Retreat
Retreat stammt aus dem Englischen und bedeutet "Rückzug" vom Alltag, eine geistige Ruhepause oder Rückzug von der gewohnten Umgebung. In Verbindung mit Yoga ist meist auch ein Rückzug mit Meditation, Asanas und eventuell Schweigen gemeint. Dies geht einher mit der Auseinandersetzung mit geistigen, spirituellen und persönlichen Themen.
Die Bedeutung von spirituellem Retreat (spiritueller Rückzugsort) kann je nach religiöser Gemeinschaft schon unterschiedlich sein. Spirituelle Retreats sind ein wesentlicher Bestandteil von vielen hinduistischen, buddhistischen, christlichen und sufistisch-islamischen Glaubensgemeinschaften. Im Hinduismus und Buddhismus werden meditative Retreats von vielen Anhängern als wesentlicher Bestandteil der Lehre angesehen, um sich wieder mit dem eigenen Selbst zu verbinden.
Retreats sind auch in den christlichen Kirchen populär und wurden in ihrer heutigen Form von St. Ignatius von Loyola (1491-1556) in seinen spirituellen Übungen beschrieben. Papst Pius XI machte 1922 Ignatius sogar zum Schutzpaton für spirituelle christliche Retreats. Viele Katholiken, Protestanten und orthodoxe Christen nehmen jedes Jahr an spirituellen Retreats teil, die von den Kirchen extra organisiert werden. Meditative Retreats sind eine wichtige Praxis im Sufismus, dem mystischen Weg des Islam. Das Buch "Reise zum Herrn der Macht" ist zugleich Orientierungshilfe und Wegweiser für die Reise nach Innen und wurde vor über 700 Jahren von dem Sufi Lehrer Ibn Arabi veröffentlicht.
Retreat - verschiedene Bedeutungen eines eingedeutschten Wortes
Das Wort Retreat kommt ja zunächst aus dem Englischen. Es bedeutet zunächst "zurückziehen", vom lateinischen Wort "retrahere". Das Wort Retreat hat eine Bedeutung im Militärischen, im täglichen Alltag, in der Lebensplanung. Retreat bedeutet aber auch Rückzug aus dem Alltag, ähnlich wie das deutsche Wort Clausur bzw. Klausur. Das Wort Retreat ist inzwischen auch ein deutsches Wort, also ein Lehnwort aus dem Englischen, das Eingang in die deutsche Sprache gefunden hat. Als deutsches Wort bedeutet es Zeit für intensivere Praxis, ein Rückzug für eine gewisse Zeit, um mehr zu meditieren, zu entspannen, zu sich zu kommen. Das Retreat hat im Buddhismus und im Yoga eine sehr spezielle Bedeutung.
Retreat ist zunächst einmal ein englisches Wort. Retreat heißt Rückzug. Retreat kann auch bedeuten, dass die Truppen einer Armee sich zurückziehen, dann ist das eben das Retreat des Heeres. Retreat kann auch heißen, dass man sich von etwas im Alltag zurückzieht. Heutzutage wird Retreat vor allem benutzt für eine geplante spirituelle Ruhepause, ein Rückzug aus der gewohnten Umgebung. Retreat hat im Amerikanischen aber auch noch eine weitere Bedeutung. Retreat im Amerikanischen kann auch bedeuten "ein Ort wohin du dich zurück ziehen kannst".
Wenn du in Amerika zu einem Yogaretreat gehst, dann heißt das nicht nur das du intesiv Yoga üben willst, sondern das kann heißen, dass du einen Ort besuchst, wo Menschen Yoga üben und dort eben auch übernachten. Man kann sagen eine Art Ashram in Amerika wird auch als Retreat bezeichnet, insbesondere als Yogaretreat. Hier soll es aber eher um das spirituelle Retreat gehen, im Grunde genommen das was im Christentum als "Exerzitien" bezeichnet wird oder auch als "Klausur" - das ist das, was im Buddhismus als Retreat bezeichnet wird.
Und dieser Ausdruck, Retreat, hat sich inzwischen auch in Yogakreisen durchgesetzt. Wenn man intensiver Yoga und Meditation praktizieren will, dann ist das ein Yogaretreat, insbesondere wenn man es an einem Ort macht, der für die spirituelle Praxis geeignet ist. Wenn man also z. Bsp. zu einem Yoga Ashram geht und dort intensiver praktiziert, es einem dort weniger darauf ankommt Äußeres zu erleben, sondern wenn man mehr nach innen gehen will, dann ist das ein Yoga Retreat.
In Indien haben die Yogaretreats noch eine andere Bedeutung. Da ist ein Ort, wo man Yoga praktiziert "Yogaretreat", und wenn man sich ein paar Tage oder eine Woche mit anderen zusammen der Yogapraxis widmet, dann ist auch das ein Yogaretreat. Man kann sagen im modernen Yoga wird der Yogaretreat als eine Art Erholungsurlaub verstanden. Hier geht es um den Rückzug vom Alltag für ein paar Tage. Dann gibt es ein Wochenretreat, oder ein Retreat kann auch mehrere Wochen dauern. Typischerweise ist aber fünf Tage bis zwei Wochen die Dauer eines Yogaretreats oder eines Meditationsretreats.
Im Englischen gibt es auch den Ausdruck Retreat für die Naturwissenschaften. Wenn sich eine Gruppe von Naturwissenschaftlern für ein paar Tage zurückzieht vom Alltag und sich dabei austauschen, wo neben dem wissenschaftlichen Austausch auch soziale Aktivitäten eine Rolle spielen, dann ist das ein Retreat und wird auch als "Scientific Retreat" bezeichnet. So geht es darum, in einer anderen Atmosphäre das Kennenlernen und die Interaktionen im wissenschaftlichen Alltag zu fördern. Retreat ist manchmal auch eine Entspannungstherapie. Und es gibt auch den Ausdruck Retreat für eine längere Phase des Rückzugs. Z. Bsp. gibt es Menschen, die für ein paar Monate oder Jahre in einem Yoga Ashram oder buddhistischen Zentrum verbringen und das wird auch Retreat genannt.
Retreat hat also viele Bedeutungen. Wenn wir bei Yoga Vidya von Retreat sprechen dann meinen wir bei Yoga Vidya ein Seminar, das mindestens fünf Tage dauert, wo Meditation eine besondere Rolle spielt, wo es um Spiritualität geht, wo das Ganze ruhiger ist, wo es also nicht darum geht, körperlich intensive Tätigkeiten zu machen, wo es nicht darum geht, verschiedenstes Äußeres zu erleben, sondern wo es mehr um Ruhe geht und darum innerlich zur Ruhe zu kommen. Retreat heißt eben auch Ruhe und Rückzug.
Bei Yoga Vidya gibt es verschiedene Arten von Retreats: Es gibt die Schweigeretreats, bei denen geschwiegen wird. Es gibt die Meditationsretreats, wo besonders viel meditiert wird. Es gibt spirituelle Retreats, wo es auch Vorträge und Frage-Antwort Sessions gibt mit spirituellen Lehrern, die schon längere Zeit auf dem Weg sind und gute Erfahrungen haben, spirituelle Aspiranten anzuleiten. Es gibt Vipassana Retreat. Vipassana ist die buddhistische Meditationspraxis, wo eben ein paar Tage oder bis zu neun Tagen die buddhistische Meditationstechnik Vipassana geübt wird. Und manches wird auch als Yogaretreat bezeichnet, wo man in entspannter Atmosphäre tiefer Yoga praktiziert.
Eine Bedeutung hätte ich fast vergessen. Als Retreat bezeichnen wir bei Yoga Vidya auch, wenn ein Mensch für eine gewisse Phase selbstständig intensiver praktiziert. Also wir sagen zum Beispiel, dass ein bestimmter Sevaka gerade im Retreat ist. Das heißt er praktiziert für sich allein, er schweigt entweder oder hat seine Kommunikation mit anderen reduziert, er widmet sein Leben der spirituellen Praxis. Wir haben z. Bsp. eine langjährige Mitarbeiterin, Swami Nirgunananda. Sie macht jedes Jahr zwei bis drei Monate Retreat, in der sie viele Stunden am Tag meditiert, Asanas, Pranayama übt und manchmal dabei auch ein Buch veröffentlich oder an einem Buch arbeitet.
Das ist auch ein Retreat. Viele der langjährigen Mitarbeiter, die schon viele Seminare besucht haben, die machen dann ihre eigenen spirituellen Retreats, um auf ihrem eigenen spirituellen Weg gute Fortschritte zu machen. Individuelle eigene Retreats kannst du auch selbst bei Yoga Vidya machen. Der Vorteil in einem Ashram ein eigenes Retreat zu machen ist, du brauchst dich nicht zu kümmern um Essen, du brauchst keine Zeit verbringen mit Haushalt, mit Einkäufen usw. du bist in einer spirituellen Umgebung, du hast alles was du brauchst.
Gerade bei Yoga Vidya Bad Meinberg gibt es einen Speisesaal für Essen im Schweigen. Wenn du etwas früher als die allgemeinen Esszeiten zum Buffet hinkommst ist es auch ruhig am Buffet, und es gibt eine ganze Etage, die in Schweigen ist mit mehreren Räumen für Meditation und für Yogapraxis, wo jeder für sich üben kann. Und manche üben auch einfach in ihrem Zimmer, auch da gibt es in Bad Meinberg und auch in den anderen Yoga Ashrams wunderbare Gelegenheiten, gute Retreats zu machen.
Buddhismus
Im Buddhismus kann ein Retreat entweder eine Zeit der individuellen Zurückgezogenheit oder eine Gemeinschaftserfahrung bezeichnen. Einige Retreats werden in absoluter Stille abgehalten, und bei anderen gibt es Raum für Konversation, je nach Verständnis der gastgebenden Einrichtungen und den von den Teilnehmern akzeptierten Übungsinhalten. Retreats werden oft in ländlichen oder entlegenen Gegenden und Orten durchgeführt, manchmal in Privathäusern oder aber auch in einem Retreat-Zentrum, wie etwa einem Kloster. Es gibt auch einige Retreats für Fortgeschrittene, wo etwa die Zeit in völliger Dunkelheit verbracht wird. Diese Form von Retreat ist eine Dzogchen-Übung, wie sie in der Nyingma-Schule des Tibetischen Buddhismus praktiziert wird.
Spirituelle Retreats räumen Zeit für Besinnung, Gebet und Meditation ein. Sie werden im Buddhismus als wesentlicher Bestandteil der Lehre angesehen und waren seit der Einführung von Vassa, oder dem Regenzeit-Retreat, durch Gautama Buddha, dem Gründer des Buddhismus, gang und gäbe. Im Zen Buddhismus wird Retreat als "Sesshin" bezeichnet.
Christentum
Der christliche Retreat kann, einfach ausgedrückt, als eine Zeitspanne der Zurückgezogenheit definiert werden, welche von einigen Stunden bis zu einem Monat dauern kann. In dieser Zeit lassen die Teilnehmer ihr normales Alltagsleben ruhen, um sich wieder Gott zuzuwenden. Obwohl dieses Sich-Lösen vom Alltag, sei es als eine Erfahrung in der Wüste (wie bei den Wüstenvätern) oder in einem Kloster, so alt wie das Christentum selbst ist, so ist doch die Übung, sich für einen bestimmten Zeitraum auf einer höheren Ebene mit Gott zu verbinden, ein eher modernes Phänomen. Es stammt aus den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts (1520), in denen St. Ignatius von Loyola dies unter dem Begriff "Spirituelle Übungen" einführte. Auch wird als biblischer Hintergrund für Retreats das 40-tägige Fasten Jesu Christi in der Wüste herangezogen.
Im 20. Jahrhundert wurden, angeregt durch die Cursillo-Bewegung (auf Mallorca gegründete, spanische Bewegung), die Drei-Tage-Retreats äußerst populär. Auch sie basierten auf der Spiritualität des heiligen Ignatius.
Die Idee des spirituellen Rückzugs (Retreat) wurde innerhalb der römisch-katholischen Kirche von den Jesuiten verbreitet. Ihr Ordensgründer St. Ignatius von Loyola, der um das Jahr 1520 noch ohne Priesterwürden war, hatte damals begonnen, andere in diese spirituelle Übungen einzuweisen. Es kam dann noch eine andere Form der Übung hinzu, die unter dem Namen "neunzehnte Selbstbetrachtung" bekannt wurde. Hier durften die gewöhnlichen Tagesverrichtungen, also das Alltagsgeschäft, beibehalten werden, aber nur unter der Bedingung, dass zumindest einige Stunden täglich diesem speziellen, heiligen Zweck gewidmet wurden. Die spirituellen Übungen waren besonders für die Menschen bestimmt, die ihr Leben noch mehr nach dem Willen Gottes ausrichten wollten.
Ermuntert durch das schnelle Anwachsen der Cursillo-Bewegung wurden ähnliche Retreats von anderen Konfessionen übernommen. Sie benutzten entweder lizensierte Cursillo-Inhalte oder, unabhängig davon, frei zusammengestellte Übungsinhalte, die aber trotzdem auf demselben Konzept basierten. Diese Entwicklung führte zum Entstehen der Drei-Tage-Bewegung.
Sufi Retreats oder Spirituelle Khalwas
Die wörliche Bedeutung von "Khalwa" ist Zurückgezogenheit oder Abgeschiedenheit, aber in der Sufi Terminologie hat es noch eine andere Assoziation: Es geht dabei um vollkommene Entsagung, um Selbstaufgabe und um das Sehnen nach Gott. In vollständiger Abgeschiedenheit rezitieren die Sufis ununterbrochen den Namen Gottes. Muhiyid-Did Ibn Arabi (1165-1240) beschreibt in seinem Buch "Reise zum Herrn der Macht" die einzelnen Stadien, die ein Sufi während seiner Khalwa durchläuft.
Ibn Arabi stellt da fest: "Ein Sufi sollte vierzig Tage lang seine Tür vor der Außenwelt verschließen und sich auschließlich nur mit Gebet und der Anrufung von Allah befassen, wobei er ständig 'Allah, Allah' wiederholen sollte". Dann wird Gott ihm die verschiedenen Ebenen und Stufen seines Königreiches als Prüfung eröffnen. Als erstes wird der Sufi das Geheimnis der Ebene der Mineralwelten entdecken. Wenn er sich dann weiter mit Dhikr beschäftigt, wird Gott ihm die Geheimnisse des Pflanzenreiches und danach die des Tierreiches enthüllen.
Ferner wird er bald auch jene Ebenen durchlaufen, welche unser Dasein mit göttlicher Lebenskraft durchströmen sowie das "oberflächliche Zeichen", das Licht der Heiligen Namen, wie es Abdul-Karim Al-Jeeli, der Übersetzer des Buches nennt. Den Ebenen der wissenschaftlichen Scheinwelten werden dann wieder die Welten der Formgebung, Schönheit und Zier folgen und darauf die Ebenen von Qutb (spiritueller Lehrer, Seele, Dreh- oder Angelpunkt des Universums).
Ihm werden dann göttliche Weisheit, Macht über Sinnbilder und Autorität über die Schleier bzw. die Entschleierungen gegeben werden. Er wird Klarheit erlangen über die Gegenwart Gottes, und auch der Garten Eden (Paradies) und die Hölle würden sich ihm offenbaren. Er werde dann die ursprünglichen Nachkommen der Söhne Adams und den Thron Gottes schauen können.
Wenn es dann Gott angemessen erscheint, würden sich dem Sufi Lebensschicksal und Bestimmung offenbaren. Darauf würde er zuerst auf die Stufe des "Schreibstiftes", des Verstandes ersten Grades (wie er von den Sufi Philosophen genannt wird), dann auf die Ebene des "Nutzers des Schreibstiftes" und letztlich auf jene Ebene erhoben werden, welche "die Rechte Hand der Wahrheit" genannt wird (Wahrheit definiert im Sinne von Al-Jeeli als: das, aus dem alles erschaffen wurde, der Allerhöchste Gott)
Die Praxis von Khalwa wird von Sufis regelmäßig mit Zustimmung und unter der Supervision eines Sufi-Meisters ausgeführt. Im Sufismus wird die 40-Tage-Zeitspanne von Khalwa mit der vierzig Tage dauernden Periode begründet, welche Allah seinerzeit Moses als Fastenzeit auferlegt hatte. Erst dann hätte er mit ihm gesprochen, heißt es in verschiedenen Kapiteln des Korans. Khalwa wird heutzutage immer noch von hochwürdigen Scheichs wie z. B. Nazim Al-Haqqani aus Lefka, Zypern praktiziert.
Yoga
In der modernen Yoga-Szene wird mit dem Begriff Retreat oft eine Yoga-Freizeit oder ein Yoga-Erholungsurlaub beworben. In diesem Zusammenhang kann Retreat bedeuten, seine Alltagsgeschäfte entweder für ein paar Tage (Wochenend-Retreat) oder auch für einige Wochen ruhen zu lassen. Das Ziel hier ist es, Probleme und alltäglichen Stress loszulassen. Vielen Menschen fällt es leichter, sich anstelle reiner Meditation eher auf Yoga-Übungen und Stellungen (Asanas) zu konzentrieren. Häufig werden Retreats auch als organisierter Yoga-Urlaub mit Auslandsreisen verbunden.
Retreat - Urlaub für die linke Gehirnhälfte
Ein Beitrag aus dem Yoga Vidya Journal Nr. 38, I/2019 von Stefanie Oberländer
- von gedanklichen Glitzerpartys und düsteren Denkdebatten –
Dies ist ein Versuch, das Schweige-Retreat im Westerwald- Ashram im November 2018 - fünf erkenntnisreiche, emotionale und erquickende Tage - zusammenzufassen.
Ich sitze auf meinem Meditationskissen und schaue in die Runde. 24 andere Mutige: Männer und Frauen, jünger und älter, alles bunt durchmischt. In der kurzen Vorstellrunde wird klar, die Bandbreite reicht von langjährigen Retreat-Wiederholungstätern über treue Yoga-(Vidya)ner bis hin zu blutigen Schweige- und Yogaanfängern.
Alle haben wir unserer linken Gehirnhälfte, der eher logisch-analytischen Hälfte, für die kommenden Tage Urlaub verordnet. Wir werden schweigen! Da dieser Teil des Gehirns vorwiegend über Worte und Schrift gespeist wird, gilt natürlich auch die Empfehlung, keine Bücher zu lesen. Dass mein Kopf nach rationalem Stoff lechzt wie ein Süchtiger, soll ich dann am nächsten Abend realisieren, als ich mich beim Duschen dabei ertappe, wie ich die Shampoo-Inhaltsstoffe exzessiv studiere. 21.47 Uhr. Es wird ernst. Wir erhalten alle unsere Schweige-Anstecker.
Morgenstund´ hat Gold im Mund
Ich fühle mich getragen von der Gruppe. Es fällt mir ungewöhnlich leicht, morgens 5:30 Uhr aus dem Bett zu schleichen. Pünktlich um 6 Uhr sitze ich auf meinem Meditationskissen und harre der Dinge, die da kommen.
„Endlich still!“, denke ich.
Nett gedacht … Ich schrecke auf vom wiederholten Zucken meines Kopfes nach vorn. Da bin ich wohl im wahrsten Sinne des Wortes weggenickt. Erschrocken stelle ich fest, dass mein Körper trotz erholsamen acht Stunden Schlafs von der Idee, nicht mehr zu liegen, nicht gerade der größte Fan ist. Das hatte ich mir augenscheinlich anders vorgestellt. Schon fast will ich mich meinem Frust darüber hingeben, da erläutert unser Seminarleiter Maheshwara Mario Illgen „zufällig“, wie sich bei vielen Menschen anfangs eine unglaubliche Müdigkeit aufbäumt.
Eine Mattheit, die, einmal eingeladen, unaufhaltsam ihren Raum fordert. Es ist diese unterschwellige Abgespanntheit, die „wir“ erzeugen durch das ständige Hin- und Herspringen zwischen Rajas und Tamas im Alltag.
Es ist diese tiefsitzende Angst, funktionieren zu müssen, um geliebt zu werden. Es ist dieser festsitzende Glaubenssatz, ich dürfe mir ein Nichtstun nicht erlauben. Es überfällt mich eine dunkle Schwere, als mir die inneren Kämpfe dämmern, die meine Erschöpfung erklären könnten.
Reden ist Silber, Schweigen eine Herausforderung
Durchzogen mit zwei Yogastunden, zwei Satsangs und zweimal super, leckerem Essen, tiefberührenden Mantras und inspirierenden Kurzvorträgen, meditieren wir ca. 4 ½ Stunden am Tag. Wir stellen uns immer wieder innerlich die Frage:
„Was ist, wenn ich diesen Moment einfach genauso annehme, wie er ist?“
Wir praktizieren eine reine, pure Form der Aufmerksamkeit, wobei wir unseren Fokus nicht auf Erfahrungsobjekte richten. Wir versuchen, uns als stets anwesende Bewusstheit zu erfahren. Ewiglich und unvergänglich. Denn das ist unsere wahre Natur. An Tag zwei hat scheinbar jede/r seine/ihre Strategie entwickelt, um sich nicht vom schmerzenden Rücken oder ziehenden Beinen unterkriegen zu lassen. Es werden Kissenburgen gebaut, Stühle mit Decken gepolstert und Meditationsbänke präpariert. Mein eher hyperaktiver Körper jubelt über die Möglichkeit kurzer Geh- Meditationen zwischen den einzelnen Sitzungen.
Eine Mischung ganz nach meinem Geschmack
Maheshwara schafft es, die ganze Gruppe an die Hand zu nehmen. In der Feedbackrunde wird klar, dass er tatsächlich das quasi Unmögliche schaffte: jeden genau an dem Punkt abzuholen, an dem er/ sie vor dem Retreat stand. Er bringt lebensnahe, witzige Beispiele, vermengt mit tiefem spirituellem Wissen. Auf schriftliche Fragen zitiert er spontan eine passende Stelle aus der Bhagavad Gita inklusive Kapitel und Vers. Ich fühle mich sowohl gefordert als auch unglaublich unterhalten.
Eine Mischung ganz nach meinem Geschmack. Er spricht ehrlich und authentisch aus, was sich wahrscheinlich jede/r schon mal gefragt hat: wie man wieder zurückfindet, wenn es scheinbar einfach nicht funktionieren will mit dieser Meditation. Wenn man stundenlang dasitzt und sich fragt, ob man jetzt eigentlich schon meditiert. Und warum man das hier eigentlich tut. Oder ob die anderen schon bemerkt haben, dass man keinen Schimmer hat, was man hier tut. Wenn man nach ganzen vier vergangenen Minuten schon wieder auf die Uhr schaut. Und sich fragt, wie es denn der Nachbar hinbekommt, so gelassen auszusehen, dem Samadhi nah. Ich fühle mich verstanden. Gesehen.
Stille Gewässer sind sehr tief – und schlammig
Versunken im Universum meiner Gedanken holt mich Maheshwaras angenehme Stimme ruhig aber bestimmt zurück ins Hier und Jetzt: „Und wenn dein Geist abdriftet, dann bringe ihn ganz einfach wieder zurück in diesen Moment.“ Ich stelle mir meinen Geist als alte, verwirrte, ein wenig verrückte Dame vor. Eine dieser Omis, der man einfach nicht böse sein kann, dass sie schon wieder, zum hundertsten Male, eine ihrer verrückten Flunker- Geschichten von damals ausschmückt. Meine alte Dame ist sehr redselig und berichtet von früheren Liebhabern, Kindheitsträumen und Schabernack in der Jugend. Weinerlich berichtet sie auch von meinen alten Narben, vergessenen Wunden und Erinnerungen, die bis jetzt tief vergraben waren. Mir rollt eine Salzkuller über die Wange … Ich nehme die Alte verständnisvoll in den Arm, nicke ihr ganz nett zu. Dann begleite ich sie aber konsequent wieder zurück in die Stille. „Endlich still!“, denke ich. Nichts mehr sagen müssen. Nicht mehr gegenreden müssen. Nichts mehr müssen. Sein dürfen. Sein.
Nett gedacht! Es wird unglaublich laut. Da ist diese scheinbar unerträgliche, schreiende Stille. Mein innerer Kommentator sitzt in einer düsteren Eckkneipe in meinem Kopf und hat sich zusammen mit meinem inneren Kritiker verschworen.
Sie malen schwarz. Am Nachbartisch führen Fräulein Mut und Herr Selbstzweifel eine hitzige Debatte über hohe eigene Ansprüche, den Drang, perfekt zu sein und die Angst, nicht zu genügen. Der Seminarbeschreibungstext hält, was er verspricht: eine tiefe Begegnung mit mir selbst! In meinem Kopf kreist unaufhörlich ein Gedanken-Karussell: limitierende Glaubenssätze, vergangene Gespräche, vergessene Geister … tief sitzende Selbstzweifel, schmerzhafte Schuldgefühle, dunkle Schatten …
Es blitzt der Vorgeschmack der Wahrheit ans Licht. Und allmählich, zaghaft und leise, vernehme ich einen süßlich-lieblichen Klang. Die Stimme aus meinem tiefsten Innersten. Dann gibt es da Momente, in denen scheinbar mein inneres Kind, meine Krafttiere, Fräulein Leichtigkeit, Frau Selbstliebe und Herr Mut eine glitzernde Tanzparty in meinem Kopf schmeißen.
Am fünften und letzten Tag lädt uns Maheshwara ein, unsere ersten Worte bewusst und für uns bedeutsam zu wählen. Ich spüre kurz in mich hinein und nehme dann seine Einladung an, das allumfassende Gebet mitzusprechen. Als bei „und befreie uns von Selbstsucht, Gier, Zorn und Hass!“ eine salzige Krokodilsträne sich ihren Weg auf meiner Wange bahnt, bin ich mir sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben. Und als die letzte Träne meine Wange runterrollt, fühle ich mich auf einmal so klar. Geklärt, gereinigt und neu … als hätte jemand eine schwere Last von meinem Herzen genommen und die Gewitterwolke über meinem Kopf in Sonnenschein transformiert …
DIE ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT - Zwei Wochen in einem buddhistischen Retreat
Ein Erfahrungsbericht
Im Juli 2000 besuchte ich zwei Wochen ein Retreat in Südwestfrankreich, geleitet von dem vietnamesischem, buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit (über 40 Bücher in Englisch, viele davon ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt) engagiert er sich in der Friedensarbeit, Flüchtlingsbetreuung und in der sozialen Betreuung von vietnamesischen Kindern. In Europa und Nordamerika gibt er regelmäßig meditative Seminare des Rückzugs, der Besinnung und des achtsamen Lebens. Hier vermittelt er u.a. die kleinen Schritte der Bewußtseinserweiterung, des Innehaltens und der Achtsamkeit im Alltag auf klare und pragmatische Weise. In meinem folgenden Reisebericht habe ich meine Erlebnisse und Erfahrungen während dieser zwei Wochen niedergeschrieben.
ANREISETAG
Im strömenden Regen stehe ich am Bahnhof von St.-Foie de Grande in Südwestfrankreich und warte auf den Shuttle-Bus, der mich nach Plum Village bringen soll, dem Ort, wo ich die nächsten vierzehn Tage Achtsamkeit praktizieren und in das meditative Leben eintauchen möchte. Im Augenblick starre ich allerdings etwas zweifelnd in den kalten Regen und frage mich, warum ich hier bin. Gut, daß ich kurzfristig noch ein Bett gebucht habe, Zelten wäre im Moment eine mehr als naßkalte Angelegenheit! Als jedoch die Autos vorfahren und Nonnen mit freundlichen Gesichtern uns begrüßen (es haben sich mittlerweile mehrere Personen versammelt), vergeht die trübe Stimmung. Auf der Fahrt komme ich mit einer Amerikanerin ins Gespräch und fühle mich gleich besser.
Nach ca. 45 Minuten sind wir in Lower Hamlet angekommen Es gibt vier sog. Hamlets in Plum Village, die einige Kilometer voneinander entfernt sind. Männer und Frauen sind getrennt untergebracht (außer Paare und Familien). Wir Frauen wohnen in Lower Hamlet, die Männer in Upper Hamlet, Familien und Paare sind auf alle Hamlets verteilt.
Bei der Anmeldung erklärt mir eine Nonne den Weg zu meinem Zimmer. Als das Telefon klingelt, hält sie kurz inne und schließt für einen Moment die Augen. Auf meinen neugierigen Blick erklärt sie mir, daß bei jedem Läuten, ob Glocke oder Telefon, alle in ihrer Arbeit innehalten, drei Atemzüge lang. Und das wird mich die nächsten vierzehn Tage begleiten. Sobald eine Glocke angeschlagen wird (oder eingeladen, wie man hier sagt), halten alle inne, egal, ob sie gehen, kochen, sprechen oder essen und atmen dreimal, um sich des Augenblicks bewußt zu werden. Am Anfang etwas ungewohnt, und ich ertappe mich oft dabei, daß ich einfach weitergehe oder esse, aber ich gewöhne mich daran und es gefällt mir. Eine gute Möglichkeit, kurz zu sich zu kommen und Ruhe zu finden.
Ich beziehe mein Zimmer, das ich mit vier anderen Frauen teile, schlucke kurz bei der Enge, aber auch das spielt schnell keine Rolle mehr.
Nach dem Abendessen gibt es eine allgemeine Einführung, in der ich erfahre, was mich die nächsten Tage erwartet. Die leise Skepsis schleicht sich bei mir wieder ein, als ich das Tagesprogramm studiere. Der Tag ist gefüllt, das steht fest. Um 5.00 Uhr (!) weckt die Glocke, 5.00-5.30 Sitzmeditation, danach ca. 15 Minuten Gehmeditation. 6.30 Uhr Frühstück, 8.30 -11.00 Uhr Dharma Talk (Vorträge von Thich Nhat Hanh in einem der Hamlets), danach Gehmeditation, 13.00 Uhr Mittagessen, von 15.-16.30 Uhr Arbeitsmeditation, 16.30-18.00 Uhr diverse Programme, 18.00-19.00 Uhr Abendessen, 19.45-21.15 Uhr Dharma Diskussion in der Gruppe, 21.30-22.00 Uhr Sitzmeditation, 22.30 Uhr Lichter aus. Ab 21.30 Uhr bis nach dem Frühstück wird nicht gesprochen (Noble Silence).
Etwas erschlagen und mit der Frage, wo Zeit für mich ist, gehe ich schlafen.
1. TAG
Um 6.00 Uhr werde ich von den Geräuschen meiner Mitbewohnerinnen geweckt und stelle fest, daß ich total verschlafen habe, keine Glocke gehört, Wecker falsch gestellt. Nicht weiter schlimm, sage ich mir, es wird noch genug Gelegenheit zum Meditieren geben. Nach dem Frühstück gehe ich die drei Kilometer zum Upper Hamlet, wo Thây ( der Lehrer, wie Thich Nhat Hanh hier liebevoll genannt wird) heute seinen ersten Vortrag halten wird. Nebelschwaden gehen durch die Täler, die Sonne kommt langsam durch, die frische Luft macht mich munter. Ich freue mich auf ein paar vertraute Gesichter aus meiner Meditationsgruppe in Frankfurt, die in Upper Hamlet wohnen. Als ich ankomme, sind schon alle in der großen Meditationhalle versammelt (zusammen etwa 400 Leute aus allen Ländern) und warten. Thây hält seine Vorträge abwechselnd auf Vietnamesisch, Englisch und Französisch, es wird simultan ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt.
Kaum habe ich meine Freunde begrüßt, erklingt auch schon die Glocke. Ein kleiner Mann, eingehüllt in einen Anorak, betritt die Halle und geht zu seinem Pult. Ich betrachte neugierig Thây, und fühle sofort, daß eine starke Ausstrahlung von ihm ausgeht. Er begrüßt uns mit Verbeugung, was wir erwidern und beginnt mit seinemVortrag. Er spricht über unsere Schönheit, die wir so oft vergessen, über die Liebe, über Achtsamkeit und über den Wert der Meditation. Einfache Sätze mit großer Wirkung. Ich muß ihn immer wieder anschauen, seine Augen strahlen ein helles Licht aus. Er ist so einfach und klar, daß es einfach Spaß macht, ihm zuzuhören. Die ersten dreißig Minuten spricht er für die Kinder, die die vordersten Reihen belegen, um in seiner Nähe zu sein. Daß er Kinder liebt, ist mir die ganze Zeit über aufgefallen, egal ob bei den Vorträgen, beim Fragenstellen oder bei der Gehmeditation, die Kinder waren immer an erster Stelle.
Nach dem Vortrag gibt es eine GehmeditUm 6.00 Uhr werde ich von den Geräuschen meiner Mitbewohnerinnen geweckt und stelle fest, daß ich total verschlafen habe, keine Glocke gehört, Wecker falsch gestellt. Nicht weiter schlimm, sage ich mir, es wird noch genug Gelegenheit zum Meditieren geben. Nach dem Frühstück gehe ich die drei Kilometer zum Upper Hamlet, wo Thây ( der Lehrer, wie Thich Nhat Hanh hier liebevoll genannt wird) heute seinen ersten Vortrag halten wird. Nebelschwaden gehen durch die Täler, die Sonne kommt langsam durch, die frische Luft macht mich munter. Ich freue mich auf ein paar vertraute Gesichter aus meiner Meditationsgruppe in Frankfurt, die in Upper Hamlet wohnen. Als ich ankomme, sind schon alle in der großen Meditationhalle versammelt (zusammen etwa 400 Leute aus allen Ländern) und warten. Thây hält seine Vorträge abwechselnd auf Vietnamesisch, Englisch und Französisch, es wird simultan ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt.
Kaum habe ich meine Freunde begrüßt, erklingt auch schon die Glocke. Ein kleiner Mann, eingehüllt in einen Anorak, betritt die Halle und geht zu seinem Pult. Ich betrachte neugierig Thây, und fühle sofort, daß eine starke Ausstrahlung von ihm ausgeht. Er begrüßt uns mit Verbeugung, was wir erwidern und beginnt mit seinemVortrag. Er spricht über unsere Schönheit, die wir so oft vergessen, über die Liebe, über Achtsamkeit und über den Wert der Meditation. Einfache Sätze mit großer Wirkung. Ich muß ihn immer wieder anschauen, seine Augen strahlen ein helles Licht aus. Er ist so einfach und klar, daß es einfach Spaß macht, ihm zuzuhören. Die ersten dreißig Minuten spricht er für die Kinder, die die vordersten Reihen belegen, um in seiner Nähe zu sein. Daß er Kinder liebt, ist mir die ganze Zeit über aufgefallen, egal ob bei den Vorträgen, beim Fragenstellen oder bei der Gehmeditation, die Kinder waren immer an erster Stelle.
Nach dem Vortrag gibt es eine Gehmeditation von ca. 30 Minuten, Thay vorneweg mit Kindern an der Hand. Sehr beeindruckt von der friedlichen Atmosphäre lasse ich mich auf mein Gehen ein, langsam und achtsam, jeder Schritt eine bewußte Handlung. Innerlich sehr ruhig und still gehe ich die drei Kilometer zu meinem Hamlet zurück, nachdem wir alle für den Abend zu einer Meditation bei Vollmond eingeladen worden sind.
Am Abend lerne ich dann meine „Familie“ kennen. Man ist in sog. Familien oder Gruppen aufgeteilt, mit denen man seine Erfahrungen teilt, zusammen ißt und über die Vorträge und alles, was einen bewegt, sprechen kann. Vorstellungsrunde: Neun Frauen aus sechs verschiedenen Ländern, neugierig mustern wir uns. Unsere beiden Sisters (Nonnen aus Lower Hamlet, die unsere Gruppe anleiten) erklären uns, daß wir nun die Woche zusammen arbeiten, essen und diskutieren werden. Ich beäuge „unsere“ Nonnen, sie kommen mir so jung vor.
Das Wetter wird schön! Wir machen uns auf zur Vollmondmeditation, sitzen auf einer großen Terasse und betrachten eine Stunde schweigend und meditierend den Mond. Es ist so hell, daß man weit ins Land schauen kann, ein Mönch spielt Flöte, es ist unglaublich friedlich. Ich verpasse den Rücktransport, laufe die drei Kilometer durch die Mondnacht und philosophiere mit Rachel (der Amerikanerin aus dem Bus) über Gott und die Welt. Ich bin totmüde, aber es geht mir einfach gut. ation von ca. 30 Minuten, Thay vorneweg mit Kindern an der Hand. Sehr beeindruckt von der friedlichen Atmosphäre lasse ich mich auf mein Gehen ein, langsam und achtsam, jeder Schritt eine bewußte Handlung. Innerlich sehr ruhig und still gehe ich die drei Kilometer zu meinem Hamlet zurück, nachdem wir alle für den Abend zu einer Meditation bei Vollmond eingeladen worden sind.
Am Abend lerne ich dann meine „Familie“ kennen. Man ist in sog. Familien oder Gruppen aufgeteilt, mit denen man seine Erfahrungen teilt, zusammen ißt und über die Vorträge und alles, was einen bewegt, sprechen kann. Vorstellungsrunde: Neun Frauen aus sechs verschiedenen Ländern, neugierig mustern wir uns. Unsere beiden Sisters (Nonnen aus Lower Hamlet, die unsere Gruppe anleiten) erklären uns, daß wir nun die Woche zusammen arbeiten, essen und diskutieren werden. Ich beäuge „unsere“ Nonnen, sie kommen mir so jung vor.
Das Wetter wird schön! Wir machen uns auf zur Vollmondmeditation, sitzen auf einer großen Terasse und betrachten eine Stunde schweigend und meditierend den Mond. Es ist so hell, daß man weit ins Land schauen kann, ein Mönch spielt Flöte, es ist unglaublich friedlich. Ich verpasse den Rücktransport, laufe die drei Kilometer durch die Mondnacht und philosophiere mit Rachel (der Amerikanerin aus dem Bus) über Gott und die Welt. Ich bin totmüde, aber es geht mir einfach gut.
2. Tag
Es wird warm und schön! Ich beschließe, doch in mein Zelt umzuziehen, so daß ich auch mal ein bißchen alleine sein kann.
Ich habe die Morgenmeditation schon wieder verschlafen. Aber hier ist keiner streng, alles ist freiwillig und ich weiß, ab morgen bin ich dabei.
Um 7.30 Uhr werden wir mit Bussen abgeholt und zum 13 km entfernten New Hamlet gebracht, wo Thay heute seinen Vortrag hält. Diesmal spricht er über die Samen, die jeder Mensch in sich hat, positive und negative. Der Mensch entwickelt sich, wie seine Samen gewässert werden. Samen des Ärgers und der Eifersucht z.B. entstehen, wenn diese durch andere Personen gewässert werden, umgekehrt entwickeln sich die positiven Samen wie Liebe und Glück! Seine Botschaft: „Laß nicht zu, daß jemand Deine negativen Samen wässert, erlaube es niemandem!“
Seine Aussagen und Bilder sind wieder so verblüffend einfach und klar, daß ich meinen „bewässerten“ Geist praktisch vor meinen Augen sehe.
Ich gebe hier nur kurze Eindrücke wieder, wer mehr über die Inhalte der Dharmavorträge wissen möchte, siehe bitte Literaturliste am Ende.
Nach der Rückfahrt und dem Mittagessen gibt es die sog. working meditation, im Ashram bestens als KarmaYoga bekannt. Meine Familie ist für die Meditationshalle zuständig, wir fegen, putzen, gießen Blumen, klopfen Matten aus usw., alles mit Bewußtsein und Acht-samkeit. In Plum Village wird jede Tätigkeit als Meditation verstanden, nicht nur das Sitzen. Arbeiten, essen, gehen, aufs Klo gehen, Zähneputzen, alles ist eine meditative Handlung voller Achtsamkeit, jeden Moment Bewußtsein. Daß jede Aktion langsam und bewußt ausgeführt wird, ist für eine „schnelle“ Frau wie mich eine echte Herausforderung. Hausarbeit normalerweise so schnell wie möglich, essen zack, zack, bloß nicht so lange trödeln, hier ist alles anders. Die ersten 15 Minuten des Essens werden nicht gesprochen, sondern jeder Bissen bewußt wahrgenommen, im Bewußtsein darüber, wie viele Hände Arbeit nötig sind, bis das Essen auf meinem Teller landet. Das ganze Universum ist hier vereint, die Sonne, der Regen, die Arbeit, alle Elemente dieser Erde. Ich beginne, mein Essen mit anderen Sinnen wahrzunehmen. Abends haben wir unsere erste ausführliche Diskussion. Es wird über Thâys Vortrag gesprochen, auch über die Gefühle, die dadurch bei jedem ausgelöst werden. Die Runde ist überraschend offen und teilweise fließen Tränen. Die friedliche Atmosphäre beginnt zu wirken. Hier ist nichts, was ablenkt, kein Kino, Fernsehen, Kneipen, hier ist man einfach und zwar direkt und im Augenblick. Für manche kaum auszuhalten.
Nach der Sitzmeditation krieche ich in mein Zelt, lausche noch etwas in die Nacht und bin eingeschlafen.
3. Tag
Heute ist Lazy Day! Das heißt, es ist kein Programm, Frühstück erst um 8.00 Uhr und erst abends werden wir uns wieder treffen. Mir fehlt die Bewegung. Eine halbe Stunde Asanas am Tag habe ich mir vorgenommen, aber ich komme nicht dazu. Aber heute morgen bin ich freiwillig um 6.30 Uhr aufgestanden für Pranayama und eine Runde joggen. Unsere Nonne joggt fleißig mit. Das Wetter ist traumhaft, ich gehe schwimmen im nahegelegenden See und bin bei mir. Herrlich, kein Streß, kein Job, keiner will was von mir. Gespräche mit Freunden, die Sonne scheint außen und in meinem Herzen. Abends bekommen wir die Einführung in die sog. Fünf-Achsamkeits-Übungen. Diese basieren auf fünf Regeln, die der Buddha vor 2.500 Jahren seinen Freunden übergab. Sie sind als Übung gedacht, ein friedfertiges und erfülltes Leben zu führen ohne Gewalt und sozialer Ausbeutung, geprägt durch achtsames Reden, verantwortliches sexuelles Verhalten, achtsamen Konsum und bewußten Umgang mit dem Körper.
Am Ende der Woche gibt es die Möglichkeit, in einer Zeremonie diese Übungen „anzunehmen“. d.h. sich vorzunehmen, sie ins Leben und in den Alltag zu integrieren und so seine Lebens- und Denkweisen genauer zu verstehen. Viele schrecken erst mal davor zurück, da sie fürchten zu „versagen“ oder „die Regeln zu brechen“. Ich verstehe die Übungen nicht als Regeln, sondern als eine Art der Bewußtseinswerdung. Je länger ich mich damit beschäftige, muß ich feststellen, daß sie sehr den Yamas und Niyamas ähneln. Überhaupt sehe ich in dieser Zeit viele Parallelen zur Vedantaphilosophie, allerdings oft auch Differenzen wie z.B. in der Reinkarnationstheorie. Dennoch sehe ich eine gute Möglichkeit, die Fünf-Achtsamkeits-Übungen in mein Yogaleben zu integrieren und es zu bereichern. Ich beschließe, sie in der zweiten Woche anzunehmen.
4. UND 5. TAG
Mittlerweile schaffe ich es fast problemlos zur Morgenmeditation, manchmal laufe ich danach ein bisschen in den Sonnenaufgang. Wieso geht das hier so leicht, zu Hause würde ich jeden, der mich auffordert, um 6.00 Uhr zu joggen, für verrückt erklären. Heute spricht Thây über die Liebe. Er sagt, daß die Liebe eine ewige Quelle in uns ist. Sehr wichtig dabei ist das tiefe Hinschauen, wie wir uns und andere lieben, wie unsere Natur der Liebe ist. Vielleicht ist der gute Willen da, aber oft will man seine eigenen Ideen und Wünsche dem anderen überstülpen. Das ist keine Liebe. Liebe ist Sonnenschein und Brise. Liebe ist allerdings nur dann möglich, wenn ich da, wenn ich präsent bin. Wir leben zu oft in der Zerstreuung und sind nicht im gegenwärtigen Augenblick, wo die Tiefe des Lebens und damit die Liebe berührt werden kann. Wir müssen uns die Zeit zur Liebe nehmen. Wir müssen uns die Zeit zur Meditation nehmen, zum Anhalten und tiefen Schauen in die Natur der Dinge. Denn wir haben die Energie der Liebe ins uns, nur sehr oft sehen wir sie nicht. Durch tiefes achtsames Schauen in unser Herz und in das Herz von anderen erfahren wir die Einheit von Achtsamkeit, Konzentration und innerer Einsicht. Thây spricht weiter über die Praxis, diese Energien zu entwickeln, durch achtsames Atmen, Gehmeditation, tiefes Zuhören und Schauen. Ich könnte ihm stundenlang zuhören. Den Nachmittag nehme ich mir frei. Ich liege unter einem der 1.800 Pflaumenbäume, döse vor mich hin und genieße den Augenblick. Gibt es etwas Wichtigeres als dieses Bewußtsein der Präsenz? Und dann übe ich endlich mal wieder ausführlich meine Asanas, bewußt und achtsam. Eine Erweiterung meiner Yogapraxis und für mich der Beweis, daß Buddhismus und Vedanta sich nicht aussschließen, sondern ergänzen.
6. TAG
Ich bin schlecht drauf. Habe Alpträume gehabt, nachts gefroren. Irgendwas ist los mit mir, der Aufenthalt zeigt therapeutische Wirkung. Lustlos gehe ich zum Vortrag. Thây spricht wieder so einfach und direkt, daß es mich tief im Herzen trifft und mir die Tränen laufen. Ich praktiziere innere und äußere Reinigung. Aber ich bin nicht traurig, ich bin einfach sehr bei mir.
Abends in der Runde praktizieren wir das sog. „Beginning Anew“. Das bedeutet, daß alles, was sich in der Woche aufgestaut hat, Schönes und weniger Schönes, besonders innerhalb der Familie, angesprochen wird. Thây empfiehlt es besonders Familien und Paaren, regelmäßig einmal die Woche. Ich finde, eine gute Idee, um die Dinge konkret und klar anzusprechen und keine Probleme „unter den Teppich zu kehren“, wie es in unserer „sprachlosen“ Gesellschaft meist üblich ist. Ich bin erstaunt, wie ich von den Frauen in der Woche wahrgenommen werde und ich freue mich sehr über die Offenheit. Die trübe Stimmung vom Morgen ist verschwunden.
7. - 14. TAG
Die zweite Woche ähnelt vom Programm her der ersten. Thâys Vorträge handeln von falschen Wahrnehmungen, denen wir oft ausgesetzt sind, von der Frage: Wer bin ich?, von Reinkarnation, vom Sein und Nichtsein. Vieles wiederholt sich, aber das macht nichts, ich kann es immer wieder hören und es festigt das Aufgenommene der ersten Woche. Ich stelle fest, daß ich langsamer geworden bin, die Hektik aus meinem Tag genommen habe. Ich esse bewußter, spreche bewußter und achte bewußter auf die „kleinen“ Dinge des Lebens, ein Spinnennetz, auf dem sich Tau bildet, die Formen der Wolken am Himmel, das Heranreifen der Pflaumen. Ich fühle mich etwas wie diese Pflaumen, am Anfang des Retreats noch grün und hart, jetzt sonnengereift und weich.
Es gibt aber auch Tage, wo mich das ewige Anhalten beim Glockenklang nervt, ich mal wieder allein sein will, mich durch unachtsames Verhalten verletzt fühle. Aber warum sollte es hier anders sein als „draußen“, schließlich praktiziere ich ja für mein Alltagsleben, also auch die nicht so angenehmen Augenblicke anzunehmen und zu akzeptieren.
Die letzten vierzehn Tage waren eine Bereicherung meines Lebens, ich glaube, mich wieder ein bißchen besser kennengelernt zu haben. Ich habe neue Freundschaften geschlossen und meine Langsamkeit entdeckt, in mein Herz geschaut und bin ein Stück weiter auf meinem Weg gegangen.
Jetzt sitze ich hier am Atlantik und schreibe diesen Bericht. Ich bin noch sehr oft im Augenblick und hoffe, daß ich das weiterhin praktizieren werde. Aber allein ist es oft schwierig, man braucht Gleichgesinnte, wie beim Yoga, um gemeinsam zu praktizieren und sich gegenseitig zu unterstützen. Thây nennt das eine Sangha (Gemeinschaft). Und während ich auf das Meer schaue, hoffe ich, irgendwann meine Sangha zu finden.
Anhang:
- Zentrum von Thich Nhat Hanh:
- Plum Village
- Meyrac, Loubès Bernac
- F-47120 DURAS
Literaturbeispiele:
Das Herz von Buddhas Lehre Ich pflanze ein Lächeln, Goldmann Verlag
Ein Lotus erblüht im Herzen
Die Sonne, mein Herz
Umarme Deine Wut
The Path of Emancipation
Siehe auch
- Meditation
- Meditationsanleitung
- meditieren
- Gott
- Samadhi
- Vertrauen
- Hingabe
- Bhakti Yoga
- Bhakta
- Erleuchtung
- Verwirklichung
Literatur
- Sukadev Bretz: Meditieren lernen in 10 Wochen - Übungsbuch mit MP3-CD
- Muhyiddin Ibn Arabi: Reise zum Herrn der Macht: Meine Reise verlief nur in mir selbst
- Swami Sivananda: Die Kraft der Gedanken; Books. ISBN 3-922477-94-1
- Swami Sivananda: Shrimad Bhagavad Gita, Erläuternder Text und Kommentar von Swami Sivananda; Mangalam Books. ISBN 3-922477-06-2
- Swami Sivananda: Hatha-Yoga / Der sichere Weg zu guter Gesundheit, langem Leben und Erweckung der höheren Kräfte; Heinrich Schwab Verlag. ISBN 3-7964-0097-3
- Swami Sivananda: Göttliche Erkenntnis; Mangalam Books. ISBN 3-922477-00-3
- Swami Sivananda: Sadhana; Mangalam Books. ISBN 3-922477-07-0
- Swami Sivananda: Autobiographie von Swami Sivananda; Bad Mainberg 1999. ISBN 3-931854-24-8
Weblinks
- Spirituelle Retreats bei Yoga Vidya
- Shivalaya Kloster und Retreatzentrum Bad Meinberg
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