Form
Die Formensprache des rein linearen Yantra
Artikel aus: Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild, 1987, S. 171 bis 184
Das rein lineare Yantra
Warum ein einfaches lineares Yantra?
Die Schilderungen innerer Bilder göttlicher Erscheinungen, wie sie das Prapancasara-Tantra und andere Vertreter der Tantraliteratur als verbindliche Vorstellungen vom Göttlichen lehren, eignen sich vielfach kaum zu Gegenständen plastischer Darstellung. Die Abschnitte des Agnipurana, die Vorschriften über die richtige Anfertigung figuraler Kultbilder enthalten, beschränken darum den zur Versinnbildlichung göttlicher Wesenheit notwendigen Apparat an Symbolen im Vergleich zu den Lehren der Tantras außerordentlich.
Aber auch die malerisch-zeichnerische Darstellung der Götterschilderungen der Tantras stellt hohe Anforderungen an natürliches Geschick und technische Schulung. Tempel und Klöster konnten über beide verfügen dank eines lebendigen Kunsthandwerks, das sich in ständisch abgeschlossener Familien- und Schultradition fortgepflanzt, oder dank klösterlicher Übung, die sich von einer Mönchsgeneration auf die nächste vererbte. Zeugnis solcher künstlerischen Klostertradition ist das abgebildete tibetische Mandala. Aber die Tantralehren handeln vornehmlich von häuslichem Kult, der sich vom Vater auf den Sohn forterbt und sich erblich unter den Augen und in der Lehre des erwählten geistlichen Lehrers der Familie vollzieht. Wie Lehre und Einweihung sich in der Familie von Generation zu Generation erneut fortzupflanzen pflegt, erbt sich das Amt des Lehrers und geistlichen Beraters der Familie (Guru) im Geschlecht des Lehrers fort.
Die Religiosität der Tantras ist an das Haus gebunden und lebt sich im Schoße der Familie aus. Der Eingeweihte ist zumeist sein eigener Priester. Für das Gerät, das er zu seinem Gottesdienst benötigt, ist er darum im Ganzen auf sich selbst gestellt. Die Bedürfnisse des häuslichen Kults sind aber mannigfach, je nach den Bedürfnissen des Tages und den Wunschzielen des Einzelnen. Für alle Notstände und Wünsche des Lebens wie für die Erhebung über alle menschliche Bedürftigkeit halten die Tantras rituale Bräuche bereit, die sich von Fall zu Fall sehr verschiedenen Erscheinungsformen des Göttlichen zuwenden und für deren Verehrung verschiedener ritueller Stoffe, vor allem aber verschiedener Yantras, bedürfen.
Grund genug also, diese Yantras bei aller Korrektheit, die das Geheimnis ihrer Zweckmäßigkeit ist, möglichst einfach zu gestalten, damit auch ein technisch Ungeschulter je nach Bedarf die verschiedensten unter ihnen für sich verfertigen und in Gebrauch nehmen kann. Der Eingeweihte muß zudem von fremder Hilfe handwerklich Geschulter unabhängig sein, denn er bedarf der Yantras in vielen Fällen zu persönlichen Zwecken und magischen Praktiken, deren Absicht er geheim halten muß.
Darum stehen neben den figuralen Kultbildern (Pratima) und den Yantras mit kunstvoller figuraler Füllung, die mit ihrer künstlerischen Ausführung auf lange Lebensdauer in Tempeln, Klöstern und Hausaltären berechnet sind, rein lineare Yantras als eine formal sehr viel bescheidenere Gattung, deren Herstellung keiner besonderen handwerklichen Schulung und Geschicklichkeit bedarf, sondern nur des Wissens durch Einweihung. Sie können von Fall zu Fall mühelos geschaffen werden, wie Bedarf es erheischt.
Vergleich des linearen Yantras mit dem figuralen Mandala
Formal sind diese rein linearen Yantras den figural erfüllten (z. B. den tibetischen Mandala-Malereien) eng verwandt. Beiden Typen ist die symmetrisch-konzentrische Flächenaufteilung gemeinsam und deren linearen Elemente: z. B. Kreislinien und Ringe von Lotusblättern. Eigenartig und befremdend mag dem unerfahrenen Auge an den rein linearen Yantras die vielfach gebrochene (Shi-Shirita »gefröstelte«) Linie erscheinen, die bei vielen von ihnen einen regelmäßig gestalteten Rand bildet. Nur ein Auge, das den Formenschatz figural gefüllter Yantras in sich aufgenommen hat, wird keine Schwierigkeit finden, ihren Sinn zu enträtseln. Es erkennt, daß dieses Quadrat mit vier vorgelagerten T-förmigen Stücken, die symmetrisch aus den Seiten vorspringen, nichts anderes ist als das Innere eines quadratischen Tempels samt seinen Eingängen mit den ihnen breit vorgelagerten Stufen, die aus allen vier Weltgegenden in sein Inneres führen.
Die massiven Mauern, die in der figuralen Darstellung dieses Symbols grundrißhaft den quadratischen Innenraum des Tempels an seinen vier Ecken umklammern, scheinen der vereinfachenden Stilisierung dieser rein linearen Gebilde zum Opfer gefallen zu sein. Diese Umbildung des massiven Tempelgrundrisses zu einem linearen Schema, dessen Bedeutung nur aus seiner farbig-sinnlicheren Darstellungsweise im figuralen Bildwerk verständlich wird, erweist die rein linearen Gebilde eben als Vereinfachungen sinnfälligerer Geschwister. In die abstrakt-einfachen Bildwerke, die das weitverbreitete praktische Bedürfnis täglich-häuslicher Andachtsübungen und magischer Akte gebieterisch forderte, zog aus dem Formenschatz der figuralen Bildwerke, die in Kloster und Tempel neben ihrer Funktion als Yantra auch dekorative Bedeutung hatten, nur ein, was ihrer schlichten Stilisierung angemessen war.
In der Genügsamkeit an dieser abstrakten Einfachheit lebt ein Stück ursprünglicher, »primitiver« Phantasie, die noch nicht der formalen Ähnlichkeit des Symbols mit seinem Gegenstande bedarf, um seiner Gültigkeit als Symbol gewiß zu sein. In den Tantras gewinnen ja untere Volksschichten, die bislang von brahmanischer Bildung wenig durchtränkt waren, den Anschluß an die große Ideen- und Symbolwelt des Brahmanismus und gewinnen literarisch Stimme durch den Mund von Brahmanen, die ihr eigenes Erbgut als gültiges Gefäß der Wahrheit vielfach mit ehemals abgelehnten oder ignorierten Inhalten volkstümlicher Geheimkulte füllen. Die Tatsache, daß aus diesen unteren Schichten des Volks das erotische Element mit seiner großen Symbolik — aber nicht nur mit ihr — sieghaft bis in den Gipfel der göttlichen Gestaltenwelt dringt, scheint ein ideeller Parallelprozeß zum Eindringen dieser primitiven Symbolformen in die kanonische Formensprache des Brahmanismus, der sie zu Ausdrucksmitteln einer ideellen Symbolgeometrie entwickelt.
Die Vereinfachung des Figürlichen zum Linearen
Die außerordentliche Vereinfachung, die das zweidimensionale Kultbild im Übergang vom figural erfüllten Liniengefüge zum rein linearen Gebilde erfährt, vollzieht sich nach zwei Prinzipien: der Reduktion auf rein lineare Symbole und Schrift und dem Verzicht, Elemente des inneren Schaubildes im Yantra zur Darstellung zu bringen. Der Reduktion auf rein lineare Symbole unterliegen die regelmäßig gestalteten bildhaften Elemente: Vierecks- und Kreislinien und auch die Kränze von Lotusblättern, die den mit figuraler Malerei erfüllten Yantras ihre symmetrische Tektonik geben, ohne Schwierigkeit. Sie gehen ihrer Farbe verlustig und werden, auf den reinen Umriß vereinfacht, entmaterialisiert. — Zum Ersatz der figuralen Füllung dieses linearen Schemas, die besondere technische Mittel (verschiedene symbolische Farben z. B.) und eigene Schulung erheischt, bildet das rein lineare Yantra eine besondere Symbolsprache aus: es füllt sein lineares Gefüge mit graphisch-linearen Symbolen, zu denen obendrein Schriftzeichen treten können.
Unter den graphisch-linearen Symbolen spielt das Dreieck (besser: »Dreispitz«) eine hervorragende Rolle. Statt mit den geometrischen Bezeichnungen »Trikona« und »Tryazra« = »Dreispitz« wird es auch oft mit »Yoni« = »Schoß« bezeichnet. Yoni wird in der Bedeutung »Schoß« ganz allgemein zur Angabe des Ursprungs und der Herkunft verwendet, ist aber daneben in der graphischen Darstellung als Dreieck Symbol des Weiblichen.
Das weibliche Element bezeichnet in der Symbolsprache der Tantras die Kraft (Shakti) des Göttlichen, mit der das Göttliche sein Wesen spielend entfaltet und zur Erscheinung bringt. Yoni ist Shakti. Weil nun alle Individuation des Göttlichen in einer personalen Gotteserscheinung ein Spiel der Shakti des attributlosen reinen Göttlichen ist, bietet sich das Dreieck als Symbol der Shakti auch als ein natürliches Schema zu entfaltender Darstellung der unterschiedlichen Aspekte an, in die das Wesen alles personal Göttlichen für die Betrachtung des Eingeweihten auseinandertritt, wenn es in allen seinen Komponenten erfaßt werden soll. Darum ist beim Schaubilde Ganeshas der Lotussitz des Gottes erfüllt von drei ineinander verschränkten Dreieckspaaren. Sie bilden eine Art Grundriß seines göttlichen Wesens. Sie geben ein Ordnungsschema ab, in dem die umgebenden Gottheiten der Zentralgestalt sich als Ausstrahlungen ihres Wesens symmetrisch verteilen. Wie diese Gottheiten sich als Ausdruck der unterschiedlichen Wesenszüge und Kräfte, als Symbole der Shaktis der angeschauten göttlichen Person zu einem nuancenreichen Gesamtsinn zusammenschließen, so fügen sich die Ecken und Winkel des Diagramms, denen sie einzeln zugeordnet sind, zu einem komplizierten Liniengefüge zusammen.
Das kahle Diagrammm aus ineinander geschobenen Dreiecken und anderen linearen Elementen, umrahmt von bedeutsamen Ringen, Lotusblattlinien und anderen verwandten Zeichen genügt für den Eingeweihten, die individuelle Wesenheit einer personalen Erscheinung des Göttlichen zu bezeichnen. Wofern er dank seiner Einweihung mit solchem Liniengebilde überhaupt einen Sinn verbinden kann, weiß er auch um den Gehalt, mit dem er seine stumme Tektonik zu beleben vermag: eben um die figuralen Elemente innerer Bildentwicklung, die jeder Dreiecksspitze, jedem Ringe, jedem Lotusblatt und ihren Zwischenräumen zugehören. Für den Akt der Verehrung ist er angewiesen, das Bild der Gottheit samt den umgebenden Gestalten, ihren Shaktis, vor dem inneren Auge aufzurufen — wozu ihm wiederholte, litaneihafte Rezitation der Verse, die des Gottes Erscheinung beschreiben, verhilft — und das vollendete Schaubild in das lineare Yantra, das er vor sich hingezeichnet hat, hineinzuprojizieren. Dann belebt sich der rätselhafte Grundriß des göttlichen Wesens, den er in Form des linearen Gefüges der Überlieferung gemäß entworfen hat.
Das lineare Yantra als Abbild göttlicher Wesenheit
Zwischen dem figural erfüllten Schaubild göttlicher Person und dem rein linearen Schema, das ihm als Gefäß, als Yantra dient, besteht dieselbe genaue Übereinstimmung, wie zwischen Schaubild und figuralem Kultbild. Das figurale Kultbild kommt dem Bedürfnis nach sinnlicher Anschauung bis an die Grenze des Möglichen entgegen, indem es ihren Inhalt mit seinen Mitteln abbildet. Das lineare Yantra reicht der inneren Anschauung nur ein Ordnungsschema dar und heißt die innere Schau, seine Rahmen mit ihrer Gestaltenwelt anfüllen. Sofern der Eingeweihte dieses bare Schema auf Grund langer Übung spontan mit dem gestaltenreichen Abbild des Wesens seiner Gottheit füllen kann, ist das rein lineare Yantra für ihn unmittelbar Abbild der göttlichen Wesenheit. Als solches schmückt es auch Tempel an Stelle figuraler Gebilde. Denn wer es betrachtet, belebt es mit der Anschauung, die ihm zukommt. In jedem Falle ist es für den eingeweihten Gläubigen kein bloßes lineares Gebilde, sondern Wesensaussage über einen Aspekt des Göttlichen. Es ist in jeder seiner Flächen, in jedem Winkel seines inneren Kernes beladen mit einem Stück Wissen um den Gott, das sich freilich nicht aussagt und zur Schau stellt, sondern vom Wissenden angesprochen und mit einem figuralen Element seiner inneren Schau verdeutlicht werden will.
Das lineare Yantra löst seine Aufgabe, Gefäß des inneren Schaubildes zu sein mit dem großen Verzicht auf alles Figurale, das eigentlich Stoff des inneren Gesichtes ist. Es beschränkt sich auf den tektonischen Rahmen, auf das Ordnungsschema der figuralen Fülle des inneren Gesichts. Das figurale Yantra kennt diesen Verzicht nicht; aber seine Fähigkeit, innere Gesichte zu spiegeln, ist dafür in anderer Hinsicht begrenzt. Als Plastik (zumal als Bronze) verzichtet es zumeist auf eine getreue Wiedergabe der lokalen Farbtöne, die vom Inhalt jedes inneren Gesichtes unzertrennlich sind und in ihm dank der symbolischen Bedeutsamkeit der Farben eine ganz wesentliche Rolle spielen. Mehr noch: es verzichtet auf die Wiedergabe von so überaus gestaltenreichen komplizierten inneren Gesichten, wie sie — z. B. bei dem geschilderten Schaubild Ganeshas — vom linearen Yantra mit seiner abstrakten Grundrißsymbolik noch mühelos bewältigt werden. Es eignet sich nur zum Gefäß vergleichsweise einfacher, nicht allzu figurenreicher Schaubilder göttlicher Wesenheiten.
Zwar zeigen umfangreiche Reliefdarstellungen Göttergestalten häufig in einem größeren Kreise huldigender, begleitender oder überwundener Mitspieler. Aber ihre Zahl pflegt sich auf die Figuren zu beschränken, die zur Verdeutlichung der Situation, die diese erzählenden Reliefs festhalten, entsprechend der episch-literarischen Überlieferung der Szene erforderlich sind. Es pflegt keine begriffliche Zerlegung des göttlichen Wesens in seine Komponenten (wie bei Ganesha in »Lachemund« und »Finstergesicht« usw.) einzutreten, noch strahlt sich die Kraft des Gottes ringsum in Dubletten seiner Erscheinung aus.
Der Raum des Reliefs nimmt keine beliebige Menge von Gestalten in sich auf. Denn er dient einer Wesensaussage des Göttlichen, zu deren Korrektheit vor allem Deutlichkeit aller Teile der Aussage gehört. Sie dürfen einander nicht überschneiden und perspektivisch abdecken, sondern werden im Bewußtsein ihrer Bedeutsamkeit neben- und übereinander gesetzt. Darum ist das figurale Relief, das notwendig von einer Vorderansicht ausgeht und in die Tiefe gestaffelte Figurengruppen nur übereinander ordnen kann, wenig geeignet, das innere Schaubild einer Gottheit wiederzugeben, das in eine große Anzahl symbolischer Gestalten sternförmig nach alllen Seiten symmetrisch auseinandertritt. Noch weniger eignet sich augenscheinlich die Einzelbildsäule (Rundplastik oder Halbrelief) zur Wiedergabe solcher inneren Schaubilder. Sie aber ist die verbreitetste Form des figuralen Kultbildes. Ihre Form widerstrebt der Wiedergabe allzu figurenreicher, symmetrischer Schaubilder einer göttlichen Wesenheit, deren komplizierte Zusammensetzung mit einem Blick nur aus der Vogelperspektive, nicht aus irgendeiner Seitenansicht zu erfassen ist. Das rein lineare Yantra nimmt gegenüber diesem komplexen Gesichten eben den Standort der Vogelperspektive ein und hält nach Art einer Landkarte den bloßen Grundriß fest.
Das rein figurale Yantra (Kultbild, Pratima) und das lineare Yantra unterscheiden sich — abgesehen von den Mitteln der Darstellung — also auch durch die Menge des dargestellten figuralen Gehalts. Dieser quantitative Unterschied läßt sich vielleicht nicht ziffernmäßig festlegen, ist aber mit der verschiedenen Struktur beider Typen und ihrem verschiedenen Blickpunkt, Vorderansicht und Aufsicht, gegeben. Ist das lineare Yantra figural erfüllt, wie z. B. bei tibetischen Mandalas, so ist sein Plus an figuralem Gehalt gegenüber der durchschnittlichen Pratima auch dem Uneingeweihten greifbar; bietet es sich dem äußeren Auge als ein rein lineares Gefüge dar, so kann man sein figurales Plus aus der literarischen Überlieferung entnehmen, die angibt, welcher figurale Gehalt der inneren Schau dem linearen Gefüge zugeordnet ist und vom Eingeweihten ihm auch tatsächlich durch einen Akt der Ineinssetzung von Yantra und Schaubild einverleibt wird.
Da beide Typen in der Funktion als Yantra für einander eintreten können, beziehen sie sich augenscheinlich auf Schaubilder, die unter sich verschieden sind an Struktur und Gestaltenfülle, auch wenn sie dieselbe göttliche Wesenheit darstellen. Beiden Yantra-Typen entsprechen verschiedene Schaubildtypen. Neben vergleichsweise einfachen, die sich auf die Gestalt des Gottes beschränken und zu ihr seinen Sitz, sein Reittier, einige Gefolgsgottheiten (Gemahlinnen, Diener usw.), vielleicht noch den überwundenen Feind fügen, um seine Zentralgestalt verdeutlichend zu umrahmen, stehen figurenreiche, die sein Wesen Zug um Zug in besonderen Gestalten seiner Umgebung versinnbildlichen. Bei ihnen werden die unterschiedlichen Wesenszüge, zu deren Ausdruck bei den einfacheren Bildern eine Mehrheit von Gesichtern und eine Vielzahl von Armen mit mannigfachen Emblemen dienen, in Gruppen besonderer Figuren ausgeprägt. Der Wald von Armen, der bei vergleichsweise einfachen Bildern dazu dienen muß, die mannigfachen Wesenszüge der Gottheit darzustellen, wandelt sich hier zu einem Walde von Gestalten, der die zentrale Figur, deren Wesen er verdeutlicht, in symmetrischer Ordnung seines Bestandes umkränzt.
Das lineare Yantra mit seiner Beschränkung auf ein Ordnungsschema ist besser geeignet solch ein figurenreiches Schaubild der Gottheit abzubilden, als ein figurales Kultbild, und man darf wohl annehmen, daß diese figurenreichen Schaubilder eben im Anschluß an die Symbolik rein linearer Yantras und im Zusammenhang der Grundidee ihrer Symbolsprache zur Ausbildung gelangt sind. Literarisch beherrschen diese figurenreichen Schaubilder die Schicht der Tantras, während die einfacheren vorwiegend in den Puranas gelehrt werden. Der Zentralbegriff der Ideologie der Tantras ist die Shakti. Kraft ist das Wesen der Welt. Alle göttliche Person ist nur eine ihrer selbstgewählten Erscheinungsformen. Die ewige göttliche Shakti tritt in eine Unzahl göttlich personaler Erscheinungen auseinander. Jede göttliche Person aber, als Erscheinung der Shakti entfaltet ihre Shakti wieder in einer Reihe von Aspekten, die man ihre Shaktis nennen kann. Die Idee der Shakti löst die großen Gestalten der hinduistischen Götterwelt in ihrem selbstgenugsamen und miteinander rivalisierenden Nebeneinander auf und führt sie auf das ihnen gemeinsame Element zurück: auf sich selbst, die göttliche Energie. Shakti ist das Wesenhafte an der Gottheit, das Unterschiedliche ihrer Gestalt ist nur Erscheinung: Aspekt der Shakti. Mit der Idee der Shakti wird ein uralter, langer Kampf der individuellen Gottesbegriffe um Vorrang und Alleingeltung beendet: keiner von ihnen wird Sieger im Streit der Sekten und Kulte. Sie stehen — wenn auch von unterschiedlicher Macht- und Glanzesfülle — einander gleichgeordnet da, indem sie allesamt der Idee, die ihr göttliches Wesen ausmacht, der Shakti, der göttlichen Kraft, als ihre Manifestationen untergeordnet sind.
Das Yantra - eine Geheimsprache
Symbol der Shakti ist das Dreieck: graphisches Zeichen des Göttlich-Weiblichen. Weil Shakti sich in mannigfachen Aspekten göttlich-personal darstellt, ist das Dreieck in mannigfachen Kombinationen das natürliche Zeichen zum Ausdruck unterschiedlicher göttlicher Individuation. Weil es als Ganzes bedeutsam war, mußte auch jedem seiner Teile besondere Bedeutung innewohnen. Auf Grund seiner reinen Struktur durfte es Glied um Glied mit begrifflichen Werten belastet werden, in die sich die ideelle Wesenheit, die es symbolisiert, zerfallen ließ. Diese Einstellung zum graphischen Symbol öffnete den Weg zur Ausbildung einer Geheimsprache in linearen Bildern, deren Glieder Stück um Stück die einzelnen Komponenten eines göttlichen Wesens versinnbildlichen.
Aber das Dreieckssymbol bezeichnet nicht nur die Shakti, das Ewig-Weibliche des Göttlichen Weltganzen, sondern auch sein Widerspiel, in das dieses sich gleichermaßen — polar attributhaft auseinandertretend — entfaltet. Das läßt sich schon theoretisch aus dem Begriff des Göttlichen, als des Undifferenzierten, Attributlosen schließen, wenn man eine Figur wie das Shri Yantra betrachtet und aus den erklärenden Texten dazu nur entnimmt, daß es das Abbild des höchsten Göttlichen in seinem Entfaltungsgange zu attributhaften göttlichen Erscheinungen darstellen soll. Wäre das Dreieck nur Symbol des Weiblichen, nur Yoni, so wäre dieses höchste Göttliche rein weiblich, da nur Dreiecke das Mittelfeld der Figur füllen und ihren bedeutsamen Kern bilden; es wäre also nicht jenseits aller Unterschiedlichkeit attributlos rein, sondern einseitig polar gebunden und attributhaft bestimmt. Zudem bliebe unerklärlich, wie dieses einsame Göttlich-Weibliche aus sich allein eine Gestaltenfülle entfalten könnte. Augenscheinlich gilt es in dem Drängen der Dreieckspaare dieses Gebildes, die mit einander zugekehrten Spitzen sich ineinander schieben, Symbole der schöpferischen Vereinigung des männlichen und weiblichen Pols zu sehen, in die das attributlose Göttliche mit Beginn seines lustvollen Entfaltungsspieles Maya-haft zeugend auseinandertritt.
Ein Kommentar zu Versen, die das Shri Yantra beschreiben, bestätigt diese Mutmaßung. Er stellt an den Eingang der Anweisungen, wie die Figur des Shri Yantra zeichnerisch zu entwerfen sei, einige allgemeine Regeln und Definitionen (Yajna Paribhasha|Paribhasha), die für die späteren Ausführungen gelten. In ihnen unterscheidet er zwei Typen von Dreiecken: die Shakti und den Vahni, je nach Lage zum eingeweihten Zeichnenden. Beim Shakti-Dreieck ist die Grundlinie vom Zeichnenden entfernt, die Spitze ihm zugekehrt (die Shakti-Dreiecke sind die »oberen« mit abwärts gekehrter Spitze); beim Vahni-Dreieck weist die Spitze vom Leibe des Zeichnenden fort, und die Grundlinie ist ihm nahe.
— Von einem Dreieck, dessen Spitze dem Zeichnenden zugekehrt ist, gilt: »Sein Name ist Shakti. Und die Namen (weiblicher) Gottheiten, wie Parvati z. B. (der Aspekt der Göttin Kali-Durga als Tochter des Himalaya und Gattin Shivas) sind Synonyme dafür.« Es ist also ein Symbol aller weiblichen Erscheinungsformen des Göttlichen. — Entsprechend sagt der Kommentar von einem Dreieck, dessen Spitze vom Körper des Zeichnenden (oder des betrachtenden Eingeweihten) weg in den Raum und in das Shakti-Dreieck hineinweist: »Sein Name ist Vahni. Und Namen (männlicher) Gottheiten, wie Shiva z. B. sind Synonyme dafür.« — Das Wort Vahni ist männlichen Geschlechts, wie Shakti weiblich ist, und hat die Grundbedeutung »Feuer«, dann bezeichnet es aber auch allgemein männliche Gottheiten. Vier männliche Dreiecke gehen in fünf weibliche ein, und in ihrer aller Mitte ist ein Punkt zu denken (der bei der graphischen Darstellung fehlen darf): er ergänzt das innerste Shakti-Dreieck zum Paare. Das ganze Symbol wirkt wie ein Bild vibrierender Schöpfungsseligkeit der ewig zeugenden göttlichen Kräfte, deren Wesen Vereinigung ihrer Polarität ist.
Vielleicht wohnt auch den Symbolen der beiden Lotusblattkränze, deren inneren Samenboden das Zeichen der verschränkten Dreiecke füllt, ein erotisch-kosmischer Nebensinn inne. Aber ihre tektonische Rolle als innerer Rahmen des symmetrischen Gebildes entspricht der Funktion des sechzehnblättrigen Lotus mit acht Buddhafiguren im Inneren des tibetischen Mandala und deutet auf einen einfacheren Gedankenzusammenhang. Die Kreisfläche des Bildkerns, die von Lotusblättern mit auswärts gekehrten Spitzen umkränzt wird, ist augenscheinlich nichts anderes als der Lotusthron, auf dem seit alters Brahma, der »aus sich selbst Entstandene Lotusgeborene (Padmaja, Padmayoni)« sitzt. Sie ist nichts anderes als die Lotusknospe, die das Urwesen auf den Wassern der Urzeit barg, die sich entfaltet hat und ihm zum Throne dient.
Als Sitz des Brahma ist der Lotus Symbol des Absoluten, aus sich selbst Entstandenen, Selbstherrlichen und geht als Sitz oder als Ruhepunkt der Füße auf andere Gestalten über, die als höchste, urwesenhafte bezeichnet werden sollen, z. B. auf Vishnu, Shiva, Lakshmi, und wird allgemeines Attribut der göttlichen Person, die jeweils bei einem Frommen als Gottheit seines Herzens den Vorrang vor anderen genießt. In der Darstellung des Buddha ist der Lotussitz nichts Selbstverständliches. Insofern er als ein Mensch gedacht wird, der Kraft seiner Vollendung (weil er ein vollkommener Mensch, ein »Mahapurusha« ist) zum geistlichen Weltherrscher berufen ist, stellt ihn die Kunst auf dem Löwenthrone sitzend dar, der ein Symbol der Herrschaft ist; insofern er aber, zur kosmischen Wesenheit aufgerücktes Symbol des Absoluten ist: wandelndes Nirvana und Symbol der Leere, die das Wesen aller Dinge ist, erscheint er auf dem Lotusthrone sitzend, der das Abzeichen des Absoluten ist.
Wie er thront auch der Jina, der aus eigener Kraft zur Wahrheit gelangte und in ihr verharrende Heilige des Jainismus auf einem Lotussitz, und ebenso werdende Buddhas (Bodhisattvas) wie Heilige des Hinduismus, die bei Lebzeiten aus menschlicher Unvollkommenheit zu gotthafter Haltung aufgestiegen sind. Darum ist auch der Lotus der allein angemessene Standort und Sitz jener göttlichen Paare, die das Absolute, die reine Leere, verkörpern und ist notwendig zentrales Rahmenwerk der figural erfüllten Mandalas, wo er die Kernsphäre des reinen Seins bezeichnet.
In dieser Funktion ist er aus dem Schatz sinnfälliger Formen in die Gruppe anschaulicher Zeichen der linearen Symbolsprache übergeführt worden, um hier im einzelnen mit besonderer Bedeutung beladen zu werden. Im Yantra des Mondes z. B., bei dem Staubfäden in die Blätter einzuzeichnen sind (wie im Yantra der Annapirna Bhairavi, wird die Gottheit in den Staubfäden der Lotusblume verehrt, augenscheinlich weil sie die Strahlen des Mondes symbolisieren. In den Vorschriften zur Anfertigung des Shri Yantra zitiert Bhaskaraya dagegen einen Vers des Bhutabhairava-Tantra, der es verbietet, die Kränze der Lotusblütenblätter mit Staubfäden zu versehen, weil der Eingeweihte sich damit der Gefahr aussetzt, von seiten niederer Genien (Bhairavra) und deren weiblichen Gesellen (Yogini) Schaden zu nehmen.
Siehe auch
- Kapitel 1: Einleitung - Indisches Kultbild und klassische Kunst (Indische Kunst)
- Kapitel 2: Yoga und figurales Kultbild
- 2.1 Die Andacht zum fuguralen Kultbild - Pratima
- 2.2 Äußeres Sehen und inneres Schauen (Visualisierung)
- Kapitel 2: Yoga und figurales Kultbild
- Kapitel 3: Yoga und lineares Kultbild - Yantra und Mandala
- 3.5.1 Figurales Kultbild und lineares Yantra (Bild)
- 3.5.2 Die Formensprache des rein linearen Yantra (Form)
- 3.5.3 Das Shri Yantra
- Kapitel 4: Zeichensprache und Proportion im Kanon indischer Kunst (Zeichensprache)
- Kapitel 5: Der Ort des Kultbildes in der Welt des Gläubigen (Offenbarung)
- Heinrich Zimmer
- Indische Mythen und Symbole
- Indische Geschichten
- Himmelsfrau
- Yantra
- Mandala
- Chakra
- Hinduismus
- Buddhismus
- Meditation
- Kontemplation
- Maya
Literatur
- Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild (1926)
- Heinrich Zimmer, Der Weg Zum Selbst (1944)
- Heinricht Zimmer, Die Indische Weltenmutter (1980)
- Heinrich Zimmer, Buddhistische Legenden (1985)
- Helmut Hansen: Die Physik des Mandala (2007)
- Lama Anagarika Govinda: Mandala – Gedichte und Betrachtungen (1961)
- Paramahansa Satyananda, Tantra und Yoga Panorama
- Paul Deussen, Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahabharatam. Übersetzung der Bhagavadgita (1911)
- Swami Sivananda, Götter und Göttinnen im Hinduismus
- Swami Sivananda: Konzentration und Meditation
- Swami Sivananda, Parabeln
- Swami Vishnu-devananda: Meditation und Mantras, Sivananda Yoga Vedanta Zentrum
Weblinks
- Meditation Portal
- Mantra Meditation
- Yantra Yoga
- Universallexikon - Kultbilder
- Kultbilder
- Mandalas - Kraftkreise der Buddhas. Aus: Buddhismus heute
- Mönche erschaffen farbenprächtiges Mandala
- C. G. Jungs Begegnungen mit dem Osten
- Erkenntnisreiche Beschreibung eines Mandalas
- Über Mandalas
- Das Mandala - der heilige Kreis im tantrischen Buddhismus
- Mandala Ikonografie
- Das Mandala der Tibeter
- Trailer des Dokumentarfilmes MANDALA von Christoph Hübner und Gabriele Voss. Sechs Mönche aus der Drugpa-Kagyü-Schule des bhutanischen Buddhismus stellen ein Sandmandala her.
- Mandalas and their Symbolism
- Englische Einführung und Konstruktionsbeschreibung eines Mandalas
- Mandalas: Sacred Art and Geometry