Tänzer: Unterschied zwischen den Versionen
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
|||
Zeile 202: | Zeile 202: | ||
==Seminar== | ==Seminar== | ||
<rss max=3>https://www.yoga-vidya.de/seminare/interessengebiet/indische-schriften/?type=2365</rss> | |||
<rss max= | |||
[[Kategorie:Heinrich Zimmer]] | [[Kategorie:Heinrich Zimmer]] | ||
[[Kategorie:Zimmer Indische Mythen und Symbole]] | [[Kategorie:Zimmer Indische Mythen und Symbole]] |
Version vom 6. Juni 2014, 12:17 Uhr
Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993
Indische Mythen und Symbole - Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
Teil 5: Shivas Tanz
Shiva, der Herr des Lingam, der Gemahl Shakti-Devis, ist auch Nataraja, »König der Tänzer«.
Tanzen ist eine alte Form der Magie. Der Tänzer wird zu einem mit übernormalen Kräften begabten Wesen erweitert; seine Persönlichkeit ist verwandelt. Wie Yoga führt der Tanz einen Trancezustand herbei: Ekstase, Erlebnis des Göttlichen, Realisierung der eigenen verborgenen Natur und endlich Verschmelzung mit dem göttlichen Sein. Folgerichtig hat darum in Indien der Tanz Seite an Seite mit den fürchterlichen Schroffheiten der Asketenhaine gelebt, dem Fasten, der Atemdisziplin, der rücksichtslosen Wendung nach Innen. Um Magie wirken und andere verzaubern zu können, hat man zuerst sich selbst zu verzaubern, und dies kann ebenso gut durch den Tanz wie durch Fasten, Gebet und Meditation erreicht werden. Darum ist Shiva, der Erz-Yogi unter den Göttern, notwendigerweise auch der Meister des Tanzes.
Der pantomimische Tanz soll den Tänzer in den Dämon, Gott oder das irdische Wesen verwandeln, die er gerade darstellt. Der Kriegstanz zum Beispiel läßt die Männer, die ihn anführen, zu Kriegern werden, erregt ihre kriegerischen Tugenden und verwandelt sie in furchtlose Helden. Die Jagd — Tanz — Pantomime wiederum, welche die Erfolge des Jagdzuges vorausnimmt und als sicher erscheinen läßt, macht aus den Teilnehmern unfehlbare Jäger. Um die über die Fruchtbarkeit wachenden Naturkräfte aus dem Schlummer zu rufen, mimen die Tänzer die Götter der Vegetation, der Geschlechtlichkeit und des Regens.
Tanzen ist ein schöpferischer Akt. Es schafft eine neue Situation und zitiert in den Tänzer eine neue und höhere Persönlichkeit hinein. Es hat eine kosmogonische Funktion; weckt es doch schlummernde Energien, die dann vielleicht die Welt formen mögen. Auf universeller Skala ist Shiva der kosmische Tänzer. In seiner »tanzenden Offenbarung« (Nritya-Murti) versammelt er die ewige Energie in sich und bringt sie zugleich zur Manifestation. Die in seiner rasenden, unaufhörlichen Kreisbewegung herangezogenen und herausgeschleuderten Kräfte sind die Mächte der Entfaltung, Erhaltung und Auflösung der Welt; die Natur und all ihre Geschöpfe sind die Wirkungen seines ewigen Tanzes.
Shiva — Nataraja wird in einer schönen Serie südindischer, aus dem zehnten und zwölften Jahrhundert n. Chr. stammender Bronzen dargestellt. Die Einzelheiten dieser Figuren sind entsprechend der üblichen Hindutradition in Begriffen einer verwickelten bilderschriftlichen Allegorie zu lesen. Man bemerkt, wie die obere rechte Hand eine kleine, wie ein Stundenglas geformte Trommel zum Taktschlagen hält. Sie bedeutet zugleich den Ton, das Fahrzeug der Rede, den Vermittler von Offenbarung, Überlieferung, Zauberspruch, Magie und göttlicher Wahrheit. Mehr noch: der Ton wird in Indien dem Äther assoziiert, dem ersten der fünf Elemente. Äther ist die erstanfängliche und auf die zarteste Weise durchdringende Manifestation der göttlichen Substanz. Aus ihm entfalten sich mit der Entwicklung des Alls alle die anderen Elemente: Luft, Feuer, Wasser und Erde. Ton und Äther zusammen bedeuten darum den ersten, wahrheitsschwangeren Augenblick der Schöpfung, die produktive Energie des Absoluten in ihrer Anfang setzenden kosmogenetischen Kraft.
Die Hand gegenüber, die obere Linke, trägt mit einer halbmond-ähnlichen Stellung der Finger (Ardhachandra-Mudra) auf ihrer Innenfläche eine Flammenzunge. Feuer ist das Element der Weltzerstörung. Am Ende des Kali-Yuga wird Feuer den Leib der Schöpfung zerstören, um dann selbst vom Ozean des Leeren ausgelöscht zu werden. Mit dem Gleichgewicht der beiden Hände wird also hier ein Gegenspiel von Schöpfung und Vernichtung innerhalb des kosmischen Tanzes erläutert. Als das Unbarmherzige der Gegensätze scheint hier das Transzendente durch die Maske des rätselvollen Herrn und Meisters: unaufhörliche Hervorbringung gegen unersättlichen Zerstörungshunger, Klang gegen Flamme. Der Raum aber für das schreckliche Ineinanderspiel ist der tanzende Grund des Alls, strahlend und entsetzlich von des Gottes Tanz.
Die zweite rechte Hand vollzieht die »Fürchte-Dich-nicht-Gebärde« (Abhaya Mudra), die Schutz und Frieden gewährt, während die verbleibende linke Hand, über die Brust reichend, niederwärts zu dem aufgehobenen linken Fuß weist. Dieser Fuß bedeutet die Erlösung und ist die Zuflucht und Rettung des Gläubigen; seine Verehrung führt zur Erlangung der Vereinigung mit dem Absoluten. Die zu ihm hinunterzeigende Hand wird in einer Stellung gehalten, die den ausgestreckten Rüssel oder die »Hand« eines Elefanten nachahmt (Gaja-hasta-Mudra). So erinnert sie uns an Ganesha, Shivas Sohn, den Beseitiger der Hindernisse.
Die Gottheit wird wiedergegeben, wie sie auf dem hingestreckten Leib eines zwergischen Dämons tanzt. Dies ist Apasmara Purusha, »Der Mann oder Dämon der Vergesslichkeit oder Unachtsamkeit (Apasmara) genannt wird.« Er ist symbolisch für des Lebens Blindheit und die Unwissenheit des Menschen. In der Erlangung wahren Wissens, die Befreiung von den Banden der Welt bringt, ist die Niederlage dieses Dämons beschlossen.
Ein Ring von Flammen und Licht (Prabha Mandala) geht von dem Gotte aus und umgibt ihn. Er soll die Lebensprozesse des Alls und seiner Geschöpfe bedeuten, den Tanz der Natur, wie sie von dem in ihr tanzenden Gott bewegt wird. Gleichzeitig jedoch soll sie die Energie der Weisheit, das transzendentale Licht der Erkenntnis des Wahren darstellen, wie sie der Personifikation des Alls enttanzt. Noch eine andere, der Flammenglorie zugeschriebene allegorische Bedeutung ist die der heiligen Silbe AUM oder OM. Dieses mystische Wort (»Ja«, »Amen«) aus der geweihten Sprache vedischer Lob- und Zaubergesänge stammend, wird als Ausdruck und Bestätigung der Ganzheit der Schöpfung aufgefaßt. A — ist der Zustand des wahren Bewusstseins und mit ihm der Welt der groben Erfahrung. U — bedeutet den Zustand des Traums mit der Wahrnehmung von dessen zarten Gebilden, M — aber den traumlosen Schlaf, den natürlichen Zustand des ruhenden, ungeschiedenen Bewußtseins, wo jede Erfahrung in selige Nicht-Erfahrung, in den unendlichen Vorrat nur potentiellen Bewußtseins aufgelöst ist. Das der Rezitierung der drei, A —U — M, folgende Schweigen ist das Höchste Unmanifestierte, in dem ein vollendetes Überbewußtsein die reine, transzendentale Wesenheit der göttlichen Wirklichkeit vollkommen spiegelt und mit ihr verschmilzt — Brahman als das Selbst, als Atman erfahren. So ist AUM mit dem umringenden Schweigen ein Klangsymbol für das Ganze des Seins und des Bewußtseins und zugleich seine zustimmende Bekräftigung.
Der Ursprung des Flammenringes ist wahrscheinlich in Shiva-Rudras destruktivem Aspekt zu suchen; aber die Vernichtung durch Shiva ist letzten Endes mit der Erlösung identisch.
Shiva als kosmischer Tänzer ist Verkörperung und Manifestation der ewigen Energie in ihren »fünf Tätigkeiten« (Panca Kriya):
- 1. Schöpfung (Sristi), das Ausgießen oder die Entfaltung;
- 2. Erhaltung (Sthiti), die Dauer;
- 3. Zerstörung (Samhara), das Zurücknehmen oder die Wiedereinschlingung;
- 4. Verhüllung (Tirobhava), das Verhüllen des wahren Wesens hinter den Masken und Gewändern der Erscheinungen, das Sich-Entrücken, das Spiel der Maya, und
- 5. Gunst (Anugraha), das Aufnehmen des Gläubigen, das Anerkennen des frommen Eifers des Yogis, die Gewährung des Friedens durch eine offenbarende Manifestation.
Die ersten drei und die letzten zwei sind einander als Gruppen zusammenwirkender gegenseitiger Antagonismen zugeordnet. Der Gott spielt sie alle aus und tut dies nicht nur gleichzeitig, sondern in einer Reihenfolge. In den Stellungen seiner Hände und Füße erscheinen sie versinnbildlicht. Die oberen drei Hände sind »Schöpfung«, »Erhaltung« und »Zerstörung«; der auf die Vergeßlichkeit gesetzte Fuß bedeutet die »Verhüllung«, der aufgehobene die »Gunst«, während die »Elefantenhand« die Verbindung der drei mit den zwei andeutet und allen Seelen, welche diesen Zusammenhang realisieren, den Frieden verspricht. Alle fünf Tätigkeiten erscheinen als gleichzeitig im Pulsschlag jedes Augenblickes und mit demselben als im Wechsel der Zeit aufeinanderfolgend manifestiert.
Nun sahen wir wie in der Shiva-Trinität von Elephanta die beiden ausdrucksvollen, die Polarität der schöpferischen Kraft repräsentierenden Profile gegen ein einsames, schweigendes, mittleres Haupt gestellt sind, das die Stille des Absoluten andeutet. Und wir begriffen diesen symbolischen Zusammenhang als Predigt des Paradoxes von Ewigkeit und Zeit: der ruhevolle Ozean und der brausende Strom sind im Grunde nicht verschieden; das unzerstörbare Selbst und das sterbliche Wesen sind im Kern dasselbe. Diese wunderbare Lehre liest sich auch in der Gestalt Shiva-Natarajas, bei der die unaufhörliche, triumphierende Bewegung der schwingenden Glieder in bezeichnendem Kontrast zur Gleichgewichtshaltung des Kopfes und zur Unerschütterlichkeit des maskenähnlichen Antlitzes steht. Shiva ist Kala, »Der Schwarze«, »Die Zeit«; aber er ist auch Maha Kala, »Die Große Zeit«, »Die Ewigkeit«. In seiner Gestalt als Nataraja, König der Tänzer, beschleunigen seine wilden und anmutvollen Gebärden die kosmische Illusion. Seine wirbelnden Arme und Beine und die Schwingung seines Leibes erregen — oder sind sie eigentlich — die beständige Schöpfung und Zerstörung des Universums, wo der Tod genau die Geburt aufwiegt und Vernichtung das Ende jedes Werdens ist. Das Drehrad der Zeit ist die Choreographie. Die Geschichte mit ihren Ruinen und die Explosionen von Sonnen sind nur Funken von der unermüdlichen schwingenden Folgereihe der Gebärden. In diesen mittelalterlichen Bronzestatuetten wird nicht nur eine einzelne Phase oder Bewegung, sondern die Ganzheit jenes harmonischen Tanzes wundersam wiedergegeben. Der in dem nie innehaltenden, unumkehrbaren Rund der Maha-Yugas oder großen Äonen immer weiterfließende Rhythmus wird durch das Stampfen und Schlagen der Fersen des Herrn und Meisters angegeben. Aber derweilen ruht das Antlitz in herrscherlicher Stille.
Tief in Ruhe versunken thront die rätselhafte Maske über dem Wirbel der vier bewegungsvollen Arme und kümmert sich nicht um die herrlichen Schenkel, die das Tempo der Weltalter stampfen. In souveränem Schweigen entrückt bleibt die Maske von des Gottes ewiger Wesenheit unberührt von der kolossalen Entfaltung seiner eigenen Energie, der Welt und ihrem Ablauf, dem Strom und dem Wandel der Zeit. Dieses Antlitz, diese Maske — es wohnt als unbeteiligter Zuschauer in transzendenter Isolierung. Sein nach innen gewandtes Lächeln voller Seligkeit des Ruhens in sich selbst verneint mit kaum verborgener Ironie subtil die bedeutungsgeschwellten Gebärden von Fuß und Hand. Zwischen dem Wunder des Tanzes und der ruhigen Heiterkeit dieser so ausdrucksvoll-unausdrucksvollen Miene waltet eine Spannung. Es ist die Spannung zwischen Ewigkeit und Zeit, das Paradox und die schweigende gegenseitige Widerlegung des Absoluten und der Erscheinungswelt, des unsterblichen Selbst und der vergänglichen Psyche, Brahman-Atmans und Mayas. Obgleich keines von ihnen die Ganzheit ist, scheint es dennoch auf der anderen Seite, daß die beiden sichtbar und unsichtbar im innersten Wesenskern dieselben sind. Mit allen Fibern seiner angeborenen Persönlichkeit klammert sich der Mensch in Angst und Entzücken an die Dualität; dennoch gibt es sie wirklich und endgültig nicht. Unwissenheit, Leidenschaft und Egoismus zerstückeln die Erfahrung der höchsten, kristallklaren und jenseits von Zeit und Wandlung befindlichen, von Leiden und Bindungen freien Wesenheit in die allgemeine Illusion einer Welt individueller Existenzen. Dessen ungeachtet aber, trotz all ihres Vorüberfließens, ist diese Welt — und wird niemals enden.
Die tanzenden Bronzefiguren Südindiens bestehen auf der paradoxen Wesensgleichheit der von ihren Erfahrungen und Gefühlen fortgerissenen Persönlichkeit mit dem stillen, allwissenden Selbst. In diesen Figuren stellt der Gegensatz des selig-träumenden schweigenden Antlitzes mit der leidenschaftlichen Beweglichkeit der Glieder den Verständnisbereiten das Absolute und seine Maya als eine überzweiheitliche Gestalt dar. Wir und das Göttliche sind ein und dasselbe, genau wie die Vitalität dieser wirbelnden Glieder ein und dasselbe mit der äußersten Gleichgültigkeit des Tänzers sind, der sie zum Lila|Spiele regt.
Aber über diesen Gott des Tanzes, wie er in den südindischen Bronzen abgebildet wird, ist sogar noch mehr zu sagen. Shivas Haarlocken sind lang und geflochten. Sie hangen teilweise herab, teilweise sind sie zu einer Art Pyramide gehäuft. Es ist das Haar des großen Yogis der Götter. In einer solchen von der Schere unberührten Wildnis von Haar wohnt übernormale Lebensenergie, die bis zu magischer Macht steigt. Ähnlich wohnt die berühmte Stärke Samsons, der mit nackten Händen die Kiefer eines Löwen auseinanderriß und das Dach eines heidnischen Tempels niederbrach, in seinem ungeschnittenen Haar.
Wenn wir nach den Magiern, Genien und dämonischen Besitzern wunderbaren Zaubers urteilen, die ihre Beschwörungen auf dem Konzertpodium vollziehen, verlangt der Zauber der Musik offenbar löwenmähnige Virtuosen. Keine Frage auch, daß ein großer Teil der weiblichen Anziehungskraft, der sinnliche Appell der Ewigen Frau, »das Ewig-Weibliche«, »le charme éternel«, im Duft, im Fluß und Glanz schönen Haares ruht. Auf der anderen Seite muß jeder, der den zeugenden Kräften des vegetabilisch-animalischen Reiches abschwört und sich gegen die zeugenden Prinzipien des Lebens, des Geschlechtes, der Erde und Natur empört, um den spirituellen Pfad der absoluten Askese zu betreten, sich zuerst scheren lassen. Er muß die Sterilität des alten Mannes nachahmen, dessen Haar ausgefallen ist und der nicht länger ein Verbindungsglied in der Kette der Generationen ist; er muß entschlossen das Laubwerk seines Hauptes opfern.
Die Tonsur des christlichen Priesters und Mönches ist ein Zeichen dieser Absage an das Fleisch (geistliche von Konfessionen, welche die Ehe nicht als unvereinbar mit dem heiligen Amt betrachten, tragen keine Tonsur.) Buddhistische Yogi-Heilige und Patriarchen, wie sie zum Beispiel in den zahlreichen chinesischen Porträts der Lohans abgemalt sind, scheren das Haupt vollständig. Solche Häupter verkünden Herausforderung und Verschmähen der »Faszination« (das lateinische "fascinosum" bezieht sich ursprünglich und wörtlich auf den Bereich des Geruchs, vor allem den behexenden Duft des Geschlechts — z. B. den Duft der Blüten, die ihre Kelche öffnen und nach Befruchtung verlangen), des zeugenden Triebes, der Maya und ihres Lebenszyklus. Diese »Ehrwürdigen« repräsentieren den Sieg der Yoga-Spiritualität. Durch die Ablegung der Mönchsgelübde und die Befolgung der asketischen Formeln haben sie alle Verführungen überwunden. Mit ihrer freiwilligen Kahlheit sind sie zum Frieden jenseits der Jahreszeiten, des Wachstums und des Wandels durchgebrochen. Der triumphierende Gesichtsausdruck eines buddhistischen Patriarchen, den ich auf einer chinesischen Tang-Keramik fand, erschien mir fast dämonisch. Er erzählte von der Macht, die durch Selbstbesiegung zu gewinnen ist, von einer ruhigen und herausfordernden Stärke, die vom Magnetismus übernormaler Yoga-Fähigkeiten funkelt.
Ich sah ein imaginäres Porträt dessen, der alle Fesseln der Welt durchschnitten hat, dessen, der die Sklaverei der endlosen, sinnlosen Selbstwiederholung des Lebens überschritten hat, dessen, der das schneidende Schwert unterscheidender Erkenntnis schwang und sich selbst von all den Banden freischnitt, welche den Menschen an das Treiben und die Nöte der Pflanzen- und Tierwelt heften. Dieser »Ehrwürdige« hatte durch seinen Sieg eine furchtbare Gewalt erworben. Ich hörte das feierliche Motiv der Götter, Titanen und Nibelungenzwerge, das Richard Wagner im Ring erklingen ließ: Nur wer der Minne Macht entsagt...« nur wer auf die Macht und den Zauber der Geschlechtsliebe verzichtet, kann den Ring erwerben, der seinem Träger unermeßliche Macht gewährt.« (Heinrich Zimmer sprach gern über die Frage der Tonsur und erläuterte unter anderem, wie in der katholischen Kirche die Tonsur mit dem Rang des Priesters wächst. Beim Weltgeistlichen nur ein Fünffrankenstück groß, läßt sie beim Papst nur einen Kranz von Haaren stehen. Beim sogenannten militärischen Haarschnitt dagegen, wie ihn die Armee verschiedener Staaten befiehlt, soll die Lebenskraft nicht abgeschoren, sondern "gestutzt", d. h. einer Disziplin unterworfen werden.- Anmerkung des Übersetzers.)
Der indische Asket, sei er Buddhist, Jaina oder Brahmane, der nach Erlösung von den Banden und Gesetzen der Natur strebt, ist die Entsprechung — nur daß sie hier spiritualisiert erscheint — jener titanischen mythologischen Dämonen, die kraft ihrer leidenschaftlichen Selbstabtötung, indem sie ihre ausdauernde Geduld und ihre Willensstärke erproben und jenseits alles Maßes wachsen lassen, tyrannische Macht über die Welt zu gewinnen suchen. Der spirituelle Mensch steht weit jenseits der Versuchung, über das materielle Universum zu herrschen. Dennoch verlangt es und drängt es ihn zum Ziel kosmischer Meisterschaft. Der Buddha war ein Weltkaiser (Chakravartin), aber auf der spirituellen, nicht der politischen, materiellen Ebene. Das Vorerfordernis für die Meisterschaft aber, sei sie spirituell oder politisch, ist, wie uns die großen Eroberer, Heilige wie Titanen, bestätigen, das Gesetz von Wagners Nibelungen Alberich. Sowohl die Yogis wie die Tyrannen haben die Lehre der Rheintöchter gelernt, jener göttlichen Maiden, welche die uranfängliche Weisheit der zeitlosen kosmischen Wasser singen — die Weisheit des ruhenden Vishnu: Nur wer der Minne Macht entsagt...
Die Bedeutung des Abscherens der Haupthaare kann in der Erzählung vom »großen Aufbruch« (Maha Abhiniskra Mana) des Buddha studiert werden. Er war in seine letzte Inkarnation eingetreten, jene Inkarnation, während deren er als Boddhisattva Erleuchtung erlangen und so Buddha, der Erlöser, werden sollte, und als Sohn eines fürstlichen Hauses zum Dasein geboren worden. Aber sein Vater, der den ungewöhnlichen Jüngling vor jeder Möglichkeit der Enttäuschung bewahren wollte, damit er in der Welt bliebe und ein mächtiger König, ein »Weltkaiser« (Chakravartin) würde, sah darauf, daß seine Augen niemals den kummervollen Aspekt des Daseins erblicken sollten. Dennoch, als die Zeit reif war, erschienen die Zeichen. Im Laufe vier kurzer Ausflüge aus dem Freuden-Idyll seines wunderschönen Palastes in die wirkliche menschliche Lebenswelt erblickte der empfängliche und hochintuitive junge Prinz zuerst einen alten Mann, dann einen von Krankheit Geschlagenen, dann eine Leiche und endlich einen weisen Asketen, welcher der Welt entsagt hatte. Sogleich erfaßte er diese Einweihungen, die ihm der Genius des Lebens bot und unterwarf sich ihnen. Vom Blick des Asketen inspiriert, verließ er noch in derselben Nacht seines Vaters Haus. Die Erdgenien hielten die Hufe seines Pferdes hoch, damit ihr Klappern nicht die schlafende Stadt erwecken möge. Sein treuer Wagenlenker ging voraus; die Schutzgottheit der Residenz schwang die Tore der Hauptstadt voll Jubel, doch schweigend offen. Dann übersprang der Reiter den breiten Grenzfluß des väterlichen Königreiches, um auf das Abenteuer auszuziehen, das den Sterblichen wie den Göttern erlösende Erleuchtung bringen sollte.
Die erste Tat des werdenden Buddha nach seinem Aufbruch aus den Grenzen wird in zwei Bildwerken des 11. Jahrhunderts aus dem großen Ananda-Tempel der burmesischen Stadt Pagan geschildert. Mit seinem fürstlichen Schwert trennt er sein langes, wunderschönes Haar ab. In den frühesten kanonischen buddhistischen Berichten, dem in Ceylon während des letzten Jahrhunderts v. Chr. niedergeschriebenen Pali-Kanon, wird das Ereignis in den folgenden feierlichen Ausdrücken erzählt:
»Er dachte: ,Diese meine Locken passen nicht für einen Mönch; aber es gibt niemand der würdig wäre, das Haar eines werdenden Buddhas abzuschneiden. Darum will ich es selbst mit meinem Schwert abtrennen.' Und er ergriff einen langen Dolch mit seiner rechten Hand, packte den Scheitelknoten mit der Linken und schnitt ihn ab, zusammen mit dem Diadem. Sein Haar bekam so eine Länge von zwei Finger Breite und lagerte sich nach rechts lockend ihm eng ums Haupt. So lange er lebte, behielt es diese Länge bei und entsprechend auch der Bart. Niemals mehr hatte er Haar oder Bart zu scheren.
Dann ergriff der künftige Buddha seinen Scheitelknoten und das Diadem, warf sie in die Luft und sagte: ,Wenn ich ein Buddha werden soll, sollen sie in der Luft bleiben, wenn nicht, mögen sie zu Boden fallen.'
Scheitelknoten und juwelenbesetzter Turban stiegen eine Meile hoch in die Luft und hielten dann inne. Sakka ( Sakka (Pali) entspricht Sakra (Sanskrit), d. h. dem Gott, Indra. Die fliegende Gestalt im oberen linken Winkel des Bildes ist Sakka, wie er den Scheitelknoten erhascht) aber, der König der Götter, entdeckte sie mit seinen Götteraugen, schloß sie in eine passende juwelenbesetzte Kassette und legte diese im Himmel der dreiunddreißig Götter als ,Schrein des Diadems' nieder.«
- »Sein Haar er schnitt, so süß mit vielen goldnen Düften,
- der Führer der Menschen, und warf es zum Himmel empor;
- Und dort Gott Vasava, der Gott mit den tausend Augen
- Fing es in goldenem Behältnis auf, sein Haupt tief niederbeugend.«
Ein Bildnis stellt den Boddhisattva dar, wie er sein Haar mit dem eigenen Schwert abschneidet. Auf einem anderen Bild hält er den Scheitelknoten mit dem juwelenbesetzten Diadem in beiden Händen, eben vor dem Wurf in die Luft. Er konzentriert sich auf die Beschwörung: »Wenn ich ein Buddha werden soll, sollen sie in der Luft bleiben ...« Auf dem Rückweg zu seinem himmlischen Paradies, dem Himmel der dreiunddreißig Götter, trägt Indra verehrungsvoll den juwelenbesetzten Behälter. Drinnen liegt die kostbare Reliquie, welche den entscheidenden Schritt zur spirituellen Erleuchtung, zum höchsten Verzicht bezeichnet. Die weibliche Figur zur Rechten in ihrer Haltung entzückter Verehrung muß Indras Königin-Gemahlin sein, Indrani-Shachi, die Königin der Götter.
An der Basis des Postamentes unter dem Rand des Lotossitzes (Padmasana) ist Channa abgebildet, der treue Gefolgsmann und Wagenlenker. Channa schlief pflichtgemäß auf der Schwelle zu den Räumen des Boddhisattvas, als sein Herr sich zum großen Aufbruch aufmachte; und er begleitete ihn, um das Pferd Kanthaka am Zügel zu führen. Channas einzige übrigbleibende Aufgabe wird nun die Rückkehr zur Residenz sein und die Mitteilung an die Eltern, daß sie ihren Sohn unwiederbringlich verloren haben. Der Prinz hat auf sein Fürstentum verzichtet, der Boddhisattva hat den heimatlosen Pfad des namenlosen Asketen betreten. Gautamas Suche ist nun nach dem Absoluten, jenseits des Kreislaufes von Leben und Tod.
Nachdem der künftige Buddha sein Haar abgetrennt und seine königlichen Gewänder für die orangegelbe Kutte (diejenigen, die sich außerhalb der menschlichen Gesellschaft gestellt haben, übernehmen freiwillig das orangegelbe Kleid, das ursprünglich das der verurteilten Verbrecher war, die zum Richtplatz geführt wurden) des Bettler-Asketen ausgetauscht hatte, entließ er auch seinen treuen Wagenlenker. »Channa, geh und erzähle meinem Vater und meiner Mutter von mir, daß es mir gut geht.« Channa huldigte dem künftigen Buddha und verließ ihn, ihm seine rechte Seite zuwendend (dies ist die gewöhnliche zeremonielle Art, sich einer verehrten Persönlichkeit, einem Guru, einem Heiligen, einem Götterbild, einer Gottheit oder einem Kultgegenstand zu nähern oder sie zu verlassen). Aber Kanthaka, das Pferd, das derweil lauschend dabei gestanden hatte, konnte seinen Kummer nicht ertragen. Als der Hengst weggeführt wurde und dachte »Ich werde meinen Herrn niemals mehr sehen«, brach sein Herz und er starb. Im Himmel der dreiunddreißig Götter wurde er als der Gott Kanthaka wiedergeboren. In feinfühliger Art wird in der winzigen Pferdefigur auf dem Piedestal auf diese Episode angespielt. Die tiefste Verzweiflung des herrlichen Tieres, das noch den Sattel trägt, aber niemals mehr den Reiter tragen wird (das »Pferd« ist ein Sinnbild des körperlichen Tragtieres, und der »Reiter« ist der Geist; wenn dieser letztere an das Ende seiner Inkarnation gekommen ist, bleibt der Sattel unbesetzt und das Tragtier muß notwendigerweise sterben. Der Verzicht des Boddhisattva ist wie der irgendeines anderen Sannyasi praktisch ein Sterben. — AKC), die Neigung seines schlichten, ausdrucksvollen Hauptes und das Flehen seines wie im Protest erhobenen rechten Vorderbeines geben ein entzückendes Beispiel der indischen Gebärdensprache — verschwiegen und zart, ausdrucksvoll und beseelt, voller Sympathie für alle Gestalten des Lebens.
Ein Bildnis stammt von einem buddhistischen Schrein des 2. Jahrhunderts v. Chr., ein Detail von einem Pfeiler aus den Ruinen von Bharhut. Es handelt sich um eine Darstellung von Indras Reich im Augenblick der Einweihung des Heiligtums, das der Gott dem geretteten Haarschopf errichtete. Linker Hand ist im oberen Viertel ein neuerbautes, kuppelbedachtes Tabernakel abgebildet mit einer Inschrift: Devadhammâ Sabhâ Bhagavato Cuda-maha, »Die Halle von Buddhas wahrem Gesetz für die Götter, das Fest (Maha) des Haarbüschels (Cuda).« An jeder Seite steht ein Gott in verehrender Haltung; der zur Linken mit der erhobenen rechten Hand wirft eine Lotosblume an den Fuß des Reliquiariums — gehorsam dem nichtvedischen indischen Gebot: »Man darf sich niemals der Gegenwart einer Gottheit (oder eines Götterbildes oder anderem Gegenstand des Kultus) ohne das Opfer einer Handvoll von Blumen (Pushpanjali) nähern. Andere Insassen der himmlischen Wohnungen schauen enthusiastisch und jubelnd aus den Fenstern und von den Terrassen der himmlischen Paläste den Zeremonien zu.
Unten unterdessen stehen die himmlischen Mädchen, die Apsarases genannt, die Tänzerinnen und Sängerinnen in Indras fürstlichem Hofstaat, und tragen durch ein Ballett mit musikalischer Begleitung ihr Teil zu den Feierlichkeiten bei. Diese ewig jungen, immer berückenden Mädchen bilden das Serail der Bewohner von Indras Paradies. Sie sind die immer anziehenden, immer willfährigen Geliebten jener gesegneten Seelen, die als Belohnung für ein tugendhaftes und frommes Verhalten in Indras himmlischer Welt wiedergeboren werden. Die Apsarases sind die vollendeten Schenkerinnen sinnlichen Entzückens und seliger Liebe nach göttlichem Maßstab und in ungetrübter himmlischer Harmonie. Sie bilden die Verkörperungen einer streng überirdischen Art sinnlicher Liebe, der göttlichen Liebe, wie sie von der irdischen Liebe (wie sie zum Beispiel in dem berühmten Gemälde Tizians »Himmlische und Irdische Liebe« dargestellt werden) unterschieden und ihr entgegengesetzt ist. Irdische Liebe ist innerlich mit Drama und Spannung beladen, mit den Mißverständnissen, Disputen und Wiederversöhnungen der Liebenden, und einem kaum vermeidbaren intimen Hauch würdiger, pflichtgemäßer Resignation, wie sie selbst einem vollendeten ehelichen Ausgleich innewohnen.
Die Apsarases dagegen repräsentieren die »Unschuld der Natur«, »Entzücken ohne Tränen«, »Sinnliche Erfüllung ohne Reue, ohne Zweifel und ohne nachfolgende Mißgefühle«. Sie sind die einweihenden Priesterinnen des alten, immer neuen Mysteriums der gegenseitigen Anziehungskraft der Geschlechter, »Mystagoginnen« all jener buntgefleckten Aktivitäten, die der Feier und Auslotung der wunderbaren Tiefe dieses Mysteriums gewidmet sind, seiner farbenreichen Eintönigkeit, seiner wiederholungsfreudigen Dumpfheit und erhabenen Sinnlosigkeit. Diese Mächte der Natur und des Lebens selbst bejubeln das höchste Opfer und die große Überwindung des künftigen Buddhas, obgleich Buddhas Sieg ihre eigene Herrschaft und Existenz verneint und aufhebt. Sie feiern seinen entscheidenden Schritt, dieses Abtrennen der Vegetation auf seinem Haupt, diesen Entschluß, sich zum Abenteuer der Selbstüberwindung einzuschiffen, das am Ende all die Himmel und Höllenpfuhle zusammen mit all ihren Bewohnern, den herrlichen wie den schrecklichen, erschüttern, aufheben und schlechthin in die Luft sprengen wird — wobei all dies sich nur als ebensoviele Projektionen, Blendwerke und Externalisierungen unserer eigenen vegetativen, tierhaften, emotional-intellektuellen Neigungen herausstellen wird.
In den frühen Berichten lesen wir, daß, als der künftige Buddha sein »von vielen angenehmen Düften süßes Haar« abtrennte, es »zwei Finger breit lang wurde und nach rechts gelockt sich dem Haupte eng anschmiegte«. Die kurzgeschnittenen, gekräuselten Locken bilden bis heute die kanonische Haartracht der Buddha-Bilder. In der klassischen buddhistischen Kunst des achten Jahrhunderts in Java wurde diese Formel treu befolgt, wie die vielen plastischen Darstellungen der ewigen, überweltlichen Buddhas bezeugen, welche die oberen Galerien und Terrassen des gigantischen Mandala-Baues von Borobodur zieren. Auch in den Mon-Khmer-Schöpfungen Kambodschas wird dieses Motiv beharrlich und geschickt verwandt. In den besten Werken erscheint es zu einer eindrucksvoll einfachen, rein ornamental-abstrakten und anonymen Oberfläche abgewandelt.
Im Fall eines gewissen maskenähnlichen Buddhaporträts zum Beispiel, das ich einmal auf einer Ausstellung in Paris sah, formt es einen sehr inspirierenden Rahmen. Es handelt sich um ein nicht mehr als handflächen-großes Stück, das von Zeit, Erde und Regen völlig verwittert, zerbrechlich und dünn wie ein Herbstblatt ist. Aber es ist eine der wissendsten und feierlichsten Buddhamasken — atemberaubend in seinem Schweigen und seiner Ruhe des Gemütes. Die Leiden aller Geschöpfe sehend und ihre Ursachen erkennend, steht es jenseits des Lebens und macht die erlösende Weisheit offenbar. Die Gebrechlichkeit aller vorübergehenden Dinge und Wesen, welche die Wurzel ihres Leidens darstellt, hat dieses unbeschreibliche Gesicht durchdrungen, umgeformt und fast zerstört. Dennoch ist sie noch da, diese zarte Folie, und durch ihre Gebrechlichkeit sogar noch erhabener erscheinend; mit der sublimen Indifferenz und Ruhe ihrer Züge wischt sie die Macht des Leidens und Verfalles weg. Die unaufhörlichen Einwirkungen der Zeit, die hier wieder einmal ihren Urteilsspruch, den Untergang jenes beklagenswerten Samsaras, von dem die Weisheit des Buddha Erlösung bringt, ausführten, arbeiteten mit der Eingebung eines unbekannten Künstlers zusammen, um diesem kostbaren Dokument menschlichen Geistes die letzte Vollendung zu geben.
Ein anderer Buddhakopf aus Kambodscha ist in einer weiteren Abbildung zu sehen. Er ist von porträtähnlicher Intimität. Dennoch liegt über ihm eine sublime ätherische Melodiosität, eine schweigende Musikalität, die durch das beredsame Fehlen eindrucksvoller Details bewirkt wird. Diese sanft klingende Stille geht vor allem von der Behandlung des Schädels und des Haares aus. Als ich dieses prachtvolle Symbol für das Essentielle des Buddhismus zum erstenmal sah (in einer Sammlung von Kambodscha-Meisterwerken im Musée Guimet in Paris), wurde ich davon wie von etwas ganz Eigenartigem betroffen. Es heißt, daß nach der Geburt des künftigen Buddhas die brahmanischen Weissager die Physiognomie des neugeborenen Kindes studierten und ihm die Eroberung der Welt prophezeiten. Sie erklärten, daß sein Reich entweder das eines universalen Monarchen (Chakravartin) oder eines universalen Erlösers (Tathagata) sein würde. Dies ist diese schicksalsvolle Physiognomie; dies ist die Maske dessen, der allen Königreichen der Welt entsagte. Und während ich mit diesen Gedanken im Sinn auf jene Züge blickte, wandelten meine Überlegungen vom Musée Guimet (an der Place Jena, die nach Napoleons entscheidendem Sieg über Preußen im Jahre 1806 benannt ist) über die Seine zum Grabmal Napoleons, dem Invalidendom. Und vor meinen Augen stand eine andere Maske, das Profil jenes anderen Eroberers, des Buddha. In solchen Köpfen sind die symbolischen und bedeutsamen Merkmale der Askese in ein Sinnbild erhabener Spiritualität verwandelt.
Die Feindschaft des Asketen gegen das dem menschlichen Organismus entsprießende Haar ist in der extremen Sekte der Jainas so vollständig, daß sie kein Haar irgendwelcher Art an der Person eines Geweihten dulden. Ein Teil ihres Ordinierungsrituals besteht in einem gründlichen Ausreißen jedes auf Haupt und Körper wachsenden Haares. Hier wird gewissermaßen die Idee der Tonsur bis zu Ende geführt. Entsprechend ist die Jaina-Vorstellung von Lebensentsagung fast über alles Maß. In Übereinstimmung mit ihrer archaischen, fundamentalistischen und konsequenten Lehre ordnen die Jainas ihre Methoden körperlicher Abtötung so an, daß sie im Alter im Tod durch völliges Fasten gipfeln. Wie mit dem Haar, so mit dem letzten Verlangen des Fleisches nach pflanzlicher Nahrung: die Auflehnung gegen das Lebensprinzip wird bis zum Ende getrieben.
Doch obgleich die spirituellen und selbst die irdischen Belohnungen der asketischen Haltung so bedeutend sind, schert oder rupft Shiva sein »von vielen holden Düften süßes Haar« nicht ab. Der göttliche Tänzer und Erz-Yogi weigert sich, aus den symbolischen, mächtigen Kunstgriffen der Selbsteinschränkung und Selbstberaubung Vorteil zu ziehen. Er bleibt für immer der Vertreter ungeschorener Männlichkeit. Die langen Flechten seines geknüpften Haares, gewöhnlich in einer Art von Pyramide aufgetürmt, lösen sich während der triumphierenden, gewalttätigen Raserei seines unermüdlichen Tanzes und verbreiten sich, um nach rechts und links zwei Schwingen zu bilden, eine Art von Heiligenschein, gleichsam auf ihren magischen Wellen die Überfülle und Heiligkeit vegetativen Lebens, den Charme, die Anziehung, den feierlichen Befehl der zeugenden Kräfte der schaffenden Maya aussendend.
Shivas Flechten werden gewöhnlich als von kleinen symbolischen Figuren erfüllt dargestellt. Die am häufigsten in seinen Bildwerken erscheinenden sind:
- 1. eine winzige Figur der Göttin Ganges, die er mit seinem Haupt auffing, als sie vom Himmel zur Erde herabstieg;
- 2. Datura-Blüten (aus denen ein berauschender Trank bereitet wird);
- 3. ein Schädel, das Symbol des Todes und zugleich das gewöhnliche Kronjuwel oder Stirnornament sowohl Shivas wie der geringeren Gottheiten, die einen Teil seines Gefolges und Reiches darstellen (das Memento mori des Herrn der Zerstörung) und
- 4. eine wachsende Mondsichel, im Sanskrit Shishu genannt, »die schnell anschwellende, die eifrig wachsende«, aber auch »das neugeborene kleine Kind«, das von Woche zu Woche an die Brüste der Mutter geklammert gleich dem zunehmenden Mond rasch wächst.
Shiva ist die Personifikation des Absoluten, besonders in seiner Auflösung des Alls. Er ist die Verkörperung des Über-Todes. Yamantaka wird er genannt, »Der Besieger des Bezähmers; der, welcher Yama, den Todesgott, den Bezähmer, überwindet und auslöscht«. Shiva ist Maha Kala, Große Zeit, Ewigkeit, der Verschlucker der Zeit, Verschlucker aller Zeitalter und Zeitalterzyklen. Er führt den Rhythmus und Wirbel ins Nichts zurück, indem er alle Dinge, alle Wesen, alle Gottheiten in dem kristallklaren, bewegungslosen Meer der Ewigkeit auflöst, von dem aus gesehen nichts Wirkliches geschieht. Aber als Shishu wiederum, das kleine Kind, der zunehmende Mond, ist Shiva ganz Entzücken und das Verheißungsvollste zu schauen, sanft, doch unwiderstehlich, ein Versprechen auf Leben und Lebenskraft. Der Mond, Shishu, wird als der Kelch für das Fluidum des unsterblichen Lebens angesehen, wie er das Pflanzenreich und was immer in der sublunaren Sphäre wächst, belebt, aber auch die Unsterblichen oben erquickt, so daß sie fähig bleiben, ihre wohltätigen kosmischen Pflichten zu erfüllen. Shiva als Shishu ist dieser Mond und dieser Kelch.
So ist Shiva gleichzeitig etwas Entgegengesetztes: archetypischer Asket und archetypischer Tänzer. Auf der einen Seite ist er die totale Ruhe, nach innen gewandte, in sich selbst versunkene Stille, eingegangen in die absolute Leere, wo alle Unterscheidungen schmelzen und sich auflösen und alle Spannungen zur Ruhe gekommen sind. Auf der anderen Seite aber ist er totale Aktivität des Lebens, rasende, ziellose und spielerische Energie. Diese Aspekte sind die dualistischen Manifestationen einer absolut nicht-dualistischen letzten Wirklichkeit. In den Shiva-Heiligtümern werden sie beide zusammen dargestellt: die den Erleuchteten, den Buddhas, den Wissenden und Yogis bekannte Realität Seite an Seite mit der, derer sich die noch im Bann der Welt stehenden Kinder der Maya erfreuen.
Es ist nun von außerordentlichem Interesse, festzustellen, daß unter den wenigen Überbleibseln, die uns aus der Indus-Zivilisation erhalten sind, die zwei Aspekte des Gottes sich bereits enthüllen. Durch einen Korridor von ungefähr sechstausend Jahren kamen diese Überbleibsel zu uns herauf als Echos einer Religiosität, die der Ankunft der vedischen Arier vorausgeht, einer Religiosität so alt wie die Pyramiden am Nil.
Eine kleine Fayenceplatte von Mohenjo-Daro zeigt eine eingravierte gehörnte Gottheit. Wie ein Yogi sitzt sie mit eng zusammengeschlossenen Füßen, nackt, mit drei Gesichtern und erigiertem Phallus. Sie trägt viele Armbänder an den Armen und einen großen fächerförmigen Kopfschmuck, der vielleicht aus dem aufgetürmten geflochtenen Haar besteht. Sie sitzt auf einem kleinen Thron oder Altar und ist von zwei Antilopen, einem Elefanten, einem Tiger, einem Rhinozeros und einem Büffel umgeben. (Die Zeichen am oberen Rande sind nicht zu entziffern.) Die Gestalt ähnelt am meisten Shiva-Pashupati, dem "Herrn der Tiere".
Shiva-Nataraja dagegen wird durch einen bedeutungsvollen Torso in Erinnerung gebracht. Er stammt aus der Industal-Stadt Harappa. Der Kopf ist verloren und ebenso die Arme, sowie Knie, Unterschenkel und Fuß des linken Beines. Diese Extremitäten wurden besonders angefertigt und dann mit dem Rumpf durch Dübel verbunden, die seitdem verschwunden sind. Aber die Löcher, in die sie eingefügt waren, sind deutlich zu sehen. Offenbar war es aus praktischen Gründen, daß die Figur nicht aus einem einzigen Steinblock herausgehauen wurde, und diese Wahrscheinlichkeit mag uns eine Andeutung geben, wie wir uns die Haltung der fehlenden Gliedmaßen zu denken haben. Sie können nicht eng an den Leib gezogen gewesen sein. Vielleicht waren sie mittels der Dübel imstande hin- und herzuschwingen (die Kinderspielzeuge von Mohenjo-Daro und Harappa sind mit solchen beweglichen Teilen ausgestattet). Vor allem bedeutungsvoll ist die Stelle, an der der linke Unterschenkel am Oberschenkel befestigt war, nämlich über dem Knie. Diese Stellung legt nahe, daß der Fuß nicht auf dem Boden geruht haben kann. Er muß frei in der Luft gehangen haben wie in einer tänzerischen Pose. Tatsächlich haben wir allen Grund, anzunehmen, daß dieser archaische Torso einen Tänzer darstellt, und zwar von nicht wesentlich verschiedener Gestalt als der des so viel späteren Nataraja-Typus (der Kunst der Indus-Zivilisation war die spätere orientalische Konvention der vielarmigen Bildwerke unbekannt. Dieser künstlerische Einfall, der zu mittelalterlichen Zeiten in Indien entwickelt wurde, brachte eine unermeßliche Bereicherung der Möglichkeiten ikonographischer Verständlichmachung).
Wahrscheinlich haben wir hier ein wertvolles Symptom für eine Überlieferungskontinuität von nicht weniger als viertausend Jahren vor uns. Die Episode der eindringenden Arier, die Errichtung ihres olympischen Pantheons orthodoxer vedischer Gottheiten, das allmähliche Wiederemporsteigen der älteren indischen Gestalten mit einem Triumph Vishnus, Shivas und der Göttin über Indra, Brahma und deren Umgebung, ihre endgültige Machtrücknahme, müssen wir als nicht mehr denn einen titanischen Zwischenfall ansehen, der sich auf der zeitlosen Bühne der indischen Seele abspielt.
Die Lebenskraft von Symbolen und symbolischen Gestalten ist unerschöpflich, besonders wenn sie von einer hochkonservativen, traditionellen Zivilisation wie der Indiens weitergetragen werden. Unsere konventionellen Geschichten von der Entwicklung der Menschheit, dem Wachstum menschlicher Einrichtungen und dem Fortschritt von Religion, Tugenden und Idealen, entstellen nicht selten die Situation vollständig, indem sie die Rückkehr archaischer archetypischer Formen zur Macht als neue Anfänge darstellen. Oft, wie zum Beispiel im größeren Teil der indischen Geschichte, mögen wir den Augenschein dieser Kontinuität schmerzlich vermissen. Die Materialien, in denen diese Gestalten wiedergegeben werden, weitgehend Holz und Lehm, waren ja vergänglich und sind einfach verschwunden. Und die mündlichen Überlieferungen sowie die fließenden Charakterzüge der volkstümlichen Feste sind für die Jahrhunderte vor uns unmöglich in ihren Einzelheiten wiederherzustellen.
Wir haben nur die lebende Gegenwart und gewisse, zufällig erhaltene Überreste. Doch diese letzteren stammen weitgehend aus den oberen »offiziellen« Schichten des Sozialen. Wie können wir daraus dogmatische Folgerungen für das Gesamtmenschliche ableiten? Manchmal erscheint dann ein greifbarer Beweis etwa wie jener, der sich uns plötzlich in den Ausgrabungen von Harappa, Mohenjo-Daro und Chanhu-Daro enthüllt hat, bringt unsere Vorstellungen durch die Aufzeigung einer von den Historikern nie geahnten Kontinuität ins Wanken und zwingt uns zu einer bescheideneren Einschätzung all unserer Urteile über die Vergangenheit. Können wir doch niemals sicher sein, ob nicht in einem der unzähligen, undokumentierten Jahrhunderte menschlicher Geschichte, in dem einen oder anderen all der unausgegrabenen Hügel der Welt nicht ein schlichtes Faktum lauert, das einmal entdeckt unsere am wenigsten fragwürdigen Überzeugungen umstürzt. Augenscheinliche Beweise für das bis ins dritte Jahrtausend vor Christus zurückgehende Vorhandensein von Gestalten, die nach der Meinung unserer Forscher sich erst sehr viel später entwickelten, können nicht mit einem Achselzucken leichthin beiseite geschoben werden. Wenn auch die von ihnen eröffneten Perspektiven der »Dauer« nicht ohne weiteres alles widerlegen, was wir über Fortschritt und Wechsel zu äußern gewohnt sind, so liefern sie doch zu der uns vertrauten Ansicht eine Gegenansicht, die uns durch unermeßliche Zeiträume reichende spirituelle Kontinuitäten zeigt.
Darum können wir die lebende Tradition der volkstümlichen und vielleicht zeitlosen Gottheit Shiva nur mit einem Gefühl des für immer Verlorenen studieren. Auf den tanzenden Shiva bezogene Mythen und Legenden finden wir heute viel. Wie weit wir sie in die Vergangenheit zurückzuverfolgen vermöchten, wenn wir nur imstande wären, die verschütteten Jahrhunderte zu beleben, werden wir niemals erfahren. Genügend zu sagen, daß diese Traditionen aller Wahrscheinlichkeit nach unvorstellbar alt sind.
Beginnen wir mit der Feststellung, daß es zwei prinzipielle und antagonistische Arten des Tanzes gibt, die den segnenden und den zornig-zerstörenden Manifestationen des Gottes entsprechen. Tandava, der grimmige, gewaltsame Tanz, von einer explosiven, alles mit sich fortreißenden Energie befeuert, ist ein wahnwitziger, die Verwüstung beschleunigender Ausbruch. Auf der anderen Seite steht Lasya, der sanfte, lyrische Tanz voller Süße und Abbild aller Gefühle der Zärtlichkeit und Liebe. Shiva ist beider Tänze vollendeter Meister.
In seinem sanften Aspekt ist Shiva Pashupati, der Hirt, der Eigentümer des Viehs, der Herr der Tiere«. Alle Tiere (Pashu), wilde oder zahme, gehören zu seiner Herde. Mehr: die Seelen aller Menschen bilden das »Vieh« dieses Hirten. Darum ist das freundliche Symbol des seine Herde hütenden Hirten, das uns in der Gestalt Christi, des guten Hirten, wie er in der frühchristlichen Kunst (zum Beispiel in den Wandbildern der römischen Katakomben und dem berühmten Mosaik in Ravenna) dargestellt wird, so vertraut ist, auch dem Shiva-Gläubigen gewohnt. Als ein Glied von dieses Schäfers Herde realisiert der Verehrende seine Beziehung zu dem wohltätigen Aspekt des erhabenen Gottes.
Auf diese Art hat der Begriff Pashu die Bedeutung »ein Anhängsel Shivas, eine Seele« bekommen. Im besonderen bedeutet der Begriff Pashu den Uneingeweihten, den allgemeinsten und untersten Grad der Shiva-Gläubigen. Im spirituellen Sinn ist solch ein Uneingeweihter so stumpf und sprachlos wie das Vieh und muß durch den Gott angestachelt werden. Pashu stellt also den Grad dar, der jenem höheren spiritueller Entwicklung, dem Vira, dem »Helden«, entgegengesetzt ist.
Schon im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde der Begriff Vira nicht mehr zur Bezeichnung des tapferen Ritters der feudalen Epen, des königlichen Kriegers und Helden auf dem Schlachtfeld und der mythischen Kämpfer gegen Dämonen und Ungeheuer angewandt. Den früheren Gebrauch des Wortes finden wir bei den Helden der feudalen Kriege des Mahabharata und bei dem Rama des Ramayana, dem Besieger der Ungeheuer und Dämonen. Aber in dem im 6. Jahrhundert erscheinenden Namen Mahavira bedeutet Vira den asketischen Helden. Es ist der Mensch, der gegen alle Stöße gefeit ist, der sowohl inmitten der selbst auferlegten Torturen harter Askese unbeweglich bleibt, wie unverwirrt durch Versuchungen und Verlockungen, ja selbst tödliche Drohungen, die aus der Umwelt kommen.
Unter den Anhängern Shivas repräsentiert der Vira-Grad des Gläubigen-Eingeweihten den Stand des vollendeten Asketen, des Überwinders der natürlichen Kräfte, jenes »Siegers«, der seine Viehnatur überwunden hat und in der Vollkommenheit seiner Askese sogar Shiva selbst gleich ist. Der Vira ist der vollendete Yogi geworden, der wahre spirituelle Übermensch, ein »Heldenmensch«, nicht länger nur das menschliche Tier.
Der Tandava-Tanz, diese gewalttätige, rasende Ausströmung göttlicher Energien, ruft die Vorstellung irgendeines kosmischen Kriegstanzes wach, der zerstörerische Energien erwecken und auf den Feind Vernichtung herabbringen soll. Gleichzeitig ist es der Triumphtanz des Siegers. In diesem Zusammenhang ist eine Legende lehrreich, die Shiva als Überwinder eines großen Dämons zeigt, der die Gestalt eines Elefanten angenommen hatte.
Der Gott zwang seinen Gegner mit ihm zu tanzen und fuhr erbarmungslos fort, bis das Opfer tot zu Boden fiel. Dann häutete er ihn ab, legte die Haut wie eine Art Mantel um und begann, in die bluttriefende Trophäe gehüllt, einen furchtbaren Siegestanz. Ein spätes, doch großartiges Bildwerk, das diesen kriegerischen Triumph zur Feier der Vernichtung des Elefantendämons (Gaja-Sura-Samhara) darstellt, ist in dem südindischen Natarajatempel zu Perur aus dem 17. Jahrhundert zu sehen. Das graziöse Werk ist in einem außerordentlich raffinierten Stil gehalten. Der Gott trägt eine Guirlande von Schädeln, und ein Schädel blickt aus seinem Diadem. Die beiden obersten Hände halten die Haut des Elefanten auseinander; das nächste Paar Hände trägt eine Zweiheit von Waffen, die Schlinge (Pasa) und die Sichel (Ankusha); das dritte hält einen Stoßzahn des Opfers und eine kleine wie eine Sanduhr geformte Handtrommel, mit welcher der Tänzer den Takt schlägt. Das unterste Händepaar hält einen Dreizack (Trishula) und die Almosenschale des Bettlerasketen (Bhikshapatra). In der Miene des Gottes liegt eine träumerische, doch wohlüberlegte, verschlagene Entrücktheit, mit der er die eigenen, feierlichen, langsamen, weiten Schritte genießt, die seine rasende Energie gebändigt halten.
Der in der Elefantenhaut tanzende Shiva ist eine »schreckliche oder zornvolle Erscheinung« (Ghora-Murti) des Gottes. Wie von einer grausigen Glorie ist der göttliche Tänzer von der Haut seiner Beute umgeben. Das schwere Haupt des Opfers mit seinen großen Ohren baumelt am Boden, während der winzige Schwanz am obersten Ende sichtbar ist und die vier Füße an den Seiten herunterhängen. Im Innern streckt der Gott in seinem abgemessenen, langsamen, raffinierten Tanz die acht Arme aus. Der Dreizack und die anderen für den herrscherlichen Helden sinnbildlichen Waffen erscheinen zusammen mit der Almosenschale des Asketen, dem Symbol für des Gottes höchste Entrücktheit. Seine Beweglichkeit scheint eidechsen-, seine Schlankheit und Anmut schlangenhaft.
Dieses Modell stellt eine vollkommene, geheimnisvolle Verschmelzung der polaren Gegensätze dar. Wir fühlen die dionysische Doppeldeutigkeit und das unheilvolle Lächeln der Lebenskräfte. Bluttriefend, grausig, bildet die abgezogene Trophäenhaut des Opfers den finsteren Hintergrund. In einem Gedicht Kalidasas wird erzählt, wie selbst die Göttin-Gemahlin, die dem Kampf und dem folgenden Tanz ihres geliebten Herrn zuschaute, bei diesem schrecklichen Anblick von Furcht befallen wurde. Schauer gingen über ihr Rückgrat. Doch vor diesem finsteren Hintergrund schimmern die göttlichen jugendstrahlenden Glieder, beweglich, schön, anmutig in der gemessenen Feierlichkeit ihrer Bewegung, und die ganze wundervolle Unschuld der ersten athletischen Kraft junger Mannheit liegt darin.
Vier von den neun »Stimmungen« oder »Geschmäcken« (Rasa) des hinduistischen Systems der Rhetorik — vier mindestens — erscheinen in dieser Darstellung verschmolzen. Es sind die »heroische« Stimmung (Vira), die »wilde« (Raudra), die »berückende« (Sringara) und die »haßvolle« (Bibhatsa). Denn Shiva enthält und bewirkt alle möglichen Aspekte des Lebens, und sein Tanz ist eine wunderbare Verschmelzung der Gegensätze. Wie das Leben selbst ist dieser Tanz eine Mischung des schrecklichen und des Segnenden, eine Nebeneinanderstellung und Vereinigung von Zerstörung, Tod und vitalem Triumph, ein vulkanischer Ausbruch der Lavaströme des Lebens. Es ist jene Mischung, die dem Hindugeist so vertraut ist und die wir überall in der Hindukunst gespiegelt finden. Als Ausdruck des Göttlichen wird sie aufgefaßt, das in seiner Ganzheit all das Gute und die Übel, die Schönheiten und Schrecken, die Freuden und Agonien unserer Erscheinungswelt in sich einbegreift.
Eine andere südindische Darstellung des in der Elefantenhaut tanzenden Shiva aus dem 17. Jahrhundert erscheint im »Großen Tempel« von Madura. Hier jedoch ist die Haltung zu mürrischer Steifheit gefroren. Der rasende Tanz des siegreichen Gottes hat seine behexende, dämonische Beweglichkeit verloren. Statt dessen finden wir die ziemlich statische Ruhe drohender Entrücktheit und schreckenbringender Größe. Der Gott scheint sich in seine eigene einsame Majestät zurückgezogen und in ihr versenkt zu haben. Dieser schwere, vergleichsweise leblose Stil steht der ewigen primitiven, örtlich bestimmten Volkskunst näher als jener andere. Die gewichtige Materie, die Solidität des Steins und eine fromme Pedanterie im Detail machen sich geltend. Die subtile Kunst der früheren Epochen, die es verstand, das feste Material in eine zitternde Luftspiegelung zu verwandeln, eine sublime Phantasmagorie, wie sie der zarten Natur der in die Erscheinung tretenden göttlichen Wesen entsprach, ist hier dahingeschwunden. Was wir finden, ist wieder die solide, faßbare Materie des primitiven Idols und des primitiven Fetisches.
Das schlagende Motiv des tanzenden Gottes, der den Elefantendämon mit ihm zu tanzen zwingt, bis er tot niederfällt, von keiner Waffe berührt, von keiner tödlichen Wunde getroffen, erinnert an das westliche Motiv des »Tanzes der Lebenden und der Toten«.
Eine Gesellschaft gespenstischer Knochenleute lädt die blühende Jugend in Gestalt der Maid mit den rosigen Wangen oder des jungen kraftvollen Soldaten zum Tanz ein, und die dünnen, entfleischten Erscheinungen tanzen fort und fort, bis ihre Opfer tot niederfallen. Das endliche, beschränkte Individuum ist kein möglicher Partner für die ewigen Kräfte der Zerstörung. Aber von der anderen Seite her ist die Zerstörung — Shiva — nur der negative Aspekt unendlichen Lebens.
Siehe auch
Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?
- Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
- Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
- Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
- Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
- Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
- Kapitel 5: Die Göttin
Literatur
Seminar
Der RSS-Feed von https://www.yoga-vidya.de/seminare/interessengebiet/indische-schriften/?type=2365 konnte nicht geladen werden: Fehler beim Parsen von XML für RSS