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Version vom 8. November 2013, 09:22 Uhr
Abu Kasems Pantoffeln
Indische Geschichte aus einer Nacherzählung von Heinrich Zimmer aus seinem Buch "Weisheit Indiens. Märchen und Sinnbilder" 1938 im L.C. Wittich Verlag in Darmstadt erschienen. S. 51-71.
Wer kennt die Geschichte von Abu Kasem und seinen Pantoffeln? Diese Pantoffeln waren seinerzeit in Bagdad so bekannt, ja berühmt, wie der große Geschäftemacher und Geizhals selber: Sie galten jedermann als das sinnfällige Zeugnis seines schmutzigen Geizes. Abu Kasem war reich und suchte es umsonst zu verhehlen, aber seiner Pantoffeln hätte sich der Ärmste geschämt, — so waren sie über und über aus Flicken gestückt. Allen Flickschustern Bagdads eine Qual und altbekannte Kundschaft, waren sie im Munde der Bürger sprichwörtlich geworden: Wollte man irgend etwas Törichtes ausdrücken, so zog man sie vergleichsweis heran.
Mit diesen Pantoffeln angetan, die unzertrennlich von seiner Erscheinung waren und wie das Wahrzeichen seines bis zur Knickrigkeit entwickelten Geschäftssinnes, ging Abu Kasem täglich durch den Basar. Einmal tätigte er einen glücklichen Gelegenheitskauf: einen großen Posten Kristallfläschchen, die gerade zu einem Schleuderpreise zu haben waren. Er kombinierte damit die Chance, wenige Tage darauf von einem zugrunde gegangenen Parfümhändler einen großen Posten Rosenöl billigst einzuhandeln. Das gab zusammen ein gutes Geschäft, viel besprochen im Basar, und wäre er nicht Abu Kasem gewesen, er hätte es in üblicher Weise mit ein paar Geschäftsfreunden durch ein kleines Festmahl gefeiert, so aber versetzte ihn die gehobene Stimmung in die Laune, sich selber etwas Gutes anzutun, dass er sich selten vergönnte: Er beschloss ins öffentliche Bad zu gehen, wo er schon länger nicht mehr gewesen war.
Im Vorraum, wo man Kleider und Schuhe zurücklässt, traf er einen Bekannten, der ihm Vorhaltungen machte wegen seiner Pantoffeln, — er legte sie gerade ab, und man konnte sehen, wie unmöglich sie waren. Der Freund redete ihm ernstlich ins Gewissen, sich nicht länger zum Gerede der ganzen Stadt zu machen, ein so glücklicher Geschäftsmann wie er müsse sich endlich ein paar neue leisten. Abu Kasem betrachtete die ihm lieb gewordenen Greuel lange und schweigend, schließlich sagte er: „Ich überlege es mir schon lange, aber sie sind noch nicht so abgenutzt, dass sie mir nicht zum Gebrauche dienen könnten". Damit gingen die beiden, ausgekleidet wie sie waren, in den Baderaum.
Indes Abu Kasem sein seltenes Bad genoß, kam auch der Kadi von Bagdad, ein Bad zu nehmen. Abu Kasem war früher fertig als der mächtige Herr Richter, er ging in den Ankleideraum zurück und zog sich an, — aber wo? ja wo waren seine Pantoffeln? — sie waren verschwunden; an ihrer Stelle, oder beinahe genau an ihrer Stelle, stand ein Paar anderer, wunderschöner, augenscheinlich nagelneuer. Sollten die ein Geschenk, eine kleine Überraschung von sSeiten seines Bekannten sein, der es einfach nicht länger mit ansehen konnte, seinen viel reicheren Freund Abu Kasem in den abgetragenen Dingern einhergehen zu sehen, und sich bei dem Wohlvermögenden durch eine zarte Aufmerksamkeit einschmeicheln wollte? Jedenfalls zog Abu Kasem diese Pantoffeln, die ihm den großen Kummer ersparten, sich neue kaufen zu müssen, unter solchen Erwägungen ohne Gewissensbisse an und verließ das Bad.
Als der Kadi aus dem Bade kam, setzte es eine Szene: nirgends konnten seine Sklaven die Pantoffeln ihres Herren finden, nur ein Paar scheußlichen Flickwerks blieb übrig, das jedermann als die stadtbekannte Fußbekleidung Abu Kasems erkannte. Der Kadi fauchte, ließ Abu Kasem in seiner Wohnung verhaften, er wurde eingesperrt, denn die Gerichtsdiener fanden wirklich die Pantoffeln des Kadi bei ihm. Es kostete den Geizigen eine gute Stange Geld, sich aus den Klauen der Justiz loszukaufen, da er für mindestens so reich galt, wie er geizig war. Man machte ihm einen entsprechenden Preis, — aber dafür bekam er auch seine lieben alten Pantoffeln wieder.
Gramgebeugt warf er, in seine Wohnung heimgekehrt, die Unglückspantoffeln, die lange zärtlich gehegten, in einer Wallung tiefen Unmuts aus dem Fenster: Sie flogen in den Tigris, der schlammig unter seinem Hause hinzog. Ein paar Tage später meinten Fischer einen ganz besonders pfundigen Fisch im Flusse gefangen zu haben, aber es waren bloß die Flickenpantoffeln des alten Geizkragens, deren Nägelbeschlag — eine ökonomische Nuance Abu Kasems — ihnen Löcher ins Netz gerissen hatte. Wütend schleuderten sie die schlammbedeckten, wasserschweren Dinger durch ein Fenster, das gerade offenstand, ihm ins Haus zurück. Sie segelten durch die Luft und landeten mit voller Wucht auf einem Tisch, der reihenweis jene billig erworbenen, wertvollen Kristallflakons trug, — wertvoller noch durch das köstliche Rosenöl, mit dem Abu Kasem sie inzwischen verkaufsfertig gefüllt hatte. Sie fegten die ganze Herrlichkeit zu Boden, da lag sie: ein triefender Haufen Scherben vermengt mit Schlamm.
Der Erzähler, bei dem wir Abu Kasems Geschichte lesen, verzichtet darauf, seinen Kummer zu malen. „Elende Pantoffeln", rief der Ärmste aus, „ihr sollt mir keinen Schaden mehr zufügen." Sprach's, nahm einen Spaten, begab sich still und geschwind in seinen Garten und grub ein Loch, um die Unglücksdinger darin zu versenken. Aber diese Anstalten zu ihrem stillen Begräbnis bemerkte Abu Kasems Nachbar, den alles, was der reiche Mann nebenan tat, natürlich maßlos interessierte und der — wie Nachbarn leicht sind — keinen Grund hatte, ihm wohlzuwollen. Der Geizhals, der Diener genug hat, gräbt höchst persönlich und heimlich in seinem Garten, er gräbt ein Loch. Er gräbt einen Schatz aus, das ist klar! Der Nachbar lief zum Statthalter und zeigte Abu Kasem an; was ein Schatzgräber findet, gehört doch dem Kalifen; die Erde und was sie birgt, ist Eigentum des Beherrschers der Gläubigen. Abu Kasem wird vor den Statthalter zitiert, seine Erklärung, er habe die Erde nur aufgegraben, um ein Paar alte Pantoffeln darin zu verscharren, erregt Gelächter, — hat man je einen Verdächtigen sich alberner verantworten hören? Je mehr er sich auf seine Angaben versteift, desto unglaubwürdiger, strafbarer wird er. Der Statthalter rechnete schon mit dem Schatz, und der niedergedonnerte Abu Kasem erhielt seine Freiheit nur für schweres Geld.
Er war verzweifelt, er wünschte die Unglückspantoffeln zu allen Teufeln, — aber wie sollte er sie loswerden? Fort mit ihnen aus der Stadt! Er pilgerte hinaus und versenkte sie schließlich weit weg in einem Teich; als sie in seinem stillen Spiegel versanken, atmete er auf, sie glücklich los zu sein. Aber hatte der Teufel die Hand im Spiel? — der Teich war ein Staubecken, das die Wasserleitung der Stadt speiste, die Pantoffeln gerieten in das Zuleitungsrohr und verstopften es. Die Brunnenwärter rückten an, den Schaden zu beheben, sie fanden die Pantoffeln und — wer kannte sie nicht ? — zeigten Abu Kasem beim Statthalter wegen Verunreinigung der öffentlichen Leitungen an. Schon saß er wieder im Loch und wurde zu einer Geldbuße verurteilt, die noch empfindlicher war als die beiden früheren Male. Was blieb ihm übrig? Er zahlte sie und kam frei, — dafür bekam er auch seine lieben alten Pantoffeln wieder, denn der Fiskus bereichert sich nicht.
Das Maß war voll; diesmal wollte er ihnen ein Ende bereiten, dass sie ihm keine Streiche mehr spielen sollten. Er beschloss, sie zu verbrennen. Aber sie waren noch nass, daher legte er sie oben auf den Altan seines Hauses, die Sonne sollte sie trocknen. Ein Hund auf dem Altan des Nachbarhauses sah die komischen Dinger liegen, sie interessierten ihn, er sprang herüber und schnappte sich einen Pantoffel. Aber wie er mit ihm spielte, ließ er ihn fallen -- vom Altan auf die Straße. Das unselige Ding sauste aus beträchtlicher Höhe herunter und schlug geradewegs einer [Frau] auf den Kopf. Es war eine Schwangere, die ausgerechnet in diesem Augenblick unter Abu Kasems Hause vorüberging. Der jähe Schreck und die Wucht des Aufpralls bewirkten bei der Armen eine Fehlgeburt, ihr Mann lief zum Kadi und klagte den Reichen auf Schmerzensgeld und Schadenersatz. Abu Kasem war schier von Sinnen, aber er zahlte.
Ehe er aber aus dem Gericht nach Hause wankte, ein völlig gebrochener Mann, hob er die Unglückspantoffeln in beiden Händen beschwörend empor und sagte mit einer Heftigkeit, über die der Kadi einen Lachanfall bekam: „O Herr, dies ist der verhängnisvollste Gegenstand aller meiner Leiden, diese verfluchten Pantoffeln haben mich an den Bettelstab gebracht; geruhe zu befehlen, dass man mich nicht mehr für das Unheil verantwortlich macht, das sie ohne Zweifel noch anrichten werden!" — Der orientalische Erzähler schließt seine merkwürdige Geschichte mit den Worten: Der Richter konnte ihm seine Bitte nicht abschlagen, und Abu Kasem hatte unter großen Kosten das Übel kennengelernt, das daraus erwächst, wenn man nicht oft genug seine Pantoffeln wechselt.
Ist das die ganze Nutzanwendung, der ganze Ernst der komischen Geschichte? — eine triviale Belehrung: sich nicht vom Geiz versklaven zu lassen —, was enträtselt sie an dem sinnvollen Spiele des Zufalls, das die teuren Pantoffeln immer wieder ihrem Herrn zurückbringt? Der Witz der grotesken Geschichte liegt doch in den tückischen Wiederholungen des Gleichen und wie sie sich steigern, liegt in dem Element, das man die „Tücke des Objekts" genannt hat, und in dem unheimlichen Zusammenspiel eines dämonisch gewordenen Dinges mit der schrulligen Anlage seines Besitzers, die das Ding verhext hat, liegt weiter in der beziehungsvollen Verflechtung von Zufallsspielern in diesen Konflikt: Nachbarn, Hunde und Behörden und Einrichtungen aller Art, Bad und Wasserleitung, helfen ihrerseits Gelegenheit machen und Verhängnis knüpfen. Die Nutzanwendung spricht nur von einem bestraften Geizhals, von einem Laster, das dem Lasterhaften zum Verhängnis wird: ein Beispiel, wie einer sich selbst mit seinem Lieblingshange bestraft. Aber ein solches Exempel brauchte bei allem Aufwand von Erzählungskunst lange nicht so witzig zu sein, so hintergründig gescheit, wie diese Geschichte; Moral ist ohne Geheimnis, aber Abu Kasems Beziehung zu seinen Pantoffeln und was er mit ihnen erlebt ist eine eher mysteriöse Begebenheit, schicksalsvoll dunkel und sinnreich wie der Ring des Polykrates.
Eine Kette tückischer Zufälle, — aber sie bilden miteinander eigentümlich Figur, es lässt sich davon erzählen und die Geschichte vergisst sich nicht; dieses Vexierspiel mit den Pantoffeln, die einer um keinen Preis loswerden kann, und die ihn ein Vielfaches kosten von dem, was sie Wert sind — wert sind sie nichts und kosten ihn sein Vermögen, dieses Thema mit Variationen bildet eine Hieroglyphe, ein Sinnzeichen für vielerlei.
Aus lauter Zufällen häkelt sich ein Verhängnis: eben indem der Betroffene ihm ein Ende setzen will, wird der Schneeball zur Lawine, die ihn schließlich fast begräbt. Eine Kette von Zufällen: Ein Schelm verstellt die Pantoffeln, wohl um sich am Schreck des Geizigen zu weiden; ein Zufall bringt die Pantoffeln gerade unter dem Hause wieder ans Licht, aus dem sie in den Fluss flogen; ein Zufall wirft sie gerade in die kostbaren Flakons, ein Zufall lenkt den Blick des Nachbarn auf Abu Kasems Geschäftigkeit im Garten, ein Zufall treibt die Pantoffeln in die Leitung, ein Zufall schickt den Hund auf den benachbarten Altan, schickt die schwangere Frau unten vorüber und schickt ihr den Pantoffel gerade auf den Kopf. Aber was macht den Zufall folgenschwer?
Immer gehen schwangere Frauen unter Häusern eine Straße entlang, immer schnappen fremde Hunde nach fremden Dingen, immer läuft Wasser durch die Leitungen und verstopft sie dann und wann; verstellte Überschuhe, vertauschte Regenschirme, dergleichen ereignet sich alle Tage, ohne dass eine sinnvolle Geschichte daraus zusammenwächst. Das alles ist nur eine Handvoll Zufälligkeiten unter tausenden, die an ihre Stelle treten könnten und wirklich in Wolken von Myriaden wie stäubender Samen die Luft erfüllen, ihre Keime bilden eigentlich die Atmosphäre alles Lebens und Geschehens. Was einer aus dieser Unsumme herumwirbelnder Atome barer Möglichkeiten zu Ereignissen jeden Ranges auf sich bezieht, dem erlaubt er, mit seinem eigenen Wesen Figur zu bilden. Es genügt, dass er es in einem Zusammenhang mit seinen Zielen und Wünschen, Befürchtungen und Gedankengespinsten sieht, — da wirkt es ja da ist es schon ein Stück seines Schicksals. Indem er davon gelten lässt, es ginge ihn etwas an, geht es ihn schon an; dass er es als ihn betreffend empfindet, macht sein Betroffenwerden.
Darin liegt die Möglichkeit einer hohen, freilich fernen Freiheit: wieweit es einem gelänge, von seinen Affekten und Vorstellungen frei zu kommen und also von sich selber als Kreatur und Geist frei zu werden. Das wäre Freiheit von dem, was Zufall scheinen kann, aber oft zu sinnvoll, ein andermal mindestens zu beziehungsreich witzig wirkt, um diesen matten Namen zu verdienen, — ein Freisein von dem naturhaften Zwange, jeweils eine charakteristische Auswahl treffen zu müssen aus dem Atomwirbel barer Möglichkeiten von Ereignis zu etwas, das einen angeht als Schicksalsmöglichkeit und einen mindestens innerlich betrifft.
Als Ganzes ist, was so zustande kommt, die Spiegelwelt außen, die äußere Maya-Wirklichkeit zu einer inneren Ganzheit, die alle dem außen erlaubt, unwillkürlich mit sich Figur zu bilden. Zwei Spiegelwelten, einander gegenüber schwebend, und der Mensch mittendrinnen zwischen der Maya seiner äußeren Welt und einer inneren Überwelt, die ihn trägt und mit ihm spielt. Wie zwei „Magdeburger Halbkugeln", zwischen denen die Luft herausgepumpt ist, sich mit ihren Rändern aneinandersaugen, und viele Pferdekräfte können die beiden nicht voneinander lösen, so sind diese beiden Sphären „Innen" und Außen" aneinandergeschlossen und Punkt um Punkt aufeinanderbezogen. Was sich als äußere Bindung, Neigung, Widerwille, geistiges Interesse, — ist Widerstrahl einer Kräftespannung innen, die wir nicht leicht gewahren, weil wir sie selbst in unserem Innern sind, ganz unwillkürlich; auch außen greifen wir sie schwer, selbst wenn sie uns manchmal so dinghaft greifbar anspringt, wie Abu Kasem seine Pantoffeln.
Er hat an ihnen so zäh und verbissen geschustert wie an seinem Glück und Geschäft, er hängt an ihrer Bettelhaftigkeit wie an seinem Reichtum, sie sind die verhehlende Fratze seines Wohlstandes, dessen zweites Gesicht. Wie wären sie ohne diese geheime Bedeutung so buntscheckig, in ihrer Einzigkeit stadtbekannt, in ihrem Hintersinn sprichwörtlich geworden und in Abu Kasems Liebe zu hohen Jahren gelangt? Wie sie für die Leute den ganzen Kerl mit seinem Geiz bezeichnen, stellen sie ihm selber unbewusst seine höchste, bewusst gepflegte Tugend greifbar dar: den Geiz. Abu Kasem hat nicht Geiz, aber der Geiz hat ihn, er ist ein selbstständig gewordenes Stück an ihm, das ihn in seinem Banne hält. Bezeichnend, dass Abu Kasem mit seinen Pantoffeln alles selber tun muss, nichts einem Diener überlassen kann. Er mag sich von diesen Dingen nicht trennen, sie sind sein Fetisch, durchtränkt mit seiner Dämonie, sie haben die Leidenschaft seines Lebens in sich gezogen, von diesem Geheimnis an ihnen kommt er nicht los : noch im Vernichten geht er leidenschaftlich mit ihnen um; es ist etwas von der Lust des Mörders aus Liebe an seiner Zweieinsamkeit mit den beiden Opfern.
Und diese Leidenschaft ist gegenseitig, das ist der Witz der Geschichte, dass diese zwei Pantoffeln wie zwei abgeschaffte Hunde, die in langer Lebensgemeinschaft ein Teil ihres Herrn geworden sind, immer wieder zu ihm zurückfinden. Er tut sie von sich ab, sie werden selbstständig, aber nur um zu ihm heimzukehren; mit ihrer Treue entwickeln sie eine unschuldsvolle Tücke, ihre gekränkte Liebe rächt sich anscheinend für den Verrat, dass Abu Kasem sich in Unmut von den Sinnbildern seiner Leidenschaft scheiden wollte.
Wie immer man es ansieht, — die Dinge spielen mit; allmählich und unwillkürlich von uns mit unseren Spannungen geladen, werden sie endlich magnetisch, bilden Kraftfelder, die uns selbst magnetisieren.
Abu Kasem sieht nicht den Zug, der ihn beherrscht, lässt es nicht gelten, dass dessen sinnfällige Konkretion ihn lächerlich, ja sprichwörtlich macht, er ist seinem Geiz zu nah, um ihn zu gewahren; nur bei anderen kann er sein Schattenbild und Negativ bemerken und nennt es geringeren Geschäftssinn, Leichtfertigkeit, Verschwenden und albernen Aufwand. Was ist die Wirklichkeit für jeden? Wie kommt sie zustande?
Jemand blickt aus dem Fenster auf Bäume, in ein blätterloses Grau von Zweigen, da bildet sich im Astgewirr ein Kopf, ein eigentümliches Gesicht mittendrinnen zwischen Mensch und Tier, narbig vielleicht, mit breitgezogenem Mund und querem Blick. Es schaut einen an und ist leicht wiederzufinden. Anderen Tages aber, in einem andern Licht, ist es verschwunden, dafür taucht vielleicht anderwärts ein anderes auf im Netzwerk des Gezweiges. Das Draußen, die Welt und was sich begibt, sind solch ein Ineinander von Lineament, ungewollt, ungesucht steigen uns Figuren und Gesichter daraus entgegen, und wir müssen sie annehmen, wie wir sie selbst aus dem in sich beziehungslosen Gewirr als ein in sich Bezogenes herausheben und auf uns beziehen. Wir haben diese Gesichter nicht schon irgendwo gesehen, aber dergleichen ist uns irgendwoher bekannt; sie steigen ungewollt aus uns auf und legen sich zwanglos auf ein formloses Gewirr, das bereitsteht. Sie gliedern ein Stück davon. Es kommt darauf an, wie das Licht fällt, ob wir dieselben Gesichter wiederfinden oder nichts an ihrer Stelle. Wir blicken in die Welt, Licht fällt darüber, und sie konstelliert sich unserem Auge zu Gesichtern und Figuren wie der Streusand des Weltraums zu sprechenden Sternbildern.
Die Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts hat (mit Hume und Kant) den Anteil des Erkennenden am Bilde der erkannten Welt herausgearbeitet: den Anteil der Erkenntnisfunktionen an ihrem schließlichen Gegenstand. Danach kam die romantische Philosophie, sie versuchte den Anteil des Ich an seiner Welt über den theoretischen Raum der Erkenntniskritik hinaus zu ergründen, da schlug der Rationalismus um in Metaphysik, — ungewollt war das ein Gang ins Jenseits vom Bewusstsein, ein Versuch das Unbewusste zu erfassen. Zeitgemäß gab er sich als rationale Spekulation, als ein mythisch vernünftelndes Gemunkel über das Ich oder das Absolute, über Wille und Weltgrund. Er hätte nur zur Erkenntnis seines eigenen Treibens zu kommen brauchen, um in seinen metaphysischen Formeln Keime einer Psychologie zu finden, die sich anschickt, die Erbschaft der philosophischen Grundprobleme menschlichen Daseins anzutreten, nachdem die Metaphysik als substanzielle Lehre davon entschlafen war. Davon blieb nur ein Sternregen übrig, eine Saat, die unterm wissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts zunächst vergraben wurde, aber sie barg einen Auftrag an die Zukunft.
Mit Abu Kasems Pantoffeln tritt man unwillkürlich vor eine der umfassendsten Fragen menschlichen Lebens, die Indien mit Begriffen wie „Karman" und „Maya" ins Auge gefasst hat, — Indien, dessen Philosophie in ihren originalsten Stücken aus einer weitgetriebenen Erfahrung des inneren Jenseits des Über-Ich oder Unbewussten schöpft.
Im Traume baut sich der innere Kräfteschoß jenseits der gewollten Person eine unwillkürliche Spiegelwelt seiner selbst in mayahafter Wirklichkeit: aus dem inneren Vorrat möglicher Bilder und Zeichen gestaltet er sich in dichterischer Erleuchtung die beziehungsreiche Figur eines ihm aktuellen inneren Spieles. In diesem Spiegelbild des Traumes findet dieser Kräftering sich wieder, — reiner vielleicht und sprechender, aber nicht eigentlich anders als wie in dem anekdotischen sinnvollen Verlauf, den er im äußeren Tageslicht aus dem Vorrat wirbelnder Atome bloßer Ereigniskeime zur ausgewachsenen Figur des aktuellen Lebenslaufes formt.
Im Traume ging einer durch die Landschaft und trug ein kostbares Gefäß in der Hand, ein eigentümliches Stück, — mehr seltsam vielleicht als kostbar, und wertvoll war es ihm vielleicht vor allem, weil er kein arideres Gefäß zur Hand hatte auf seinem Gange nach dem Wasser. Es war aus schlichtem braunem Ton, der eigentliche Krug, nicht sehr groß im Verhältnis zum Ganzen, hing in tönernen Stäben, die einander begegnend eine Art Käfig rings um ihn bildeten. Ein kunstvolles Ding, eher künstlich als praktisch und recht zerbrechlich, darum hielt der es behutsam mit angewinkeltem Ellbogen in der Rechten und gab acht, auf seinem Pfad, der über hügeliges Land ging, nicht zu stolpern. Wie er mit diesem seltsamen Ding Wasser schöpfen wollte, ob sein sperriges Gestänge sich überhaupt in eine Quelle tauchen ließ oder sein Mund einem Wasserstrahl nahe kommen könnte, schien ihn nicht zu bekümmern.
Augenscheinlich war er auf dem Weg nach dem Wasser des Lebens, aber er wurde abgelenkt: eine Frau begegnete ihm, die war ihm vertraut wie die selbstverständliche Erfüllung seiner Träume. Zwei kleine Hunde umspielten ihre Füße in verbuhlten Neckereien, sie haschten und kosten sich, eben tollten sie ganz nahe, bald jagten sie sich kreuz und quer in die wellige Weite. Unwillkürlich folgten die beiden Menschen ihrem aufgeregten Spiel, verließen den Weg, an dem sie einander begegnet waren, und zogen zusammen querfeldein über grasig hellgraues Hügelland. Aber wie Irr- und Abwege gern zu unverhofften Zielen führen, lag es unversehens vor ihnen: das Wasser — eine prächtig tobende, breite Ache, wie sie aus Bergseen zu Tal fährt, schoss es gefährlich und donnernd vor ihnen dahin. Das war kein Quell, daraus Wasser zu schöpfen, es war der Strom des Lebens, auf dem es zu fahren galt.
Man sah auch Männer, die waren beschäftigt, ihr Schifflein flott zu machen und sich dem schäumenden Tobel zu schneller Talfahrt anheimzugeben. Aber sie waren am anderen Ufer. Sie hatten Kähne mit flachem Boden, wie man sie im Gebirge auf den Seen gebraucht, um zu überholen, eine Ladung Heu oder Holz oder ein Stück Vieh zu führen. Die Männer verstanden sich auf das schwierige Wasser, aber seltsam war, was sie taten: Sie hatten ihre Boote umgekehrt, mit dem flachen Kiel nach oben, und indem sie das Haltetau vom Ufer lösten, um auf diesen Schilden talwärts zu gleiten, legten sie sich flach auf den flachen Kiel, packten sie den Bordrand am oberen Ende mit der Rechten und, flach geschmiegt an die flache Wölbung des Bodens, glitten sie furchtlos, steuerlos auf den umgekehrten Booten dahin und entglitten dem Blickfeld.
Bald war der letzte davon, das Ufer drüben lag leer; indes hatte der Wanderer einen Kahn — er schien für ihn bestimmt — bei sich am Ufer gewahrt. Er lag vertäut im überhängenden Gebüsch, und es war eine vertrackte Aufgabe — kaum lösbar —, sein Haltetau aus dem Astwerk zu befreien. Überdies lag er, wie Kähne gewöhnlich, den Kiel nach unten, den Hohlraum nach oben. Aber das galt hier augenscheinlich nicht, das war die falsche unpraktische Art, mit der man kentern und ertrinken musste; hier konnte man nur verkehrt, kieloben und ohne Fracht, von freiwilliger Leere getragen, furchtlos von den schießenden Wassern bespült, die gleitende Fahrt zu Tale wagen.
Wie aber sollte einer allein, auch wenn er den Kahn vom Astwerk freibekommen hatte, das flache schwere Ding umwenden mit seinen zwei Armen? In diesem Gedanken blickte der Mann sich unmutig und wie Beistand suchend um und sah die Frau, mit der er gekommen war, und sah, wie sie in stiller selbstverliebter Besessenheit in einem primitiven Tanze sich um sich selber drehte. „Sie könnte schon einmal damit aufhören", wallte es in ihm auf, „mit ihren lasziven Gebärden" — aber sogleich durchfuhr es ihn: „Sie würde ja gern und gleich damit aufhören, wenn du selbst nur mit deinem Kahne fertig wärest, dass ihr beide auf ihm zu Tale gleiten könntet".
Wer den Gleicher kreuzt, sieht den letzten Stern versinken, der seine Fahrt unter dem Himmel, der ihm vertraut ist, leiten konnte. Wer auf die andere Hemisphäre seines Lebens hinübergleitet, muss neue Zeichen am fremden Himmel suchen, die ihn leiten; neue Lebensphasen stehen unter immer anderen Sternhimmeln. Dem Träumer ist der eitle Krug, mit dem er das Wasser des Lebens schöpfen ging, unversehens entschwunden, denn auch das Wasser ist, indes er nach ihm ging, unversehens ein anderes geworden: Es gilt auf ihm zu fahren, und es ist Gefahr. Die Frau, die wie ein Traumbild ihm begegnete und wie Erfüllung mit ihm zog, kann ihm noch nicht helfen angesichts des reißenden Elements und der Aufgabe, die es ihm stellt; die selbstverliebte Lust, die ihre Füße spielend umsprang, hat sie weglos über Land geführt, wissend und glückhaft querfeldein auf dem kürzesten Wege, — aber jetzt ist ihr Spiel geschwunden: Es hat sich gewandelt in dumpfe Selbstbesessenheit, es erweist sich als ein rauschhafter Bann, den es zu lösen gälte, um mit vereinter Kraft das Lebensschiff in jene paradoxe aber überzeugende neue Lage zu wenden. Der Bann wäre gebrochen, gelänge es das Schiff umzuwenden, das Schiff wäre leicht umgedreht, wäre der Bann behoben: In dieser Ausweglosigkeit liegt der Sinn der Situation, — es müsste ein Wunder geschehen.
Wie war die Lehre aus Abu Kasems Schicksal? Man soll darauf bedacht sein, im Laufe seines Lebens die Pantoffeln zu wechseln, — das Boot will umgedreht sein. Man geht nicht in denselben Pantoffeln den Berg des Lebens hinauf und hinab. Die erwachende Liebe lebt vom Geheimnis, das durchdrungen sein will, vom reizenden Befremden; sie entzündet sich an Wißbegier, wie eigentlich der Andere sei; sie will den Anderen ganz sehen, ihn nackt haben, will wissen, wie er bei sich selber innen ist, wo der Blick der Welt nicht hindringt. Sie will in sein Geheimstes dringen und es mit ihm teilen, wie keiner sonst. Dass soviel dunkel an ihm ist und immer überraschend neu, macht seinen Reiz erst reizend, darum ist er der Fremde, der Wanderer im Mantelschwunge, der Gott aus der Wolke. Aber die aufgeblühte Liebe, die Frucht ansetzt, ist voll Wissen statt Neugier. Alles ist ihr voll schöner Selbstverständlichkeit, statt voll Spannung; sie hat an allem teil und badet sich im Licht, das keine Wolkenhülle übriglässt. In der beglückten Vertraulichkeit mit der völligen Alltagsprosa, den kleinen ungöttlichen Zügen am zauberhaften Partner, dass sein Zauberhaftes nicht ohne dieses andere denkbar ist und es übergoldet, verwandelt, darin liegt die Wirklichkeit der ausgereiften Liebe. Sie liebt auch das Komische am Anderen, es stört nicht mehr.
Aber mancher kann die Pantoffeln nicht wechseln; die Dämonie der erwachenden Liebe, des Rausches der Begegnung verzaubert ihn: Er muss der Erweckende bleiben, der immer Fremde, Unerkannte, Schweifende. So verhext er sich selbst. Er will die entstehende Vertrautheit nicht wahrhaben, will nicht aus der Wolke zur Erde herab, in Haus und Alltag, Frucht geben, Frucht tragen; er hüllt sich in seinen Mantelschwung und wird ein Schauspieler seines dämonischen Augenblicks, ein Opfer der faszinierenden Romantik, immer der Fremde zu bleiben, er wird ein Gespenst der Gebärde, die zum Wachstum der Liebe notwendig war, aber die erwachsene Liebe stört. Er bringt sich um die Früchte der Epoche, in die er eintreten sollte, versäumt die Stunde, die längst geschlagen hat; ihn schaudert vor dem ständigen Zwischentode, der Schwelle hinter Schwelle Räume des Lebens auftut und das Geheimnis seiner Lebendigkeit ist. Er will das bezaubernde Requisit — den Mantel, die Wolke — nicht fahren lassen in den natürlichen Verwandlungen des Lebens, das lautlos seine Szenerie verändert, will sich nicht gleiten lassen in das Gleitende, — er geizt mit sich.
Abu Kasem geizt, — der Geizhals mit seinen Pantoffeln ist das Sinnbild des Menschen, der sich festhalten möchte, wie er sich geschaffen hat: Stück um Stück, Flicken um Flicken. In diesen Pantoffeln hat er seinen Lebensweg gemacht, sie sind ihm selbstverständlich, unentbehrlich, aber es käme eben darauf an, sie zu wechseln, wie die Vögel ihr Federkleid mausern. Die Lebensleistung und soziale Person eines Menschen, die aufgewölbte, patinierte Maske um den inneren Kern, — das sind Abu Kasems Pantoffeln. Sie sind das Eigenste der bewussten Person, dazu die greifbaren Triebe aus dem Unbewussten, der Inbegriff des Gewollten und Gekonnten, wofür man vor sich und anderen herumläuft und Figur geworden ist, die achtbare Lebenssumme, um die man sich gemüht hat. All das hat einen weit gebracht, aber eben damit hat es mehr Gewalt über einen gewonnen, als einer ahnen mag. Auf einmal spielen diese Dinge mit ihm, — tückisch, so meint er, — aber spielt er nicht mit sich selbst? Ein Innen, das ein Außen ward, spielt mit ihm. „So unten wie oben", sagt der hermetische Spruch der smaragdenen Tafel, aber die kosmischen Räume sind seelisch-symbolisch. Befremdend narrt ihn außen, was er innen nicht gewahrte, weil er darin so ganz befangen war. Es ist die Folge verpaßter Mauserung, dass er sich mit dem herumschlagen muss, was er nicht auf die rechte natürliche Weise loswerden mochte: in Zwischenherbsten, Zwischentoden, mit denen sich die Raupe einspinnt, um einem ihr unfasslichen Leben als Flügelwesen entgegenzuwerden.
Anderwärts gibt es sakramentale Formen, den alten Adam auszuziehen: einen gründlichen Abbruch der bestehenden Form, die den Träger verzaubert „verweile doch!" — mit einem völligen Kostümwechsel, der einen neuen wegweisenden Zauber auf ihn legt. Indien hat, mindestens als Idealschema, die vier geheiligten Lebensalter des Lernenden, des Haushalters, des Waldeinsiedlers und des Pilgers; nach Kleidung und Unterhalt, Requisit und Pflichten sind sie einander entgegengesetzt. Der Lernende — Knabe und Jüngling — lebt keusch und unterwürfig in der Gewalt des Lehrers und bettelt seine Nahrung, dann, sakramental ohne Übergang in den eigenen Haushalt gesetzt, hat er ein Weib und die Pflicht, Söhne zu zeugen; er arbeitet und erwirbt, befiehlt und teilt Nahrung aus. Als Waldeinsiedel lebt er danach von Wildwuchs, ohne Arbeit und häusliche Pflichten, nach innen gewandt wie einst nach außen in Familie, Dorf und Gilde. Als Pilger löst er sich schließlich von jeder Behausung, heimatlos bettelt er wieder seinen Unterhalt, wie einst der lernende Knabe, und soll jetzt ein Wissen-Gebender sein, wie einst ein Wissen-Empfangender. Aber nichts was er besaß an Menschen und Dingen ist ihm geblieben, es ging ihm nur wie auf Zeit geliehen durch die Hände.
Magisch gebundene Kulturen, wie Indien, helfen ihren Kindern zu den notwendigen Verwandlungen, die aus sich zu vollziehen den Menschen schwer fällt, mit unbezweifelten Sakramenten. Beleihung mit Kleid und Gerät, ein Siegelring, ein Kronreif schaffen wirklich eine neue höhere Person; Umstellung der Nahrung, ein völlig verändertes Zeremoniell der Umwelt geben dies und verbieten jenes an Tun und Fühlen, wie ein Befehl in Hypnose erteilt. In diesen Kulturen sind alle Möglichkeiten des Seelischen zu etwas sinnlich Greifbarem ausgeformt: als Gestalten der Götter- und Dämonenwelt, als Bildzeichen und symbolische Räume, daneben als Sakramente, die einen verwandeln, als Rituale, die Beziehungen zu neuen Größen stiften und in andere Seelenlagen hinüberführen, als vorgezeichnete Wege, die man einzuschlagen hat. Eine lückenlose Spiegelwelt sakraler Greifbarkeiten fängt die Ausstrahlungen der Seelentiefe auf, macht sie als ein Äußeres greifbar, das sich behandeln lässt, — diese beiden „Halbkugeln" entsprechen einander ganz.
Es genügt im magischen Lebensraum, an der äußeren Sphäre des Menschen eine gründliche, seelisch erprobte Umstellung vorzunehmen durch ein verzauberndes Sakrament, durch Veränderung von Umwelt und Betätigung, durch Verordnung eines neuen Gehabens, und das unbewusste Innere wird sich unwillkürlich aus seiner ihm selbstverständlich und zwanghaft gewordenen Haltung in eine andere herumwerfen. Es findet außen nicht mehr das gleiche vor, mit dem es so lange Figur gebildet hat, aber ein anderes, das etwas Neues in ihm als Entsprechung weckt, um mit ihm Figur zu bilden. Darin liegt die große seelenführende Möglichkeit magischer Lebensräume: Ein Szenenwechsel in der greifbaren sakramentalen Spiegelsphäre bewirkt, bis in Annäherung ans Automatische, eine entsprechende Umschichtung der inneren Einstellungen.
Der Gewinn, den die Auflösung magischer Gebundenheit dem neueren Menschen gebracht hat, die Entzauberung der Welt von greifbaren Göttern und Dämonen, dafür die wachsende rationale Macht über stoffliche Kräfte der Erdrinde, bezahlt sich mit dem Verlust dieser Magie über das Seelische; der Mensch von heute steht der unwillkürlich übermächtigen Magie seines Inneren, die ihn treibt und aus dem möglichen Ungefähr von Ereignissen die wirkliche Figuren-Maya seiner äußeren Welt zusammenhext, ohne einen wirksamen Gegenzauber, ja ohne rechtes Wissen um diesen Bann gegenüber. Da bleibt die unzulängliche Lösung der großen Lebensfrage das Typische: ein Zwischenreich der echten Not des vielfach Ungelösten, Ausweglosigkeit, die für einen unmitleidigen Blick belustigend wirkt. Ihr entspricht im Bereiche der Darstellung, in der Kunst, das Komische: eben die Geschichte Abu Kasems und ihresgleichen.
In Mythos und Märchen geht es gern gut aus. Der Held erlegt den Wurm, befreit die Jungfrau, er bändigt das Flügelpferd und gewinnt die Zauberwaffe. Aber im Leben aller Tage sind solche Helden rar. Was sich die Leute alle Tage im Basar erzählen, Geschäftstratsch, Gerichtsklatsch, stammt von der Kehrseite der Münze. Statt der Wunder seltenen Vollbringens die Komik des Versagens; statt Perseus auf dem Flügelrosse, dem Bezwinger der Medusa, der, ihr versteinerndes Haupt im Schilde, Andromeda vom Meerungeheuer errettet, kommt Abu Kasem auf Flickenpantoffeln daher. Er ist der häufigere Typ, es gibt im Alltag draußen mehr Tragikomödie als mythologische Oper, und Tratsch, wie er um Abu Kasem bei Lebzeiten war und ihn als komische Figur unsterblich machte, ist Mythologie des Alltags; die Anekdote als seine endgültige Form kann die Entsprechung des Mythos sein, wenn es zu dessen Erhabenheit nicht langt. Sie zeigt die Komik des unentwirrbaren Knotens, den nur das Zauberschwert des mythischen Helden zerteilt.
Also wechseln wir die Pantoffeln! — Wenn das so einfach wäre! Aber die alten, ein Leben lang gehegten und liebevoll gestückten kehren — die Geschichte lehrt es —, wenn wir sie endgültig ablegen wollen, hartnäckig wieder zu uns zurück. Und nähmen wir Flügel der Morgenröte und blieben am äußersten Meer, — schon sind sie wieder bei uns! Die Elemente nehmen sie nicht an: das Wasser speit sie aus, die Erde verweigert sie, und ehe das Feuer sie verzehren kann, stürzen sie sich aus der Luft herab, Abu Kasems Ruin zu vollenden! Nicht einmal der Fiskus will sie behalten. Warum sollte auch irgendein Ding der Welt sich mit den großgezüchteten Dämonen unseres Ich belasten, weil sie uns neuerdings unheimlich geworden sind?
Wer erlöst Abu Kasem von sich selbst? — Die Art, wie er's versuchte, war entschieden unzureichend. Man wirft sein geliebtes Ich auch nicht als Ding mit einemmal auf Nimmerwiedersehen zum Fenster hinaus, wenn es anfängt einem Streiche zu spielen. Schließlich beschwört Abu Kasem den Richter, ihn wenigstens für die künftigen dieser Streiche nicht mehr haftbar zu machen, — dazu lacht der Kadi, und soll unser Kadi uns nicht auslachen? Wir sind verantwortlich für diesen harmlos lebenslangen Prozess unserer Ichbildung; unwillkürlich und liebevoll haben wir zusammengeschustert, worauf wir einhergehen, und unterliegen der Übermacht des Unwillkürlichen.
Wir kennen seine Gewalt aus unseren Beobachtungen an anderen, wenn wir ihr absichtsloses Gebaren uns zu deuten suchen. Im Unwillkürlichen des Ausdrucks, der Gebärde und der Handschrift, im Sinn der Fehlleistungen, in Träumen und ungewollten Bildern spricht die Macht, die mehr über den Menschen vermag als er selbst von sich weiß und als er uns weismachen kann. Und wie dieses Unwillkürliche uns mehr über ihn verrät als sein bewusstes Gebaren uns einprägen kann, vermag es auch über sein eigenes Leben unendlich mehr als sein bewusster Wille. Dieses Unwillkürliche sind die dämonischen Rosse an seinem Lebenswagen und sein bewusstes Ich ist nur der Lenker und ihm bleibt fast nichts übrig als die Resignation des Goetheschen Egmont: „Die Zügel fest zu halten und bald rechts bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken".
In zahllos kleinsten Regungen schwemmt es sich an, in kaum bewusstem Tun und Unterlassen aller Stunden, in Wählen und Verschmähen, Betreiben und Versäumen lagert sich's ab, bis die Lösung übersättigt ist und reif, Kristall zu treiben. Ein winziger Anstoß genügt, nun fällt sich als Schicksal aus, kristallklar und hart, was lange trüb-flüssig nur ein Reagieren war, ein Sich-Verhalten und Unbestimmtsein. Bei Abu Kasem ist es die gehobene Stimmung über den gelungenen Coup; ein kleiner Rausch über das famose Doppelgeschäft mit den Kristallfläschchen und dem Rosenöl steigert sein Selbstgefühl und setzt es in begreiflichen Schwung. So soll es jetzt weitergehen mit Gaben des Glücks, kleinen Geschenken der Gelegenheit, wie seine Tüchtigkeit sie verdient, — siehe da! schon wieder eins? Abu Kasem, du Glückspilz: diese Luxuspantoffeln, ganz neu, an Stelle der eben geschmähten, möchten von dem kritischen Freunde stammen, der es nicht länger mit ansehen konnte, dass du die alten Fetzen trägst.
Abu Kasems Geiz, vom Augenblick gebläht, schlägt ein wenig über die Schnur; es hätte sein Hochgefühl allzusehr gekränkt, die ganze gehobene Stimmung ihm zerstäubt, hätte er sich mit der Vorstellung vertraut machen müssen, er müsse wirklich in den Beutel greifen und sich ein Paar neue Pantoffeln anschaffen. Die alten Dinger wären ja zu finden gewesen, wie die beflissenen Sklaven des Kadi sie bald hernach ausfindig machten, Abu Kasem hätte nur ein wenig suchen müssen, in der nüchternen, wenn auch kränkenden Ahnung, es habe ihn einer verspotten wollen, anstatt von sich selbst berauscht und geblendet von dem schönen Gegenstand sich mit dem Zugriff zu schmeicheln, der seinen unbewachten, unbewussten Trieben Genüge tat. Ein kindischer Akt süßer Selbstvergessenheit war das, ein augenblicklicher Mangel an Selbstkontrolle, aber ein lange Unbeachtetes, längst im stillen übermächtig, überschlägt sich darin: ein winziges Zuviel, das zur Lawine schwillt, setzt sich in Fahrt.
Dasselbe Netz, mit dem Abu Kasem in der Welt draußen seine berüchtigten Gewinne im Basar zu fischen wusste, hat er sich unbewusst auch innen geknüpft, aus Fäden, die sein Geiz ihm spann; — eine unbedachte Gebärde. Jetzt sitzt er selbst im Netz, und was bislang ein inneres Brüten und Brauen war, eine von langher anwachsende, drohende Spannung, entlädt sich jetzt in der äußeren Welt, wirft Abu Kasem ins Räderwerk der Justiz, in die Hackmaschine privater Missgunst, Erpressung, behördlicher Schikane. Sein eigenes Verhalten, sein Geiz, sein Wohlstand haben dieses Messerwerk längst geschliffen und zum Getriebe gefügt.
Nach indischer Formel: unablässig streut man Saat und achtet es nicht, die Saat schießt auf und reift, ein jeder muss die Frucht von seinem Acker ernten und essen. „Tun" — schon reines Verhalten wird Schicksal, — das Ungetane, Ungewollte rechnet sich auf wie Absicht und Vollzug, wird offenkundig als Begebnis, das einen trifft, — das ist „Karman". „Selbsthenker", Selbstopfer ein jeder und, wie Abu Kasem, sein eigener Narr, und das Lachen des Kadi ist das Gelächter der Hölle über den Verdammten, der sich selbst das Urteil sprach und in sich selber brennt.
Abu Kasems Geschichte zeigt, wie fein gewoben das Netz des Karman ist und wie fest seine zarten Fäden sind. Kann ihn sein Ich erlösen von jenem Über-Ich in ihm, dessen Dämonen ihn in ihren Klauen halten? Steht er in seiner Verzweiflung schon nicht mehr fern von der Umkehr, von der Erkenntnis, dass niemand ihm seine Pantoffeln abnehmen kann und keine Gewalt sie zerstören, und dass der Abschied von ihnen anders ansetzen müsste? Könnten sie ihm wesenlos werden, Flicken um Flicken, wie sie ihm kostbarer wurde mit jeder Reparatur, könnte er ihr scheckiges Wesen Fetzen um Fetzen von sich lösen, bis es nur mehr ein paar gleichgültige Lumpen sind: — Damaskus! — diesen „Weg zurück" hat Strindberg aus seiner Infernozeit gestaltet. Er fand bei Swedenborg den Begriff der selbstverhängten Strafe aus dem Unbewussten, er hatte erlebt, wie die Dinge unheimlich mitspielten: fremde Leute, Häuser und Plätze, Einrichtungen und Fetzen des Tages.
Beiläufig hat er dann im Alter mit ermatteter Hand ein Märchenspiel geschrieben „Abu Kasems Pantoffeln". Aber es hält nicht, was der Titel verspricht; Wesentliches ist verändert, viel Unwesentliches hineingeflossen; die Pantoffeln sind gar nicht Abu Kasems eigenstes Lebenswerk, sind nur vom Kalifen ihm zugespielt, um seinen Geiz zu erproben. Das Entscheidende zur Frage nach dem selbstgewirkten Verhängnis, dem selbstgezimmerten Lebenstheater, das dann mit uns spielt, wie seine Kulissen und Requisiten Veräußerungen unseres Inneren sind, wie unsere Dingwelt unserer Unwillkürlichkeit entspringt, dämonisch oder schweigsam hilfreich sich gebärdend, — all das hat Strindberg hellsichtiger, entscheidender als Fazit seiner Infernowanderung früher gestaltet.
Wer erlöst Abu Kasem? Es heißt, der Richter konnte ihm seine Bitte nicht abschlagen, — er wurde also vom Spuk seiner Pantoffeln befreit. Kann der Schein, der ihn erleuchten wird, anderswoher kommen als aus dem vulkanischen Schacht, der ihn mit seinen Dünsten umwölkte? Das unheimliche weitgespannte Ich, das er als Welt um sich gewoben hat, mit Kadi, Nachbarn, Fischern, Elementen, die sich mit seinem heimeligen Lieber-Ich, den lumpigen Pantoffeln, dem klotzigen Reichtum befassten, gab ihm Wink auf Wink, — wer soll ihm noch von außen winken? Die äußere Spiegelwelt hat auf ihre Art gesprochen, wie sie konnte: Schlag um Schlag. Es müsste ein Wink von innen kommen. Nemo contra deum nisi deus ipse. Der Dämon hinter dem bewussten Ich, der soviel beiträgt zu der Spiegelwelt, mit der es sich umgibt, vermag auch mehr dazu, nächtens aufzutrennen was tagaus, tagein gewoben ward. Mindestens kann er winken, „wechsle die Pantoffeln!" — denn er weiß, was es geschlagen hat, — dem bewussten Ich ist das selten deutlich. Dann träumt man, was in diese Richtung schlägt.
So träumte einer, der sich gerade in einer Mauserung fühlte, er stände über einem runden steinernen Brunnenloch, dessen Mund war mit einem alten Gitter von Eisenstäben kreuzweis verschlossen. Das hinderte ihn aber nicht, seine Angelschnur in den Brunnen zu tauchen, und, siehe da, er fischte eine Uhr heraus, eine große viereckig-altmodische Wanduhr. Triefend vom Wasser brachte er sie — das Gitter war ihm dabei nicht im Weg — aufs Trockene. Er wollte die Zeit auf ihr lesen, aber so sehr er seine Augen auch mühte, immer rieselte Wasser über das Zifferblatt, und er konnte nicht recht erkennen, welche Stunde die Uhr eigentlich zeigte. Da gab er's auf und senkte die Uhr wieder — das Gitter war dabei kein Hindernis — behutsam an der Angelschnur in den tiefen Brunnen zurück.
Er ging fort und ging durch die Straßen seiner Stadt: den Weg, den er immer zu seiner Arbeit ging, Geschäftsstraßen waren das, voller Läden, und dann und wann war an den Häusern eine Uhr. Er blickte gewöhnlich auf die Uhren, um sich zu vergewissern, wie spät es sei, um danach sein Tempo zu regeln; so tat er auch jetzt, aber er bemerkte etwas Sonderbares: die Uhren an seinem Wege zeigten zweierlei verschiedene Zeit, die einen waren alle um ein paar Stunden weiter als die anderen. Da fuhr es ihm durch den Kopf: die Zeiten, die sie zeigen, sind alle beide falsch, die richtige Zeit stand auf der Uhr, die aus dem Brunnen kam.
Es nützt nicht viel, die weise Uhr aus dem Brunnen zu fischen, wenn man nicht lesen kann, wie ihre Zeiger stehen; aber wenn man weiß, daß sie im tiefen Brunnen liegt, gelingt es einem vielleicht, zu merken, welche Stunde ihr Schlag unten summt.
Es nützt nichts, seine Pantoffeln aus dem Fenster zu werfen oder irgendwohin versenken zu wollen; aber wenn man das gemerkt hat, gelingt es vielleicht, etwas Wesentlicheres zu bemerken: nämlich woraus man sich eigentlich die Pantoffeln zusammengeschustert hat, die zu wechseln die Geschichte Abu Kasems rät.
Siehe auch
- Heinrich Zimmer
- Indische Geschichten
- Bettler
- Chamäleon
- Edelstein
- Einweihung
- Geruch
- Gopala
- König
- Leise
- Lendenschurz
- Maya
- Name
- Projektion
- Rätsel
- Schaf
- Tun
- Verliebtheit
- Wasser
- Wunschbaum
Literatur
- Heinrich Zimmer: "Weisheit Indiens. Märchen und Sinnbilder" 1938, L.C. Wittich Verlag, Darmstadt.