Antlitz
Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993
Indische Mythen und Symbole - Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
Teil 6: Das Antlitz der Glorie
Es war einmal ein großer Titanenkönig, Jalandhara genannt. Durch das Verdienst außerordentlicher Entsagungen hatte er unwiderstehliche Kräfte in sich angehäuft. Mit diesen ausgerüstet hatte er die Götter aller geschaffenen Sphären angegriffen, sie entthront und seine neue Ordnung eingesetzt. Seine demütigende Herrschaft war tyrannisch, verschwenderisch, ohne Rücksicht auf die überlieferten Gesetze des Alls, böse und durch und durch egoistisch. In einem fürchterlichen letzten Übermaß von Stolz sandte Jalandhara einen Botendämon aus, um den höchsten Gott selbst, Shiva, den Schöpfer, Erhalter und Zerstörer der Welt, herauszufordern und zu demütigen.
Der Bote Jalandharas war Rahu, ein Ungeheuer, dessen Aufgabe in der Verfinsterung des Mondes besteht. Der Mond ist ein Repräsentant des lebensgebenden Prinzips. Dieses sanfte Licht der Nacht gießt die kühle Milch aus, in welche sich die Welten der Pflanzen und Tiere erfrischen, nachdem ihre Lebensfluiden am Tag von der verzehrenden Sonne aufgetrocknet sind. Es ist die strahlende Schale, aus der die Götter Amrita, das Unsterblichkeitselixier, trinken. Rahus Beziehung zu dem segenspendenden Himmelskörper entstand in den entferntesten Epochen der Vorzeit, als die Götter und Titanen in den ersten Welttagen das kosmische Milchmeer quirlten, um aus ihm das Amrita zu gewinnen. Rahu naschte ein erstes Schlückchen von der Flüssigkeit, worauf ihn ein Schlag Vishnus sofort enthauptete. Weil aber der Trunk schon durch seinen Mund und durch seinen Hals gegangen war, waren diese unsterblich geworden, während der Körper den Mächten der Verwesung verfiel. Der Kopf, heißhungrig nach einem anderen Schluck, verfolgt seitdem dauernd den Mond, die Schale, in der das Elixier aufbewahrt ist. Wenn er sie erreicht und verschluckt, kommt eine Mondfinsternis. Aber da kein Magen mehr vorhanden ist, es zurückzuhalten, gleitet das Gefäß nur durch Mund und Hals, um sofort wieder zu erscheinen, worauf die Jagd sogleich von neuem beginnt.
Dieser Rahu also war der von Jalandhara zur Demütigung des Höchsten Gottes ausgesandte Dämon. Zu jener Zeit war Shiva gerade im Begriff, sein entrücktes und selbstbetrachtendes Leben aufzugeben, um zu heiraten. Nach einer Epoche der Trennung von ihm war die »Göttin«, seine unsterbliche Shakti, soeben unter Gestalt und Namen Parvatis, der wunderschönen, mondgleichen Tochter des Bergkönigs Himalaya wiedergeboren worden. Schön-gesichtig, mit langgezogenen Lotosaugen, mit schmaler Taille, doch ausladenden Hüften und mit vollkommen runden Brüsten, die sich gegeneinander drängten ( »wie ein schwerbeladener Fruchtbaum war sie vom Gewicht der Zwillingssphären ihrer Brüste niedergebeugt«), hatte die Göttin des Alls sich dieser menschlichen Geburt unterzogen, um sich mit der Person des Gottes, ihres ewigen Gatten, wiederzuvereinen und in die geschaffene Welt einen Sohn zu gebären, Skanda, der bestimmt war, der Gott des Krieges zu werden. Die von dem Boten Rahu überbrachte Herausforderung bestand darin, daß Shiva dieses leuchtende Juwel einer Braut, »die schönste Maid aller Welten«, aufgeben und sie ohne weiteres Getue dem neuen Herrn des Daseins, dem titanischen Tyrannen Jalandhara, überlassen solle.
Vom Standpunkt des brahmanischen Theologen, der diese Erzählung niederschrieb und sie weitergab, scheint diese unverschämte Forderung das Zeichen dämonischer Blindheit und schieren Größenwahns. Wie sollte es auch dem orthodoxen Gläubigen anders erscheinen: weiß er doch, daß, während der dämonische Titan nur eine mächtige Kreatur darstellt, nicht höher im Rang als jene nachgesetzten Gottheiten, die einen Teil von Mayas Gewebe bilden und nur gesonderte Modulationen der Energien des Weltorganismus wiedergeben, Shiva Ishvara ist, »der Herr«, die Personifikation des Absoluten. Vom anderen Gesichtspunkt aus jedoch, und zwar dem, der durch die große Tradition des heroischen Mythos und heroischer Tat sanktioniert ist, erscheint die Forderung Jalandharas, des »Usurpators« (der tatsächlich der zeitweise Herr des Mayabereiches ist), als streng legitim, ja selbst durchaus notwendig und als etwas ganz Selbstverständliches vorauszusehen. Denn was für einen Nutzen brächte die Eroberung des Alls, wenn das Kronjuwel, die Frau, nicht mitgewonnen würde?
Eroberte Städte und Länder werden geplündert, und der geschätzteste Beutegegenstand dabei sind »Frauen und Gold«. Ohne Besitz von den Repräsentantinnen des weiblichen Prinzips in dem eroberten Bereich zu nehmen — dem Prinzip, das die Mutter Erde, die Fruchtbarkeit des eroberten Bodens selbst verkörpert — würde der Sieger sich kaum als solcher fühlen. Er muß sakramental den Schoß des gewonnenen Bodens besamen; erst dieser Akt besiegelt im mythischen Denken die militärische Eroberung. So heiratete, als der letzte der Achämeniden besiegt und Persien von Alexander dem Großen unterworfen war, der junge Eroberer die Gemahlinnen und Töchter des besiegten Königs, während die Großen seines Gefolges und Heeres Töchter des Adels zu Frauen nahmen. Die irdische Noch-Einmal-Darstellung der mythischen Formel bekräftigte den Sieg. Als Ödipus unwissentlich den ältlichen, untüchtigen König von Theben, seinen Vater Lajos, erschlagen und dann die Stadt vom Übel des Sphinxungeheuers befreit hatte, gelangte er durch seine Heirat mit der Königinwitwe Jokaste, die zugleich seine Mutter war, zur Herrschaft. Und dies geschah als etwas ganz Selbstverständliches, sozusagen in Ausführung eines bestehenden Rituals. Da war keine Rede von einer Liebesgeschichte und keine Notwendigkeit für all die leidenschaftlichen oder zarten Verwicklungen, in welche die Freudianer unaufhörlich vernarrt sind. Ödipus würde einfach nicht wirklich Herr über Theben geworden sein, wenn er nicht von dem königlichen Weib, das Boden und Reich personifizierte, vollen Besitz genommen hätte. Genau so konnte Jalandhara nicht der wirkliche Oberherr des Alls sein, ohne »das schönste Weib der drei Welten« (Tripurasundari) erobert, geheiratet und bemeistert zu haben. Ihr, der kosmischen Shakti, der lebenden Verkörperung der Schönheit und ewigen Jugend, Besitz ist das letzte Streben, der höchste Gewinn. Sie ist's, die in dem sich endlos drehenden Streit der Dämonen-Giganten und der Götter um die Weltherrschaft immer wieder begehrt, gewonnen und verloren wird (vgl. in der Edda und bei Richard Wagner den Streit der Götter und Riesen um den Besitz Freyas, der holdesten Maid der Welt, der Blüte der Jugend, der Wächterin der goldenen Lebensäpfel).
Doch die Mythen der Puranas sind uns nur in der Formung durch ein entschieden nach-heroisches, anti-tragisches Zeitalter indischer Religion und Philosophie erhalten. Die Legenden selbst sind von unermeßlichem Alter; bevor sie ihre gegenwärtige Gestalt erhielten, wurden die wunderbaren Abenteuer durch viele Jahrhunderte erzählt und wiedererzählt. Die indische Zivilisation schritt inzwischen durch ungeheure Umformungen: durch heroische Perioden des Feudalismus, Epochen kraftvollen spirituellen Suchens, goldene Zeitalter fürstlichen Mäzenatentums und raffiniertester Artistik, Invasionskatastrophen — die Hunnen, die Krieger des Islams, die Heere des Westens — durch Zerstückelungen und Wiederzusammenfügungen der alterslosen, lebenszähen Urerbschaft des reichen Landes.
Die neueren Epochen, das heißt jene, die uns den Hauptteil unseres Materials übergeben und damit gleichsam als Zensoren und Redakteure der großen Hinterlassenschaft gewirkt haben, sind durch eine fromme und entschieden antiheroische Seelenbeschaffenheit ausgezeichnet. Die alten Geschichten sind von sektiererischen Theologen und zelotischen Verehrern nicht so sehr des »Allgegenwärtigen Unbekannten«, als dieser oder jener göttlichen Personifikation des Absoluten — Vishnus, Shivas, »der Göttin« herausgegeben, kommentiert und revidiert worden. Diese Gläubigen nun waren nicht nur in Sorge um das Prestige ihres Sondergottes, sondern grundsätzlich mißtrauisch gegen die Freuden und Leiden des unwiedergeborenen, weltlichen Menschen. Ihre Versionen der alten Erzählungen verweilen trüb und lang auf der Blindheit und Selbstüberschätzung der von den aktiven und schreckenerregenden Lebenskräften besessenen Dämonen-Tyrannen, die sich in ihrem Kriegerstreben nach »Frauen und Gold« abmühten und scheiterten. Abenteuer, die in der Mythologie und im Drama der Griechen und nordischer Völker als Tragödien aufgefaßt worden wären (und die auch in ihren früheren indischen Formen wenigstens von einem Funken tragischen Mitleids und tragischen Schreckens belebt gewesen sein müssen), erscheinen nun durch diese frommen Hände in sektiererische Mysterienspiele »zur höheren Ehre Gottes«, "ad majorem dei gloriam" verwandelt. Der tragische Held erscheint hier, im kosmischen Maßstab, als der gigantische Dummkopf.
Man erwartet also wenig Sympathie von uns, nur kosmische Geringschätzung, für den welterobernden Dämon-Tyrannen Jalandhara, wenn er seine Ansprüche auf die höchste Trophäe des Daseins vorbringt. Wir sollen diesen Anspruch nicht als Entsprechung unserer eigenen höchsten menschlichen Hoffnungen und Anstrengung erfahren. Im Gegenteil, da wir die Gläubigen, die Kinder und die Wohltatenempfänger Gottes sind, dürfen wir in dem Anspruch des Tyrannen durchaus nur Unverschämtheit, Brutalität und Gotteslästerung — im ganzen eine lächerliche Selbstvergrößerung erblicken. Die nächste Wendung der Geschichte soll uns in dieser gesunden, wenn auch nicht sehr unternehmungslustigen Haltung bestärken. Außerdem empfiehlt sie uns einen mächtigen Talisman oder Kultgegenstand, »Das Antlitz der Glorie« (Kirttimukha), dem göttlicherseits gewährt wurde, alle wahren Gläubigen, unsere Heime und unsere Herzen, gegen die Tyrannenkräfte der gefräßigen Welt zu verteidigen.
In demselben Augenblick noch, als Rahu Jalandharas Verlangen überbrachte, daß die Göttin ihm überliefert und die Shakti des Alls die Hauptkönigin des Tyrannen werden sollte, erwiderte Shiva die kolossale Herausforderung. Zwischen seinen beiden Augenbrauen — »Der Lotos des Befehls« (Ajna Chakra) genannten Stelle, wo der Mittelpunkt der Erleuchtung lokalisiert ist und sich das spirituelle Auge des vorgeschrittenen Sehers öffnet — ließ der Gott einen schrecklichen Ausbruch seiner Macht hervorgehen, welche Explosion sofort die physische Form eines schrecklichen löwenköpfigen Dämonen annahm. Der entsetzenerregende Leib des Ungeheuers war mager und ausgemergelt, einen unersättlichen Hunger ankündigend, aber seine schwingende Stärke offenbar unwiderstehlich. Aus der Erscheinung Kehle brüllte es donnergleich; die Augen brannten wie Feuer; die schüttelnde Mähne dehnte sich weit in den Raum. Rahu stand entsetzt.
Doch Rahu, der Bote, war bewandert in der Technik übernatürlicher Machtpolitik. Als der inkarnierte Zornausbruch einen Satz auf ihn zu machte, antwortete er mit dem einzig möglichen Zug, der ihm übrig blieb: er nahm Zuflucht zu der allbeschützenden Vaterheit und Gnade des Allmächtigen, Shivas selbst. Dies schuf eine neue und sehr schwierige Situation. Denn der Gott befahl sofort dem Ungeheuer, den Flehenden zu verschonen, und der Halblöwe stand mit einem quälenden Hunger, doch ohne passende Nahrung ihn zu befriedigen. Das Geschöpf bat darum den Gott, ihm zur Stillung jenes Dranges irgendeine Beute anzuweisen.
Von den Veden abwärts wird in der indischen Mythologie dieses Kraft-Prinzip beständig wiederholt: wann immer ein Dämon auf Befehl eines Gottes aus dem einen oder anderen Grund gezwungen wird, seine rechtmäßige Beute fahren zu lassen, muß ein Ersatz beigebracht werden. Ein neues Opfer ist anzubieten, um die verschlingende Gewalt des neuen, in die Welt freigesetzten Machtleibes zu besänftigen. Im vorliegenden Fall erwies sich Shiva als der Situation gewachsen. Er schlug vor, daß sich das Ungeheuer vom Fleisch seiner eigenen Füße und Hände ernähren sollte. Sogleich begann diese unwahrscheinliche Inkarnation blinden Verschlingungswillens das nicht weniger unwahrscheinliche Gastmahl. Aber nachdem es nicht nur seine Füsse und Hände, sondern auch seine Arme und Beine verzehrt hatte, war es immer noch nicht imstande, aufzuhören. Die Zähne senkten sich in einen eigenen Bauch, die Brust und den Hals — bis nur das Gesicht übrig blieb.
In dem Ungeheuer war der Zorn des Höchsten Wesens verkörpert, die zerstörende Kraft des Allgottes, Shiva-Rudras (Rudra, »Der Heuler«, »der Brüller«, war der vedische Name Shivas und bezieht sich auf seinen weltvernichtenden Aspekt). In seiner Gestalt als Shiva-Rudra zerstört Shiva periodisch das geschaffene Universum; in jenem Ungeheuer verleiblicht sich die Wut und der Hunger des kosmischen Feuers, das an der Welt Ende alles zu Asche niederlegt und dann selbst vom stürzenden Regen ausgelöscht wird. Darum war das phantastische Schauspiel dem Gott angenehm zu schauen; er befand sich in innerlicher Übereinstimmung damit. »Du bist mein lieber Sohn«, könnte er mit Befriedigung erklärt haben, »an dem ich Wohlgefallen habe.« Er beobachtete schweigend, doch mit höchstem Entzücken, den blut-gerinnenmachenden, alpdruckmäßigen Vorgang, um dann, zufrieden mit der lebhaften Manifestation der selbstverzehrenden Kraft seiner eigenen Substanz, auf das Geschöpf seines Zornes, das seinen eigenen Leib Glied für Glied bis zum Nichts eines bloßen Gesichtes vernichtet hatte, herabzulächeln und gnädig zu erklären: »Antlitz der Glorie« (Kirtti Mukha) sollst du hinfort genannt sein, und ich befehle, daß du für immer über meinen Toren wohnst. Wer auch immer dich zu verehren vergißt, soll niemals meine Gnade gewinnen« (Skanda-Purana, Bd. II, Vishnukanda, Karttikamasa Mahâtmya, Kap. 17).
Kirttimukha war zunächst nur ein besonderes Emblem Shivas selbst und ein charakteristischer Bestandteil der Türstürze an Shivatempeln. Später begann das »Antlitz« dann ohne Unterscheidung auf verschiedenen Teilen von Hinduschreinen als glückverheißendes Symbol zur Abwehr des Übels verwendet zu werden. Gewöhnlich ist es in dekorative Friese eingearbeitet. Kirttimukha erscheint auch in Shivas geflochtener Haarkrone, vermutlich in Übereinstimmung mit einer anderen Version der Legende, wo das Ungeheuer durch Aufnahme in Shivas Locken belohnt wurde. An diesem Platz entwickelte es sich zu einem ornamentalen Endstück für die obere Dekoration von Bildwerken, und gelangte so dazu, auf der höchsten Spitze der Aureole (Prabha Mandala), am sogenannten »Tor des Glanzes« (Prabha Torana) im Rücken der Bildwerke zu figurieren. Immer wiederholt wurde Kirttimukha endlich zu einer Konvention und schließlich mit einem Paar von Seeungeheuern (Makara) kombiniert, die gewöhnlich die gleiche Funktion wie er zu erfüllen haben. Wie das Gorgohaupt in der griechischen Tradition (doch wie wir sahen, mit einem völlig verschiedenen mythischen Hintergrund) dient Kirttimukha zunächst als apotropäische Dämonenmaske, als grausenerregender, furchteinflößender »Wächter der Schwelle«. Der Verehrer dagegen, der orthodoxe Gläubige, grüßt das »Antlitz« mit Vertrauen und Zuversicht. Weiß er doch, daß Kirttimukha ein aktiver Teil von der Substanz der Gottheit selbst ist, ein Zeichen und Werkzeug seines beschützenden und das Böse zerstörenden Zorns.
Vor allem in der Kunst Javas tritt das »Antlitz der Glorie« hervor. Hier figuriert es Seite an Seite mit anderen grotesken und drohenden Geschöpfen aus Shivas Gefolge, Dämonen, die mit Keulen, der primitivsten Waffe und zugleich dem phallischen Symbol, bewaffnet sind, oder Dämonen, die wie ihr Meister Schlangen als Armbänder und anstelle des sogenannten »heiligen Fadens« (der heilige Faden, Upavita, wird von allen höheren Hindukasten getragen. Er ist ein Baumwollfaden aus drei Strähnen, der von der linken Schulter über den Leib zur rechten Hüfte läuft. Er wird dem jungen Menschen zuerst von seinem Guru bei der Zeremonie seiner Initiation angelegt, die gewöhnlich im Alter von acht bis zwölf Jahren stattfindet. - Wie in der Jabala Upanishad erklärt wird, ist der »heilige Faden« das äußere und sichtbare Symbol des Sutratman, des Geistfadens, an dem all die individuellen Existenzen des Alls wie Perlen aufgereiht sind und durch den sie alle untrennbar mit ihrem Ursprung verbunden sind. — AKC.)
Der ursprüngliche Charakter der Javaner, die erst im Mittelalter zum Hinduismus bekehrt wurden, begeistert sich an diesen Figuren, die gleichzeitig furchteinflößend und humorvoll sind. Gottheiten und Bildwerke dieses Genres gestatten eine Art scherzhafter Intimität mit den Mächten der Zerstörung. Sie stellen die »andere Seite«, den zornigen Aspekt (Ghora Murti) der wohlbekannten und geliebten göttlichen Mächte dar. Auf die geeignete Weise günstig gestimmt, helfen diese dämonischen Erscheinungen dem Leben und treiben die Kräfte der Krankheit und des Todes fort.
Diese doppelsinnige und weise Art der Darstellung ist für die ganze Ausdehnung des shivaitischen Pantheons charakteristisch. In seinen Gestalten waltet ein wundervoller, lebenswirklicher Humor. Man betrachte zum Beispiel den beleibten und ungemein volkstümlichen Ganesha, den »Herrn der Scharen«, Shivas und der Höchsten Göttin eleganten Sohn und Anführer von der Gottheit munterem Gefolge. Seine typische Darstellung in Indien (nicht in Java) sieht so aus: In den oberen Winkeln fliegen zwei Vertreter des Gefolges (Gana) und am Piedestal schmiegt sich das Tragtier (Vahana) der Gottheit, die Ratte. Wie die Ratte durch alle Hindernisse hindurch ihren Weg in die Gewißheit des Getreidespeichers nimmt, um dort den Reisvorrat der Dörfler zu verzehren, und wie der Elefant mächtig durch den Dschungel dringt, die in seinem Weg stehende Vegetation niedertretend und ausreißend, so bricht Ganesha, »Der Herr der Hindernisse« (Vighna Ishvara), einen Pfad für den Gläubigen. Am Beginn von Unternehmungen jeder Art wird er zunächst angerufen. In seiner linken Hand trägt er eine Schale, entweder mit Reis gefüllt, von dem er sich nährt, oder mit Juwelen, Perlen und Korallen, mit denen er seine Gläubigen überschüttet. Dickbeleibt und wohlhabend blickend ist er der Gewährer irdischen Wohlstands und Wohlbefindens.
Gesegnet der, der diesen dickbäuchigen, unwiderstehlichen Sohn der Göttin von vorn erblickt, doch wehe jenem, dem die Gottheit den Rücken kehrt. Eine Abbildung zeigt die Rückseite einer javanischen Ganesha-Figur aus dem 13. Jahrhundert n. Chr. Während der glückverheißende, segnende Aspekt (Sundara Murti), der den sich von vorn nähernden Verehrenden begrüßt, voller Humor und behaglichen Wohlwollens ist, besteht die Rückseite der Medaille, die schreckensvoll zerstörende Phase (Ghora Murti), nur jenen bekannt, für die die Wege des Lebens geschlossen sind, aus einem schreckenerregenden, verschlingenden Ungeheuer mit bleckenden Fleischfresserzähnen. Dieses Ungeheuer ist Kirttimukha, »Das Antlitz der Glorie«, dem Heiligen ein Schutz, doch für den Unfrommen ebenso ein Zeichen des Zornes wie für Rahu.
Kirttimukha wird Vanaspati (ursprünglich und eigentlich ein Name Agnis, mit dessen verschlingendem Varunya-Aspekt der Kirttimukhas gleichgesetzt werden kann. — AKC.) genannt, »Herrschergeist der Wälder, Schutzherr der Wildnis, König der Vegetation«. Der Forst enthält alle Arten von Gefahren und Dämonen, Feinden und Krankheiten im Gegensatz zu den Sicherheitszonen von Dorf und Haus, die unter dem Schutz der Haus- und Dorfgötter stehen. Auf javanischen Tempeln ist Kirttimukha ein volkstümliches Ornament. Dort dient er als abschreckendes und beschützendes Symbol. Dieses Ungeheuer wird mit jedem Übel fertig. Wenn das Grundsätzliche, das sich in seiner beredsamen Tat versinnbildlicht, erst einmal vom Geist erfaßt und von den Fähigkeiten der Seele assimiliert ist, vermag es in den tiefsten Finsternissen des Erdendschungels sowohl vor spirituellem wie vor physischem Unglück zu behüten. Kirttimukha vertritt die Gegenwart des Herrn im Augenblick des Unheils; seine Bereitwilligkeit, selbst diejenigen, die seine Feinde waren, in sich aufzunehmen und mit seinem Schutz zu erquicken; das Paradox des im Tode verborgenen Lebens und die Weisheit der Selbsthingabe an den Herrn.
Siehe auch
Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?
- Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
- Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
- Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
- Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
- Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
- Kapitel 5: Die Göttin
Literatur
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