker des Flow-Erlebnisses, Csikszentmihalyi, bestätigt diese These ebenfalls mit der Feststellung, dass Glück kein zufälliges Phänomen sei, das einen eben trifft oder nicht, sondern dass man aktiv etwas dafür tun kann.

Absolute Konzentration und das uneingeschränkte Richten der Aufmerksamkeit auf einen Gegen- stand sind nicht unerhebliche Voraussetzungen, um Glück zu empfinden. In diesem Punkt sind sich östliche und westliche Wissenschaftler einig - unabhängig ob Flow-Theorie, Yoga-Philosophie oder Buddhismus. Das Glück kommt nicht im Schlaf, ist nicht zufällig oder angeboren, sondern man muss sich ständig aktiv darum bemühen oder wie es die Amerikaner nennen, danach streben.

Die Fähigkeit, das Leben im Augenblick zu genießen, im Einklang mit sich und der (Um-)Welt zu sein, offen und innerlich frei zu sein (z.B. durch die/während der Meditation) - diese Attribute der Lebensfreude bescheren uns einen Zustand innerer Erfüllung und das damit verbundene tiefe Wohlbefinden.


Die psychischen Grundbedürfnisse des Menschen

Nachdem so, in allen notwendigen Bruchstücken über Wesen und Phänomenologie des Glücks auf einer eher philosophischen Ebene referiert wurde, gilt es nun, den Glücksbegriff mit Hilfe psychologischer Modelle darzustellen. Dafür eigenen sich die in den folgenden Punkten beschriebenen Begriffe: Grundbedürfnisse und Ressourcen. Das Flow-Erlebnis ist in diesem Zusammenhang ebenfalls ein adäquates psychologisches Phänomen, welches ich im zweiten Kapitel im Zusammenhang mit Körpererfahrung aufgreifen möchte.

Die vier psychischen Grundbedürfnisse des Menschen

  • 1. Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung
  • 2. Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstschutz
  • 3. Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
  • 4. Bedürfnis nach Bindung

Der Psychologe Klaus Grawe konnte mit seinen Therapiemethoden38 zur Aktivierung der personalen Ressourcen (siehe 1.3.) besonders signifikante Erfolge erzielen, was nachweisbar und direkt mit der Befriedigung der vier psychischen Grundbedürfnisse des Menschen zusammenhängt. Sind die psychischen Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt, steigert das unmittelbar das biopsychosoziale Wohlbefinden und fördert somit generell die psychische Gesundheit. Die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse ist das Bestreben eines jeden Menschen. Sind diese befriedigt, kann eine motivationale Annäherung vollzogen werden und der Mensch ist glücklich und fühlt sich wohl. Außerdem stimmen dann die eigenen Wahrnehmungen und Erwartungen überein und man fühlt sich in Einheit mit der Welt. Werden diese vier wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen jedoch verletzt oder nicht beachtet, können psychische Störungen entstehen (z.B. Vermeidungsverhalten) oder anders ausgedrückt: um gesund zu bleiben, müssen die psychischen Grundbedürfnisse durch eine Nutzung der persönlichen Ressourcen befriedigt werden.39 Die vier Grundbedürfnisse sind jedoch nicht nur durch die Psychologie begründet, sondern drei von ihnen sind auch durch Erkenntnisse der Neurobiologie zu erklären (siehe Tabelle).

(TABELLE EINFÜGEN)


Das Selbstwertgefühl und das Schulfach Glück

“Die größten Kämpfe toben in unserem Inneren und zwar dann, wenn wir unseren Ängsten und unseren Selbstzweifeln ins Auge sehen müssen. Diese inneren Feinde stellen für unser Wohlbefinden eine viel größere Bedrohung dar als die äußeren Schwierigkeiten des täglichen Lebens".42

Das Selbstwertgefühl hat eine Schlüsselrolle in Bezug auf die Lebensfreude und die Befriedigung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Anerkennung und Wertschätzung. Der Begriff an sich erscheint zwar zuerst abstrakt, er meint allerdings nichts anderes als die Fragen, wie zufrieden man mit sich selbst als Mensch ist; ob man sich ohne Vorbehalte mag; ob man das Gefühl hat, ein guter Mensch zu sein und ob man glaubt, es verdient haben, Glück, Liebe, Frieden oder Erfolg zu erfahren. Ein gesundes Selbstwertgefühl lässt den Menschen trotz seiner Schwächen und Fehler glauben, liebenswert und wertvoll zu sein. Mangelndes Selbstwertgefühl blockiert den Menschen, wenn es darum geht, positive Erfahrungen zuzulassen, wie beispielsweise Lob und Anerkennung zu erfahren, oder veranlasst unbewusst dazu, Glück und Erfolg zu verhindern.

Das Selbstwertgefühl entsteht durch Erfahrungen in unserer Kindheit und manifestiert sich im Unterbewusstsein. Das bedeutet, es kann menschliche Handlungen steuern, ohne dass man es bewusst bemerkt oder beeinflussen kann. Sind frühkindliche Erfahrungen von Aufmerksamkeit und Liebe geprägt, werden sich Selbstbild und Selbstvertrauen positiv entwickeln können. Erfährt man jedoch Ablehnung oder Kritik, neigt man dazu, zu denken, man sei nicht in Ordnung. Das Selbstbild entscheidet über das Selbstwertgefühl und hat nichts mit äußeren, messbaren Kriterien wie einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn zu tun.

Das Gefühl, nichts wert zu sein oder sogar sich selbst zu hassen, ist ein sehr schlimmer Zustand für die Psyche.43 Das Gefühl, nichts wert zu sein, ist sogar Ausgangspunkt und Kern von Depressionen und stellt maximalen Stress für den Menschen dar. Das bedeutet, dass die verborgenen Ursachen von Depressionen oft in zwischenmenschlichen Beziehungen und Erfahrungen gründen. Hat das mangelnde Selbstwertgefühl sich erst einmal in einer Depression verfestigt, besteht auch hier eine nicht zu übersehende Verbindung zum Körper. Stresshormone werden aktiviert, körperliche Reaktionen (Müdigkeit, Schlaflosigkeit) werden zur Begleiterscheinung und zuletzt verändert eine Depression das Nervenzellennetz im Gehirn (biologische Konditionierung).44 Viele Menschen machen sich in gedanklichen Monologen ständig klein und kommunizieren auf sehr negative Art und Weise mit sich selbst (z.B.: “Jetzt habe ich das schon wieder nicht geschafft. Ich versage ständig.”).

Ein positives Selbstwertgefühl beeinflusst auch den Umgang mit den Mitmenschen. Man nimmt Kritik oder Kränkungen anderer weniger persönlich und ist weniger von Urteilen anderer Menschen abhängig.45 Je zufriedener man mit sich selbst ist, desto mehr mag man auch seine Mitmenschen. “Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.” Das bekannte Zitat aus der Bibel passt also sehr gut, um die Bedeutung eines positiven Selbstbildes zu untermauern. Liebt man sich selbst bedingungslos und hat ein gesundes Selbstvertrauen, kann man seine eigene Gesellschaft genießen und braucht weniger Ablenkung von außen.

Das Unbewusste lässt sich in Bezug auf das Selbstwertgefühl durch neue, positive Erfahrungen und Liebe und Vergebung umprogrammieren. Man kann beispielsweise üben, seine inneren Monologe oder auch Selbstgespräche zu beobachten und versuchen, in Zukunft zu vermeiden, schlecht über sich selbst zu denken oder zu reden. Dabei helfen auch Techniken der Meditation, die Gedanken beruhigen bzw. unterbrechen und somit auch das ständige Kreisen negativer Gedankenströme um sich selbst auflösen können. Lernt man in der Meditation das Denken zu befreien und zu klären, beeinflusst das auch die eigenen Werturteile, denn das Denken und das innere Urteil sind für die Wahrnehmungen und Gefühle verantwortlich.

Ein weiterer Schritt ist, die eigenen Fehler und die eigene Unvollkommenheit zu akzeptieren. Man muss sich bewusst werden, dass man dessen ungeachtet ein liebenswerter und wertvoller Mensch ist. Das ständige Praktizieren bedingungslosen Annehmens und Loslassens in meditativen Übungen birgt ein enormes Potential, sich auch in diesem Sinne dabei zu helfen, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist und negative Einstellungen bzw. Verhaltensmuster sich selbst gegenüber zu verändern.

Deshalb ist auch die aktuelle Entwicklung und Durchführung des Schulfaches “Glück” kein zu belächelnder Scherz, sondern eine wissenschaftlich fundierte Angelegenheit. Ziel des Unterrichts ist es, den Schülern Quellen für ein glückliches, freud- und lustvolles Leben zu vermitteln. Durch das positive Selbstbild, das den Schülern vermittelt wird und die Unterstützung bei der individuellen Identitätsfindung sowie der Akzeptanz des eigenen Selbst wird die Lebensfreude der Schüler erhöht).46

Das wird durch folgende neurobiologische Reaktion im Gehirn unterstützt: In Situationen der Wahrnehmung von Wertschätzung gegenüber der eigenen Person, wie beispielsweise positives Feedback und spielerische Übungen zur Eigen- und Fremdwahrnehmung, werden in einer neurobiologischen Reaktion im Gehirn Botenstoffe ausgeschüttet, die Glücksgefühle auslösen. Dieses Unterrichtskonzept trägt einem primären menschlichen Bedürfnis Rechnung: dem Bedürfnis nach Anerkennung, Wertschätzung und Zuwendung.

Auch Yoga kann einen Beitrag zu einem positiven Selbstwertgefühl leisten. So schrieb der Dirigent Yehudi Menuhin 1964 im Vorwort zu B.K.S. Iyengars berühmtem Standardwerk des modernen Hatha Yoga “Licht auf Yoga”, dass Yoga einen unvermeidlichen Sinn der Selbstsicherheit und des Selbstvertrauens entwickelt.47


Der Ressourcenbegriff und seine Anwendung in der Praxis

In Kapitel 1.2. erwähnte ich bereits im Zusammenhang mit der ressourcenorientierten Psychotherapie nach Klaus Grawe,48 wie wichtig die Aktivierung der personalen Ressourcen ist, um ein glückliches und zufriedenes Leben führen zu können. Im folgenden Abschnitt möchte ich kurz den Begriff Ressource erklären und ihn mit der Yoga Tradition verknüpfen.

Häufig verwendete Synonyme für Ressourcen sind Kraftquellen, Rohstoffquellen, Stärken und Potentiale. Ressource wird in etymologischen Wörterbüchern als Hilfsmittel oder Erwerbsquelle bezeichnet, die sich neben Personen auch auf materielle Bereiche (z.B. Wirtschaft) beziehen können. In der Psychologie versteht man darunter Hilfsmittel, Kräfte, Energien, Reserven und Schätze einer Person oder ihres Umfeldes. Man könnte unter dem Begriff Ressource auch alle Möglichkeiten subsumieren, die einem Menschen zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse zur Verfügung stehen.49 Genauso konzentriert sich das Konzept der Salutogenese (Antonovsky: Was erhält den Menschen gesund?) darauf, Ressourcen im Leben eines Menschen zu finden, die seine Gesundheit fördern, bzw. darauf, herauszufinden, welche Eigenschaften und Fähigkeiten dazu beitragen, trotz erhöhter Belastung gesund zu bleiben.50

Genauso wie andere ressourcenorientierte Arbeitssysteme in der Praxis, z.B. die systemische Beratung, kann Yoga durch Körpererfahrung und Meditation die personalen Ressourcen (Gesundheit, Vitalität, Intelligenz, Bildung, Willenskraft und persönliche Souveränität) des Menschen auf unterschiedliche Art und Weise sichtbar machen und direkt stärken. Durch die Verbesserung bzw. Förderung der personalen Ressourcen verbessert Yoga indirekt auch die sozialen Ressourcen eines Menschen, d.h. die Beziehungen zu den Mitmenschen (z.B. Freunde, Familie, Kollegen). Ein Beispiel zur Ressource Geist: Durch regelmäßige Meditation kann man innere Ruhe, Gelassenheit und eine erhöhte Distanz zu Problemen bzw. Schwierigkeiten (kühlen Kopf bewahren) trainieren. Hat man diese personalen Ressourcen verinnerlicht, werden sie direkt das Verhalten in zukünftigen Interaktionen mit den Mitmenschen auf positive Weise verändern und so indirekt die Beziehung zu diesen verbessern.

Man spricht in der systemischen Beratung und im Salutogenesekonzept von Ressourcenorientierung, Ressourcenperspektive oder von einem lösungsorientierten Modell, um zu betonen, dass es nicht um die bisher dominante Problemperspektive mit Fokus auf die Ursachen, Fehler und Defizite geht, sondern um einen positiven Möglichkeitsraum, der eine Lösung zur Besserung fokussiert.51 Die Aufgabe des Beraters oder Therapeuten ist, dem Klient die richtigen Fragen in Bezug auf sein Anliegen/Problem zu stellen, so dass dieser selbstständig erkennt, welches Potential in Form von Ressourcen zur Problembewältigung in ihm selbst liegt. Auch im Yoga geht es darum, dem Menschen Perspektiven aufzuzeigen, wie er durch Übung oder Schulung seines Geistes und seines Körpers sein Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen und positiv beeinflussen kann. Körper und Geist sind in diesem Sinn personale Ressourcen, die jedem Menschen zur Verfügung stehen. Der Körper ist eine Ressource, die zu Lust und Freude verhelfen kann, d.h. über ihn ist man in der Lage, Gesundheit und Wohlbefinden zu erfahren.

Eine weitere Parallele vom Yoga zur lösungsorientierten Arbeitsweise der systemischen Beratung finden wir im konstruktivistisch geprägten Weltbild und der damit verbundenen Notwendigkeit zum Perspektivenwechsel. Für jegliches (Er-)Leben und Erfahren bedeutet das, dass keine einzig wahre Realität existiert und deshalb die Wahrnehmung immer subjektiv geprägt ist. Ein Perspektivenwechsel oder sich in andere Menschen hinein zu versetzen ist die logische Konsequenz aus einem Weltbild, das alles vermeintlich objektiv Wahrgenommene als Produktion der eigenen Fantasie entlarvt. Die Ausführliche Darstellung des Zusammenhangs von Wahrnehmung, Wirklichkeit und Individuum aus der Sicht des Yoga ist im Kapitel 3.1 zu finden.

Haben Menschen ihre personalen Ressourcen gefunden und gelernt, sie zu nutzen, werden sie Probleme als lösbar, Aufgaben und Anforderungen als erklärbar bzw. verstehbar und das Leben als sinnvoll empfinden. Je zusammenhängender und sinnvoller ein Mensch die Welt und sein Leben empfindet, desto gesünder wird er sein.52 Diese Grundhaltung gegenüber dem eigenen Leben bezeichnet der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky als Kohärenzsinn (sense of coherence, kurz: SOC), der sich aus den drei Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit zusammensetzt.53 Hat ein Mensch ein gut ausgeprägtes Kohärenzgefühl, kann er flexibel auf seine Anforderungen reagieren und die nötigen Ressourcen zur Problemlösung aktivieren. Ist kaum oder kein Kohärenzgefühl vorhanden, fühlt sich die Person hilflos und kann wenig bis keine Ressourcen zur Bewältigung wahrnehmen.54 Es muss daher Aufgabe von gesundheitsfördernden Maßnahmen oder Programmen sein, das Kohärenzgefühl von Menschen zu stärken und ihnen behilflich zu sein, ihre persönlichen Ressourcen zu finden und zu nutzen, um die Entwicklung gesunder, zufriedener und handlungsfähiger Menschen zu fördern.


Anthropologische Grundlagen der Einheit von Körper und Geist

Paradigmenwechsel zur ganzheitlichen Weltsicht55 und die Aufhebung eines starren Körperkonzeptes

“Ein menschliches Wesen ist Teil eines Ganzen, das wir Universum nennen, ein in Raum und Zeit begrenzter Teil. Es erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als etwas von allem anderen Getrenntes - eine Art optische Täuschung seines Bewusstseins. Diese Täuschung ist für uns eine Art Gefängnis, das uns auf unser persönliches Verlangen und unsere Zuneigung für einige wenige uns nahe stehenden Personen beschränkt. Unsere Aufgabe muss es sein, uns aus diesem Gefängnis zu befreien.” Albert Einstein

Dieses Zitat erklärt nicht nur den Irrtum der Dualität der Dinge, sondern stellt in diesem Zusammenhang auch unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung in Frage.56 Es gibt zwei, sich grundlegend unterscheidende, Weltansichten in Bezug auf die Einheit bzw. die Trennung von Körper und Geist, Subjekt und Objekt. Auf der einen Seite steht das kartesianische Paradigma, dessen Entstehung besonders durch die (natur-)wissenschaftlichen Fortschritte nach dem Mittelalter begünstigt wurde. Der französische Philosoph René Descartes prägte den legendären Ausspruch „Cogito ergo sum”: “Ich denke, also bin ich!“. Auf der Suche nach der wahren Natur des Menschen lehnte er jegliche Körperlichkeit und sinnliche Erfahrungswelt ab (Zitat: „Jener Komplex von Gliedern, den man den menschlichen Leib nennt, bin ich nicht.“). Der Mensch sei, nach Descartes, vor allem durch seinen Verstand definiert. Subjekt und Objekt, Körper und Geist sind komplett voneinander getrennte Angelegenheiten, die in göttlicher Ordnung so geschaffen wurden.57 Dieses Ideal des analytischen Denkens prägte auch lange danach die Naturwissenschaften, die mit der Annahme, dass alles in Raum und Zeit begrenzt sei und sich nach mechanischen Gesetzen bewege, unzählige Phänomene untersucht und erforscht, indem sie das Problem in seine Bestandteile zerlegt. Diese Denkweise leistete somit einen wichtigen Beitrag zum kritischen und analytischen Denken.

Obwohl sich gerade in der Physik viele Phänomene mit Hilfe dieses Modells erklären lassen und es für den Alltag durchaus brauchbar bleibt, stößt es spätestens bei der modernen Atomphysik und der Relativitätstheorie an seine Grenzen. Seit dem 20. Jahrhundert sind einige Grundlagen der Physik revidiert worden:

  • 1. Zeit und Raum (und Masse / Materie) sind nicht mehr nur als voneinander unabhängige Größen bekannt.
  • 2. Die Vorstellung fester atomarer Teilchen ist überholt.
  • 3. Die Existenz des unbeteiligten, objektiven Beobachters ist widerlegt.

Nach den Erkenntnissen der Relativitätstheorie Einsteins, lassen sich die Begriffe Raum und Zeit nur in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander wahrnehmen und auch die Materie bzw. Masse im Raum hat Einfluss auf die Zeit. Einstein stellt den Raum gekrümmt und abhängig von den Gravitationsfeldern der Körpermasse in ihm dar. Das bedeutet, dass der Grad der Krümmung des Raumes von der Stärke der Masse des Körpers abhängt. Die Materie beeinflusst nun auch die Zeit, insofern, als Raum und Zeit nicht getrennt voneinander zu betrachten sind und deshalb der Ablauf der Zeit durch die Präsenz der Materie in verschiedenen Teilen des Universums unterschiedlich abläuft. Die Begriffe der absoluten Zeit und des absoluten Raumes müssen also aufgegeben werden und sind somit nicht mehr als unabhängige Größen zu betrachten. Ebenso gehört die Vorstellung linearer Bewegungen im Raum nicht mehr zu den unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten. Die Struktur von Atomen besteht, wie man bereits seit Beginn ihrer Erforschung weiß, nicht aus festen oder gar harten Teilen. Die Atomphysiker kamen zur Erkenntnis, es mit einem weiten Raum mit extrem kleinen, sich um einen Kern bewegenden Teilchen zu tun zu haben. Die Quantenphysik ergänzt diese Annahme um ein weiteres wichtiges Detail: Atome können auch als Welle auftreten und müssen nicht zwangsweise eine materielle äußere Erscheinungsform haben. Es kann allerdings auch eine Umwandlung der beiden Zustände erfolgen. Dieser so genannte Doppelaspekt der Materie hängt von der Situation bzw. vom Betrachter ab.

Fritjof Capra beschreibt, wie man sich atomare Strukturen vorstellen kann und damit gleichzeitig den Ansatz vieler Ost-Asiatischer Übungssysteme bzw. Weltanschauungen. Sie gehen davon aus, dass alles im Universum miteinander in Verbindung steht und eine Einheit bildet. “Beim Eindringen in die Materie finden wir keine isolierten Grundbausteine, sondern vielmehr ein kompliziertes Gewebe von Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen eines einheitlichen Ganzen.”58


Die Auflösung des starren Körperkonzepts

Diese quantenphysikalische Sicht der Welt findet sich bereits in Jahrtausende alten tantrischen Traditionen und Hatha Yoga Schulen.59 Genauso wie eine “objektive Welt” als Illusion gilt (da immer alles Projektion des Indiviuums, auch “Ich-Person” genannt, ist), ist die Vorstellung des begrenzten und auf seine Materie (Fleisch, Knochen etc.) reduzierten Körpers ein Klischee. Der Körper erfährt in einem durch Meditation und/oder Entspannung veränderten Bewusstseinszustand eine neue Energiedimension und einen neuen, tiefen Raum. Kurz: Das übliche begrenzte Körperkonzept wird durch Erfahrungen des Selbst als strömender Prozess, verbunden mit dem großen Ganzen, dem Universum, aufgelöst. Man gewinnt also durch Meditation und/oder Entspannung eine ganz neue Erfahrungsintensität und die Grenzen des Ichs verlieren ihre Starrheit.

Die moderne Physik sowie auch der Yoga stellen diese dynamische Weltsicht (das Universum miteinbezogen) und grenzenlose Körperwahrnehmung im Bild des kosmischen Tanzes dar. Im Yoga repräsentiert die Gottheit Shiva (Gott der Zerstörung bzw. der Transformation) in der Gestalt des Tänzers (im Sanskrit: Nataraja) als Meister über Raum und Zeit dieses Phänomen: er tanzt die Rhythmen des Universums. Fritjof Capra übernimmt diesen Gedanken in seinem Klassiker “Das Tao der Physik”, indem er Bewegung und Rhythmus als wesentliche Eigenschaften der Materie benennt, die wiederum selbst in jeglicher Erscheinungsform an einem ständigen kosmischen Tanz teilnimmt. Es geht hier also um ein intuitives Wahrnehmen und Verstehen der Natur, die durch bloßes kognitives und analytisches Vorgehen allein nicht vollständig zu begreifen ist. Die dynamische Weltsicht bringt also auch eine völlig neue Haltung gegenüber dem menschlichen Körper und der allgemeinen menschlichen Existenz mit sich.


Die Einheit von Körper und Geist im Yoga

Im Yoga und in den anderen sechs klassischen, hinduistischen Philosophiesystemen findet man sogar ein noch weiterentwickeltes Konzept der Einheit der Körper vor, was vielleicht auf den ersten Blick für die westliche Sicht- und Denkweise schwierig nachzuvollziehen ist. Die Yogis sehen beispielsweise jeden Körper (auch Tiere und tote Materie) als Wohnstatt des Göttlichen60 und als Werkzeug oder Fahrzeug zu einer spirituellen Vollendung oder Weiterentwicklung.61 Im Hatha Yoga kommt dem Körper erstmals eine neue Bedeutung zu62. Er ist nun Ressource für Lust, Freude, Gesundheit und Wohlbefinden. Der Körper ist jetzt vielmehr ein Freund und göttliches Geschenk, wodurch man überhaupt erst in der Lage ist, Erfahrungen zu machen. Er ist das Zuhause für Geist und Seele. Der Körper ist als eine Art Gefäß zu sehen, in dem die spirituelle Vollendung geschieht. Die Erleuchtung ist keine rein mentale Angelegenheit mehr, bei der der Geist durch Einsicht und Meditation sein Ich transzendiert, sie bezieht den ganzen Körper mit ein. Das bedeutet, die Menschen werden nicht mehr nur als geistiges Wesen angesprochen, sondern in ihrer Ganzheit: Körper, Geist und Seele.

Anders ausgedrückt: Der Körper ist das Fahrzeug63 zur Erleuchtung. Mystische Bewusstseinszustände und ekstatische Erfahrungen brauchen einen Körper, damit man sie erfahren kann. Man braucht sein Körpergefühl, um Gefühle zu entwickeln und geistige Anhaltspunkte verknüpfen zu können.64 Dieser Körper sollte folglich in bestmöglichem Zustand sein und deshalb möchte der Hatha Yogi einen “diamantenen oder göttlichen” Körper kultivieren, denn nur ein starker und ausdauernder Körper kann Freude und damit Gott erfahren und ein Gefühl von Stabilität und Vertrauen vermitteln. Yehudi Menuhin wählt eine schöne Metapher in seinem Vorwort zu Iyengars “Licht auf Yoga”, indem er sagt, wir müssen lernen, unser wichtigstes Instrument (Anm.: gemeint ist der Körper) zu spielen und die größte Resonanz und Harmonie daraus zu ziehen. Mit täglichem Üben, so sagt er, beseelen wir jede Zelle neu und hauchen erstarrten Fähigkeiten neues Leben ein.65 Ein Ziel des Hatha Yoga ist es, den Körper durch eine Vielzahl von verschiedenen Übungen zu reinigen und von energetischen Blockaden zu befreien, damit die Lebensenergie (Prana) besser fließen kann. Der Körper soll neben Heilung und Stärke so auch einen harmonischen, ausgeglichenen Zustand erfahren.

Über die Atemübungen, die auch Teil körperlicher Praxis des Hatha Yoga sind, wird die enge Ver- bindung von Körper und Geist bestätigt. Die Hatha Yoga Pradipika66 beschreibt den Einfluss der Atemkontrolle auf das Bewusstsein besonders einleuchtend:

“Wenn sich der Atem bewegt, dann bewegt sich das Bewusstsein. Wenn er unbewegt ist, so ist es auch unbewegt und der Yogi erreicht Stabilität. Darum sollte man den Atem beherrschen.” Über die Kontrolle des Körpers kann man demnach Kontrolle über den Geist erlangen. Die Atemübungen (Pranayama) im Yoga sind die direkteste Methode, auf die Lebensenergie zuzugreifen und haben deshalb einen sehr hohen Stellenwert in der Praxis des Hatha Yoga. Die geistige Disziplin und Loslösung der Aufmerksamkeit von äußeren Dingen, auch Rückzug der Sinne (Pratyahara) genannt, ist wiederum genauso eine wichtige Voraussetzung für die Atemkontrolle. Geistige und körperliche Übungen bedingen sich hier also wechselseitig.

Auch moderne Yogis bauen weiter auf der Einheit von Körper und Geist auf und entwickeln ihre eigenen Stilrichtungen. B.K.S. Iyengar, der therapeutische Methoden des Yoga mit Meditation verknüpft und somit das Konzept “Meditation in Bewegung” geschaffen hat, beschreibt in diesem, speziell ihm eigenen, Übungsprinzip, die subtile Kommunikation zwischen Körper und Geist. “Meditation in Bewegung” ist ein Prinzip, bei dem es um ein vollständiges Aufgehen in den Yogastellungen (Asanas) geht und Körper und Geist in Einklang und Harmonie sind. Er beschreibt diverse geistige, seelische und körperliche Krankheiten und Probleme, die alle durch ausdauerndes und hingabevolles Yogaüben zu behandeln sind.67

Psychische Haltungen und Einstellungen gegenüber dem Leben manifestieren sich genauso im Körper in einer physischen Entsprechung. Über den Körper ist man in der Lage, diese psychischen Haltungen zu verändern. Mangelndes Selbstvertrauen kann sich beispielsweise in einer gebeugten Haltung äußern und kann besonders durch aufrichtende und die Haltung verbessernde Yogaübungen verändert werden. Der Mensch, dessen Haltung nicht mehr gebeugt ist, wird sich auch in seinem Inneren aufrechter fühlen.


Die Einheit von Körper und Geist aus der Perspektive der Neurobiologie68

Eine der aktuellsten Theorien zur Lösung der Körper-Geist-Problematik vertritt der portugiesische Neurobiologe Antonio Damasio. Er sieht in einem Perspektivenwechsel, d.h. in einer veränderten Betrachtung von Körper und Geist, den Schlüssel zum Verständnis von deren logischer Einheit. Das Problem liegt darin, dass gewöhnlich der Körper mit Materie gleichgesetzt wird, der Geist jedoch nicht. Die Dualität und Trennung von Geist und Körper baut auf dieser irrtümlichen Annahme auf. Zur Entstehung des Geistes benötigen wir jedoch aus mehreren Gründen den Körper: Zum einen entsteht der Geist im Gehirn, das zum Körper gehört und aus Materie besteht. Zum anderen braucht der Geist die Präsenz und Repräsentanz des Körpers in Form einer Abbildung im Gehirn, sonst setzen auch die Funktionen des Geistes aus. Dieses Phänomen lässt sich bei Krankheiten beobachten, die die Körperwahrnehmung verringern bzw. verschwinden lassen, beispielsweise bei Epileptikern. Der Verlust der Körperwahrnehmung lässt sie die Bodenhaftung verlieren und unterbricht gleichzeitig ihre Gedanken und Gefühle.

Damasio stellt fest, dass der Körper und der Geist (der im Gehirn entsteht) einen einzigen Organismus bilden und über neuronale Bahnen wechselseitig interagieren. Die primäre Aufgabe des Gehirns, so Damasio, ist das Überleben und das Wohlbefinden des Menschen zu sichern. Dafür koordiniert es das Geschehen im Körperinneren des Menschen mit seiner Umwelt. Körper und Geist arbeiten über neuronale Verschaltungen und (elektro-)chemische Vorgänge in den Blut- und Nervenbahnen eng zusammen. Damit der Geist richtig funktionieren kann, braucht er Bilder von den unterschiedlichen Körperereignissen und Sinnen bzw. Sinnesorganen. Im sensorischen Teil des Gehirns entstehen aufgrund dieser Informationen des Körpers sogenannte Hirnkarten in Form neuronaler Muster. Diese neuronalen Muster wiederum werden zu Ideen und Vorstellungen in Bezug auf ein wahrgenommenes Objekt und beeinflussen damit das Handeln. Der Körper hat außerdem einen starken Einfluss auf kognitiven Prozesse bei vermeintlich rationalen Entscheidungsfindungen oder emotionalen Wertvorstellungen.

Damasio analysiert diesen Zusammenhang von Emotionen, Entscheidungsfindung und dem Körper mit der Theorie der somatischen Marker (ein automatisches, körpereigenes System zur Bewertung von Vorhersagen). Er untermauert seine These durch konkrete Fallbeispiele.69


Embodiment: Die psychologische Perspektive auf die Einheit von Körper und Geist

Die deutsche Übersetzung für Embodiment ist “Verkörperung” und bedeutet, dass der Geist bzw. die Psyche nicht losgelöst vom Körper zu betrachten ist und dieser wiederum im Kontext zur Umwelt steht. Die Psychologie stützt sich auf die Argumente des Neurobiologen Damasio und begründet durch weitere Experimente,70 dass Menschen ohne ihren Körper nicht angepasst, intelligent und autonom handeln können. Um sich in der Welt zurecht zu finden oder komplexe Zusammenhänge zu verstehen, reicht es nicht, sich auf das rationale Denkvermögen zu stützen, was wieder einmal mehr beweist, wie sehr Körper, Geist, Denken und Fühlen miteinander verknüpft sind. Intelligentes Denken steht immer im Kontext zu Körper und Umwelt, es ist eingebettet in ein dichtes Gefüge von Bezügen. Intelligenz und Kognition sind sozusagen verkörpert (embodied).71

Zwei weitere wichtige Fähigkeiten für intelligentes Handeln, die der Mensch einer künstlichen Intelligenz voraus hat, sind seine Fähigkeit, Zusammenhänge wahrzunehmen, wie z.B. Musterbil- dung72 und sich in andere Personen hineinzuversetzen (Empathiefähigkeit). Soziale Beziehungen und zwischenmenschliche Interaktion bedingen also auch Intelligenz.

Das Gedächtnis wird genauso wie Handeln, Denken und Fühlen von den Emotionen und Körperzuständen geprägt, die man im Moment des Erinnerns spürt. Das bedeutet, dass auch das Gedächtnis embodied, d.h. verkörpert, ist. Das Gedächtnis und die Fähigkeit zu erinnern dient mehr zur Orientierung in der Gegenwart, als einer lückenlosen Wiedergabe von Erlebtem.73

Die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist verdeutlicht die Embodiment-Theorie mit einer weiteren Beobachtung. Die Lebenserfahrungen und Gefühle beeinflussen die Körperhaltung und das ganze Körpergeschehen (Mimik, Gestik und Kommunikation). Gefühle wie Stolz und Freude manifestieren sich eher in einem aufrechten und beschwingten Gang, Niedergeschlagenheit oder Depressionen hingegen äußern sich eher in einer gebeugten Haltung. Allerdings kann die Körperhaltung auch Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit sein. Umgekehrt beeinflusst die Körperhaltung genauso die Stimmung und das psychische Erleben von Menschen, indem sie bestimmte Emotionen sogar unterstützt oder verhindert. Durch Rückmeldung von Körper- und Gesichtsausdruck werden im Gehirn Veränderungen bewirkt, die die Emotionen erzeugen, die zur Mimik passen. Einige Versuche in der Psychologie belegen, dass bestimmte Körperhaltungen passende Emotionen ermöglichen oder unpassende Emotionen sogar verhindern. Versuchspersonen, die mit einer offen- en, aufrechten Körperhaltung negative Emotionen nachfühlen sollten, waren erschwerter dazu in der Lage als Personen mit einer zur Emotion passenden, gebeugten Haltung.

Eine “positive Grundkörperhaltung” ist also sehr wichtig für das psychische Erleben und den Gefühlshaushalt. Benita Cantieni beschreibt sehr eindeutig, wie diese Körperhaltung aussehen sollte. Sie ist aufrecht und entspannt, jedoch nicht zu locker. Jeder Körper hat eine Grundspannung, die ihn angenehm aufrichtet, so dass kein Wirbel den anderen behindert. Man könnte diese Aufrichtung auch mit “aufgespannt” beschreiben. In dieser Haltung ist der Körper zu allen Bewegungen bereit und man kann jede Emotion erleben. Ist der Körper jedoch durch antrainierte und eingeschliffene Muster in seiner Haltung erstarrt, können auch Gefühle schlechter und weniger spontan ausgedrückt werden. Durch Körperübungen, Atemübungen und mentales Training kann die Körperhaltung geformt und in die gewünschte Richtung verändert werden, so dass alle Stimmungen, Gefühle und Empfindungen gespürt werden können. Die Atmung ist dabei eine besonders schnelle und leichte Möglichkeit, sich aufzurichten und sein Skelett zu stabilisieren.74


Der biologische Zusammenhang von Gehirn und Bauch (Verdauungssystem)

Ein anderes Beispiel für den enormen Einflusses des Körpers auf den Geist und das Gehirn ist sehr alltäglich: durch Müdigkeit oder Hunger fällt die Konzentration schwerer. Von den Nervenbahnen und vom Blutkreislauf gelangen Signale zum Gehirn, die dessen Arbeitsweise beeinflussen.75 Die Verbindung von Gehirn und Bauch ist mittlerweile biologisch und psychologisch genau analysiert. Aus biologischer Perspektive gibt es rein äußerlich einige Gemeinsamkeiten von Gehirn und Verdauungssystem. Beide sind von einem dichten Netz aus Nervenzellen durchzogen und sie kommunizieren beide mit denselben Botenstoffen: Serotin, Dopamin und körpereigenen Opiaten.

“Informationen aufnehmen, verarbeiten und darauf reagieren”: Das Bauchhirn kann vieles, was das Kopfhirn auch kann. Das Bauchgehirn leitet an das Kopfhirn Informationen. Genauso leitet das Gefühlszentrum im Gehirn (das limbische System) Gefühle wie Freude, Angst und Ärger an das Verdauungssystem.76

Der Zusammenhang von Körper und Gehirn ist jedoch nicht auf das Bauchgehirn beschränkt. Der gesamte Körper steuert kognitive Prozesse mit. (siehe somatische Marker und Emotionales Erfahrungsgedächtnis)

Abschließend festzuhalten ist, dass das Konzept von körperseelischer Ganzheit natürlich erhebliche Implikationen für die Frage nach den Glücksmöglichkeiten des Menschen birgt. Die in diesem Kapitel eher theoretisch und diagnostisch betrachtete Frage nach dem Glück soll nun im nächsten Kapitel auf die praktische, therapeutische Ebene gehoben werden. Im folgenden Kapitel möchte ich deshalb Körpererfahrung im Hinblick auf Glück und positive Lebenserfahrungen analysieren.


Körpererfahrung und Glück

Der ganzheitliche Gesundheitsbegriff

Dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit und immer wieder neu hergestellt werden muss, hat Antonovsky bereits in seinem Salutogenesekonzept77 („Was erhält den Menschen gesund?, 2001) bewiesen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ergänzt in ihrer Definition78 von Gesundheit den Begriff eines ganzheitlichen und mehrdimensionalen Wohlbefindens. Monika Krohwinkel definiert Wohlbefinden genau als subjektiv empfundenen Teil von Gesundheit.79 Lebensqualität oder Lebenszufriedenheit sind angestrebte Ziele der heutigen Gesellschaft und auch sie sind von unserem Wohlbefinden beeinflusst bzw. abhängig. Das Strukturmodell des Wohlbefindens von Becker80 unterscheidet psychisches Wohlbefinden (Freude, Kompetenz- und Glücksgefühle, positive Stimmung, Entspannung, Wohlbehagen, Gelassenheit, Begeisterung, Flow, Glücklichsein und positive Erregung) von physischem Wohlbefinden (u.a.Vitalität, sich fit fühlen). Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie vereint den salutogenetischen Ansatz mit dem Begriff des ganzheitlichen Wohlbefindens in seiner eigenen Definition von Gesundheit.81 Trotzdem möchte ich aus den beiden nachfolgenden Definitionen weitere Aspekte von Gesundheit hervorheben, die besonders für ein glückliches Leben und den weiteren Verlauf dieser Arbeit wichtig sind.


  • “Gesundheit ist physische und psychische Ausgeglichenheit, ein Ausdruck von Lebensbejahung und Genießenkönnen.”

(Heiko Ernst)82


  • “Gesundheit ist ein sehr empfindliches Energiebündel. Gesundheit hat etwas Fließendes, wie ein erfrischender, lebendiger Fluss. Gesundheit hat nichts von einem bewegungslosen Tümpel an sich.”

(B.K.S. Iyengar)83


Gesundheit bedeutet demnach nicht nur Wohlbefinden, sondern auch Ausgeglichenheit (Harmonie) und ist Voraussetzung für positive Lebenserfahrungen. Der dynamische Gesundheitsbegriff von B.K.S. Iyengar verknüpft das yogische Weltbild mit der westlichen Psychologie, dem systemischen Denken, und reißt so einen weiteren wichtigen Aspekt von Gesundheit an. Aus systemischer Sicht sind lebende Organismen sich selbst organisierende, dynamische Systeme, die sich immer in einem flexiblen, sich bewegenden Gleichgewicht befinden und niemals in unbewegter, unveränderlicher Starre verweilen.84 Sie stehen dabei in ständiger Wechselwirkung mit ihrer Umwelt und sind somit systemisch miteinander vernetzt und nicht unabhängig. Gesundheit ist demnach ein Zustand dynamischer Ausgeglichenheit der physischen und psychischen Faktoren des Organismus und seiner Umwelt. Krankheit ist nicht zu verwechseln mit einem bestimmten Krankheitssymptom, sondern der einfache Verlust der Ausgeglichenheit und/oder der Versuch des Organismus, eine neue Ordnung herzustellen.Gesundheit kann auch als ein Ausdruck der Lebensfreude, der Lebendigkeit und des Genießens begriffen werden.85 Zu einem zeitgemäßen Gesundheitsverständnis gehört auch ein systemisches Menschenbild, das ganzheitlicher und differenzierter ist. Der Mensch besteht demnach aus drei Systemen, die miteinander in Interaktion stehen:86

  • das biologische System: der Körper


Gesundheitsförderung

Alle drei Bereiche müssen in einer ganzheitlichen Gesundheitsbildung berücksichtigt werden. Ganzheitlichkeit setzt voraus, den Menschen auch ganzheitlich anzusprechen. Das bedeutet nicht nur durch kognitive, rationale/verbale Reize, sondern auch in Form emotional-körperlicher oder bildhafter Impulse zu kommunizieren. Eine sinnvolle und positive Lebensführung verlangt einen sensiblen Umgang mit sich selbst, seinen Mitmenschen und seiner Umwelt. Das übergeordnete Ziel einer gelungenen Gesundheitsförderung sollte deshalb die Sensibilisierung des Einzelnen in Bezug auf die Selbstwahrnehmung und Beobachtung von Signalen für Wohlbefinden und Störungen, in sich selbst oder seinem Umfeld gründend, sein. Eine ganzheitliche Gesundheitsbildung lässt sich nicht im Rahmen eines Workshops vermitteln, sondern geschieht in einem lebenslangen Prozess, der das (Gesundheits-)Verhalten der Menschen positiv modifiziert. Dabei ist das eigene, subjektive Erfahren mit wachen, geschärften Sinnen unablässig. Das bedeutet ein Gespür dafür zu entwickeln: “Was tut mir gut und was schadet mir?”

Die sensible Selbstwahrnehmung ist also eine wichtige Voraussetzung für Gesundheit und kann nachweislich durch Yoga verbessert werden (siehe Studie Kapitel 4). Das bedeutet, gesundheits- schädigende und mindernde Gewohnheiten werden als schlecht erkannt und durch gesundheitsförderliche, positive Verhaltensweisen ersetzt.

Generell geht es darum, Menschen zur Selbsthilfe und Mündigkeit in gesundheitlichen Belangen anzuleiten, so dass sie selbstständig dazu in der Lage sind, sich in ihrer individuellen Umwelt mit ihren persönlichen Bedürfnissen in Balance und Harmonie(-fähigkeit) einzurichten. Eigenverantwortlichkeit und Selbstreflexion sind wichtige Stichworte beim Aufbau gesundheitsförderlicher Strukturen und der Anregung, selbstbestimmt “den eigenen Weg” zu gehen. In diesem Sinne liefert Yoga auch keine Patentrezepte, sondern vermittelt dem Übenden Handwerkszeug in Bezug auf Balance- und Harmoniefähigkeit, Schulung der Sinne (Wahrnehmung) und der Sensibilität. Neben der besonders nachhaltigen Methode der Körpererfahrung87 lernt man im Yoga weitere wichtige Techniken zu einer Lebensführung, die Wohlbefinden und damit Glück begünstigen. Dazu gehören Entspannungs- und Stressbewältigungstechniken, der Umgang mit Emotionen oder dem eigenen Gedankenstrudel sowie passende Affirmationen und Visualisierungen. Obwohl Geist und Körper unzertrennlich miteinander verwoben sind, möchte ich zunächst die Rolle des Körpers und der Körpererfahrung vor allem in Bezug auf Yoga näher beleuchten. In Kapitel 4 widme ich mich dann den mentalen Prozessen bzw. der Meditation und ihrer Wirkung auf den Geist und die damit verbundene Lebensqualität.


Die Relevanz von Gesundheit und Wohlbefinden für Glück und die Rückwirkung von Glück auf Gesundheit

Die Lebensqualität eines Menschen wird durch seinen Gesundheitszustand erheblich beeinträchtigt - das haben fast alle Menschen schon einmal am eigenen Leib erfahren. Jeder, der sich an eine schlimme erlebte Krankheit, egal ob physisch oder psychisch, erinnern kann, wird zugeben müssen, wie sehr ein schlechter gesundheitlicher Zustand Glück verhindern kann. Kurzfristige, freudvolle und glückliche Momente oder längerfristige positive Gefühle sind unter gewissen Krankheitsbildern und deren Auswirkungen und Umständen kaum möglich. Gesundheit ist sozusagen eine wichtige Vorbedingung für Glück, nicht zu vergessen auch im Hinblick auf das mehrdimensionale Modell des Wohlbefindens. Denn vor allem hängt das subjektiv empfundene psychische Wohlbefinden sehr eng mit Glücksgefühlen, Glücklichsein und der habituellen Lebensfreude und Zufriedenheit zusam men.88 Das bedeutet, dass sowohl kurzfristiges (aktuelles) wie auch langfristiges (habituelles) Glück von einem ganzheitlichen und subjektiv geprägten Gesundheitsbegriff abhängen.

Berücksichtigt man an dieser Stelle auch die Bedeutung von Harmonie- und Balancefähigkeit und Dynamik (im Fluss sein) für ein ganzheitliches Wohlbefinden und damit für Glück, kann vor allem Yoga einen wichtigen Beitrag zu einem dauerhaft glücklichen Leben leisten.

Eine weitere wechselseitige Abhängigkeit zwischen den beiden Begriffen ist, dass Glück(-lichsein) und Zufriedenheit die Gesundheit stabilisieren und vor Krankheiten schützen. Das hängt auch damit zusammen, dass Freude und Glück den Körper aktivieren und ihn fitter machen. Außerdem haben glückliche Menschen einen gesünderen Lebensstil. Deshalb fordert die Glücks- und Gesundheitsforscherin Ruut Veenhoven der Erasmus-Universität Rotterdam, dass das Glücksempfinden der Menschen aus Sicht der Gesundheitsförderung gestärkt werden muss.89 In gewissem Maße ist Gesundheit ein Ausdruck von Lebensbejahung und der Lebendigkeit des Menschen. Gesundheit und Glück haben beide mit der Fähigkeit, genießen zu können, mit Humor und Offenheit gegenüber der der Welt zu tun.90

Eine weitere Parallele zwischen Gesundheit und Glück sehe ich darin, dass Glück und Gesundheit nachhaltig und effizient nur durch ständiges Bemühen in Bezug auf langfristig veränderte Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu erreichen und zu erhalten sind. Der buddhistische Mönch Matthieu Ricard erklärt in seinem Buch, dass, um dauerhaftes Glück zu erreichen, es ständigen Bemühens und der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten bedarf. Nicht zu vergessen, die Bedeutung, die der Entwicklung und Schulung des Geistes und der Wahrnehmung zukommt91. Um nach den Forderungen und Ideen der modernen ganzheitlichen Gesundheitsförderung und Bildung zu schließen, bedarf es auch bei der Genese von Gesundheit eines Trainings der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen in Bezug auf seine Sensibilität gegenüber schädlichen Einflüssen aus seiner Umwelt oder durch sich selbst. Matthieu Ricard spricht vom Kultivieren und der Prägung positiver Gedanken(- muster) als Weg zum Glück. Wolfgang Knörzer und Gerhard Treutlein sehen die Basis von Gesundheitsförderung in einer geschärften Wahrnehmung und Sensibilität für das eigene Wohlbefinden durch die Schulung der Sinne.91 Aus neurobiologischer Perspektive ist menschliches Glücksempfinden vor allem ein Nebenprodukt des Lernvermögens, da es bei der Aktivierung des entsprechenden Moduls im Gehirn nicht nur um Spaß und Glücklichsein geht. Das Modul ist in erster Linie darauf angelegt, dass Menschen ständig nach dem streben, was gut für sie ist.93

Das Prinzip von Körperwahrnehmung und Körpererfahrung und die Relevanz von Körpererfahrung für Glück

Körpererfahrung ist ein Aspekt von Selbsterfahrung neben anderen wie Gefühle spüren oder das (Nach-)Denken über etwas. Über den eigenen Körper, besonders durch Bewegungen und Sinneserfahrungen (Lust, Schmerz etc.), die man durch ihn und mit ihm wahrnehmen kann, erfährt man sich selbst und seine Umwelt. Über die Zentrierung der eigenen Wahrnehmung auf bestimmte Körperempfindungen, auf das Positive in der eigenen Körperwahrnehmung oder eine individuell und sensibel gestaltete Bewegung, kann man seine Sinne wieder entdecken.94 Damit sichert man sich nicht nur das Erleben und die Bewusstheit des eigenen Körpers, sondern auch dessen Handhabung.95

Erfahrungen des Körpers macht man, wenn man beispielsweise den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung spürt oder andere körperliche Gefühle und Empfindungen wie Schmerz, Wärme oder konkrete Bewegungen wahrnimmt. Körpererfahrung kann mehr oder weniger aktiv sein, d.h. bewegt man sich, kann man während der Bewegung etwas wahrnehmen und erfahren, aber man kann auch nachdem man die Bewegung bereits beendet hat, nachspüren, wie sich der eigene Körper bzw. das entsprechende Körperteil dann anfühlt (Anm. Das Nachspüren einer Stellung ist im Yoga ein wichtiger Bestandteil der Übungen, da der Wechsel von Anspannung zur Ruhephase, der Entspannung, ein besonderes Potential birgt, den eigenen Körper wahrzunehmen, zu erfahren. Jeder, der zuerst die Faust ballt und einige Sekunden fest geballt zusammenhält (oder die Schultern zu den Ohren hochzieht und die Spannung hält etc.) und danach die Spannung löst, wird eine besondere Entspannung im zuvor angespannten Körperteil erspüren können. Man kann sich in der Ruhephase nach einer Bewegung genauso auf die Tätigkeit verschiedener innerer Organe konzentrieren. Ist man in der aktiven Phase einer Ausdauer erfordernden Bewegung nachgegangen, kann man anschließend beobachten, wie sich Atmung und Herzfrequenz langsam beruhigen. Dieses Prinzip nutzt auch die Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen.)

Man kann Körpererfahrung als sensomotorische Stufe des Erkennens und Handelns in der Wahrnehmung zusammenfassen. Erfahrung bedeutet dabei, die in der Erinnerung, in einer Art Schemabildung, niedergeschlagene Wahrnehmung. Körpererfahrung vollzieht sich in einem sinnlichen Wahrnehmungsprozess, dessen Grundlage der Körper bzw. dessen Bewegung ist.96 Diese Art der Selbsterfahrung verleiht den Menschen Erkenntnis, auch im Sinne einer besseren Wirklichkeitseinschätzung, und gibt ihrem Leben Sinn, mit positiven Auswirkungen auf ihre zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Umgang mit den Mitmenschen verbessert sich automatisch, wenn man seine Instrumente Geist und Körper schult. Außerdem verschafft die körperorientierte Selbsterfahrung Zugang zur eigenen Intuition. Dieses intuitive Fühlen und Spüren haben die Menschen im Laufe der immer stärker technisierten Lebensstandards und der damit verbundenen, beschleunigten Lebensumstände, immer mehr verlernt, obwohl es für ihr Wohlbefinden und das Zurechtfinden im Alltag enorm wichtig ist.


Achtsamkeit und Körpererfahrung

Achtsamkeit bedeutet gewahr und bewusst im Augenblick, im Hier und Jetzt, zu sein und die volle Aufmerksamkeit auf das zu richten, was man gerade wahrnimmt oder tut. In diesem Zustand bewertet man nichts mehr, man nimmt alles an und vermeidet nichts. Ein Zen-Meister definierte Erleuchtung folgendermaßen: “Ich esse, wenn ich esse, ich gehe, wenn ich gehe und ich schlafe, wenn ich schlafe.” Anhand dieses praktischen Beispiels wird das Achtsamkeitsprinzip deutlich. Die meis ten Menschen erledigen zu viel auf einmal und widmen sich wenigen Dingen mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit. Sie sind immer auf dem Sprung zum Nächsten, obwohl sie das Vorherige noch nicht erledigt haben. Ihre Gedanken sind entweder in der Vergangenheit oder sie planen schon für die Zukunft, aber um die Gegenwart kümmern sie sich selten. Achtsamkeit ist deshalb so wichtig für ein gelungenes Leben, da man sie für so Vieles braucht: um Menschen zuzuhören, um Sinnesfreuden zu genießen, zum Lernen, zum Arbeiten und um sinnvoll und stimmig mit sich und im situationsbedingten Kontext zu handeln. Die Ressource Achtsamkeit ist allerdings nur begrenzt vorhanden, d.h. jedem steht ein Geist zur Verfügung, der täglich eine bestimmte Zeit in einem aufmerksamen, konzentrierten Bewusstseinszustand sein kann.97 In der Praxis bedeutet das, dass man zwar nicht rund um die Uhr konzentriert bei dem, was man tut, sein kann, aber man kann zumindest seine Aufmerksamkeit trainieren und seinen Bewusstseinszustand so schulen, dass es leichter fällt, “bei der Sache zu bleiben”.

Die Harmonie von Körper und Geist gründet auf Konzentration und Achtsamkeit, denn das höchste Gewahrsein körperlicher und geistiger Prozesse bedeutet eine gewisse Wachheit im Augenblick, wie man sie in der Meditation oder in Übungen, die Bewegung mit Bewusstsein verbinden, wie im Yoga oder dem “Sensory awareness” von Charlotte Selvers findet. Sensory Awareness verdeutlicht den Unterschied der Bewegung des Armes, wenn man ihn nach einem Befehl bewegt (z.B. 45 Grad anheben) oder wenn es nur darum geht, die Bewegung im gleichen Moment zu spüren. Die Ergebnisse ihrer Arbeit decken sich mit denen Erich Fromms, insofern Erspüren und Gewahr werden der Bewegung intellektuelle Vorgänge wie das Nachdenken oder Reflektieren darüber ausschließen.

Am einfachsten ist es, Achtsamkeit und Gewahrwerden über Körpererfahrungen wie das Beobachten der Atmung, Sport oder meditative Körperübungen wie Yoga, Tai Chi oder Qi Gong zu üben. Besonders die Verknüpfung des Atems mit der Bewegung stellt einen Prozess dar, der Geist und Körper verknüpft und uns Bewegung(-en) im Sinne von “gewahr sein” bewusst wird.98

Die reine Geistesbeobachtung, wie man sie in der klassischen Meditation übt, ist für viele Ungeübte eine schwierigere Form der Selbsterfahrung und kann unter Umständen dazu führen, dass der Übende zur Verkopfung des Gefühllebens neigt, statt ins Fühlen, Spüren und Erleben zu kommen. Das gleiche Problem betrifft auch die Therapieform der Psychoanalyse, die das Gewahrwerden von Affekten, Erinnerungen und verdrängten Konflikten verfolgt, um zum Erleben zu gelangen. Das Leben wird durch einen achtsameren Umgang mit sich und dem Gewahrwerden klarer.99

Aktuell polarisiert der amerikanische Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn sehr stark in den Medien, mit einem Programm zur achtsamkeitsbasierten Stressminderung, das sich kurz MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) oder einfach nur mindfulness nennt. Dazu werden vier Techniken verwendet, die auf körperlicher und geistiger Ebene ansetzen. Eine der vier Techniken sind Übungen (Asanas) aus dem Hatha Yoga. Eine weitere körperorientierte Methode ist Body Scan100, das auch oft während der Anfangs- oder Endentspannung im Yoga geübt wird. Eine weitere Technik ist das Übernehmen von Achtsamkeit in den Alltag, was bedeutet, dass alltägliche Handlungen und Aufgaben besonders achtsam, bewusst und langsam ausgeführt werden, beispielsweise kauen, etwas ertasten, Geschirr spülen o.ä. Eine rein geistige Übung, die Achtsamkeitsmeditation, die Kabat-Zinn in sein Programm integriert hat, kommt ursprünglich aus der buddhistischen Vipassana-Meditation, wobei er sie dafür aus ihrem religiösen Kontext löste.101


Die Relevanz von Körpererfahrung für Gesundheit mit besonderem Fokus auf Yoga

Die meisten Menschen schenken dem Erleben ihres Körpers nur eine geringe Beachtung und nehmen dadurch ihre eigenen Bedürfnisse zu wenig oder nur verzerrt wahr oder sind sogar von sich entfremdet.102 Die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist ein wichtiges Instrument zur Auflösung dieser Entfremdung und der Abgetrenntheit von den eigenen Gefühlen mit dem langfristigen Ziel des (individuellen) Wohlbefindens. Erich Fromm prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des Gewahrwerdens, was eine gewisse Achtsamkeit im Erfahren und Erleben bedeutet: man wird sich seines Körpers, seiner Emotionen, seines Geistes und aller inneren und äußeren Objektbeziehungen gewahr, d.h. man erlebt und erfährt sie mit allen Sinnen und in voller Aufmerksamkeit.103

Körpererfahrung, im Sinne eines bewussten und achtsamen Trainings der Selbsterfahrung, ermöglicht den Menschen einen positiven Dialog mit dem eigenen Körper.104 Körpererfahrung bedeutet persönliches Wachstum, da sie nicht selten die innere (geistige) Einstellung, das Verhalten und die Wertvorstellungen eines Menschen verändert. Wer durch Körpererfahrung zu seiner inneren Mitte gefunden hat und sein sensibles Empfinden trainiert hat, verändert ebenfalls sein soziales Handeln. In der bewussten Rückbesinnung auf den Körper kann man einen tieferen (Lebens-)Sinn erfahren. Der Körper ist die Grundlage aller sinnlichen Wahrnehmungsprozesse und Körpererfahrung und deshalb unmittelbare Voraussetzung für Gesundheit und Wohlbefinden. Der Körper kann die Quelle befriedigender Erfahrungen sein, durch die sich Menschen finden und definieren können. Das bedeutet: Ich handle über meinen Körper, trete in Beziehung zu meiner Umwelt und erfahre mich selbst. Diese Art von Selbsterleben über körperorientiertes Handeln kann die Lebensqualität und Ziele erheblich beeinflussen - egal, ob es um sportliche Aktivitäten oder um den Austausch körperlicher Nähe geht.105 Körpererfahrung hilft Menschen, sich selbst zu spüren und zu erleben und sich vom einseitigen intellektuellen und rationalen Denken und von einseitigen Herangehensweisen (begünstigt durch unsere Lebensumstände einer leistungsorientierten Gesellschaft) zu lösen und wieder Kontakt zu einer lebenswichtigen Fähigkeit, der Intuition, zu bekommen.

Körpererfahrung kann den Menschen Erfahrungen von Einheit mit sich und der (Um-)Welt ermöglichen, die ihr Wohlbefinden entscheidend fördern. Der Körper kann sogar ein Schlüssel sein, Zugang zur Psyche bzw. zum Ego des Menschen zu bekommen, was bereits einige bekannte Autoren und Wissenschaftler (z.B. Graf von Duerckheim, Wilhelm Reich, Alexander Lowen) erforscht und in therapeutischen Arbeiten umgesetzt haben. Aus diesem Grund habe ich das Thema “Körpererfahrung als Therapieform” anschließend gesondert aufgeführt. Im Bereich der Yogatherapie bezeichnet Gary Kraftsow die harmonischen und bewussten Bewegungen des Yoga als verantwortlich für ein optimales Wohlbefinden und als Mittel zur Selbsttransformation.106 Jedoch nicht nur aus therapeutischem Interventionsbedarf, sondern auch aus präventiver Sicht, sind positive Körpererfahrungen eine wesentliche Voraussetzung für Gesundheit und Wohlbefinden, obwohl die subjektive Komponente des Erlebens von Bewegung lange verdrängt wurde (siehe diverse Untersuchungen zur Körpererfahrung im Sport von Gerhard Treutlein u.a.).

Im Hinblick auf Gesundheit geht es beim Körpererfahrungsansatz vorrangig darum, welche Bewegungsaktivitäten (Elemente oder Arrangements) das Wohlbefinden steigern oder vermindern. Wohlbefinden misst sich dabei nicht alleine an Fitness, Leistungsfähigkeit oder Funktionstüchtigkeit. Der Körper lehrt und leitet den Mensch über die Erfahrung von Bewegung, wie beispielsweise den Wechsel von Anspannung zu Entspannung und über die harmonische, rhythmische Bewegung, was gut tut. Im Yoga sagt man auch: “Dein Körper ist Dein Lehrer!”, was bedeutet, dass man sein eigener Lehrer werden kann, wenn man auf seinen Körper und seinen Atem hört.107

Positive Körpererfahrungen, die man als belohnend oder lustvoll empfindet und die mit angenehmen, sensorischen Reizen oder mit Erfolgserlebnissen zusammenhängen, trainieren die menschliche Selbstwahrnehmung in Bezug auf Sensibilität. Genauso können negativ erlebte Körpererfahrungen wie Schmerz, Angst oder Müdigkeit eine sensiblere Selbststeuerung im Hinblick auf das eigene Wohlbefinden begünstigen. Es darf bei jeglichen Formen der Körperwahrnehmung nicht um andere Ziele als die der bloßen Wahrnehmung gehen. Alle anderen Ziele, wie beispielsweise Leistung, lenken davon ab. Es sollte also mehr die Orientierung auf den Bewegungsprozess bzw. auf die Körpererfahrung als eine Ergebnisorientierung im Vordergrund stehen.108

Egal, ob es jetzt um Yoga, Qi-Gong oder andere Formen der Körpererfahrung geht, essentiell für die Gesundheit und das Wohlbefinden ist, dass sich dabei die Weisheit des Körpers entwickelt. Durch jegliche Form von Körpererfahrung, die auf das Spüren und Erleben ausgerichtet ist, wird das subjektive Empfinden betont und aufgewertet. Denn nur so kann man (krankhafte) Abweichungen von der Norm oder den Verlust von Balance erkennen.109 Selbstgewahrsein und Selbstregulation sind grundlegende Bestandteile von Heilung und bewirken eine Veränderung des persönlichen Gesamtzustands, was vor allem durch eine Integration von Körper, Geist und Atem geschieht.110 Die Verantwortung gegenüber dem eigenen Körper wird in dem Moment eine andere werden, in dem man durch Körperwahrnehmungsübungen den eigenen Bedürfnissen gegenüber sensibler und achtsamer geworden ist. Teilnehmer, die regelmäßig Yoga praktizieren berichten häufig, dass sie automatisch schlechte, gesundheitsgefährdende Gewohnheiten abgelegt haben, da sie plötzlich deutlich gespürt haben, dass ihnen die schlechte Gewohnheit nicht gut tut. Dafür haben sie andere positive Veränderungen in verschiedenen Bereichen des Alltags wie der Ernährung, Bewegung und dem Umgang mit ihren Mitmenschen integriert und langfristig beibehalten. Yoga ist Lernphase für das Erlangen einer alltäglichen, allgemeinen Fähigkeit zu Bewegung und Handeln in Harmonie111 mit sich und seinem Umfeld (Anm.: im Yoga wird der Begriff Universum synonym für Umfeld/ Umwelt gebraucht). In einer der wichtigsten Schriften des Yoga, der Bhagavad Gita, wird diese Fähigkeit in folgendem Aphorismus zusammengefasst: “Yoga ist Geschicklichkeit im Handeln.” (Bhagavad Gita, II.50.). Nicht nur Harmonie, sondern auch Balancefähigkeit ist ein Grundprinzip im Yoga, das schon seit Jahrtausenden in einer der wichtigsten Sutras Patanjalis verankert ist und die beiden Prinzipien des menschlichen Lebens, Stabilität und Durchlässigkeit, vereint.112

Aus Sicht der Gesundheitsförderung und Bildung bedeutet das, dass der Mensch sein Leben derart gestaltet, dass er in sich in einer positiven Gesundheits- und Wohlbefindenszone nach dem Prinzip der Oszillation bewegt. Er bleibt sozusagen immer in einem Feld des gesunden Bereiches und wechselt rhythmisch zwischen Belastung und Erholung, ohne (zu lange) in negative Alarm- oder Krankheitszonen abzurutschen, die sich durch Überlastung, Verspannung, Schlaffheit oder Antriebslosigkeit bemerkbar machen.113 Man könnte die Balance- und Harmoniefähigkeit und die Idee der Oszillation um eine positive Gesundheitszone auch als Zentrierung in der “inneren Mitte” als optimalen Alltagszustand beschreiben.

Der Gedanken der Kon-Zen-Tration in der inneren Mitte findet sich auch im ostasiatischen Kampfsport (z.B. im Judo) und bei Graf von Duerckheim, der die Zentrierung im Unterbauch “Hara” nennt. Das Ziel ist es, hier von der Entspannung zu einer rechten, mittleren Spannung zu kommen, in der wir psychisch wach sind und wir unsere Energie optimal nutzen können. Auch im chinesischen Übungssystem des Qi-Gong geht es darum, das Gleichgewicht der beiden Kräfte Yin und Yang herzustellen. Man führt oft kreisende Bewegungen der Gelenke aus, die eine ausgleichende und harmonisierende, regenerative Wirkung auf den Mensch und seine Gesundheit haben. Der ganzheitliche Energiefluss im Körper wird so erhöht, Spannungen und Blockaden werden beseitigt.114 Nicht unbegründet findet man deshalb meditative Bewegungsübungen in Form von Yoga oder Qi-Gong zur Anregung von Selbstheilungskräften oder zur Unterstützung von Therapien oder Rehabilitationsmaßnahmen.

Befasst man sich noch etwas genauer mit den Yoga Sutras des Patanjali, einem Grundlagenwerk des Yoga, erfährt man genauere Hinweise, welche Leiden und Probleme den Menschen zu schaffen machen und wie man sie durch Schulung des Geistes und des Körpers überwinden kann. Besonders das “zur Ruhe bringen” der Bewegungen oder Gedanken des Geistes nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein. (Yoga Sutra I.II.). Außerdem wirken die verschiedene Bewegungen und Haltungen des Körpers im Yoga gleichzeitig positiv auf unsere Psyche und unseren Geist. Beschränkt man den Yoga alleine auf seine Körperübungen, die lediglich einen Teil ausmachen, bewirken diese trotzdem schon enorm viele positive Veränderungen der geistigen und körperlichen Gesundheit - sei es in Form einer Sensibilisierung der Selbstwahrnehmung oder durch direkte Einflüsse auf körperliche und geistige Vorgänge. Außerdem kann Yoga Stresssymptome abbauen, da er den Körper immer wieder zu Entspannungsreaktionen bringt.115


Zusammenfassung

Körpererfahrung bewirkt eine gesteigerte Sensibilität für den eigenen Körper, sozusagen ein neues Körperbewusstsein, was nicht selten auch zu einem insgesamt positiveren Lebensstil beiträgt. Achtsamkeit bzw. Gewahrwerden ist in diesem Zusammenhang ein Schlüsselbegriff, da während der Körpererfahrung nur mit einer achtsamen Grundhaltung die nötige Aufmerksamkeit auf den Körper bzw. das Selbst gerichtet werden kann. Durch Achtsamkeit kann man zu innerer Ruhe und Entspannungszuständen gelangen und die eigenen inneren Ressourcen in Gestalt der Weisheit des Körpers können nutzbar gemacht werden. Ist man mit den Gedanken woanders, kann sich das Potential der Körpererfahrung nicht entfalten. Das bedeutet, dass selbst erfahrene Sportler, wenn es ihnen bei ihrer Aktivität nur um Ziele wie Leistung und deren Steigerung geht, keinerlei Sensibilität gegenüber sich und ihrem Körper kultiviert haben, obwohl sie ständig die Möglichkeit dazu hatten. Das mag wohl daran liegen, dass es oft leichter ist, im rationalen und kontrollierbaren Bereich zu bleiben, als sich bewusst auf das Fühlen und Spüren zu konzentrieren, denn das bedeutet in gewissem Maße auch immer ein bedingungsloses Annehmen, von dem, was gerade ist.


Das Prinzip meditativer Körperübungen

“Der Weg ist das Ziel.”

Die meisten asiatischen Kampfsportarten werden im Westen betont leistungs- und konkurrenzorientiert praktiziert und nicht mehr wie im ursprünglichen Sinn, nach dem Grundprinzip eines wirksamsten Gebrauchs von Körper und Geist und Studium eines Weges. Dieser wirksamste Gebrauch von Körper und Geist soll im Kampfsport geübt werden, damit man ihn auf andere Bereiche des Lebens übertragen kann. Genauso praktiziert man Yoga nicht nur um seiner selbst Willen auf einer Yogamatte, denn die dort über den Körper gewonnenen Erkenntnisse sollen ebenfalls auf das gesamte Leben übertragen werden.

Es geht beim Kampfsport wie beim Yoga um eine Erfahrung der eigenen Körperlichkeit und der Erfahrung einer Einheit von Körper und Geist. Selbsterfahrung und Selbstkontrolle sind Bestandteile des Weges, weshalb Niederlagen und Misserfolge genauso wichtig sein können wie Siege und Fortschritte. Es geht beim Kampfsport wie bei allen anderen meditativen Körperübungen (Yoga,Qi-Gong, Tai Chi) auch, nicht um vorzeigbare äußerliche Erfolge, sondern um einen Zuwachs an Erfahrungen, die während des Lernprozesses gemacht werden. Das innere Erleben und die Fokussierung eines Weges sind kennzeichnend für jegliche meditativ ausgeführte Bewegung(-sabfolge), wobei es sich gleichermaßen um Yoga-Asanas, um Übungsfolgen oder Katas der Budo-Künste oder Figuren aus der chinesischen Tradition handeln kann. Das Essentielle ist bei all diesen Methoden gleich: es geht beim Üben um das Bewahren des inneren Gleichgewichts durch Zentrierung in einem Zustand der erhöhten Wachheit und Bewusstheit im Augenblick. In diesem Zustand sind Denken und Tun miteinander verschmolzen, so dass der Geist weder grübelt noch analysiert.

Man ist vollkommen klar und geistesgegenwärtig durch die innere Ausrichtung auf die meditative Bewegung(-sabfolge). Die Bewegung erfolgt intuitiv und ermöglicht uns den wirksamen Gebrauch von Körper und Geist.116

Die entsprechende Körperhaltung und eine angemessene Atmung sind die Basis für ein meditatives Körpererleben. Das bedeutet, dass man ohne eine rechte Spannung und Atmung kaum eine Körpererfahrung tieferer Qualität erreichen kann. Jeder, der zum Selbstversuch einmal absichtlich schnell und kurz nur im oberen Brustbereich atmet, wird im Vergleich zu einer tiefen, ruhigen ganzheitlichen Atmung (Bauch, Flanken, Brust, Schlüsselbeine) schnell bemerken, dass die tiefe ganzheitliche Atmung weitaus günstiger ist, um ein tiefes Gefühl von Verbundenheit und Einheit zu spüren. Die Atmung erfolgt dafür gleichmäßig mit Betonung auf der Ausatmung, d.h. ein langes Ausatmen, bei dem der Schwerpunkt tief sinkt und die Schultern gelockert werden. Das lange Ausatmen beruhigt uns innerlich und die rechte Körperspannung, d.h. weder eine verspannte noch eine in sich zusammengesunkene Haltung, stimuliert uns zu einer offenen Geisteshaltung und ermöglicht das blockadefreie Erleben von Körpererfahrungen. Graf von Duerckheim beschreibt die Zentrierung im “Hara” im Unterbauch als Ausgangspunkt, um die Atmung zu schulen und die rechte Spannung zu finden. Dieser Technik bedient sich auch der Kampfsport, um eine sichere Standposition einzunehmen, in der einen der Gegner kaum bezwingen kann, da man zwar stabil und standfest ist, jedoch nicht steif und erstarrt. Das lange Ausatmen erdet den Kämpfer gleichzeitig und verleiht ihm eine Art unbeugsame Kraft und Stabilität. Harmonie- und Balancefähigkeit ist also auch hier wieder ein übergeordnetes Thema.

Im Yoga bedient man sich anderer Bilder, um dem Übenden gleichzeitig Stabilität und Standfestigkeit, sowie auch Flexibilität und Beweglichkeit zu vermitteln, wobei die Idee dahinter jedoch die gleiche ist. Auch wenn es im Yoga den Punkt “Hara” nicht gibt und kein fremder Gegner im körperlichen Wettkampf zu erwarten ist, wird in vielen Asanas und Vorübungen (Pavanmuktasanas) eine aufgerichtete, gespannte Haltung mit dem Ziel einer Verinnerlichung dieser geübt. Der Gedanke der Erdung, des festen Standes, findet sich vor allem in den Standstellungen des Yoga wieder. Die Beherrschung der Atmung ist ein Fundament des Yoga und wird sowohl gesondert geübt als auch in die Asanas integriert. Kurz gesagt: Ohne Atmung kein Leben und ohne richtige Atmung keine positive Selbsterfahrung.

Hat man eine rechte Körperspannung verinnerlicht, wird jede Bewegung, jede Haltung leicht und doch gleichzeitig kraftvoll sein. Der vertiefte Atem hilft dabei, diese beiden ursprünglich so gegensätzlichen Prinzipien zu einer rechten Mitte auszubalancieren, so dass ein Zustand tiefer Harmonie entsteht, geistig und körperlich, sichtbar und unsichtbar. Beispiele für die beschriebene konzentrierte, kraftvolle Leichtigkeit gibt es viele: der ein oder andere hat vielleicht schon einmal gesehen, wie mühelos und kraftvoll zugleich ein Yogi eine anspruchsvolle Asana ausführt, ein Basketballer einen Korb wirft oder ein Judoka seinen Gegner auf die Matte wirft. Das sieht so aus, als könne man die Bewegung auch als Laie einfach so nachmachen und als wäre es sowieso unausweichlich gewesen, dass der Ball in den Korb trifft oder der Gegner aus dem Gleichgewicht geraten musste. Anders ausgedrückt: Das Ziel scheint irgendwie in der Bewegung enthalten gewesen zu sein. Auf mich wirken derartige Bewegungen anmutig und leicht, so als scheinen sie aus den Menschen, die sie ausführen, herauszukommen, wobei sogar der Gesichtsausdruck dieser Menschen entspannt wirkt. Leistungsdruck ist dabei kontraproduktiv. Selbsterfahrung und individuelle Fortschritte sind Katalysatoren für persönliche Erfolgserlebnisse jeglicher Art. Das Geheimnis liegt in einer Synthese aus Meditation, Bewegung und Atmung, die die Trennung vom Subjekt zu seiner Umwelt aufhebt und zulässt, dass der Mensch ganz konzentriert bei seiner Bewegung ist. Die Erfahrungen, die Zen- Bogenschützen beim Treffen ihres Zieles beschreiben, erweitern das “Weg-als-Ziel-Prinzip” um eine weitere wichtige Komponente: die Bogenschützen erfahren den Vorgang des Treffens des materiellen Ziels als ein “Sich-Selbst-Treffen.” Sein Wesen hat sich mit dem Schuss des Bogens vereint, wobei er zum Zeitpunkt des Abschusses kaum mehr auf sein Ziel geachtet hat.

Ein Gefühl, das viele Sportler und Yogis beschreiben, ist das Gefühl von Tiefe und Verbundenheit in der Bewegung. Viele Bewegungsabfolgen, die man sonst oft mühelos und ohne darüber nachzudenken ausführt, gelingen uns manchmal nicht oder schlechter als sonst. Dann ist man meist nicht aufmerksam und zentriert dabei, sondern mit den Gedanken woanders. In diesen Momenten ist man selbst sein bester Lehrmeister. Würdigt man sein Ziel nicht mit der angemessenen Aufmerksamkeit, gelingt es nicht.

Beim Yoga hat man es mit einer besonders differenzierten Form der Selbsterfahrung über die Ar- beit mit dem Körper zu tun. Das beginnt schon mit dem sogenannten Body Scan am Anfang der Yogastunde: der Yogalehrer unterstützt die Teilnehmer durch eine Art geführte Körperreise dabei, den eigenen Körper bewusst zu erforschen. Die Teilnehmer lernen durch solche Methoden oder das bewusste Nachspüren nach den Asanas, ihre Selbstwahrnehmung immer genauer zu differenzieren und sich selbst nahe zu kommen. Damit verbunden ist die Erkenntnis, dass sie “ihr Körper sind” und nicht “ihren Körper haben”.117 Eine weitere Besonderheit ist, dass die Körperteile beim Yoga Üben untereinander in Beziehung gesetzt werden. Bei einer Drehhaltung in der Wirbelsäule spüren wir die Beziehung zwischen Schulter- und Beckengürtel und können bzw. müssen diese korrigieren118 und die richtige Haltung verinnerlichen (wie fühlt es sich an, wenn ich die Position nach einer Korrektur richtig eingenommen habe). Oft ist die eigene Selbsteinschätzung falsch in Bezug auf die Körperausrichtung. Man meint nur, der eigene Rücken wäre gerade, dabei ist ein Bereich der Wirbelsäule immer noch rund.


Zusammenfassung

Wie bereits ausführlich beschrieben, zeichnet sich das meditative Üben durch die Fokussierung auf den Prozess und nicht auf das Ziel oder den äußerlich sichtbaren Erfolg aus.“Der Weg ist das Ziel” bedeutet eigentlich nichts anderes, als dass das Ziel lediglich Bestandteil des Weges ist. Seine Aufmerksamkeit richtet man jedoch nicht mehr leistungsorientiert auf das Erreichen dieses Zieles, sondern auf das Ausführen der Bewegung. Lässt man die Selbsterfahrung in Form von Bewusstwerdung in der Bewegung zu, können die Erkenntnisse, die man durch die Bewegungserfahrung macht, auch in alle anderen Lebensbereiche einwirken.119

Ist man ganz konzentriert in seiner gerade ausgeführten Bewegung, fließt diese Bewegung ganz leicht aus der eigenen Mitte heraus, ohne dass man im ausführenden Moment darüber nachdenkt. Dieses Fließen kann man nicht nur spüren, sondern man kann es auch sehen!120

Bewusste Wahrnehmung und Erfahrung des Körpers hat in der Praxis viel mit einem Fließen und Aufgehen in der Bewegung zu tun: Denken und Tun bzw. die Bewegung werden eins und man fühlt sich dann oft in Einheit und Harmonie mit sich selbst. Eine Erfahrung, die nicht selten Glücksgefühle in den Menschen hervorruft. All diese Elemente findet man auch beim Flow-Erleben. Deshalb möchte ich anschließend das Konzept des Flow in Verbindung mit Glück und Körpererfahrung, besonders in Hinblick auf mein Interesse, den Yoga, untersuchen.


Das Flow-Erlebnis: Freude an und durch Bewegung

Mitte der 1970er Jahre entwickelte Dr. Mihalyi Csikszentmihalyi das Konzept des Flow und untermauert seine Theorie seitdem stetig mit Untersuchungen, die sich auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche (Alltag, Sport, künstlerische/ kreative Tätigkeiten) beziehen. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl anderer Wissenschaftler, die das Flow-Erleben auch für ihren Wirkungsbereich erforscht haben und erfolgreich nutzen.121

Wörtlich übersetzt bedeutet Flow fließen oder gleiten. Csikszentmihalyi benutzt diesen Begriff aufgrund eines Erlebnisberichts, der diesen Zustand facettenreich darstellt. Ein Dichter beschreibt sein emotionales (Wohl-)Befinden und Erleben während des Bergsteigens folgendermaßen: “Erkennen, dass man ein einziges Fließen ist. Der Zweck des Fließens, ist im Fließen zu bleiben, nicht Höhepunkte oder utopische Ziele zu suchen, sondern im flow bleiben. Es ist keine Aufwärtsbewegung, sondern ein kontinuierliches Fließen. Anders: Man erobert nichts anderes, als Dinge, die in einem selbst liegen.”

Aus diesem Erfahrungsbericht geht eindeutig der Gedanke der Harmonie und des Einklangs hervor, der unmittelbar mit dem Flow-Erleben verbunden und so wichtig für ein glückliches und zufriedenes Leben ist. Man ist in Einklang und Harmonie, mit sich und dem, was man tut. Flow zeichnet sich im zeitlich begrenzten Moment des Erlebens durch Kontinuität und Gleichförmigkeit und nicht durch Höhepunkte aus. Harmonie ist wichtig, um Flow überhaupt erfahren zu können, denn Körper und Geist müssen hierfür mühelos zusammenwirken und verschmelzen letztendlich miteinander. Das bedeutet aber auch, dass man angemessene körperliche und geistige Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Anforderungen der Tätigkeit, während der das gewisse Fließen entstehen soll, mitbringen muss. Flow-Erleben zeichnet also eine optimale Herausforderung aus, das bedeutet keine Über- oder Unterforderung. Die Anforderungen sind in Balance den Fähig- bzw. Fertigkeiten und man hat Kontroll- und Mitgestaltungsmöglichkeiten bei der Aktivität. (Kontrolle ist auch ein psychisches Grundbedürfnis des Menschen, siehe Kapitel 1.3.)

Flow wird auch als Harmonie aller Teile beschrieben, was soviel bedeutet, dass Bewusstseinsinhalte und Ziele, die das Selbst eines Menschen definieren, in Harmonie zueinander stehen. Die Flow Theorie ist in diesem Punkt sehr eng verwandt mit dem Kohärenzgefühl Antonovskys (1.4.), denn auch hier geht es darum, die Fähigkeiten zu haben, das zu schaffen, was man sich vorgenommen hat bzw. was auf einen zukommt. Im Zusammenhang dieses harmonischen, “das Selbst bestätigenden Zustandes”, nennt Csikszentmihalyi Flow auch optimales Erleben oder Negentropie. Das Selbst bestätigen oder erhöhen (ebenfalls ein Grundbedürfnis des Menschen nach Grawe und Klemenz, siehe 1.3.) passiert während des Flow durch das Erleben der eigenen Kompetenz.

Flow ist ein autotelisches 122 Erleben, das seine Belohnung bereits in sich enthält und nicht von äußeren Erfolgen oder Belohnungen abhängt. Man geht völlig in dem auf, was man gerade im Augenblick tut, ohne mit den Gedanken woanders zu sein und erfährt das freudvolle Gefühl unabhängig von jeglichen äußeren Faktoren. Intrinsische Motivation ist also ein weiterer Schlüsselbegriff in der Flow-Theorie.


Der Flow-Begriff in Stichworten zusammengefasst:

  • Ein ganzheitlicher Fokus auf eine gewisse Tätigkeit und Verschmelzen mit dieser Tätigkeit bis zu Selbstvergessenheit und veränderter Zeitwahrnehmung
  • Harmonie bzw. Einklang (mit sich selbst und der Tätigkeit, d.h. auch Übereinstimmung bzw. Balance von Herausforderung und Können - auch HK-Balance genannt)
  • eine von äußeren Einflüssen unabhängige intrinsische Motivation (autotel. Erfahrung)
  • Klarheit in Ziel (Aufgabe) und Rückmeldung bzw. unmittelbare Folgen des Handelns


Aktivitäten, die Flowerleben begünstigen

Auffallend ist, dass die Beschreibung vieler Flow-Erlebnisse zwei Merkmale enthalten: die Men- schen, die von ihren Flow-Erfahrungen berichten, sprechen von Freude und optimalem Erleben. Vor allem ist es aber auch die eigene subjektive Wahrnehmung, die den Flow ermöglicht. Es gibt einige Aktivitäten, die in ihrer Struktur (nicht im Inhalt!) das Flow-Erleben begünstigen. Vor allem beim Schachspielen, Klettern, Tanzen und in manchen Arbeitssituationen konnten vermehrt Flow-Erlebnisse berichtet und gesammelt werden, so dass man daraus ein Profil mit strukturellen Gemeinsamkeiten erstellen kann.

1. Die Aufmerksamkeit wird verengt, d.h. ich muss mich konzentrieren! → Wahrnehmungen und Gedanken werden sehr selektiv; das Bewusstsein seiner selbst geht verloren, Handeln und Bewusstsein verschmelzen) 2. Es gibt klare Ziele und Rückmeldungen. Dabei entsteht ein Gefühl von Kontrolle und Kompetenz. 3. Es gibt verschiedene Möglichkeiten bzw. Handlungsspielräume, das eigene Können einzusetzen. 4. Man empfindet sich als Teil von etwas und fühlt sich mit diesem Etwas in Harmonie.


Freude an Körpererfahrung

Freude an Bewegung oder Sport ist nicht nur durch die neurobiologische Adrenalinausschüttung im Gehirn oder puren Lustgewinn zu beurteilen. Man kann nicht nur Freude durch Bewegung erfahren, sondern auch Freude an Bewegung haben. Nach dem Prinzip des Flow-Erlebens ist eine bewusste Körperwahrnehmung mit ausschließlicher Konzentration auf den Körper und die Bewegung gerade zu prädestiniert dazu, dabei Freude im Sinne des Flow zu erfahren. Das Gefühl von Einheit und Harmonie findet sich in einer intentionalen Bewegung in völliger Fokussierung und Achtsamkeit. Die Wahrnehmung verändert sich bei allen Ansätzen der Körpererfahrung und bewirkt eine Weiterentwicklung des Selbst.


Flow und Yoga

“Flow-Erleben durch Yoga ”

Körperbewusstheit und vor allem Yoga mit seinen meditativen Bewusstseins- und Körperübungen helfen, Flow erfahren zu können. Nur durch völlige Konzentration, Selbstvergessenheit und Klarheit im Geist kann der Zustand des Flow stattfinden, denn er benötigt die Erweiterung der normalen Bewusstheit. Der Kopf muss für dieses Erleben frei sein, wobei das Selbst dabei das größte Hindernis ist: es birgt Zweifel, Sorgen (aufgrund vieler Erwartungen, Kritik und Bewertungen) und viele andere Hindernisse, die den Mensch zerstreuen und den Flow-Zustand verhindern. Das eigene Ego in den Hintergrund zu rücken ist also eine wichtige Voraussetzung.123

Yoga kann die perfekten Bedingungen zum Flow-Erleben schaffen: zum einen über den Geist und zum anderen über den Körper. Der Zugang über den Körper lässt die Konzentration mit Hilfe von Atemübungen mit Fokus auf den Rhythmus der Atmung oder auf Veränderungen der Muskelspannung bei bzw. nach den Asanas, aufrecht erhalten. Geistige Übungen des Yoga, wie die Meditation, können helfen, das Ego zu transzendieren (siehe Kapitel 3.1. Meditation) und so über die Hindernisse, die das Selbst hervorruft, hinwegzuhelfen. Zu diesen Hindernissen gehören vor allem negative Gefühle wie Befangenheit, Sorgen, Ängste etc., die den Mensch alle gleichermaßen blockieren können. Meditation bedeutet Arbeit am Bewusstsein und Übung der Kontrolle der Aufmerksamkeit, was eine zentrale Voraussetzung für schöpferisches Arbeiten ist.124 Meditation verändert das normale Bewusstsein, was wiederum Einfluss auf das ganzheitliche Erleben hat.


Flow erleben beim Yoga

Alle Kriterien, die Aktivitäten, die laut Forschung Flow begünstigen, finden sich auch beim Yoga wieder (siehe: Aktivitäten, die Flow begünstigen).

Die Verengung der Konzentration oder auch Fokussierung auf einen Punkt ist besonders typisch für Yoga und es gibt sie auf geistiger und körperlicher Ebene. Der Zugang über die Psyche erfolgt über Konzentrations- bzw. Meditationsübungen, bei der die Gedanken (oder auch Bewegungen des Geistes) gebündelt werden. (siehe auch Kapitel 3, Meditation und mentales Training). Die Konzentration kann dabei auf ein Mantra125, auf einen kurzen Satz, z.B. “Ich bin Ruhe” oder auf eine Visualisierung, d.h. die Vorstellung von etwas, gerichtet werden. Die zweite und direktere Methode erfolgt über den Körper während bzw. nach den Asanas oder den Atemübungen (Pranayama). Das Bewusstsein seiner selbst geht beim Yogaüben verloren126 und es verschmilzt mit dem Handeln bzw. der Stellung (Asana). Man fühlt sich in Harmonie mit sich und seiner Umwelt. Beim Ausführen der Asanas kann man Kompetenz und Kontrolle erfahren, indem man eine Asana korrekt ausführt und entspannt halten kann. Ist man bei einer Asana mit den Gedanken woanders, wird einem der Körper sofort ein negatives Feedback geben. Man fällt beispielsweise bei Gleichgewichtsübungen um. Oft erfährt man bei stetigem Üben auch Fortschritte, die die Gefühle von Kompetenz und Kontrolle verstärken und Selbstvertrauen aufbauen bzw. erhöhen. Die Asanas und alle anderen Übungen im Yoga (Konzentrationsübungen und Atemübungen) sind so vielseitig, dass man genug Gelegenheiten und Spielräume hat, sein Können einzusetzen. Während der Asanas kann man sogar in der Stellung arbeiten. Das bedeutet, einzelne Punkte der Haltung zu korrigieren bzw. korrekt auszurichten und die Veränderung der Ausrichtung des Körpers zu spüren.

Nicht zu verwechseln mit dem Flow-Erleben beim Yoga ist die Stilrichtung Flow-Yoga. Flow-Yoga verbindet die sonst statisch gehaltenen Übungen (Asanas) zu einer fließenden Bewegungsabfolge ohne Pause. Der Fokus liegt dabei darauf, Atmung und Bewegung miteinander harmonisch zu verbinden.127 (Anm.: Die einzige fließende Bewegungsabfolge, die es traditionell im Yoga gibt, ist der Sonnengruß. Er verbindet die Atmung und die Grußhaltung (Namaste) mit folgenden Asanas: Bergstellung (Tadasana), Stehende Rückbeuge, Stehende Vorwärtsbeuge, Kriegervariation, Liegestütz (Chaturanga), Kobra (Bhujangasana), Hund (Adhomukhashvanasana).) Flow Yoga bedeutet also nicht automatisch, dass man dabei eine Flow-Erfahrung erlebt!


Psychologischer Aspekt von Körpererfahrung

Die Überzeugung, dass erst durch den bewegten, handelnden Körper sinnliche oder emotionale Erfahrungen möglich werden und man so auch Zugang zu diesen bekommt, teilen verschiedene wissenschaftliche Disziplinen von der Psychologie bis hin zu den Theaterwissenschaften. Jede Wissenschaft nutzt für sich die Arbeit mit dem Körper, um Fortschritte, Erkenntnis und erweiterte Handlungsspielräume zu erreichen. Der Körper ist sozusagen gleichzeitig Ausgangs- und Bezugspunkt der wissenschaftlichen Arbeit.


Die körperorientierte Psychotherapie

Der Pionier der Körpertherapie: Wilhelm Reich

Die Arbeit des österreichischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich (1897-1957) ist die Basis aller nachfolgenden körperorientiert arbeitenden (Psycho-)Therapeuten (z.B. Alexander Lowen: Bioenergetik, Ron Kurtz: Hakomi-Methode) und in Folge der vermehrten Ausbreitung von Körpertherapien deshalb besonders interessant.

Reich, der nicht unwesentlich von Sigmund Freud beeinflusst wurde, war der erste, der in den 1920er Jahren begann, bewusst Psychotherapie mit Körperarbeit zu verbinden und ist somit einer der wesentlichen Begründer der Körperpsychotherapie. Außerdem leistete Reich mit seiner physiologisch-biologischen Psychotherapie einen grundlegenden Beitrag zu einem veränderten Verständnis der Körperlichkeit des Menschen.128 Die Grenzen der damals rein geistig arbeitenden Psychoanalyse129 zeigten sich besonders während des Prozesses des Bewusstmachens verdrängter Konflikte (die als Ursache neurotischer Erkrankungen galten): die Widerstände, die die Patienten während dieses Prozesses verspürten, manifestierten sich auch im Körper der Patienten: sie erstarrten nicht nur geistig, sondern auch körperlich. Seit Reich arbeiten Psychotherapeuten auch mit den Händen und treten in direkten Körperkontakt mit dem Patienten.130

Eine grundlegende These Reichs ist, dass der Körper seinen Anteil an der menschlichen Persönlichkeit und ihren Problemen hat, wozu er 1927 seine Theorie des Charakterpanzer veröffentlichte und ab 1934 die von ihm entwickelte Vegotherapie. Ab 1940 bezeichnete er selbst seine Lehre als Orgonomie. Die Theorie des Charakterpanzers untersucht das Verhältnis körperlicher (Muskel-) Verspannungen und Verkrampfungen zu psychischen Spannungen und definiert damit auch gleichzeitig den Begriff des Körperpanzers. Durch körperliche Verspannungen kann der Mensch Emotionen und Triebe unterdrücken und seine Energiebilanz im Körper ausgeglichen halten. Muskelspannungen gleichen den Energiehaushalt im Menschen aus, indem sie nicht entladene Energie binden.131 Charakterstrukturen und Neurosen (und der Charakterpanzer) entstehen demnach auch durch eine Reihe von Verdrängungen und Unterdrückungen emotionaler und sexueller Bedürfnisse seit der Kindheit. Der körperliche Ausdruck eines Menschen entspricht demnach seiner psychischen Haltung und spiegelt seine bisherigen (Lebens-)Erfahrungen. Der Charakterpanzer beeinflusst die Funktion der Atmung, die Beweglichkeit des Körpers (siehe Embodiment 1.5.) und die Erlebnisintensität eines Menschen.

Nicht zu vergessen ist dabei die gesellschaftliche Dimension, die Reich zum grundlegenden Verständnis psychischer und psychosomatischer Krankheiten miteinbezieht. Reich sieht diese Krankheiten als destruktiven Ausdruck von nicht befriedigten Trieben, die durch die Gesellschaft und die autoritäre Kleinfamilie an ihrer Entfaltung gehindert werden. Er stellte sogar Studien an zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen kollektiver Triebunterdrückung in einer patriarchal geprägten Gesellschaft und deren politischem Schicksal: Reich stellte die These auf, dass die durch Unterdrückung entstandenen autoritären Charakterstrukturen einer Gesellschaft Faschismus begünstigen.132

Kritisch zu bewerten ist Reichs Orgasmustheorie, die die Rolle verdrängter Sexualität im Zusammenhang mit psychischen und psychosomatischen Krankheiten und der Bildung des Charakterpanzers meiner Meinung nach überbewertet. Seinen Beobachtungen zufolge nahm Reich für sich an, dass alle Charakterpanzerungen und Neurosen auf einer Störung der sexuellen Empfindungsfähigkeit bzw. der Stauung sexueller Energie basieren.133 Diese Idee erinnert sehr an Sigmund Freud, der ebenfalls eine Vorliebe zur “sexuellen Problemgeneralisierung” hatte, was mittlerweile definitiv überholt ist. Es ist heute aufgrund der aktuellen Forschungslage nicht mehr zeitgemäß, jedes psychische Problem einer sexuellen Wurzel zuzuordnen.

Die Vegotherapie ist eine Methode der Körperarbeit, die über das Auflösen körperlicher Verspannungen gleichzeitig psychische Spannungen abbaut. Sie mobilisiert Empfindungen durch Atemtechniken bzw. bewusstes, tiefes Atmen und andere Körperübungen, die das autonome Nervensystem aktivieren und vegetative Energien freisetzen, d.h. Blockaden lösen und freies Fließen im Körper ermöglichen. Die Behandlung der Patienten erfolgte über ein tiefes Atmen zu Beginn der Sitzung bis zur Mobilisierung des emotionalen Ausdrucks des Patienten im Gesicht und in seinem Verhalten. Das tiefe und freie Atmen und die damit verbundene verstärkte Energieversorgung evozierte schon bei den meisten Patienten enorme Gefühlsausbrüche und spontane Körperregungen, ausgelöst durch deren befreite Gefühle.134 (Anm.: Im Yoga werden Atemübungen (Pranayama) auch als Zugang zu den Gefühlen bezeichnet.)

Die wellenförmige Bewegung des Körpers durch die Atmung war das Ergebnis einer befreiten Atmung, was Reich Orgasmusreflex (ohne jegliche sexuelle Erregung) nannte.135 Zusätzlich drückte Reich während der Therapie auf gespannte und verkrampfte Muskeln seiner Patienten, um ihnen das Entkrampfen auf körperlicher und geistiger Ebene zu erleichtern. Unter anderem bearbeitete er die Partie des Unterkiefers, weil sie bei vielen Menschen besonders angespannt ist. Das äußert sich beispielsweise im Zähneknirschen oder im heftigen Zusammenbeißen der Kieferhälften. Durch das Lösen der Körperspannung und das Herstellen der vegetativen Beweglichkeit wollte Reich das Fließen der Empfindungen durch den Körper unterstützen. Ein wichtiger Bestandteil dabei ist, dass der Patient in Verbindung mit seinem Körper tritt und erfährt, dass das Leben des Körpers auch aus unwillkürlichen Regungen besteht. Diese Form der Körpertherapie kann dem Patienten ein Gefühl des inneren Friedens und des Wohlbefindens vermitteln, da er sich (bei gelungenem Orgasmusreflex) mit sich und seiner Umwelt in Einklang fühlt. Dieser Zustand wird vom Patienten als befreiend und anregend zugleich empfunden.

Das Ziel der Vegotherapie ist das optimale Wohlbefinden, das sich aus den einzelnen Komponenten des inneren Friedens, des Gefühls der Freiheit und des Einklangs in Harmonie mit sich und der Umwelt und des Fließens von Empfindung und Bewegung zusammensetzt und damit sehr an die Erfahrungen eines Yogi nach einem absolvierten, ganzheitlichen Übungsprogramm erinnert. Das gemeinsame Geheimnis des Yoga und der Vegotherapie liegt wohl in gelösten, energetischen Blockaden und dem Loslassen und Annehmen von dem, was gerade ist.136 Durch das befreite, tiefe Atmen setzt man sich mit seinen Gefühlen auseinander, bewegt Teile seines Körpers (wie den Brustkorb, den Bauch, das Zwerchfell) verstärkt und erfährt eine generell erhöhte Energiezufuhr, was sich u.a. in einem sanften Kribbeln spüren lässt. Beide Methoden der Körpererfahrung ermöglichen eine transzendentale Erfahrung, indem man sein gewohntes Ich (und die Welt) verlassen kann, was wiederum ein Gefühl der Befreiung und Erlösung hervorruft. Insofern ist die Körpertherapie eine weitere Möglichkeit, die Körperwahrnehmung und Sensibilität gegenüber sich selbst und seinen Gefühlen positiv zu verändern.


Die Bioenergetische Analyse

Die Methode der Bioenergetik von Alexander Lowen basiert auf der Arbeit von Wilhelm Reich, dessen Schüler er von 1942 bis 1952 war. Ab 1953 entwickelte er in Zusammenarbeit mit Dr. John Pierrakos, der ebenfalls Schüler Reichs war, das Prinzip der Bioenergetik und gründete 1956 die gemeinnützige Stiftung “Institute for Bioenergetic Analysis”. Seit seiner Lehrzeit bei Reich arbeitete Lowen selbstständig als Therapeut mit Patienten und an sich selbst.

In einem Satz ausgedrückt könnte man Bioenergetik folgendermaßen beschreiben: Bioenergetik ist das Studium der menschlichen Persönlichkeit unter dem Blickwinkel der energetischen Prozesse des Körpers.137 Die Vorstellung einer Art nicht elektrischer Energie im menschlichen Körper, die für alle Lebensprozesse (Bewegen, Fühlen, Denken) benötigt wird, ist die Basis dieser Theorie. Auch in östlichen Traditionen finden sich solche Vorstellungen von Energieströmen bzw. Zentren im Körper wieder, die es immer gilt, im Gleichgewicht bzw. in Harmonie zu balancieren und im blockadefreien Fluss zu halten. Die chinesische Medizin und Philosophie geht von den beiden Polaritäten “Yin und Yang” (hell und dunkel) aus. Der Yoga stellt sich den Körper durchzogen von millimeterdünnen Energiekanälen (Nadis) vor und sieht in der Wirbelsäule (Sushumna) einen Hauptenergiekanal, der die sieben Energiezentren (Chakras) miteinander verbindet. Ziel der Bioenergetik ist es, einen freien Energiefluss im Menschen herbeizuführen.

Lowen definiert Bioenergetik als therapeutische Methode, die dem Menschen hilft, wieder zu seinem Körper zurückzufinden und das Leben des Körpers auszukosten. Mit dem Leben des Körpers meint Lowen die Sexualität, die Atmung, Bewegung, Gefühle und Selbstausdruck. Er sieht in der Bioenergetik eine Art abenteuerliche Selbstentdeckung oder Selbsterfahrung, die die menschliche Persönlichkeit mit Hilfe des Körpers zu begreifen versucht. Grundannahme Lowens ist dabei, dass jegliche energetische Prozesse des Körpers das geistige Geschehen genauso bestimmen wie das körperliche. Das bedeutet, dass die Arbeit mit dem Körper nicht nur das Selbstverständnis eines Menschen verändert, sondern sie ist auch verantwortlich für positive Veränderungen der Persönlichkeit.

“Das Leben des Menschen ist das Leben seines Körpers” oder noch kürzer: „Jeder Mensch ist sein Körper.”sup>138 Damit meint Lowen, dass der Körper Geist, Seele und Lebensgeist einschließt und man durch Arbeit am Körper auch diese positiv beeinflussen kann. Außerdem ist der Mensch die Summe seiner Lebenserfahrungen, die sich im Körper (und seiner Haltung) manifestieren und ein Teil der menschlichen Persönlichkeit ausmachen. Lowen und seine Kollegen waren in der Lage, psychische Krankheitsbilder von Menschen anhand ihrer Körper zu diagnostizieren. Die Versuchspersonen sollten eine Stellung einnehmen, bei der der Körper im Stehen einem gespannten Bogen gleicht, d.h. die Knie gebeugt und der Rumpf nach hinten geneigt. Anhand von deren Körperhaltung in dieser bogenähnlichen Position konnten die Bioenergetiker dann die psychischen Krankheiten erkennen.139 Der Körper ist deshalb so wichtig, weil man nur über seinen Körper agieren und mit seiner Umwelt in Kontakt treten kann. Auch Gefühle werden über den Körper als sogenannte Motionen (Bewegungen innerhalb des Körpers) projiziert. Ein Beispiel: Wer sich ärgert, ist angespannt, hat ein rotes Gesicht und einen verkniffenen Mund. Wer emotional gerührt ist, dessen Kinnpartie lockert sich und beginnt zu zittern. Daraus lässt sich die folgende Theorie ableiten:

“Die Grundlage aller Sprachen ist die Körpersprache.” (Zitat: Sandor Rado, ungar. Psycho- analytiker)

Körper und Geist sind keine getrennten Objekte. Diese These findet sich im Yoga, in der Bioenergetik und anderen modernen Forschungsprojekten wie dem Embodiment. Erfahren, Erleben und Empfinden sind körperliche Phänomene, deren Intensität von dem Zustand des Körpers abhängt. Für eine gelungene Körperarbeit sollte man den Geist auf den Körper konzentrieren. So kann man erst seinen Körper differenziert wahrnehmen und erfahren. Die Auseinandersetzung und Identifikation mit dem Körper ist also auch für die Entwicklung des Geistes und der Seele gewinnbringend. Die bioenergetische Therapieform geht davon aus, dass die körperliche Haltung oft tiefere Konflikte im Inneren verkörpert. Sie sehen das Leben als einzigen natürlichen Wachstumsprozess, der nie gleichmäßig verläuft. Das bedeutet, dass das Wachstum eines Menschen zwischenzeitlich stagniert, was in Form einer Therapie wieder in Gang gebracht werden kann. Die Aufgabe der Therapie ist dabei das Studieren der Vergangenheit und das damit verbundene Stärken der eigenen Wurzeln über die Körperarbeit, denn der Körper ist die Vergangenheit eines Menschen.

Die praktischen Übungen der Bioenergetik dienen dem Spannungsabbau und dem “In-Kontakt-Bleiben” mit dem Körper. Die Meisten von ihnen entstanden während Lowen an sich selbst körpertherapeutisch arbeitete, manchmal mit Unterstützung anderer Therapeuten. Eine wichtige Grundübung nennt er “Erden” (Grounding), was damit zusammenhängt, dass man mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht und sich der Verbindung zwischen Erde und Beinen bewusst wird. Die Konzentration und der Atemschwerpunkt liegen im Unterbauch (auch Hara genannt). Diese Übung soll Menschen helfen, die den Kontakt zur Wirklichkeit bzw. den Boden unter den Füßen verloren haben, sich über das Erden wieder mit der Realität zu verbinden.

Der sogenannte “Atemschemel” ist eine weitere Übung, die die Bioenergetik für ihre Arbeit mit dem Körper nutzt. Für eine freiere Atmung streckt man die Arme über den Kopf und lehnt sich dabei über die Stuhllehne in einer Rückbeuge nach hinten. Bei dieser Bewegung wird die Atmung ohne zusätzliche Übungsimpulse stimuliert.


Zusammenfassung:

Generell geht es bei der bioenergetischen Therapie um den Prozess des bewussten Körperwahrnehmens und Körpererlebens, wie ihn auch Wolfgang Knörzer und Robert Treutlein in ihren vielen Beiträgen zur Gesundheitsförderung und Bildung betonen. Es gibt sogar eine Übung der Bioenergetik, die identisch mit einer Tai-Chi-Figur ist und in beiden Fällen in einer Kombination aus Atemtechnik und Körperbewegung das Gefühl von Integration und Harmonie vermitteln soll. Die Übungen der Bioenergetik betonen genauso wie Yoga oder Tai Chi das Herstellen einer inneren Harmonie durch eine verbesserte, bewusstere Körperwahrnehmung und die Identifikation mit dem eigenen Körpererleben. Das Erforschen des Inneren (des Körpers) und dessen Verbindung mit der Welt ist das Optimum aller dieser Übungssysteme. Die östlichen Lehren fokussieren jedoch mehr als die Bioenergetik auf die innere, spirituelle Entwicklung. Bioenergetik zielt mehr auf eine Hinwendung nach außen zur Entwicklung des Selbstausdrucks und der Sexualität.140

Ein gewisses Maß an Ausgeglichenheit und Balance ist Voraussetzung für ein gesundes Leben - diese Ansicht teilen Bioenergetik, moderne Gesundheitsförderung und östliche Übungssysteme (Yoga, Tai-Chi etc.). Kommt der Körper aus dem natürlichen Gleichgewicht, versucht er es selbst wieder herzustellen. Sinkt beispielsweise unsere Körpertemperatur, fängt der Körper an zu zittern, um sie durch die kleinen Bewegungen wieder zu erhöhen. Der Körper besitzt eine eigene Weisheit, die ihm hilft, seine lebensnotwendige Funktionsfähigkeit und Balance zu erhalten.

Die Schwierigkeit des menschlichen Daseins in Bezug auf die Polaritäten Einheit und Dualität erfasst die Bioenergetik sehr treffend und in Übereinstimmung mit der ganzheitlichen Weltsicht und der Auflösung des starren Konzepts der Körperlichkeit (siehe 1.5. Anthropologische Grundlagen). Sie beschreibt den Menschen auf der einen Seite als schöpferischen Denker und andererseits als fühlendes Lebewesen. Der Mensch ist also gleichzeitig rationaler Geist und irrationaler Körper in einem lebenden Organismus. Es gibt diese Dualität in unserer beschränkten Wahrnehmung, aber darüber hinaus existiert trotzdem eine Einheit, die allem Leben zugrunde liegt.141

Selbstmanagement über Körperarbeit

Die aktuelle Embodiment-Theorie aus der Psychologie ergänzt die therapeutische Körperarbeit von Reich und Lowen um die Idee des gezielten Selbstmanagements. Beim Selbstmanagement geht es darum, die eigenen Ziele zu verwirklichen und die persönliche Weiterentwicklung zu fördern. Das geschieht vor allem durch die Fertigkeiten Selbstkontrolle bzw. Instruktion, Selbstbeobachtung, Selbstverstärkung und eine konkrete Zielsetzung. Selbstmanagement in Form von Selbstregulationskompetenzen und Autonomie in Bezug auf das eigene Handeln ist ein wichtiger Aspekt für ein glückliches Leben. Besonders die maximale persönliche Freiheit und der Raum für die Entwicklung bzw. Umsetzung individueller Ziele und Lebensvorstellungen tragen enorm zum Glück von Menschen bei.142</sup) Selbstregulation über den Körper ist einfacher zu realisieren als über psychische, oft unbewusste Strukturen. Man kann seine Emotionen beispielsweise durch seine Körperhaltung und seinen Körperausdruck nachhaltig beeinflussen und regulieren. Der Vorteil ist, dass man seine Skelettmuskulatur willentlich beeinflussen kann, wobei Emotionen nur sehr bedingt zugänglich sind. Die Körperhaltung und der Körperausdruck sind also wichtige Faktoren bei selbstregulatorischen Prozessen143. Um (psychisch) gesund und glücklich zu sein, ist die Technik der Emotionsregulation über den Körper eine ernst zu nehmende Ressource, denn Emotionsregulation braucht den Körper. Wie bereits im Zusammenhang mit der körperorientierten Psychotherapie beschrieben, sieht auch Maja Storch ein Potential von therapeutischer Körperarbeit in Bezug auf das emotionale Erleben von Menschen. Körperarbeit kann Veränderungen affektmotorischer Schemata bewirken und verändert somit das Erleben und Handeln eines Menschen.144 Viele Beispiele aus dem Alltag beweisen uns zusätzlich, wie wichtig es ist, Gefühle, die sich meist auch körperlich äußern und fühlen lassen, genauso wieder über den Körper auszuagieren. Das Sprichwort “Wut im Bauch haben” kennt sicherlich jeder aus der eigenen Erfahrung. Manchmal reicht es eben nicht, sich den Ärger von der Seele zu reden, da muss der ganze Körper eingesetzt werden (körperliche Aktivitäten wie Sport), um die Spannung abzubauen und die Emotion erfolgreich regulieren zu können145. Genauso steht die Atmung in Wechselwirkung mit dem Gefühlshaushalt. Ist man aufgebracht, wütend oder erregt, wird auch die Atmung flach, schnell und unregelmäßig. Umgekehrt kann man seine Gefühle über die Atmung auch wieder beruhigen, indem man die Atmung bewusst vertieft und rhythmisiert. Diese Technik wird bereits seit Jahrtausenden im Yoga angewendet. Das Sprichwort “erstmal tief durchatmen” hat also tatsächlich einen tieferen Sinn.

Eine weitere Technik in der Körperarbeit sind positive Körperübungen in Form motorischer Abläufe. Auf die Stimmung positiv wirkende Übungen sind den Brustkorb öffnende Bewegungen, die den Rumpf aufrichten und freies Atmen erlauben. Um bestimmte Gefühle oder gewünschte Handlungsabläufe zu verstärken ist es nach psychologischen Forschungen durchaus sinnvoll, ein passendes “Embodiment” zu erarbeiten. Idealerweise verknüpfen sich Körper und Psyche über die Idee eines positiven Ziels mit einer dazu passenden Körperhaltung.146 Unterstützt werden kann die Verkörperung des Ziels durch die Visualisierung eines inneren Bildes oder Leitsatzes.

Ein Beispiel zum Embodiment, d.h. zur Verkörperung eines Zieles

Ziel: Stabilität und Standfestigkeit

Bild (Visualisierung) und Leitsatz: “Ich bin stabil wie eine Eiche und habe einen breiten festen Stand.”

Embodiment: Fester Stand auf beiden Füßen mit betont langer Ausatmung; die Konzentration geht Richtung Füße.

Yogaübungen: Die Bergstellung (tadasana) setzt genau diese Vorstellung von Stabilität und Standfestigkeit um. (Anm.: Die Visualisierung ist jedoch normalerweise ein Berg. Die asana, die man aufgrund der Visualisierung des Baumes zuordnen würde, entspricht nicht ganz dem Embodi- ment der Ziele Standfestigkeit und Stabilität. Der Baum (vrksasana) ist Yoga eine Gleichgewichts- übung, bei der die Konzentration nicht auf einem festen, stabilen Stand auf beiden Füßen liegt, son- dern im (balancierenden) Gleichgewicht auf einem Bein. Der Brustkorb wird durch nach oben ge- streckte Arme geöffnet.)

Der mit dem Ziel korrespondierende Körperausdruck wird anschließend auch in der Realität umge- setzt. Das körperliche Erleben eines Zieles wirkt beim zielrealisierenden Handeln unterstützend, wenn man die Vorgänge auch wirklich im eigenen Körper wahrnehmen kann.147 (Anm.: Für einige Menschen ist das kaum bis schwer möglich. Dann sollte man auf der Ressource Körper(-erfahrung/- wahrnehmung) nicht insistieren, denn der Körper ist nur eine Möglichkeit im menschlichen Ressourcenpool.) Eine sensible, geschärfte Eigen- und Körperwahrnehmung und die Körpersignale (dazu gehören äußere Signale wie Tast- und Temperaturempfinden und Signale aus dem Körperinneren wie der


Zustand der Organe, der Gelenke, der Haut, das Schmerzempfinden etc.) tragen wesentlich dazu bei, bessere Entscheidungen in Bezug auf das eigene Wohlbefinden und Leben zu treffen. Durch eine größere Sensibilität der Eigenwahrnehmung, kann man seine Körpersignale und seine Emo- tionen klarer wahrnehmen und erkennen. Emotionen sind für kluge Entscheidungen unentbehrlich, da im emotionalen Erfahrungsgedächtnis des Gehirns Wissen in Form von Körperempfindungen und Gefühlen gespeichert wird. Diese Funktion des Gehirns ermöglicht uns, von Erfahrungen aus der Vergangenheit zu profitieren. Das bedeutet in der Praxis, dass man deshalb Positives verstärken und Negatives vermeiden kann. Körpererfahrungen, Körpersignale und Emotionen sind also beide für das menschliche Überleben notwendig. Sie sind aber auch für das Wohlbefinden wichtig, denn nur so kann man Entscheidungen treffen, die das, auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte, Wohlbefinden herstellen bzw. erhalten. Dazu gehören unter anderem banale Entscheidungen im Alltag, wie: Wie lange schlafe ich?; Was esse/trinke ich wann? Etc.. 148 Die Ressource “Körper” kann allerdings noch mehr. Das beweisen zahlreiche Studien von Gedächt- nispsychologen, die den Zusammenhang vom menschlichem Gedächtnis und Körperprozessen un- tersuchen.149 Zur nachhaltigen Kodierung einer Information ist die senso- motorische Ebene oder körperliche Komponente ein Erfolgsgarant: wer selbst etwas tut, d.h. eine Handlung auch ausführt, kann sich den Vorgang viel besser merken, als jemand, der den Handlungsvorgang nur gehört hat. Der Gedächtnispsychologe Engelkamp nennt das den “Tu-Effekt”. Zusammenfassend kann man sa- gen, dass Gedächtnisleistungen zu einem großen Teil auf sensomotorischen Koordinationsleistung- en beruhen. Das bedeutet, erst die Verkörperung (das Embodiment) einer Information ermöglicht ihr zuverlässiges Erinnern. 150

Die Umsetzung von Zielen spielt beim Selbstmanagement eine sehr wichtige Rolle und kann durch den Körper erheblich unterstützt werden. Psychologen haben herausgefunden, dass man, um seine Ziele wirklich erfolgreich umsetzen zu können, nicht nur intrinsische Motivation, sondern auch das passende Körpergefühl braucht. Die affektive und unbewusste Bewertung von Zielen spielt bei der Zielrealisierung eine entscheidende Rolle. Motivation besteht eben nicht nur aus bewussten, ratio- nalen Anteilen mit Blick auf das Ziel bzw. das Ergebnis. Die Synchronisierung dieser unbewussten und bewussten Motivationsanteile vereint der Psychologe Julius Kuhl in der PSI-Theorie. Er nennt das Gedächtnis für bewusste, rationale Absichten Intentionsgedächtnis. Das Extensionsgedächtnis enthält alle unbewussten persönlichen Erfahrungen, Bedürfnisse, Motive, Werte und Normen eines Menschen. Seine Bewertungs- und Entscheidungsprozesse verlaufen innerhalb von Sekunden und unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Das Extensionsgedächtnis bewertet mit Hilfe affektiver, so-


matischer Marker (Begriff von Antonio Damasio), ob das Ziel erstrebenswert ist oder nicht. Die körperlichen Bewertungssignale in Gestalt der somatischen Marker sind als eine Art Basalaffekte mit dualer Bewertung (z.B.: gut oder schlecht, vermeiden oder Kontakt suchen) überall im Körper wahrzunehmen- nicht nur als das allgemein bekannte “Bauchgefühl”. Stimmen bewusste und unbe- wusste Absichten in Bezug auf das Ziel nicht überein, fühlt man innere Zerrissenheit und Unbeha- gen. Die Realisierung des Zieles ist gefährdet. Kann man jedoch seine somatischen Marker wahr- nehmen, ist man fähig zu prüfen, ob die Ziele mit der eigenen Erfahrenswelt und den persönlichen Werten übereinstimmen.151


Nach diesem umfangreichen Abriss, der Zusammenhänge von Glück, Gesundheit und Selbstma- nagement mit dem menschlichen Körper möchte ich anhand dieser Referenzpunkte im folgenden Kapitel genauso mentales Training bzw. Meditation beleuchten.

Siehe auch

Weblinks

Wissenschaftliche Studien zur Wirkung von Yoga:

Seminare

Yogalehrer Ausbildung

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Yogalehrer Weiterbildung: Yoga für Menschen mit besonderen Beschwerden

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Yoga für den Rücken

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Yogatherapie

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