Parade

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Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)

Der Turmbau zu Babel nach Lucas van Valckenborch (1595?)...

Die Parade der Ameisen

Indische Mythen und Symbole - Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit

Teil 1: Die Parade der Ameisen

Indra tötete den Drachen, den gigantischen Titanen, der im formlosen Umriss einer Wolkenschlange sich auf den Bergen dehnte und die Wasser des Himmels in seinem Bauch gefangen hielt. Der Gott schwang seinen Donnerkeil in die Mitte der ungestalteten Masse, und das Ungeheuer fiel auseinander wie ein Haufen verwelkten Laubes. Die Wasser wurden frei und strömten in Rinnsalen durch das Land, mit zum neuen Mal durch den Leib der Welt zu kreisen.

Diese Flut ist die Flut des Lebens, der Saft von Feld und Wald, das Blut, das in den Adern kreist, und gehört allen. Das Ungeheuer hatte sich diesen allgemeinen Segen angeeignet, seine anspruchsvolle, selbstische Masse zwischen Himmel und Erde schiebend. Doch nun war es erschlagen, und die Säfte strömten wieder. Die Titanen waren auf der Flucht zu den Unterwelten, und die Götter kehrten zum Gipfel des großen Mittelberges der Erde zurück, um von dort oben zu herrschen.

Während der Herrschaft des Drachens waren die majestätischen Gebäude der erhabenen Götterstadt zerfallen und zerbröckelt. Indras erste Tat war ihr Wiederaufbau, und alle Gottheiten in den Himmeln priesen ihn als ihren Retter. Stolz in seinem Triumph und im Bewusstsein seiner Stärke rief er Vishvakarman, den Gott der Künste und Handfertigkeiten, vor sich und befahl ihm, einen Palast zu errichten, wie er dem keines gleichen habenden Glanz des Götterkönigs würdig sei.

...und nach Gustave Doré (1865)

Vishvakarmans wunderbarem Genius gelang es in einem einzigen Jahr, eine strahlende Residenz zu errichten, leuchtend von Palästen und Gärten, Seen und Türmen. Aber wie das Werk fortschritt, wurden Indras Wünsche immer anspruchsvoller, und seine Phantasien entfalteten sich zu immer erhabenerer Größe. Er verlangte neue Terrassen und Pavillons, mehr Teiche, Grotten und Schmuckplätze. Immer wenn Indra kam, um Vishvakarmans Arbeit zu loben, entwickelte er Vision über Vision von Wundern, die noch zu vollbringen wären.

Endlich, zur Verzweiflung gebracht, entschloß sich der göttliche Baumeister, Hilfe von oben zu suchen und sich an den Schöpfer der Welt, Brahma, die uranfängliche Verkörperung des Allgeistes, zu wenden, der weit oberhalb der wirrenreichen Sphäre der Olympier voller Ehrgeiz, Wetteifer und Ruhm thront.

Als Vishvakarman heimlich zu dem höheren Göttersitz wandelte und seine Beschwerde vortrug, tröstete Brahma den Bittsteller. »Du sollst bald von Deiner Last erlöst werden«, sagte er, »gehe hin in Frieden.« Vishvakarman eilte wieder abwärts zur Stadt Indras. Brahma aber erhob sich zu einer noch höheren Sphäre und kam vor Vishnu, das höchste Wesen, von dem er, der Schöpfer, selbst nur ein Diener war. In seligem Stillschweigen schenkte ihm Vishnu Gehör und ließ ihn durch ein leichtes Neigen seines Hauptes wissen, daß Vishvakarmans Bitte erfüllt werden würde.

Früh am nächsten Morgen erschien ein Brahmanenknabe, den Pilgerstab in der Hand, am Palast Indras und bat den Pförtner, dem König seinen Besuch anzumelden. Der Torwächter eilte zu seinem Herrn und der Herr zum Tor, um persönlich den glückverheißenden Gast zu begrüßen. Der schlanke Knabe, ungefähr zehn Jahre alt, strahlte vom Glanz der Weisheit. Indra fand ihn inmitten eines Haufens staunender, gebannt blickender Kinder. Der Knabe grüßte seinen Gastgeber mit einem freundlichen Blick aus seinen dunklen, glänzenden Augen; der König verneigte sich vor dem heiligen Kind, das ihn heiter segnete. Beide zogen sich in Indras Halle zurück, wo der Gott seinem Gast mit feierlichen Gaben von Honig, Milch und Früchten den Willkommen bot.

»Verehrungswürdiger Knabe, verkünde mir den Zweck Deines Besuches«, sprach er dann.

Das schöne Kind erwiderte mit einer Stimme, die so tief und sanft war wie das leise Donnern segenverheißender Regenwolken: »König der Götter, ich hörte von dem mächtigen Palast, den Du erbaust, und bin gekommen, Dir die Fragen vorzulegen, die in meinem Gemüt entstanden sind. Wieviele Jahre wird es brauchen, diesen reichen und ausgedehnten Wohnsitz zu vollenden? Welche weiteren Leistungen seiner Kunst werden von Vishvakarman noch verlangt werden? Höchster der Götter«, — im leuchtenden Gesicht des Knaben zeigte sich ein feines, kaum wahrnehmbares Lächeln — »keinem Indra vor Dir ist es je gelungen, solch einen Palast zu vollenden wie Deiner werden soll.«

Berauscht vom Wein des Sieges in seinen Adern fühlte sich der König der Götter belustigt von der Behauptung dieses bloßen Knaben, Indras zu kennen, die früher waren als er selbst, und fragte ihn mit väterlichem Lächeln: »Sag mir, Kind, sind sie denn wirklich so zahlreich, die Indras und Vishvakarmans, die Du gesehen oder von denen Du wenigstens gehört hast?«

Der wunderbare Gast nickte ruhig: »Ja. Viele von ihnen habe ich gesehen.« Die Stimme war so warm und süß wie frische Milch, die eben von der Kuh kommt, aber was sie sagte, sandte einen Schauder durch Indras Adern. »Kindchen«, fuhr der Knabe fort, »ich kannte Deinen Vater, Kashyapa, den alten Schildkrötenmann, den Herrn und Erzeuger aller Kreaturen auf der Erde; und ich kannte Deinen Großvater, Marichi, den Strahl des göttlichen Lichtes, der Brahmas Sohn war. Marichi war aus dem reinen Geist des Gottes Brahma erzeugt; sein einziger Reichtum und Ruhm waren seine Heiligkeit und seine Hingabe. Auch Brahma kenne ich, das Geschöpf Vishnus, entstanden aus dem Lotoskelch, der aus Vishnus Nabel wuchs. Und Vishnu selbst, das höchste Wesen, das Brahma in seinem schöpferischen Walten trägt und stützt, auch ihn kenne ich.

König der Götter, ich habe die furchtbare Zerstörung des Alls miterlebt. Am Ende jedes Kreislaufes habe ich wieder und wieder alles vergehen sehen. In dieser schrecklichen Stunde löst sich jedes Atom in die reinen, jungfräulichen Wasser der Ewigkeit auf, woher ursprünglich alles entstieg. Alles sinkt dann zurück in die unergründliche wilde Unendlichkeit des Ozeans, der leer von jedem Zeichen belebten Seins ist und unter äußerster Dunkelheit begraben liegt. Wer will die Welten zählen, die vorübergegangen sind oder die Schöpfungen, die sich wieder und wieder aus dem formlosen Abgrund der weiten Wasser erhoben haben? Wer will die stets wieder vergehenden Zeitalter der Welt zählen, wie sie endlos aufeinander folgen? Und wer will die weiten Unendlichkeiten des Raums erforschen, um all die Allwelten säuberlich zu zählen, von denen jede ihren Brahma, ihren Vishnu und ihren Shiva besitzt? Wer will all die Indras in ihnen zählen, die alle gleichzeitig in diesen unzählbaren Welten herrschen; jene anderen, die vor ihnen waren, oder selbst die Indras, die einander in ihren Bahnen folgen, jeder zum Götterkönigtum aufsteigend und jeder wieder vergehend? König der Götter, unter Deinen Dienern behaupten manche, es sei möglich, die Sandkörner auf Erden und die Regentropfen, die vom Himmel fallen, zu zählen. Aber niemand wird jemals alle jene Indras aufzählen können. Dieses wissen die Wissenden.

Leben und Herrschaft eines Indras dauern einundsiebzig Äonen, und wenn achtundzwanzig Indras erloschen sind, ist ein Tag und eine Nacht Brahmas vorüber. Aber das Dasein eines Brahma in solchen Brahma-Tagen und -Nächten gemessen, ist nur hundertundacht Jahre lang. Brahma folgt auf Brahma; der eine sinkt, der nächste steigt auf; ihre endlose Reihe faßt kein Bericht. Die Zahl dieser Brahmas ist unendlich — von den Indras ganz zu schweigen.

Und die Allwelten, die in jedem Augenblick entstehen, jede mit ihrem Brahma und ihrem Indra: wer will ihre Zahl ermessen? Jenseits der fernsten Schau, jenseits der äußersten Räume kommen und gehen die Welten, eine unzählbare Schar. Gleich zierlichen Booten schaukeln sie auf den grundlosen reinen Wassern, die den Leib Vishnus bilden. Aus jeder Pore dieses Leibes sprudelt und steigt eine Welt. Willst Du es unternehmen, sie zu zählen? Kannst Du die Götter in all diesen Welten nennen, in den heutigen und denen, die längst vergangen sind?«

Während der Rede des Knaben war ein Zug Ameisen in der Halle erschienen und marschierte in militärischer Ordnung, vier Ellen breit, über den Flur. Als er sie bemerkte, schwieg der Knabe und blickte vor sich hin. Dann lachte er plötzlich überraschend laut, um gleich darauf in ein tief einwärts gerichtetes, gedankenvolles Schweigen zu versinken.

»Warum lachst Du?« stammelte Indra. »Wer bist Du, geheimnisvolles Wesen, das sich täuschend als Knabe verkleidet?« Lippen und Kehle des stolzen Königs waren wie ausgetrocknet, und seine Stimme drohte zu versagen. »Wer bist Du, Meer der Tugend, in trügerischem Nebel verborgen?«

Der herrliche Knabe begann wieder: »Ich lachte wegen der Ameisen. Den Grund darf ich Dir nicht sagen; bitte mich nicht, ihn Dir zu enthüllen. Der Same des Leides und die Frucht der Weisheit sind in diesem Geheimnis eingeschlossen, das wie mit einer Axt den Baum der weltlichen Eitelkeit umstürzt, seine Wurzeln abhackt und seine Krone knickt. Dieses Geheimnis ist ein Licht für die in Unwissenheit Tastenden. Es liegt in der Weisheit der Zeiten verborgen und wird selbst Heiligen selten offenbart. Dieses Geheimnis ist Atemluft für die Asketen, die das sterbliche Dasein aufgeben und überwinden; aber die von Verlangen und Stolz eingelullten Weltlinge zerbricht es.«

Der Knabe lächelte und sank in Schweigen zurück. Indra sah ihn an, unfähig sich zu rühren. »Brahmanensohn«, flehte der König dann mit neuer und sichtbarer Demut, »ich weiß nicht, wer Du bist. Du scheinst mir die mundgewordene Weisheit zu sein. Enthülle mir dieses Geheimnis der Zeiten, dieses Licht, welches das Dunkel vertreibt.«

Aufgefordert ihn zu belehren, öffnete der Knabe dem Gott die verborgene Weisheit: »Ich sah die Ameisen, Indra, in langer Parade vorbeiziehen, und jeder war einst ein Indra. Gleich Dir erhob sich jeder durch das Verdienst frommer Handlungen einstmals zum Rang eines Götterkönigs. Doch nun, durch viele Wiedergeburten hindurch, ist jeder wiederum eine Ameise geworden. Diese Heerschar ist eine Armee von früheren Indras.

Frömmigkeit und edle Handlungen erheben die Bewohner der Welt zu dem strahlenden Land der Götterwohnungen, oder auch zu den höheren Reichen Brahmas und Shivas und zu der höchsten Sphäre Vishnus. Aber häßliche Taten lassen sie wieder in die unteren Welten sinken, in die Gruben von Schmerz und Kummer, in die Wiederverkörperung zwischen Vögeln und Würmern, in Leibern von Schweinen und wilden Tieren oder unter Bäumen und Insekten. Durch seine Handlungen erwirbt einer den Rang eines Königs oder Brahmanen oder eines Gottes oder eines Indra oder eines Brahma. Durch seine Handlungen stürzt man in Krankheit, erwirbt Schönheit oder Häßlichkeit oder wird als Ungeheuer wiedergeboren.

Dies ist das ganze Wesen des Geheimnisses. Diese Weisheit ist die Fähre, die über das Höllenmeer zur Seligkeit führt.

Das Leben im Kreislauf unzähliger Wiedergeburten gleicht einem im Traum geschauten Bild. Die Götter hoch oben, die stummen Bäume und Steine unten sind wie Erscheinungen darin. Aber der Tod verwaltet das Gesetz der Zeit; von ihr eingesetzt ist er der Gott aller Dinge. Wie Seifenblasen vergänglich ist das Gut und Übel der Traumwesen. In endlosen Umläufen wechseln Gut und Übel ab. Darum heftet sich der Weise an nichts, weder an das Üble noch an das Gute. Der Weise ist an überhaupt nichts gefesselt.«

Der Knabe hatte seine schaudererregende Lehre beendet und betrachtete ruhig seinen Gastgeber, den König der Götter, der sich trotz seines himmlischen Glanzes vor sich selbst zur Unbedeutendheit zusammengeschrumpft fühlte. Inzwischen hatte eine andere erstaunliche Gestalt die Halle betreten.

Der Neuankömmling hatte das Aussehen eines Einsiedlers. Sein Kopf war mit verfilztem Haar bedeckt; er trug ein schwarzes Tierfell um seine Hüften; auf seiner Stirn war eine weißes Zeichen gemalt, und sein Haupt wurde durch einen ärmlichen Grasschirm beschattet. Auf seiner Brust wuchs ein wunderliches, kreisförmiges Büschel Haar, das am Rand unberührt erschien, während in der Mitte offenbar viele von den Haaren ausgefallen waren. Der heilige Mann begab sich geradewegs zu Indra und dem Knaben, ließ sich zwischen ihnen auf dem Boden nieder und blieb dort bewegungslos wie ein Felsen. Der königliche Indra, seiner Rolle als Gastgeber eingedenk, verneigte sich in tiefer Ehrfurcht, saure Milch mit Honig und andere Erfrischungen anbietend. Dann erkundigte er sich stockend, doch ehrerbietig nach dem Befinden des ernsten Gastes und hieß ihn willkommen. Da sprach der Knabe den heiligen Mann an, ihm eben die Fragen vorlegend, die Indra im Sinn hatte.

»Woher kommst Du, heiliger Mann? Wie nennst Du Dich und was bringt Dich hierher? Wo ist Deine Heimat und was bedeutet dieser Grasschirm? Was ist der Sinn dieses runden Haarbüschels auf Deiner Brust? Warum ist er dicht am Rand, aber in der Mitte fast kahl? Habe die Güte, heiliger Mann, mir eine kurze Antwort zu geben, denn ich warte angstvoll auf Erleuchtung

Der alte Heilige lächelte gutmütig. »Ich bin ein Brahmane«, erwiderte er langsam. »Mein Name ist ,Der Haarige', und ich bin gekommen, Indra zu sehen. Seitdem ich erkannte, daß mein Leben nur kurz ist, habe ich mich entschlossen, kein Heim zu besitzen, kein Haus zu bauen und weder zu heiraten noch einen Erwerb zu suchen. Ich lebe von Almosen, und um mich vor Sonne und Regen zu schützen, trage ich diesen Grasschirm über meinem Kopf. Was nun den Kreis von Haaren auf meiner Brust betrifft, so ist er eine Quelle des Kummers für die Weltlinge. Dennoch lehrt er Weisheit. Mit jedem Sturz eines Indra fällt ein Haar aus, darum sind in der Mitte alle Haare fort. Wenn die andere Hälfte der Weltzeit vorüber ist, die dem gegenwärtigen Brahma gewährt ist, werde auch ich sterben. Also, Brahmanenknabe, bin ich etwas knapp an Zeit. Was sollte mir da ein Weib, ein Sohn oder ein Haus? Jeder Wimpernschlag des großen Vishnu bezeichnet das Erlöschen eines Brahma, alles unterhalb der Sphäre Brahmas aber ist so unwesenhaft wie eine Wolke, die Form annimmt und sich wieder auflöst. Darum habe ich mich ausschließlich der Betrachtung der unvergleichlichen Lotosfüße des höchsten Vishnu geweiht. Glaube an Vishnu ist mehr als das Entzücken der Erlösung; denn jede Freude, selbst die himmlische, ist so zerbrechlich wie ein Traum und nur geeignet, die Zielstrebigkeit unseres Glaubens an Ihn, den Höchsten, zu stören.

Shiva, der Friede verleihende, der höchste geistige Führer, lehrte mich dieses wunderbare Wissen. Ich giere nicht danach, die verschiedenen Entzückungen der Erlösung zu erfahren: die erhabenen Wohnungen des höchsten Gottes zu teilen und seiner ewigen Gegenwart zu genießen oder in Leib und Erscheinung ihm gleich zu werden oder selbst in seinem unerschöpflichen Kern aufzugehen.«

Unvermittelt schwieg der heilige Mann und verschwand. Es war Gott Shiva selbst gewesen, der nun zu seiner überweltlichen Verborgenheit zurückgekehrt war. Im gleichen Augenblick verschwand auch der Brahmanenknabe, der Vishnu gewesen war. Der König, erschrocken und bestürzt, blieb allein zurück.

Er grübelte; das Vorgefallene erschien ihm wie ein Traum. Aber er fühlte nun kein Verlangen mehr, seinen himmlischen Glanz zu vermehren oder den Bau seines Palastes fortzusetzen. Er rief Vishvakarman herbei, begrüßte ihn gnädig mit honigsüßen Worten und überhäufte ihn mit Juwelen und kostbaren Geschenken. Dann gab er ihm ein prunkvolles Fest und entließ ihn.

Indra verlangte nun nach Erlösung. Er hatte das Wissen erlangt und wünschte nur noch frei zu werden. Den Pomp und die Last seines Amtes vertraute er seinem Sohn an und bereitete sich für ein Einsiedlerleben in der Wildnis vor. Als sie dies bemerkte, wurde seine wunderschöne und liebevolle Gattin Shachi von Kummer überfallen.

Weinend und in äußerster Verzweiflung wandte sich Shachi an Indras klugen Hauspriester und geistlichen Berater, den Herrn magischer Weisheit, Brihaspati. Zu seinen Füßen kniend bat sie ihn, den Sinn ihres Gatten von seinem harten Entschluß abzulenken. Der einfallsreiche Ratgeber der Götter, der mit seinen Sprüchen und Listen den himmlischen Mächten geholfen hatte, die Herrschaft des Alls den Händen ihrer titanischen Rivalen zu entreißen, lauschte nachdenklich der Klage der leidenschaftlichen, trostlosen Gattin und nickte ihr verstehend zu. Mit dem Lächeln des erfahrenen Zauberers nahm er sie dann an der Hand und führte sie vor ihren Gatten. Dann verbreitete er sich in der Rolle des geistlichen Beraters weise über die Vorzüge des geistlichen Lebens, aber auch über die Tugenden des weltlichen, in geschickter Entwicklung des Themas und jedem das Seine gebend. Sein königlicher Schüler wurde überredet, von seinem Entschluß abzulassen, und die Königin erblühte aufs Neue in strahlender Freude.

Dieser Brihasphati, Herr der magischen Weisheit, hatte einst eine Abhandlung über die Kunst der Herrschaft verfaßt, um Indra zu lehren, wie er die Welt zu regieren habe. Nun schrieb er ein zweites Werk, eine Abhandlung über Politik und Strategie der Liebe in der Ehe. Von der süßen Kunst der steten Werbung erzählend und der immer neuen Fesselung des Geliebten mit dauernden Banden, schenkte dieses unvergleichliche Buch dem ehelichen Leben des wiedervereinten Paares die schönsten und unerschütterlichsten Grundlagen.

So schließt die wunderbare Geschichte, wie der König der Götter in seinem grenzenlosen Stolz gedemütigt, von seinem übermäßigen Ehrgeiz geheilt und durch geistliches wie weltliches Wissen zur Erkenntnis der ihm zukommenden Rolle im kreisenden Spiel nie endenden Seins gebracht wurde (Brahmavaivarta Purfna, Krisna-janma Khan¢a, 47. 50-161).

Siehe auch

Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?

  • Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
1.1 Die Parade der Ameisen
1.2 Das Rad der Wiedergeburten
1.3 Die Weisheit des Lebens
Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
2.1 Vishnus Maya
2.2 Die Wasser des Daseins
2.3 Die Wasser des Nichtseins
2.4 Maya in der indischen Kunst
Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
3.1 Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha
3.2 Gottheiten und ihre Träger
3.3 Schlange und Vogel
3.4 Vishnu als Besieger der Schlange
3.5 Der Lotos
3.6 Der Elefant
3.7 Heilige Flüsse
Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
4.1 Fundamentale Gestalt und spielende Manifestationen
4.2 Das Phänomen der expandierenden Gestalt
4.3 Shiva-Shakti
4.4 Der große Oberherr
4.5 Shivas Tanz
4.6 Das Antlitz der Glorie
4.7 Der Zerstörer der drei Städte
Kapitel 5: Die Göttin
5.1 Die Entstehung der Göttin
5.2 Die Juweleninsel

Literatur

Seminare

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