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* [http://www.yoga-vidya.de/Yoga--Artikel/Art-Artikel/art_vedanta.html Artikel von Swami Sivananda: Vedanta]
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[[Kategorie:Indische Philosophie]]
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Version vom 1. November 2013, 09:44 Uhr

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Zweck des Vedanta: Zerstörung eines angebornen Irrtums

Artikel aus dem Buch „Das System des Vedanta“ von Paul Deussen, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906, S. 48 - 62.

Der Grundgedanke des Vedanta und seine Vorgeschichte; Blick auf verwandte Theoreme des Okzidents

In der Einleitung, welche Shankara (S. 5-23) seinem Kommentare über die Brahma Sutras vorausschickt, führt er uns sofort auf die Grundanschauung des Systems, indem er alles empirische, physische Wissen für ein Nichtwissen (Avidya) erklärt, welchem er die Metaphysik des Vedanta als das Wissen (Vidya) entgegenstellt. — Ehe wir der Ausführung dieses Gedankens näher treten, wollen wir an einiges erinnern, welches geeignet ist, die philosophische Bedeutung desselben und damit die des in ihm wurzelnden Vedantasystemes ins Licht zu setzen.

Der Gedanke, dass die empirische Betrachtung der Natur nicht imstande ist, uns zur letzten Ergründung des Wesens der Dinge zu führen, tritt uns nicht nur bei den Indern, sondern auch in der Philosophie des Okzidents in mannigfacher Form entgegen; ja, genau betrachtet, ist dieser Gedanke die eigentliche Wurzel aller Metaphysik, sofern ohne ihn überhaupt keine Metaphysik entstehen oder bestehen kann. Denn wenn die empirische oder physische Forschung imstande wäre, uns das wahre und innerste Wesen der Natur zu enthüllen, so würden wir nur auf diesem Wege fortzuschreiten haben, um zuletzt zum Inbegriffe aller Wahrheit zu gelangen.

Das Endresultat würde eine Physik im weitern Sinne, als Lehre von allem sein, und zu einer Metaphysik wäre weder Veranlassung noch Berechtigung. Wenn daher die Metaphysiker alter und neuer Zeit, von dem empirischen Wissen unbefriedigt, zu einer Metaphysik fortgegangen sind, so erklärt sich dieser Schritt nur aus dem mehr oder weniger deutlichen Bewusstsein, dass alles empirische Forschen und Wissen zuletzt nur auf eine große, in der Natur unseres Erkenntnisvermögens begründete Täuschung hinauslaufe, über welche uns die Augen zu öffnen die Aufgabe der Metaphysik ist.

Dreimal, soviel wir wissen, ist diese Erkenntnis in der Menschheit zum ursprünglichen Durchbruch gelangt, und jedesmal, wie es scheint, auf verschiedenem, durch Zeitalter, Nation und Individualität bedingtem Wege; das eine Mal bei den Indern, von denen wir reden wollen, das andere Mal in der griechischen Philosophie durch Parmenides, das dritte Mal in der neuen Philosophie durch Kant.

Was zunächst den Eleatischen Weisen dazu trieb, über die Welt zu der Erforschung des „Seienden" hinauszugehen, das scheint der von seinem Vorgänger Xenophanes geltend gemachte Begriff der Einheit des Seins, d. h. der Einheit der von ihm benannten Natur gewesen zu sein, dessen Konsequenzen Parmenides mit unvergleichlicher Energie der Abstraktion nachging, der Natur den Rücken kehrend, daher er sich auch den Rückzug zu derselben abschnitt.

Zu derselben Erkenntnis gelangte auf ganz anderm Wege Kant, indem er, mit deutscher Geduld und Gründlichkeit, das menschliche Erkenntnisvermögen einer kritischen Analysis unterzog, eigentlich oder angeblich nur, um zu prüfen, ob dasselbe zur Erforschung transzendenter Dinge wohl das geeignete Instrument sei, wobei er jedoch die höchst merkwürdige Entdeckung machte, das unter anderm drei wesentliche Bestandstücke der Welt, nämlich der Raum, die Zeit und die Kausalität, nichts anderes als drei dem Subjekt anhaftende Formen des Erkennens, d. h., physiologisch gesprochen, angeborne Funktionen des Gehirns sind; hieraus folgerte er, mit unweigerlicher Konsequenz, dass die Welt, wie sie in Raum und Zeit sich ausbreitet und in allen ihren Erscheinungen im Größten wie im Kleinsten durch den Kausalnexus verknüpft ist, in dieser Form nur für unser Erkenntnisvermögen vorhanden, weil durch dasselbe bedingt ist, dass sie mithin nur „Erscheinungen", nicht das Wesen der „Dinge an sich" uns offenbart. Was das letztere sei, das hielt er, den Blick nur auf die äußere Erfahrung als Quelle des Erkennens richtend, so lange wir auf Erkenntnisformen wie die unsern angewiesen seien, für unerkennbar.

Diese Methoden des griechischen und des deutschen Denkers, so bewunderungswürdig sie sind, mögen äußerlich und kalt erscheinen, wenn wir sie mit dem Wege vergleichen, auf welchem, wie wir schon nach dem jetzigen Stande der Forschung annehmen dürfen, die Inder zu derselben Grundanschauung gelangt sind. Ihr Vorrang wird begreiflich, wenn wir erwägen, dass kein Volk der Erde es mit der Religion so ernst genommen hat, keines sich den Weg zum Heile so sauer hat werden lassen, wie sie. Zum Lohne dafür ist ihnen, wenn nicht der wissenschaftlichste, so doch der innigste und unmittelbarste Aufschluss über das letzte Geheimnis des Seins geworden.

Wie dabei der Entwicklungsgang, der sie zu diesem Ziele geführt hat, im einzelnen vorzustellen ist, können wir noch nicht mit Bestimmtheit angeben; insbesondere scheint uns fraglich, wie das historische Verhältnis zwischen Brahman und Atman, den beiden Hauptbegriffen, an denen die indische Metaphysik erwachsen ist, und die schon in den Upanishaden, soweit wir sehen, durchaus als Synonyma gebraucht werden, zu denken ist: Ob der Begriff des Atman aus dem des Brahman durch eine bloße Verschärfung des subjektiven Momentes, welches in ihm liegt, sich entwickelt hat, oder ob wir vielmehr zwei Strömungen zu unterscheiden haben, eine mehr priesterliche, welche das Brahman, und eine mehr philosophische, welche den Atman zum Prinzip erhob, bis dann beide, ihrer Natur nach nahe verwandt, in ein gemeinsames Bette geleitet wurden. Von diesen und andern Bedenken für jetzt absehend, wollen wir durch einige ausgewählte Beispiele in der Kürze die mutmaßlichen Stufen des Weges markieren, auf denen der indische Genius zu der von uns demnächst darzustellenden Weltanschauung sich erhoben hat.

1. Wir wiesen bereits darauf hin, wie die Inder, ausgehend von einem Kultus personifizierter Naturmächte, die Zentralkraft aller Kräfte in der Natur, das schaffende und tragende Prinzip aller Götter und aller Welten in jener Erhebung des Gemüts über das Bewusstsein der individuellen Existenz hinaus, welche beim Gebete stattfindet, d. h. in dem Brahman erkannten, ein Wort, welches noch im ganzen Rigveda nie etwas anderes, als die erhebende und begeisternde Kraft des Gebets bedeutet. Von diesem Standpunkte der Auffassung des Brahman als einer im Subjekte ruhenden kosmischen Potenz aus nimmt z. B. das Taitti Riga Brahmanam (2,8,9,6) eine im Rigveda (10,81,4) gestellte Frage wieder auf und beantwortet sie wie folgt:

Wo ist der Baum, wo ist das Holz gewesen,
Aus dem sie Erd' und Himmel ausgehauen?
Im Geist erwägend fragt ihm nach, ihr Weisen,
Worauf gestützt sich hat der Welten Träger!" (Rigv. 10,81,4.)
Das Brahman ist der Baum, das Holz gewesen,
Aus dem sie Erd' und Himmel ausgehauen;
Im Geist erwägend meld' ich euch, ihr Weisen,
Auf Brahman stützte sich der Welten Träger!

2. Hieran schließt sich die Vorstellung, dass das Brahman das Innerste und das Edelste in allen Erscheinungen der Welt ist; es ist, wie die Kathaka Upanishade (5,1-3) es ausdrückt, indem sie den Vers Rigv. 4,40,5 vertiefend umdeutet, die Sonne am Firmamente (Hansah Shucishad), der Gott (vasu, der Gute) im Luftraume, der Hotar am Altare, der Gast an der Schwelle des Hauses, es weilt überall, wird überall geboren, — aber der nur ist vom Leide befreit und seiner Erlösung gewiss, welcher es, „das Ungeborne, unwankbar Geistige" in „der Stadt mit elf Toren" (dem Leibe) verehrt, in welcher es wohnt, ringsum die Lebensorgane, —

Und in der Mitte sitzt ein Zwerg,
Den beten alle Götter an."

3. Hier, „in der Lotosblume des Herzens", ist das Brahman nun nichts anderes, als der Atman, d. h. die Seele, wörtlich: „das Selbst". Wir wählen als Beispiel Chandogya Up. 3,14: "Gewisslich dieses Weltall ist Brahman; als Tajjalan [in „ihm werdend, vergehend, atmend] soll man es ehren in der Stille. Geist ist sein Stoff, Leben sein Leib, Licht seine Gestalt; sein Ratschluss ist Wahrheit, sein Selbst die Unendlichkeit [wörtlich: der Äther]; allwirkend ist er, allwünschend, allriechend, allschmeckend, das All umfassend, schweigend, unbekümmert: — dieser ist meine Seele (Atman) „im innern Herzen, kleiner als ein Reiskorn oder Gerstenkorn oder Senfkorn oder Hirsekorn, oder eines Hirsekornes Kern; — dieser ist meine Seele im innern Herzen, größer als die Erde, größer als der Luftraum, größer als der Himmel, größer als diese Welten. — Der Allwirkende, Allwünschende, Allriechende, Allschmeckende, das All umfassende, Schweigende, Unbekümmerte, dieser ist meine Seele im innern Herzen, dieser ist das Brahman, zu ihm werde ich, von hier abscheidend, eingehen. — Wem dieses ward, fürwahr, der zweifelt nicht!" — Also sprach Shandilya.

4. Das zuletzt erwähnte Eingehen in das eigene Selbst nach dem Tode setzt das Bewusstsein eines Unterschiedes voraus zwischen dem empirischen Selbst, d. h. der Leiblichkeit, und dem höchsten Selbst (Paramatman), welches die Seele, d. h. Gott ist. Diese Unterscheidung ist der Gegenstand einer Belehrung, welche Chandogya Up. 8,7-12 Prajapati dem Indra erteilt, und in der er ihn von Stufe zu Stufe zu immer wahrerer Erkenntnis emporführt. Auf die Frage: „Was ist das Selbst?" lautet die nächste Antwort:

  • 1) „Das Selbst ist der Leib, wie er in der Abspiegelung im Auge, im Wasser, im Spiegel sich darstellt." Auf die Entgegnung, dass dann das Selbst auch von den Gebrechen und dem Untergang des Leibes mitbetroffen werde, erfolgt die zweite Erklärung:
  • 2) „Das Selbst ist die Seele, wie sie sich im Traume ergötzt." Auf das Bedenken, dass die träumende Seele, wenn nicht leide, so doch zu leiden glaube, heißt es:
  • 3) „Wenn einer so eingeschlafen ist ganz und gar und völlig zur Ruhe gekommen, dass er kein Traumgesicht erschaut, das ist das Selbst, das ist das Unsterbliche, das Furchtlose, das Brahman." Auf die Einwendung, dass in diesem Zustande das Bewusstsein aufhöre, dass er somit ein Eingang in das Nichts sei, erwidert endlich Prajapati:
  • 4) „Sterblich, fürwahr, o Mächtiger, ist dieser Körper, vom Tode besessen; er ist der Wohnplatz für jenes unsterbliche, körperlose Selbst. Besessen wird der Bekörperte von Lust und Schmerz; denn weil er bekörpert ist, ist keine Abwehr möglich der Lust und des Schmerzes. Den Körperlosen aber berühren Lust und Schmerz nicht. Körperlos ist der Wind, die Wolke, der Blitz, der Donner sind körperlos. Sowie nun diese aus dem Weltraume [in welchem sie wie die Seele im Leibe gebunden sind] sich erheben, eingehen in das höchste Licht und dadurch hervortreten in ihrer eigenen Gestalt, so auch erhebt sich diese Vollberuhigung [d. h. die Seele, zunächst die im tiefen Schlafe] aus diesem Leibe, gehet ein in das höchste Licht und tritt hervor in eigener Gestalt; das ist der höchste „Geist."

In ähnlicher Weise gelangt die Taittiriya Up. 2,1-7 von dem körperlichen Selbst, indem sie ihm eine Hülle nach der andern abstreift, zuletzt zu dem wahren Selbst. Sie unterscheidet:

  • 1) das aus Nahrung bestehende Selbst; in diesem steckt wie in einer Kapsel
  • 2) das odemartige Selbst, in diesem
  • 3) das manasartige Selbst, in diesem
  • 4) das erkenntnisartige Selbst, in diesem endlich als innerstes
  • 5) das wonneartige Selbst.

"Fürwahr, dieses ist die Essenz (Rasa); denn wer die Essenz erlangt, den erfüllt Wonne; denn wer möchte atmen und wer leben, wenn in dem Weltenraum nicht diese Wonne wäre? — Denn er ist es, der Wonne schaffet; denn wenn einer in diesem Unsichtbaren, Unkörperlichen, Unaussprechlichen, Unergründlichen den Frieden, den Standort findet, dann ist er zum Frieden eingegangen; wenn er hingegen in ihm [wie in den vier ersten, noch] eine Höhlung, ein Anderes annimmt, dann hat er Unfrieden; es ist der Unfriede dessen, der sich weise dünket."

5. Das Selbst, in diesem Sinne, ist nach Chandogya Up. 6,2,1 „das Seiende", „das Eine ohne Zweites", und dementsprechend wird Brihadaranyaka Up. 2,4,5 alle Forschung auf das Selbst verwiesen und beschränkt: „Das Selbst fürwahr, o Maitreyi, soll man sehen, hören, überdenken und erforschen; wer das Selbst sieht, hört, überdenkt und erforscht, der hat diese ganze Welt erkannt." „Diese Welten, diese Götter, diese Wesen, dieses alles ist was dieses Selbst ist."

Es ist der Vereinigungspunkt (Ekayanam) für alles, wie der Ozean für die Gewässer, das Ohr für die Töne, das Auge für die Gestalten, usw.; alles außer ihm ist so wesenlos, wie der Schall, der von einem Musikinstrumente ausgeht; wer das Instrument ergriffen hat, der hat damit die ihm entspringenden Töne mitergriffen. Es ist, nach Chandogya Up. 6,1,4, dasjenige, aus dem die ganze Welt geworden, dessen bloße Umwandlung sie ist: wWr dieses Eine erkannt hat, der hat damit alles erkannt, gleichwie, o Teurer, durch einen Tonklumpen alles, was aus Ton besteht, erkannt ist; auf Worten beruhend ist die Umwandlung, ein bloßer Name, Ton nur ist es in Wahrheit!"

6. Demgemäß fordert uns die Isha Up. 1.6 auf, „die ganze Welt zu versenken in Gott", d. h. in das Selbst:

Wer forschend alle Wesen im eignen Selbste findet,
Für den entweicht der Irrtum, und alles Leiden schwindet;

und die Kathaka Up. (4,10-11) warnt davor, eine Vielheit, ein von der Seele Verschiedenes (Nana) anzunehmen:

Was hier ist, das muss drüben sein, was drüben ist, ist hier allein;
Vom Tod zu neuem Tode rennt, wer ein Verschied'nes hier erkennt!
Im Geiste sollen merken sie, nicht ist hier Vielheit irgendwie;
Von Tod in Tod wird der verstrickt, wer ein Verschied'nes hier erblickt!"

7. Es war die einfache Konsequenz dieser Konzeptionen, wenn der Vedanta die empirische Anschauung, welche uns eine außer dem Selbste vorhandene Vielheit, eine unabhängig vom Subjekte bestehende Welt der Objekte vorspiegelt, für ein Blendwerk (Maya), eine angeborne Täuschung (Bhrama) erklärt, beruhend auf einer unberechtigten Übertragung (Adhyasa), vermöge deren wir diejenige Realität, welche allein dem Subjekte zukommt, auf die Welt der Objekte, und umgekehrt die Bestimmungen der objektiven Welt, z. B. die Körperlichkeit, auf das Subjekt, das Selbst, die Seele übertragen. Hierüber wollen wir Shankara selbst hören.

Analysis der Einleitung des Shankara (S. 5-23)

"Objekt (Vishaya) und Subjekt (Vishayin)", sagt er zu Eingang seines Werkes, „wie sie als ihren Bereich die Vorstellung des Du [Nicht-Ich] und des Ich haben, sind so entgegengesetzter Natur wie Finsternis und Licht. Steht es nun fest, dass das Sein des einen in dem andern nicht zutrifft, so folgt umso mehr, dass auch die Qualitäten des einen bei dem andern nicht statthaben. Hieraus ergibt sich, dass die Übertragung (Adhyasa) des als seinen Bereich die Vorstellung des Du habenden Objektes und seiner Qualitäten auf das als seinen Bereich die Vorstellung des Ich habende, rein geistige Subjekt, und umgekehrt, dass die Übertragung des Subjektes und seiner Qualitäten auf das Objekt folgerichtigerweise falsch ist. — Und doch ist dem Menschen dieses, auf falscher Erkenntnis beruhende (Mithya Jnana Nimitta), Wahres und Unwahres [d. h. Subjektives und Objektives] paarende Verfahren angeboren (Naisargika), dass sie die Wesenheit und die Qualitäten des einen auf das andere übertragen, Objekt und Subjekt, obgleich sie absolut verschieden (Atyanta Vivikta) sind, nicht voneinander unterscheiden und so z. B. sagen: "Das bin ich, das ist mein."

Wie man auch immer diese Übertragung definieren mag (S. 12,1-14,3), jedenfalls läuft sie darauf hinaus, dass Qualitäten des Einen an einem Andern erscheinen, wie wenn man Perlmutter für Silber hält, oder den einen Mond als zwei sieht (S. 14,3-5). Möglich wird diese irrige Übertragung von Dingen und Verhältnissen der objektiven Welt auf die innere Seele, das Selbst im strengsten Sinne dieses Wortes, dadurch, dass auch die Seele in gewissem Sinne 0bjekt, nämlich Objekt der Vorstellung des Ich, und, wie unser Autor hier behauptet, keineswegs etwas Transzendentes, jenseits des Bereiches der Wahrnehmung Liegendes (Paroksham) ist.

Diese so beschaffene Übertragung bezeichnen die Gelehrten als das Nichtwissen (Avidya), und im Gegensatze dazu nennen sie die genaue Bestimmung der eigenen Natur der Dinge [Vastu Svarupam, des An-sich-Seins der Dinge, wie wir sagen würden] „das Wissen (Vidya). Ist dem so, so folgt, dass dasjenige, worauf eine [derartige, falsche] Übertragung stattfindet, von einem durch sie verursachten Mangel oder Vorzuge auch nicht im mindesten betroffen wird." (S. 16,1-4)

Das Objekt der Erkenntnis, die Seele, bleibt also, wie aus diesen Worten erhellt, völlig unverändert, gleichviel, ob wir dasselbe richtig erkennen, oder nicht. Hieraus müssen wir schließen, dass der Grund der irrigen empirischen Anschauung lediglich im erkennenden Subjekte zu suchen ist; diesem ist die Avidya, wie wiederholt (S. 10,1. 21,7. 807,12) versichert wird, angeboren (Naisargika); die Ursache derselben ist ein unrichtiges Erkennen (sie ist Mithya Jnana Nimitta, S. 9,3), ihr Wesen ein unrichtiges Vorstellen (Mithya Pratyaya Rupa, S. 21,7); — alle diese Äußerungen weisen darauf hin, den letzten Grund der falschen empirischen Anschauung da zu suchen, wo ihn allerdings der Vedanta nicht gesucht hat, nämlich in der natürlichen Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens. Eine Analysis desselben, wie sie Kant unternahm, würde in der Tat den wahren wissenschaftlichen Unterbau des Vedantasystemes liefern; und es steht zu hoffen, dass die Inder, deren noch heute gültige orthodoxe DogLink-Textmatik wir hier darstellen, die Lehren der „Kritik der reinen Vernunft", wenn dieselben erst zu ihrer Kunde gelangen, mit dankbarer Verehrung sich aneignen werden.

Auf dem Boden dieses natürlichen Nichtwissens steht nun, nach Shankara, alles menschliche Erkennen, mit Ausnahme der Metaphysik des Vedanta; also nicht nur das empirische, d. h. durch Sinnesorgane vermittelte Denken des gewöhnlichen Lebens, sondern auch der ganze rituelle Kanon des Veda mit seinen Geboten und Verboten nebst Verheißung von Lohn und Strafe in einer andern Welt (S. 16,4-17,1).

Der nächste Grund, aus welchem beide, das weltliche wie das vedische Treiben, in die Sphäre des Nichtwissens verwiesen werden müssen, liegt darin, dass sie beide von dem Wahne (Abhimana) nicht frei sind, in der Leiblichkeit das Ich zu sehen; denn weder ein Erkennen, noch ein Handeln ist möglich, ohne dass man die Sinnesorgane und den sie tragenden Leib als zum Selbste gehörig betrachtete, und auch der rituelle Teil des Veda kann nicht umhin, mancherlei Zustände der Außenwelt auf die Seele irrtümlich zu übertragen.

Ein weiterer Grund für die Unzulänglichkeit alles emprischen Erkennens ist der, dass dasselbe von dem tierischen Erkennen nur dem Grade nach durch höhere Entwicklung (Vyutpatti) sich unterscheidet, seinem Wesen nach aber mit demselben gleichartig ist, sofern es, wie dieses, gänzlich im Dienste des Egoismus steht, welcher uns treibt, Erwünschtes aufzusuchen und Unerwünschtes zu fliehen, und es macht hierbei keinen Unterschied, ob diese egoistischen Ziele, wie beim weltlichen Treiben, schon in diesem Leben, oder, wie bei den vom Veda vorgeschriebenen Werken, erst in einem jenseitigen Dasein zur Verwirklichung gelangen und somit dessen Erkenntnis voraussetzen. Ganz anders der Vedanta, welcher im Widerspruche dagegen die ganze Sphäre des Begehrens hinter sich lässt, von allen Unterschieden in der äußern Lebensstellung (wenn auch, wie wir sehen werden, nicht ganz konsequent) Abstand nimmt und sich zu der Erkenntnis erhebt, dass die Seele in Wahrheit in den Wanderungsumlauf (Samsara) gar nicht verflochten ist.

Denn alle jene Gesetze des empirischen Erkennens und Handelns sind für uns nur so lange gültig, wie wir in dem auf einer falschen Übertragung beruhenden, von Natur uns anhaftenden Nichtwissen befangen sind, von welchem es zum Schlusse heißt (S. 21,7): "So steht es mit dieser anfanglosen, endlosen, angebornen Übertragung, welche ihrem Wesen nach eine falsche Annahme ist, alle Zustände des Tuns und des Genießens [oder Leidens] hervorbringt und die [natürliche] Anschauungsweise aller Menschen bildet. Sie, welche die Ursache des Unheils ist, zu beseitigen und das Wissen von der Einheit der Seele zu lehren — das ist der Zweck aller Vedantatexte."

Diesen Zweck erreicht der Vedanta dadurch, dass er von der Seele (dem Selbst, Atman) alles absondert, was Nicht-Seele, Nicht-Selbst ist, und auf dieselbe nur fälschlich übertragen wird, also, mit einem Worte, alle Uphadis oder individualisierende Bestimmungen, mit welchen angetan (Upahitam 163,9. 690,5. 739,7) das Brahman eben als individuelle Seele erscheint. Solche Upadhis sind:

  • 1) alle Dinge und Verhältnisse der Außenwelt (vgl. Anm. 29),
  • 2) der aus den groben Elementen bestehende Leib,
  • 3) die Indriyas, d. h. die als besondere Wesenheiten vorgestellten fünf Sinnesorgane und fünf Tatorgane des Leibes,
  • 4) das Manas, auch Innenorgan (Antahkarana, genannt, das Zentralorgan sowohl für die Sinnesorgane, als auch für die Tatorgane, in ersterer Beziehung mit dem, was wir Verstand, in letzterer mit dem, was wir den bewussten Willen nennen, nahezu sich deckend, das einheitliche Prinzip des bewussten Lebens, sowie
  • 5) der Mukhya Prana mit seinen fünf Verzweigungen das einheitliche Prinzip des unbewussten, der Nutrition dienenden Lebens ist.

Dieses alles, worüber das Nähere in unserem psychologischen Teile, sondert die Metaphysik ab, um die Seele, d. h. das eigentliche Selbst oder Ich, zurückzubehalten, welche als Zuschauer (Sakshin) allem individuellen Treiben beiwohnt, selbst aber nur scheinbar durch die Upadhis individualisiert, in Wahrheit hingegen mit der höchsten Gottheit identisch und wie diese rein geistiger Natur, reines Erkennen (Chaitanyam) ist.

Und hiermit berühren wir den Grundfehler des Vedantasystemes, welcher es unter anderm verschuldet, dass dasselbe keine eigentliche Moral hat, so nahe eine solche in reinster Gestalt seinem Prinzipe auch lag. Mit Recht erkennt der Vedanta als einzige Quelle, um zu einem wahren Nissen, zu einem Ergreifen des An-sich-Seienden zu gelangen, unser eigenes Ich, aber mit Unrecht bleibt er bei der Form stehen, in welcher sich dasselbe zunächst dem Bewusstsein darbietet, als ein Erkennendes, nachdem er doch schon den ganzen intellektuellen Apparat abgesondert und zum Nicht-Ich, zur Erscheinungswelt gezogen hatte, wie er denn auch, sehr richtig, als Wohnung der höchsten Seele nicht etwa in kartesianischer Weise den Kopf (über welchen Brih. 2,2 handelt) sondern das Herz bezeichnet.

Indessen ist das Geistige (Chaitanyam), wie wir sehen werden, in unserm Systeme eine Potenz, welche aller Bewegung und Veränderung in der Natur zugrunde liegt, daher auch z. B. den Pflanzen zugeschrieben wird, und somit eher die allem Seienden zukommende Fähigkeit der Reaktion gegen äußere Einwirkungen bedeutet, eine Fähigkeit, welche allerdings in ihrer höchsten Potenzierung als menschliches Erkenntnisvermögen, als Geist sich offenbart.

Siehe auch

Literatur

  • Vedanta für Anfänger von Swami Sivananda
  • Vedanta - Der Ozean der Weisheit von Swami Vivekananda
  • Paul Deussen: Das System des Vedanta, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906.
  • Soami Divyanand: Vedamrit - Die Botschaft der Veden. ISBN 3-926696-03-6 (Übersetzung der Veden auf Deutsch, Bd. 1); ISBN 3-926696-13-3 (Bd. 2); ISBN 3-926696-26-5 (Bd. 3)
  • Wilfried Huchzermeyer: Die heiligen Schriften Indiens - Geschichte der Sanskrit-Literatur.(edition-sawitri.de) ISBN 3-931172-22-8
  • Moritz Winternitz: Geschichte der Indischen Literatur, Leipzig, 1905 - 1922, Vol. I - III. Reprint in englischer Übersetzung: Maurice Winternitz: History of Indian Literatur, Motilal Barnarsidass, Delhi, 1985, Vol I - III
  • Sri Aurobindo: Das Geheimnis des Veda, 2. Auflage 1997, Hinder + Deelmann, ISBN 3-873481-65-0
  • Lokamanya Bâl Gangâdhar Tilak: Orion ou Recherches sur l'Antiquité des Védas, Milan, Éditions Archè, 1989

Weblinks

Seminare

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