Juweleninsel

Aus Yogawiki
(Weitergeleitet von Mani Dvipa)

Mitten im kosmischen Ozean des Lebens in seinem ursprünglichen Zustand liegt die Juweleninsel (Mani Dvipa), "golden und mit Rändern aus pulverisiertem Edelstein" mit ihren blühenden Bäumen; in einem Palast aus einem alle Wünsche erfüllenden Stein sitzt unter einem edelsteinbesetzten Zelt auf einem Edelstein-Thron die in Rot (Farbe der Schöpfung) gekleidete Weltenmutter (Jagadamba), die Devi, die das Universum, das Reich der Maya, hervorbringt. Die vom Ozean umgebene Juweleninsel ist ein shivaitisch-tantrisches Symbol für die Einheit des "Zwei-in-Einem", ein Yantra, das der inneren Versenkung des eingeweihten Gläubigen dienen soll.

Devi Andhava, eine Manifestation von Durga

Mehr Erläuterungen zur Symbolik der Juweleninsel im nachfolgenden Text aus dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des herausragenden Indologen Heinrich Zimmer (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993

Indische Mythen und Symbole - Kapitel 5: Die Göttin

Teil 2: Die Juweleninsel

Shiva und Devi, seine Gemahlin mit den vielen Namen — Kali, Durga, Parvati, Chandi, Chamunda, Uma, Sati etc. — werden als die uranfängliche zweifältige Personalisierung des Absoluten angesehen. Sie bilden die erste und anfängliche Entfaltung des Neutrums Brahman in die Gegensätze der männlichen und weiblichen Prinzipien. Die Tradition der religiösen Literatur der Tantras stellt einen unendlichen Dialog zwischen diesen beiden dar, wo jedes abwechselnd das andere lehrt und befragt. Durch dieses Zwiegespräch wird die geheime Wesenheit des Brahman dem menschlichen Verständnis näher gebracht und Unterricht in den Wegen gegeben, durch Ritus und Yoga zu ihr zu gelangen. Dabei bleibt der Ritus innerhalb der natürlichen, eingeborenen Begrenzungen des individualisierten menschlichen Bewußtseins, wie er durch die Shakti der Maya umwölkt wird; der Yoga aber geht über sie hinaus.

Von der heiligen Einung der Zwei-in-Einem gibt es viele Darstellungen. Eine Darstellung haben wir in Die Entstehung der Göttin bereits besprochen. Ein Werk des 8. Jahrhunderts aus dem Kailashanatha-Tempel in Elura — zeigt Shiva und seine Königin-Gemahlin feierlich in ihrem Bergwohnsitz auf dem Kailasha thronend. Die vollendete erhabene Heiterkeit und zeitlose Harmonie des Paares wird in diesem Relief durch ihre Antwort auf den Versuch eines Dämons betont, von unten her ihren Olymp zu erschüttern. Der Bösewicht in diesem Stück ist Ravana, der im Ramayana als Ramas Gegenspieler erscheint. Als ein großer Feind der göttlichen Macht war er in der Unterwelt eingekerkert worden und wurde durch die aufgetürmte Wucht von Shivas Berg niedergehalten. Hier ist er nun zu sehen, wie er sich plötzlich freimacht. Er erschüttert den Berg, und das Beben hat sich bemerkbar gemacht. Die Göttin in anmutiger, halblehnender Haltung wendet sich zu Shiva wie in einem plötzlichen Anfall von Furcht und ergreift seinen Arm. Aber der große Gott bleibt unbeweglich und hält, indem er ruhig seinen Fuß niederdrückt, alles in Sicherheit. Trotz Parvatis lebhafter Angstgebärde waltet eine Atmosphäre der Unbesorgtheit vor, die auch der welterschütternde, das All mit seinen zwanzig Armen rüttelnde Dämon nicht zu stören vermag. Als Zeugnis der Erhabenheit des göttlichen Paares sehen wir hier nicht den dramatischen Triumph des göttlichen Prinzips mittels einer heldischen Manifestation in einer der stürmischen, immer wiederkehrenden Schlachten des kosmogonischen Kreislaufes, sondern eine undramatische, fast antidramatische Vision ihrer unbesiegbaren Größe. Sie weilen jenseits aller Angriffe von der Erde her, jenseits selbst übermenschlich-dämonischer, in vollkommener Sicherheit.

Bagalamukhi Devi

In einer Miniatur aus dem 18. Jahrhundert weilen Shiva und Parvati wieder in ihrer entrückten Residenz. Diesmal erblicken wir ein Flitterwochenidyll. Nandin, der milchweiße Stier, Shivas animalischer Repräsentant und sein Tragtier steht im Vordergrund; Shivas Stab mit dem Dreizack hinten. Der Gott ist mit dem typischen Lendenschurz des Brahmanen-Asketen, einem schwarzen Antilopenfell, gegürtet und trägt in seinem schwarzen Haar die Mondsichel; Schlangen nehmen die Stelle der Armbänder und des anderen üblichen Schmuckes ein. Das Lager der Liebenden ist ein Tigerfell, die klassische Sitzdecke des Yogi. Nicht nur den Gegensatz des männlichen und weiblichen, sondern auch den des vollkommenen Liebhabers und Gatten finden wir hier überwunden.

Alle nur möglichen Polaritäten sprossen aus der übernatürlichen, zweilosen Zweiheit dieses zeitlosen, weltzentralen Schauspiels der Seligkeit. Kailasha ist der Berg des Herzens, in dem das Lebensfeuer, die Energie des Schöpfers, mit der Glut seines ewigen Ursprungs brennt, und zugleich im Puls der Zeit pocht. Hier sind Gott und Geschöpf aus einer Substanz, Ewigkeit und Leben ein und dasselbe. Dies ist der Berg — die Höhle, das Lager — des Entzückens, kosmogonischen Entzückens, wo die Welt und alle ihre Myriaden aus der Wiedervereinigung des Einen, das niemals Zwei war, hervorgehen. Die zarte, liebevolle Atmosphäre dieses vollendeten Liebesidylls ist typisch für die hinduistischen Szenen, die einen Gott und seine Gemahlin darstellen. Als das uranfängliche, in enger Umarmung begriffene Paar haben Shiva und Devi das Muster für zahllose ähnliche aufgestellt. Ebenso finden wir die allgemeinen Grundzüge für die Darstellung der Götter und ihrer Shaktis in den Richtungen des shivaitischen Buddhismus und des tibetanischen Lamaismus von Shiva und Devi abgeleitet.

Shiva und die Göttin stellen die polaren Aspekte der einen Wesenheit dar und können darum nicht uneinig sein; sie drückt seine geheime Natur aus und entfaltet sie nach außen. Einen verblüffenden Ausdruck hat diese Idee in einer späten Entwicklung der shivaitischen Tradition in Kambodscha gefunden, wo das Symbol des Lingams sich an den vier Seiten öffnet und unter anderen seine Macht darstellenden Figuren die Göttin selbst freigibt. In einem weiteren Beispiel hat die Göttin zehn Arme und fünf Köpfe, welch letzterer Zug symbolisch für Shivas universale Oberherrschaft ist, weil die fünf Köpfe ihn unmittelbar über den nur vierköpfigen Brahma stellen. Jene weibliche Gestalt ist die Wesenheit, die schöpferische Energie, die Shakti des phallischen Pfeilers.

Möglich, daß diese späte Entwicklung durch eine parallele Ausformung des höchsten buddhistischen Symbols, der Stupa, inspiriert wurde. Für Jahrhunderte blieben Buddhismus und Hinduismus ja nebeneinander und entwickelten sich Seite an Seite, den gleichen Einflüssen unterliegend, wie einander übers Kreuz beeinflussend, und brachten in ihren verschiedenen ikonographischen Systemen die gleichen Ideen zum Ausdruck. Die Stupa ist vom Lingam sehr verschieden. Es ist ein Reliquienschrein, der oft einen Knochen Buddhas enthält, und symbolisiert Ihn, der durch Erleuchtung das Erlöschen erreicht hat. Ein strenges, völlig anonymes Bauwerk, gekrönt vom Ehrenschirm universalen, spirituellen Kaisertums, repräsentiert es den Zustand des Nirvana, der jenseits aller Begriffe und Gestalten ist. In Bedsa gibt es eine Chaitya-Halle oder buddhistische Kirche, etwa aus dem Jahr 175 v. Chr. Das Monument ist aus dem lebenden Felsen gehauen. Es ist nach den Holzbauwerken früherer Jahrhunderte entworfen, von denen wir keine Zeugnisse mehr besitzen, und besteht aus einem großen, von Seitenschiffen flankierten und in einer Apsis endenden Mittelschiff. Die Seitenschiffe sind vom Mittelschiff durch Pfeiler getrennt, die nicht gebaut, sondern aus dem Leib des Felsens ausgehauen sind. Sie setzen sich um die Apsis herum fort, wo sie zusammentreffen. Anstelle eines Altars erblicken wir eine einfache Stupa, ernst, streng und erhaben, großartig und Schauder einflößend. Die Halle selbst ist bar jeden Schmuckes. Die puritanische Strenge der frühesten buddhistischen Auffassung dokumentiert sich hier eindrucksvoll. Die Intensität der Konzentration auf Ideal und Erfahrung des Nirvanas läßt jede Andeutung des Spiels der Gestaltenwelt überflüssig, zerstreuend und uninteressant erscheinen.

Dagegen halte man nun die Üppigkeit der Stupas aus den späteren Epochen. Ein Bauwerk aus dem frühesten 17. Jahrhundert in Ajanta zeigt die negative, abschreckende Schale des Nirvana, die jenseits menschlichen Begreifens, jenseits aller irdischen und himmlischen Gestalten ist, und nun ihren positiven Kern enthüllt: die Erscheinung des Siegreich-Erleuchteten, des weltüberwindenden Erlösers, der die verkörperte und personalisierte Substanz des Absoluten ist. Die reine So-heit oder Das-heit jenseits aller beschränkenden, mit Eigenschaften versehenen Attribute und Charakterzüge, ist in Ihm wieder erschienen, in Ihm, der mit ihr eins wurde, während er noch im Fleische blieb. Die Erscheinung Devis mitten aus dem äußersten Symbol der Mannheit, dem Lingam, brachte den Schock einer neuen Realsierung mit sich, nämlich daß der Gott und die Göttin, das Absolute und seine Spiegelung in Natur und Erscheinungswelt, letzten Endes eins sind. So gibt in dieser Stupa das plötzliche Hervorbrechen eines menschengestaltigen Buddhas aus dem Nirvana, der namenlosen Leere, zu verstehen, daß in der Helle der letzten Erleuchtung, in der alles Denken übersteigenden Erfahrung der »Weisheit vom gegenüberliegenden Ufer« (Prajna Para Mita) die höchste Polarität, nämlich die von Nirvana und Samsara, Freiheit und Gebundenheit, völlig vernichtet wird: die Erhabenheit des Nirvana und das wilde Spiel der gestalterfüllten Welten sind ein und dasselbe. Höchstwahrscheinlich fand während der jahrhundertelangen nachbarlich gemeinsamen Entwicklung der beiden Systeme in dem reichen spirituellen Boden des mittelalterlichen Indiens eine beträchtliche gegenseitige Einwirkung statt.

Kamalatmika Lakshmi mit Durga und Saraswati

Zugunsten der späteren Symbole läßt sich vieles sagen, so überschmückt und dunkel sie jemand erscheinen müssen, der seinen Geschmack an einer strengeren Tradition entwickelt hat. Eine Tiefe und Fülle des Sinns und der Andeutung gelangt mit ihnen zum Licht wie durch ein Zerbrechen und Zerfallen von Oberflächen. Staunend stehen wir vor Erscheinungen, die aus dem Verstand bisher verbotenen Tiefen auftauchen. Und eine weite, tiefe Versöhnung unserer Gefühle und unserer Urteilskraft mit allem, was uns bisher abscheulich oder absurd erschienen sein mag, entknüpft den letzten Widerstand des lebenden Ichs gegen den alleinschließenden, allbejahenden, allvernichtenden tod- und lebenspendenden Schoß des letzten Friedens.

Der Shiva-Symbolismus gräbt tiefer in das Mysterium des Zwei-in-Einem als jede andere Hindu-Überlieferung der Shakti-Verehrung. Das macht ihn besonders interessant und erleuchtend. Das Motiv der Vereinigung der Gegensätze wird hier in eindrücklichen Harmonien orchestriert. Doch um ihren inneren Sinn völlig zu erfassen, können wir uns nicht einfach auf unsere eigenen Hilfsmittel verlassen. Wir müssen eine sehr tiefe, sehr dunkle, shivaistisch-tantrische Überlieferung studieren, die in gewissen Miniaturen und den zu ihnen gehörigen literarischen Texten geschildert wird, wie z. B. in einer Darstellung der sogenannten »Juweleninsel« (Mani Dvipa). In jedem Detail reich an allegorischer Bedeutung, offenbart sie das Paar der Gegensätze, wie sie miteinander vereint sind, wie sie auseinander wachsen, sich gegenseitig tragen und einander das Gleichgewicht halten. Der Zweck des Gemäldes ist, als Modell oder Muster für den Aufbau der inneren Kontemplation des eingeweihten Gläubigen zu dienen. Es handelt sich um ein Yantra. Der Fromme soll es vor seiner inneren Vision entfalten und sich dann darauf konzentrieren, um sich mit seinen bedeutungsvollen Linien zu durchtränken und zu realisieren, daß sie die geheime Essenz, die Wahrheit, die esoterische Wirklichkeit sowohl der Natur, des Alls wie seines eigenen Seins erschließen.

Zuerst sehen wir die tiefblauen, ruhigen Wasser des Meeres der Lebenssubstanz. Ihre Melodie tönt aus dem Vorspiel von Wagners »Rheingold« und in der besänftigenden Passage der vorletzten Takte der »Götterdämmerung«, wo die Wasser den allgemeinen Weltbrand verschlingen. Es ist das Meer des ewigen Lebens in seinem ursprünglichen Zustand. Und genau wie in der Vishnu-Mythologie das Meer, von der kosmischen Schlange und dem ruhend hingelagerten Vishnu repräsentiert, den Lotos des Kosmos hervorbringt, der auf seinen Wassern schwimmt, so enthüllt hier die weite See unbegrenzter Lebensenergie, dieser Nektar-Ozean, dieses Elixier der Unsterblichkeit (Amrita Arnava), in seiner Mitte eine mystische Insel.

Der Ozean repräsentiert das »Außerlogisch Ungeheure«. Es ist eine Ausdehnung, die in sich selber schlummert, voll aller Möglichkeiten, und enthält die Keime aller widerstreitenden Gegensätze, all die Energien und Charakterzüge aller Paare zusammenwirkender Antagonismen. Und diese Energien sammeln sich und entwickeln sich hier in der Mitte auf der Insel, um aus dem schlummernden, ruhenden Zustand zur Schöpfung zu gelangen.

Kali Yantra

Das Meer, welches das universale Bewusstsein vertritt, läßt sich mit dem allgegenwärtigen subtilen Element des Äthers (Akasha) vergleichen, der in der Hauptsache den Raum darstellt und die Bühne für alle folgende Entwicklung und Entfaltung liefert. In Unterscheidung und Gegensatz zu diesem rund umgebenden Fluidum wird das Eiland als das metaphysische Machtzentrum betrachtet. »Der Tropfen« (Bindu) wird er genannt, jener erste Tropfen, der wächst, sich entfaltet, ausdehnt und in das faßbare Bereich unseres beschränkten Bewußtseins und des Alls verwandelt wird.

Die Insel ist golden und rund. Ihre Ränder bestehen aus pulverisierten Edelsteinen (Mani) — daher der Name des Eilands, Mani Dvipa. Es ist von blühenden, duftenden Bäumen bewaldet, und in der Mitte steht ein Palast aus dem kostbaren Stein, der alle Wünsche erfüllt (Cintamani) erbaut, eine Art von Lapis philosophorum, vom Stein der Weisen. Innerhalb des Palastes befindet sich ein juwelenbesetztes Zelt (Mandapa), unter dem auf einem goldenen edelsteinbesetzten Thron die Allmutter (Jagadamba, Matar) sitzt, »Die Schönste der drei Welten oder Städte« (Tripurasundari). Sie ist die Gottheit, die Energie des Bindu, der seinerseits der erste konzentrierte Tropfen der dynamischen Kraft der allgemeinen göttlichen Substanz war. Aus der Göttin treten die drei Weltsphären oder Himmel, Erde und der Raum zwischen ihnen, ins Dasein.

Die Farbe der Göttin ist rot, denn sie erscheint hier als schöpferisches Prinzip. Rot ist die kreative Farbe. Sie ist die uranfängliche Energie, welche die Entfaltung des Alls plant und hervorbringt. Vimarsa Shakti wird sie genannt; wobei Vimarsa »Überlegung, Durchdenken, Planung« und Shakti »Energie« bedeutet. Die Göttin ist die uns vertraute Maya: Ma ist »ausmessen, planen (nach der Art der Tischler und Architekten)«. Sie stellt die Fülle der Möglichkeiten und das mütterliche Maß der Welt dar. Vom Standpunkt der allenthaltenden, göttlichen Wesenheit her gesehen ist sie auch nur ein »Dieses«. In der Tat ist sie das erstgeborene »Dies«, das aus der ungeschiedenen, verborgenen Totalität heraustritt; die Quintessenz des »Dies«, das erste reine Erfahrungsobjekt für die höchste göttliche Eigenerfahrung, der sie selber enttaucht. Was der Mensch später (als ein spätes Ergebnis und Glied der Evolutionskette) »Materie« nennen wird, empfand das göttliche Bewußtsein zuerst als ein bloßes »Dies« oder »Anders«, das trotzdem mit dem höchsten Selbst wesensgleich war. Durch das Walten der Maya wurde jenes »Dies« allmählich vom Geist als etwas vom Selbst Getrenntes, Verschiedenes und außerhalb von ihm Bestehendes empfunden; es wurde als völlige »Anderheit« erfahren. Diese Erfahrung nun war identisch mit der Schöpfung der Welt.

In der Thronhalle der Juweleninsel hält die Göttin vier bekannte Waffen oder Instrumente in ihren Händen, die uns von ihren Darstellungen als der kriegerischen, dämonenvernichtenden Gottheit bekannt sind. Hier besitzen sie einen psychologischen Sinn und müssen auf der spirituellen Ebene verstanden werden. Die Göttin trägt nämlich Bogen und Pfeil, die Schlinge und den Stachelstock. Bogen und Pfeil bedeuten die Willenskraft (es gibt noch eine andere allegorische Ausdeutung von Bogen und Pfeil. Der Bogen bedeutet danach den Geist, der die fünf Pfeile, nämlich die fünf Sinne entsendet.Jeder von ihnen wird ausgeschickt, in Ton, Berührung, Licht, Geschmack und Geruch seine Entsprechung zu finden. Die Sinne und die ihnen entsprechenden Sinnesgegenstände sind aus identischen Elementen zusammengesetzt, nämlich: Äther (Hören — Ton), Luft (Tasten — Berühr-barkeit), Feuer (Sehen—Licht), Wasser (Schmecken—Geschmack) und Erde (Riechen — Duft). Solange sie in den fünf Sinnesfähigkeiten residieren heißt es von diesen Elementen, daß sie sich im Zustand der »subtilen Materie« (Sukshma) befinden, während sie in der Sphäre des Materiellen, Faßbaren angetroffen im Zustand der »groben Materie« (Sthula) sind. Durch diese substantielle Verwandtschaft und den gemeinsamen Ursprung ist jede der Sinnesfähigkeiten imstande, die ihr entsprechenden Objekte zu ergreifen); die Schlinge — der Lasso, der wilde Tiere fängt und im plötzlichen Angriff auf dem Schlachtfeld den Feind in Banden schlägt — das Wissen, die Meisterkraft des Intellektes, welche die Gegenstände erfaßt und mit festem Griff hält. Der Stachelstock, zum Treiben des Reit- oder Lasttieres bestimmt, bedeutet die Aktivität.

Inmitten der Thronhalle des Juweleneilands sitzt die rotfarbige Göttin auf zwei leblosen, mehr oder weniger leichenähnlichen männlichen Figuren, die einer auf dem andern auf dem sechsseitigen Thron liegen. Beide stellen Shiva als das Absolute dar. Die obere Figur heißt Sakala Shiva. Sakala ist die Zusammensetzung, Sa-kala; wobei Kala »ein Stückchen von etwas, einen kleinen Teil, ein Jota, ein Atom« bedeutet, insbesondere »einen Mondabschnitt«; sa heißt »mit«. Es gibt sechzehn Mondabschnitte: Sakala ist also der Mond im Besitz all seiner Abschnitte, »ganz, vollständig, komplett« — der Vollmond. Der Gegensatz zu Sakala ist Nishkala, »der Abschnitte oder wesentlichen Bestandteile beraubt«; der Neue Mond, der, obgleich in Wirklichkeit existierend, unsichtbar und unberührbar und offenbar nicht vorhanden ist. Die obere Figur ist also Sakala Shiva; die Gestalt darunter Nishkala Shiva: d. h. die obere Figur ist das Absolute in seiner vollen aktiven Gegenwart, die untere das Absolute in seinem transzendenten, schlummernden, ruhenden Zustand als bloße Möglichkeit.

Psychologisch verstanden stellt der obere Shiva das allenthaltende allwissende Überbewußtsein dar; der untere bedeutet das tiefste Unbewußtsein, auch allenthaltend, doch scheinbar leer, im Zustand der vollen Ruhe. Die zwei sind antagonistische, doch gleichwertige Aspekte des Absoluten, das alles und jedes enthält und widerspiegelt und in dem alle Unterschiede und Gegensätze verschwinden und zur Ruhe kommen. Das Absolute ist sowohl Fülle wie Leere, alles wie nichts. Es ist die Quelle und das Gefäß aller Energien, doch zu gleicher Zeit äußerste Trägheit, der tiefe und ruhige Schlaf aller Schläfer.

Sakala Shiva, der oberste der zwei, befindet sich in einem Zustand der Verwirklichung, weil er in leiblichem Kontakt mit seiner eigenen universalen Energie ist, der Shakti, der Göttin, dem weiblichen kreativen Prinzip, der wirksamen und materiellen Ursache des Alls, der Maya, welche die unterschiedlich gewordenen Elemente und Wesen hervorbringt. Sakala Shiva trägt die Mondsichel auf dem Haupt. Diese winzige zunehmende Sichel muß hier als Symbol für das erste Lautwerden des Tones aufgefaßt werden, d. h. der ersten Manifestierung des Elementes, das durch das Hören aufgenommen wird: des Äthers oder Raumes, des erstgeborenen und subtilsten aller fünf. Als das erste Element sinnlicher Erfahrung und dem uranfänglichen Äther zugesellt repräsentiert dieser »Ton« (Nada) den »Zustand der Macht«. Der Yogi erfährt ihn, wenn er tief in sich selbst hinabtaucht. Er offenbart sich im Herzschlag. Und da der Mikrokosmos letzten Endes mit dem Makrokosmos identisch ist, so lauscht der Yogi, wenn er diesen Nâda, den »Ton der Macht«, vernimmt, dem Herzschlag des Absoluten. Es ist die universale Lebensmacht, die sich hier innerhalb seines eigenen, zerbrechlichen Rahmens manifestiert. Damit gelangt er nahe an die endgültige Erfahrung des Absoluten selbst.

Jede Einzelheit der Juweleninsel ist zur Visualisierung bestimmt und als ein Aspekt der innersten Tiefe der Seele zu verstehen. Sakala Shiva pulst vom widerhallenden »Ton der Macht«, weil er in unmittelbarem Kontakt mit dem aktiven, schöpferischen, weiblichen Prinzip steht. Da er reine Bewußtheit ist, spontane Selbsterleuchtung (Svaprakasha), ist er weiß. Die Göttin über ihm, seine eigene Energie (Shakti), hilft ihm, sich als das All, das zugleich ist und wird, zu entfalten. Er ist die unbefleckte Spiritualität des Selbstes, die aus sich selber leuchtet; sie ist die Gestalterin der Gestalten, während er die Formen, die sie entfaltet, erleuchtet.

Doch unter diesem Sakala-Shiva liegt ein anderer, Nishkala-Shiva, sein Zwilling oder Doppelgänger. Die Augen der Figur sind geschlossen, und ihr Weiß ist weniger leuchtend als farblos. Niskala bedeutet »ohne seine Bestandteile«. Wenn auf einen Mann angewendet, heißt es »erschöpft, altersschwach, alt«, wenn auf eine Frau »unfähig, Kinder zu gebären, steril«. Hier auf Shiva übertragen bezeichnet es das Absolute im geschehenslosen Zustand. Nishkala-Shiva ist das wandellose, sterile Absolute, leer jedes Energie-Antriebes zur Schöpfung und kosmogonischen Verwandlung. Es ist das Absolute als höchste Leblosigkeit, als uranfängliche und letzte Bewegungslosigkeit, als erhabenste Leere, wo nichts pulst und nichts sich regt.

Kali tanzt auf Shiva

Nishkala-Shiva wird »toter Körper, Leichnam« (Shava) genannt. Im Sanskrit verbirgt sich in der Nebeneinanderstellung der beiden Namen Shava und Shiva ein sinnvolles Wortspiel, das auf einer Besonderheit in der Schreibart des Sanskrit beruht. Einmal verstanden, gibt es eine sehr klare Formel für die Bedeutung der drei symbolischen Personen auf dem Juweleneiland. In der klassischen Devanagari-Schrift stellen die Grundzeichen Konsonanten zusätzlich des Vokals a dar. Um das a in ein i zu verwandeln wird ein besonderes, unserem 'f' etwas ähnliches Zeichen, ein i, angefügt. Wird dieses das Zeichen aus dem geschriebenen Namen Shivas herausgelassen, bleibt die schriftliche Bezeichnung für Shava. Ohne dieses i ist Shiva nur ein Leichnam, ein Shava. Wer oder was nun ist dieses belebende Vokalzeichen oder i, wenn nicht die Göttin, Shakti, die höchste Repräsentantin von Bewegung und Leben? Das Absolute (Brahman) in und bei sich selbst betrachtet, leer von dieser aktivierenden, belebenden Energie, dieses Zeichens für seinen schöpferischen kosmogonischen Impuls (Maya) ist nur eine Leiche. Der deutsche Philosoph Hegel spricht in dem krönenden Schlußparagraphen seines großen Werkes »Die Phänomenologie des Geistes« von diesem selben Letzten als dem leblosen Einsamen. Solchermaßen als Shava betrachtet, als Brahman von der Maya verlassen, kann Shiva nichts tun — wenigstens, soweit es die Manifestation betrifft; er ist nichts; er ist nichts als die Null.

In der Thronhalle des Juweleneilands ist Nishkala-Shiva von der roten Lebensenergie getrennt im Gegensatz zu Sakala-Shiva, der in leiblicher Berührung mit der oberen weiblichen Figur ist. Weil er von ihr getrennt ist, ist Shiva ohne das i Shava, ein Leichnam. Dieser Punkt wird im Bild und der Doktrin, die sich damit verbindet, auf das Stärkste betont. Und diese Unterstreichung gibt der Würde und erhabenen Kraft der Gottheit weiteren Nachdruck. Sie ist die Maya, welche die Welt hervorbringt, sie ist die Mutter unserer individuellen und geschwind vorübergehenden Leben. Obgleich diese unsere Leben im Drehrad der Wiedergeburten, wo alles seinen Zweck verfehlt, gefangen und mit Leiden und Schuld, Sünden, Grausamkeiten und absurden Täuschungen beladen sind, stellen sie dennoch die einzigartigen Manifestationen der göttlichen Energie dar. Durch die Geschehnisse des universalen Lebens ist das Göttliche zur Wirklichkeit der Erscheinungswelt geworden. Was immer wir empfinden oder erfahren mögen und einerlei, wie wir es tun, ob deutlicher oder dunkler, alles, sowohl wir als unsere Welt, ist eine Offenbarung der unermeßlichen Unendlichkeit der göttlichen Energie. Daher die erhabene Geheiligtheit der Maya — was immer sie bedeuten oder sein mag.

Trotz unserer Bedrängnis, unserer Schwächen, bilden wir dennoch Teilchen jener großen, überströmend-spielenden Entfaltung. Wir sind Emanationen oder Kinder des Absoluten: wir sind aus seiner Herde; wir weilen in seinem Schoß; wir können nicht verloren gehen. Als Individuen gehen wir durch alle Arten von Unglück und erleiden am Ende die Vernichtung. Doch gleichzeitig sind wir als Individuen Strahlenbrechungen der göttlichen Lichtsubstanz. Wir haben nicht nötig, auf die Suche nach dem Absoluten in und bei sich selbst zu gehen, dem Absoluten, das wie eine Leiche hingestreckt in seiner ersten und letzten Unbeweglichkeit schlummert.

Denn die wahre und wirkliche Lebensessenz, die Energie des Absoluten, ist in allem, was uns umgibt, kraft der verwandelnden Gewalt der Göttin, Shakti, der Mutter, offenbar. Alles vor unseren Augen ist sie. Alle Dinge eilen wie rasend der Vergessenheit des Todes zu; sie läßt neues Leben aus ihrem unerschöpflichen Schoß strömen. Die Philosophen haben ihre Denkspiele mit dem Dasein getrieben und sind ihm ausgewichen; die Asketen haben es beschimpft und geflohen, um auf die titanische Suche nach dem »Leichnam« zu gehen: und dabei ist das wahre Absolute doch unter seinem dynamischen Aspekt als spielende, unbarmherzige Energie unser Leben und ist in uns und die Wirkungen unserer verwirrten Gedanken und Taten verwandelt worden. Wenn wir als fromme Weltkinder die Göttin verehren, sind wir dem Göttlichen nicht ferner als die Yogis. Sie realisieren das Absolute in ihrem innersten Selbst in einem Zustand ruhiger Untätigkeit, erhabener Stille und transzendenten Friedens. Wir dagegen sind das Absolute gerade indem wir Kinder Mayas, der Welt, sind.

Diese Weisheit der Juweleninsel scheint uns zunächst mit ihrer offenbaren Rechtfertigung unserer unspirituellen Neigungen zu schmeicheln; aber schon der nächste Gedanke zeigt uns, daß dieses tiefe, dionysische, jenseits aller Moral stehende, ganzherzige »Ja« in seiner Haltung völligen, widerstandslosen Annehmens im Endergebnis genau so abenteuerlich und hart ist wie die totale Lebensleugnung des Asketen. In Indien schwingt der Pendel des Denkens zwischen Extremen, unmenschlichen Extremen, übermenschliche Haltungen andeutend und auf außermenschliche Ziele zeigend. Auf der einen Seite finden wir eine pessimistische Kritik des Daseins in Lehren und Praktiken vom strengsten asketischen Charakter, in denen der Traum des Lebens als furchtbarer, nur von einem Erwachen zu beendender Alpdruck betrachtet wird. Die menschliche Existenz ist nichts als ein Sprungbrett, das in einem erhabenen Aufschwung zu der übermenschlichen, übergöttlichen, außerkosmischen Seinssphäre hinter sich zu lassen ist, die jenseits des Zauberschleiers der Welt liegt.

Auf der anderen Seite aber, im Symbolismus der Tantra, ist diese selbe Maya, welche die wahre göttliche Realität versteckt und das Selbst im Blendwerk der individuellen Persönlichkeit und im Spiel des vergänglichen Alls verbirgt, irgendwie eben dieses Selbst, das wahre und eigentliche Absolute: reiner Geist und reine Seligkeit. Maya ist einfach der dynamische Aspekt des Absoluten. Darum ist alles und jedes eine Offenbarung, eine Enthüllung, eine besondere Erscheinung der einen und alleinigen göttlichen Wesenheit. Dies kommt einer so vollständigen, nicht mehr unterscheidenden Heiligung von allem und jedem auf der irdischen Ebene gleich, daß keine Notwendigkeit mehr für den Yoga, für die Sublimierung durch Askese besteht. Die Kinder der Welt sind in unmittelbarer Berührung mit dem Göttlichen, wenn sie nur imstande sind, alles als Teil und Stückchen seiner immer sich wandelnden und immer geschehenden Selbstoffenbarung zu betrachten. In Sinnbildern wie diesem von der shivaitischen Tantra-Philosophie hervorgebrachten nimmt die Maya einen überraschenden Aspekt an. Die alte, »fluchbeladene Maya von düsterer und wehevoller Gestalt« wie Vishnu sie selbst nannte, als er Narada ihren Zauber erfahren ließ, diese Maya, deren Macht zu entrinnen selbst für glühend eifrige und vorgeschrittene Heilige so schwierig ist, wird plötzlich zur Offenbarung, zur eigentlichen Inkarnation der göttlichen Energie des Absoluten.

Das Leben mit all seinen Eigenheiten und Erfahrungen, das All in seinem Hader und Verfall, die das göttliche Selbst in uns verdecken, sind dennoch heilig und göttlich. Gleich unter dem Schleier der Maya, dem magischen Blendwerk des Alls, wohnt das Absolute. Und Mayas Energie ist nichts als die Energie des Absoluten unter seinem dynamischen Aspekt. Shakti, die Göttin, enttaucht dem Nishkala-Shiva, auf daß er die Fülle seiner Möglichkeiten zeigt, wie der Mond sein volles Rund enthüllt.

Die drei Figuren — Nishkala-Shiva, Sakala-Shiva und Shakti-Maya — die, eine über der anderen, aufeinander gestellt sind, können nach oben oder nach unten gelesen werden, je nachdem ob es sich um die Entfaltung oder Wiedereinfaltung des Absoluten in seiner Offenbarung und seiner Wiederzurücknahme des Alls handelt. Nishkala-Shiva ist das Absolute, die göttliche Wesenheit in und bei sich selbst, jenseits von Geschehen und Wandlung, inaktiv, schlummernd und leer. Sakala-Shiva verkörpert den Zustand, in dem das Absolute seine unbegrenzten Möglichkeiten der Differenzierung in das All hinein zeigt. Shakti-Maya ist die Energie des Absoluten, das sich selbst offenbart, indem seine statische Ruhe sich in schöpferische Energie verwandelt.

Wenn man so das Bild von unten nach oben liest, entfaltet sich das Absolute durch drei Aspekte oder Stufungen hindurch. Vom Pol der leblosen Trägheit mit seiner Inaktivität und Leere gelangt es zu dem anderen unbegrenzter Aktivität und dynamischer Differenzierung, zum von Geschöpfen wimmelnden und von verschiedensten Gestalten überströmenden All. Von oben nach unten gelesen aber drücken die drei Figuren abgekürzt das Fortschreiten des Yogi-Initiierten vom normalen Bewußtsein zur Realisierung des Selbstes aus. Sie bezeichnen den Weg zurück von der Sinnenerfahrung und dem Gewahrsein des Intellektes über die Fülle individuellen Bewußtseins, der strahlenden und reinen Wesenheit Sakala-Shivas zur völligen Selbsteinschmelzung in die äußerste Leere, Nishkala-Shiva, der in erhabener Stille seiner selbst nicht mehr bewußt ist.

Das symbolische Modell soll den Eingeweihten auf einem Weg introvertierter Regression zu dem Zustand jenseits aller Eigenschaften, Beschränkungen und Formen führen. Dieses psychologische Geschehen verläuft in Zeit und Raum. Zeit und Raum aber sind nichts als Kategorien unseres individuellen beschränkten Bewußtseins, und zwar die allerelementarsten Beschränkungen oder Rahmen unseres menschlichen Empfindens und Begreifens. Sie können keine Beziehung auf das transzendente Absolute haben. Was dem menschlichen Denken des Yogi-Adepten als eine Folge oder Stufenreihe entgegengesetzter Zustände erscheint, die von der Maya des normalen individuellen Bewußtseins (der Shakti oben) zu der Erfahrung des höchsten Selbstes (Shiva unten) fortschreiten, ist vom Standpunkt des Absoluten aus keine Aufeinanderfolge. Die drei sind nur Aspekte derselben einzigartigen und ewigen Wesenheit. Die Wahrheit ist Leere und Fülle, alles und nichts. Indem er seinen Geist auf diese Wahrheit sammelt, soll der Eingeweihte schließlich zur Realisierung der grundsätzlichen Wesenseinheit der individuellen Persönlichkeit mit dem universalen Selbst gelangen. Er soll das, was in ihm sterblich, und das, was unvergänglich ist, als dasselbe erkennen; er soll entdecken, wie das Wandelbare und das jenseits aller Wandlungen Befindliche zusammenfallen. So soll er am Ende lernen, die Maya seiner vorübergehenden, zerbrechlichen Existenz als eine dynamische Ausstrahlung des Ewigen Selbst zu bejahen.

In dem Bild der Juweleninsel thront Shakti, die göttliche Energie, in der Haltung Brahmas, des Demiurgen, der das All nach den Diktaten der heiligen Weisheit der Veden entstehen läßt, deren Manukript er in seinen Händen hält. Die Göttin zeigt hier so einen sehr positiven, außerordentlich gnädigen, rein schöpferischen Aspekt der höchsten Lebensenergie. Es handelt sich um die sogenannte »Nachdenkende Shakti (Vimarsha Shakti)«, wie sie die stufenweise Entwicklung des Alls überlegt und plant. Aber die Energie des Seins ist im Endergebnis nicht weniger zerstörerisch als schaffend; so auch die Göttin. Leben nährt sich von Leben. Letzten Endes wird jedes Geschöpf Nahrung für ein anderes. Die alternde und sterbende Generation wird durch eine jüngere ersetzt, die ihr dicht an den Hacken drängt. Was die Göttin gnädig dem einen gewährt, hat sie dem anderen unbarmherzig weggenommen. Beim Studium des reichen und bedeutungsvollen Mani-Dvipa-Symbols fühlt man sich fast zu der Bemerkung veranlaßt, daß dieser Göttin der Juweleninsel etwas fehlt. Zumindesten vom Standpunkt des Absoluten aus; denn die Göttin in ihrem Brahma-ähnlichen Vimarsha-Aspekt ist zu wohlwollend, zu wohltätig und heiter. Sie bringt nur die positive Seite der Shakti-Maya zur Anschauung. Wir müssen nun sehen, wie die Kehrseite der Münze in der furchtlosen Welt des indischen Mythos und der indischen Kunst dargestellt wird.

Man kann sagen, daß die Göttin durch ihre weibliche Natur das lebengebärende, lebenernährende mütterliche Prinzip klar genug repräsentiert. Dieser ihr positiver Aspekt braucht kaum noch weiter betont zu werden. Aber der zum Gleichgewicht nötige, negative Aspekt, nämlich ihre ewige Zerstörerrolle, in der sie die hervorgebrachten Geschöpfe wieder zurücknimmt und verschlingt, bedarf des Schocks des lebhaftesten Entsetzens, wenn er richtig ausgedrückt werden soll. Zu diesem Zweck wird sie als Kali, »Die Schwarze«, dargestellt. Kali ist die weibliche Form des Wortes Kâla, das »Zeit« bedeutet — Zeit, das alles hervorbringende, alles vernichtende Prinzip, in dessen Fließen alles, was ins Dasein gelangt, nach dem Erlöschen des kurzen ihm zugeteilten Lebenszaubers wieder verschwindet.

Es gibt eine gefeierte Hymne an Kali, die Göttin, von dem berühmten Shankaracharya, dem großen Philosophen und Theologen um ungefähr 800 n. Chr., dem Thomas von Aquino der orthodoxen vedantischen Einheitslehre. Er war ein glühender Verehrer der Göttin. In dieser Hymne redet er sie zuerst in der klassischen Form an, indem er die Fülle ihres Wesens feiert als »derjenigen, die in der Gestalt der Energie ihre Wohnung in allen vergänglichen Wesen nimmt« (Ya devi sarrabhuteshu shakti rupena samsthita).

Woraufhin die Göttin von sich selbst sagt:

»Wer Nahrung ißt, ißt Nahrung durch mich;
Wer mit seinen Augen sieht,
Wer atmet,
Ja wahrlich, wer hört, was auch immer gesagt wird,
Tut es durch mich.«

Sie ist »reich an Nahrung und Besitzerin der Fülle eßbarer Dinge« (Annapurna). In der rechten Hand hält sie eine goldene, mit seltenen Juwelen geschmückte Schöpfkelle (Gold, das nichtrostende Metall, ist Sinnbild für Leben, Licht, Unsterblichkeit und Wahrheit) und in ihrer Linken das Gefäß des Überflusses, aus dem sie all ihren Kindern im ganzen All süßen Milchreis austeilt, »die beste aller Speisen« (Parama Anna).

Aber gleich darauf in der nächsten Stanze beschreibt Shankarachârya die Göttin in ihrem anderen Aspekt, wie sie in vier Händen nicht Sinnbilder des Überflusses, sondern des Todes, der Entsagung und des spirituellen Weges der frommen Hingabe hält. Es sind die Schlinge (der Lasso, der das Opfer fängt und erwürgt), der eiserne Haken (der das Opfer zum Tod schleift), der Rosenkranz und das Gebetbuch. Shankaracharya ruft sie an:

»Wer bist Du, O Allerschönste! Verheißungsvolle!
Du, deren Hände beides halten: Lust und Pein?
Beides: des Todes Schatten und der Trank der Unsterblichkeit
Sind Deine Gnade, Mutter!«

Damit soll gesagt werden, daß das schöpferische Prinzip und das zerstörende ein und dasselbe sind. In der göttlichen kosmischen Energie, die in der Biographie und Geschichte des Alls sich manifestiert, sind beide im Einklang.

Kali bringt die Welt hervor und verschlingt sie wieder

Unzählige Darstellungen der verschlingenden Schwarzen Kali schildern diesen völlig negativen Aspekt der universalen Mutter, der Alma Mater, »des Schattens des Todes«. Eine nordindische Plastik zeigt sie als ausgemergelte Hexe mit knochigen Fingern, vorstehenden Zähnen und unersättlichem Hunger, ein Bild des egoistischen, unedelmütigen Alters mit kalt gewordenem Blut, zäh im Verfall und von Gefräßigkeit besessen. Der Hunger nach Leben, der uns all unser Dasein treibt, der den wonnigen Säugling schreien und nach den Brüsten seiner Mutter greifen läßt, um in der süßen Milch ihr Herzblut zu trinken, zeigt sich hier in seiner ekelhaftesten Gestalt, abscheulich und doch ebenso spontan, »natürlich« und unschuldig wie die bezaubernde Gebärde des zarten Kindleins. Die Göttin nährt sich vom Eingeweide ihres Opfers. Und wer von allen geborenen Wesen wäre nicht ihr Opfer? Sie zerreißt den Leib, zieht die Eingeweide heraus und verschlingt sie gierig. Dies ist die Speise, die sie liebt, noch dampfend vom letzten Atem des erlöschenden Lebens. Eine Glorie züngelnder Flammen umgibt sie, die Aureole des tanzenden Shivas: es sind die Flammenzungen des großen Weltbrandes, der am Ende einer Weltperiode (Kalpa) alles in Asche legt. Aber diese Flammenzungen sind zugleich in unaufhörlicher, leckender Bewegung: Leben nährt sich von Leben. Für jedes Geschöpf, das neugeboren in die Welt tritt, kehrt ein anderes zur Erde zurück.

Genau so wie die Schöpferin als von einem Ozean umgeben und getragen vorgestellt wird, so auch dieser negative, vernichtende Aspekt der Mutter Shakti. In den Tantra-Texten gibt es eine ungemein eindrucksvolle, lebhafte Beschreibung der Gestalt, in der man sie sich vorzustellen hat, mit allen Einzelheiten. Sie steht in einem Boot, das auf einem Meer von Blut schwimmt. Dieses Blut ist das Lebensblut ihrer Kinder, die sie hervorbringt, erhält und zurückverschlingt. Sie steht über ihm und schlürft den berauschenden Trank des warmen Blutes aus einem Schädel, den sie an ihre unersättlichen Lippen hebt. Dies ist der »andere Aspekt« der rötlichen Herrin des Juweleneilands und der kristallklaren, blauen Wasser.

Immer wenn die Totalität und nicht nur ein einzelner Aspekt der Wesenheit der Göttin den Gegenstand einer Darstellung bildet, ist es nötig, daß ihr doppelter Charakter in ihrer Gestalt zum Ausdruck kommt. Das will sagen, daß der Nachdruck auf die tödlichen, negativen Züge zu legen ist; denn die mütterliche, positive, anziehende Seite ist schon durch ihre Weiblichkeit gegeben.

Als die »Schönste der drei Sphären des Alls«, als die eine und einzige »Sie« ist diese majestätische und wunderbare Gestalt die Verkörperung menschlicher Wünsche und Seligkeiten, das archetypische Objekt allen Verlangens und allen Denkens. Um die volle Bedeutung Shakti-Mayas dazustellen, muß dieses verführerische, nie seinen Charme verlierende Ewig-Weibliche unserer Seele dunkel gemalt und mit den Symbolen der Zerstörung und des Todes sowohl als den Sinnbildern des Lebens bekleidet werden.

In einer tantrischen Kângrâ-Malerei — Kali wie sie auf Shiva-Sheva steht — haben wir diesen totalen Aspekt der Göttin. Vor uns erscheint wieder die sechseckige Plattform, aber diesmal keine Juweleninsel, kein kristallener Ozean unerschöpflichen Lebens. Statt dessen sind Schädel und Knochen ringsherum gestreut. Raubtiere tun sich an den Überresten gütlich, und wilde Tiere streifen herum. Links im Hintergrund ist eine Gruppe von Gottheiten des Hindu-Olymps zusammengedrängt und blickt mit Schrecken auf diese Erscheinung der dunklen Herrin der Welt. Sie ist ganz schwarz. Anstelle einer Blumenguirlande baumelt ihr ein Kranz abgeschnittener Köpfe vom Hals bis zu den Knien. In der einen Hand trägt sie das Schwert, das Sinnbild physischer Auslöschung und spiritueller Entscheidung, das Schwert, das Irrtum und Unwissenheit und die Hülle des nur individuellen Bewusstseins durchschneidet. Die andere rechte Hand hält ein ungewöhnliches Symbol, nämlich eine Schere, die den Lebensfaden durchtrennt. Aber in ihren beiden linken Händen hält sie die Schale dar, die Überfluß an Nahrung spendet, und das Lotossymbol ewiger Zeugung.

Unter den Füßen dieser Göttin sind wieder die zwei Shivas. Der unterste ist als ein bärtiger nackter Asket dargestellt, leblos und schlummernd, weil er außer Kontakt mit Shakti ist, der lebensschenkenden und lebensnehmenden Energie. Er ist Shava, die Fülle des Absoluten als vollkommene Leere, ganz »tot vor Unsterblichkeit« (um eine Formel Nietzsches aus seinem »So sprach Zarathustra« zu gebrauchen). Über ihm liegt sein wunderschöner, junger Doppelgänger, sich wie im Traum leicht regend, als ob er erwachen wollte. Dieser lebende Shiva erhebt sein Haupt und beginnt seinen rechten Arm zu rühren. Ihn belebt die Berührung mit den Füßen der Göttin, welche die Verkörperung seiner eigenen Wesenheit ist, und die als solche sich auch als die Zerstörerin offenbart. Sie ist die inkarnierte Vernichtung, die unendliche Zerstörung wie sie von dem zeugenden, lebensgebärenden Ewig-Weiblichen, dem charme éternel, hervorgebracht wird.

Eines der beliebtesten Sinnbilder für die ewige liebende Vereinigung des Gottes und seiner Gemahlin ist das der Göttin Kali, der Schwarzen, wie sie bunt geschmückt mit den bluttriefenden Händen und Köpfen ihrer Opfer auf dem hingestreckten leichenähnlichen Leib ihres Herrn und Gemahl einherschreitet. Die Göttin ist der weibliche Partner des Zwei-in-Einem, die treue Gattin, das ideale Eheweib der Hindumythologie und -überlieferung. Und doch tritt sie auf den leblosen Leib ihres Geliebten und einzigen Gefährten. Schwarz wie der Tod streckt sie die Zunge aus, um die Welt aufzulecken; ihre Zähne sind grausige Hauer. Aber ihr Leib ist geschmeidig und wunderschön und ihre Brüste sind prall von Milch. Paradox und schauerlich ist sie heute die beliebteste und weitestverbreitete aller Personifikationen des indischen Glaubens. Für uns im Westen erscheint es mehr als schwer, diese Mutter Indiens, diese entsetzlich-schöne, liebkosend-mörderische Versinnbildlichung zu lieben, die das zeitlose Indien für die Ganzheit des Weltschöpfend-Zerstörenden, Essend-Gegessenen geschaffen hat. Sind wir doch im Schatten der gotischen Kathedralen aufgewachsen, wo die milde Figur der Gnadenmutter vom dunklen Prinzip unbefleckt bleibt, unberührt von der Giftbrut der Schlange, deren Haupt niederzutreten sie erschienen ist, von den Höllenhorden und Ungeheuerherden, die über die Außenmauern und die Türme schwärmen. Dennoch können wir aus Indiens tantrischer Philosophie und Kunst lernen, wenn sie die reichen Hegel-schen Andeutungen und Folgerungen ihrer Dialektik entfalten. In dieser völlig desillusionierenden und weltbejahenden, lebensvollen Hervorbringung der letzten großen Epoche schöpferischen indischen Denkens offenbart sich uns die Göttin in der Fülle ihrer schrecklichen Schönheit.

In den Illustrationen, die den Texten angefügt und als Yantras für den Aufbau der Yoga-Visualisierungen bestimmt sind, um die inneren Erfahrungen des Tantra-Gläubigen in die richtigen Bahnen zu lenken, können auch wir — wenn wir betrachtend innehalten — etwas entdecken, was zu uns von einem Wunder jenseits aller Schönheit und aller Häßlichkeit sprechen will, von einem Frieden jenseits von Geburt und Tod.

Dieses äußerste Symbol der Göttin, wie sie auf ihren Herrn und Gemahl tritt, wird durch ein anderes Sinnbild ihrer Verbindung ins Gleichgewicht gestellt: Shiva Ardhanitri zeigt Shiva »halb als Weib«. Hier vereinigen sich die antagonistischen Prinzipien zur Bildung eines einzigen paradoxen Organismus, der die im Innern zweifaltige Natur des Alls und seines Einwohners, des Menschen, darstellt.

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Siehe auch

Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?

  • Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
1.1 Die Parade der Ameisen
1.2 Das Rad der Wiedergeburten
1.3 Die Weisheit des Lebens
Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
2.1 Vishnus Maya
2.2 Die Wasser des Daseins
2.3 Die Wasser des Nichtseins
2.4 Maya in der indischen Kunst
Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
3.1 Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha
3.2 Gottheiten und ihre Träger
3.3 Schlange und Vogel
3.4 Vishnu als Besieger der Schlange
3.5 Der Lotos
3.6 Der Elefant
3.7 Heilige Flüsse
Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
4.1 Fundamentale Gestalt und spielende Manifestationen
4.2 Das Phänomen der expandierenden Gestalt
4.3 Shiva-Shakti
4.4 Der große Oberherr
4.5 Shivas Tanz
4.6 Das Antlitz der Glorie
4.7 Der Zerstörer der drei Städte
Kapitel 5: Die Göttin
5.1 Die Entstehung der Göttin
5.2 Die Juweleninsel

Literatur

Seminar

27.12.2024 - 03.01.2025 Indische Rituale Ausbildung
Du interessierst dich für indische Rituale? Du hast die einzigartige Gelegenheit, in dieser Rituale Ausbildung bei Yoga Vidya die kleine Puja, große Puja, Agnihotra, Homa, Yajna, Arati kennenzulernen…
Nada Gambiroza-Schipper, Prof Dr Catharina Kiehnle, Shivapriya Grubert
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Vedamurti Dr Olaf Schönert, Tara Devi Anja Schiebold