Sanskrit Kurs Lektion 114

Aus Yogawiki

Dieser Sanskrit Kurs führt anhand einfacher Beispielsätze und -verse in die Grammatik des Sanskrit ein. Einen ausführlichen Überblick über das Sanskrit findest Du im Artikel Sanskrit. Hinweise zur indischen Schrift, der wissenschaftlichen Umschrift (Transliteration) sowie der korrekten Aussprache gibt der Artikel Devanagari. Stichwörter, nach denen Du in der Yoga Vidya Wiki suchen kannst, sind in vereinfachter Schreibweise (Transkription) wiedergegeben.


Die Verben der 10. Klasse bzw. Chur Klasse (3)

In Lektion 112 und 113 haben wir die Beugung (Konjugation) der Verben der 10. bzw. Chur Klasse der thematischen Konjugation) in der Gegenwart betrachtet. Nun folgt ein Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika, die Auflösung des Formen-Rätsels aus Lektion 113 sowie ein neues Formen-Rätsel.


Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika

Die gesamte Hatha Yoga Pradipika besteht aus Versen, deren häufigstes Versmaß (Chhandas) der Shloka (Anushtubh) ist. Hier folgt ein Vers aus dem vierten Kapitel (Upadesha), das der Praxis der Meditation und Versenkung (Samadhi) gewidmet ist. Der 42. Vers steht im Kontext des höchsten, non-dualen Bewusstseinszustandes, der u.a. als Unmani bezeichnet wird.


दिवा न पूजयेल्लिङ्गं रात्रौ चैव न पूजयेत् |
सर्वदा पूजयेल्लिङ्गं दिवारात्रिनिरोधतः || ४२ ||


  • wissenschaftliche Transliteration:
divā na pūjayel liṅgaṃ rātrau caiva na pūjayet |
sarvadā pūjayel liṅgaṃ divā-rātri-nirodhataḥ || 4.42 ||


  • vereinfachte Transkription:
diva na pujayel lingam ratrau chaiva na pujayet |
sarvada pujayel lingam diva-ratri-nirodhatah || 4.42 ||


  • Wort-für-Wort-Übersetzung:
divā : bei Tage (Diva, adv.)
na : nicht (Na, Partikel)
pūjayet : (man) verehre (pūj, Verb)
liṅgam : das Linga ("Merkmal, Kennzeichen, männliches Glied", Akk. Sg. n.)
rātrau : bei Nacht (Ratri, Lok. Sg. f.)
ca : und, auch (Cha)
eva : gewiss (Eva)
na : nicht
pūjayet : (man) verehre
sarvadā : immer (Sarvada)
pūjayet : (man) verehre
liṅgam: das Linga (Akk. Sg. n.)
divā-rātri-nirodhataḥ : nach dem Anhalten (Nirodha, Abl. Sg. m.) von Tag (Diva) und Nacht (Ratri)


  • Übersetzung:
Nicht am Tage verehre man das Linga, auch nicht in der Nacht verehre man das Linga.
Nach dem Anhalten von Tag und Nacht verehre man das Linga immerzu.


Erläuterungen

  • Syntax: Dieser Vers besteht aus drei Sätzen (Vakya), die sich jeweils über das erste und zweite Versviertel (Pada) sowie über den zweiten Halbvers (Pada 3-4) erstrecken.
  • Das Adverb divā "bei Tage" bezieht sich auf den Optativ pūjayet im ersten Pada. Es handelt sich formal um den Instrumental Sg. n. des Substantivs Div "Tag".
  • Der Akkusativ (Dvitiya) liṅgam das logische Objekt (Karman) der Verbalhandlung pūjayet.
  • Der Lokativ (Saptami) rātrau "bei Nacht" bezieht sich auf den Optativ pūjayet im zweiten Pada.
  • Die Verbindungspartikel ca "und, auch" steht nie am Satzanfang und wird dem Wort, auf das sie sich bezieht, nachgestellt.
  • Die emphatische Partikel eva "gewiss" hebt das vorangehende Wort hervor. In der Verbindung mit ca steht eva häufig nur zur Auffüllung des Metrums.
  • Das Adverb sarvadā "immer, stets" bezieht sich auf den Optativ pūjayet im dritten Pada.
  • Der Ablativ (Panchami) divā-rātri-nirodhataḥ ist ein Kompositum (Samasa) des Typs Tatpurusha, dessen ersten beiden Glieder ein duales Kompositum (Dvandva) "Tag und Nacht" bilden. Der Ablativ wird hier durch das Suffix -tas gekennzeichnet.
  • Sandhi: Die Endung m von liṅgam geht vor folgendem Konsonanten (Vyanjana) in Anusvara () über, der vereinfacht wie m auszusprechen ist. Das auslautende stimmlose t von pūjayet wird vor l ebenfalls zu l assimiliert. Das auslautende a von ca und das anlautende e von eva verschmelzen zu ai in caiva. Das auslautende s der Ablativendung tas wird im absoluten Auslaut zu Visarga ().

Der Kommentator Brahmananda legt dar, dass mit der Verehrung des Linga hier das Meditieren über das Selbst (Atman), die Ursache (Karana) von allem (Sarva), gemeint ist: liṅgaṃ sarva-kāraṇam ātmānam. "Tag" und "Nacht" beziehen sich jeweils auf das Fließen von Prana in Pingala und Ida. Wenn diese beiden Energieströme angehalten werden, d.h. Prana in (Antar) die Sushumna gelangt (Gata) ist (suṣumnāntar-gate prāṇe), dann gewinnt der Geist (Manas) die zur Meditation über das Selbst nötige Ruhe und Festigkeit (manaḥ-Sthairya).


Metrische Analyse des 3. und 4. Pada

Betrachten wir das dritte (Tritiya) und vierte (Chaturtha) Versviertel (Pada) dieses Shloka noch einmal hinsichtlich der Längen (Dirgha) und Kürzen (Hrasva) der einzelnen Silben (Akshara). Lange Silben enden auf langen Vokal, oder auf einen kurzen Vokal (Svara), der von zwei Konsonanten (Vyanjana) gefolgt wird (inklusive Anusvara und Visarga). Dies nennt man Positionslänge*. Kurze Silben enden auf kurzen Vokal:


Silbe 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8
Devanagari र्व दा पू ये ल्लि ङ्गं दि वा रा त्रि नि रो तः
Transliteration sa rva ja ye lli ṅgaṃ di tri ni ro dha taḥ
Silbenlänge lang* kurz lang lang kurz lang lang* lang kurz lang lang kurz kurz lang kurz lang
Symbol υ υ υ υ υ υ


Erläuterungen: Alle acht Silben jedes Pada werden in einem Zuge, also ohne Pause, ausgesprochen. Zwischen den Versvierteln wird eine kurze Pause (Yati) eingehalten, so dass die letzte Silbe eines Pada stets als lang gilt, unabhängig von ihrer tatsächlichen Kürze oder Länge. Die Positionslänge der 1. und 7. Silbe (Pada 3) ergibt sich durch die Aufteilung in sar-va und lliṅ-gaṃ.


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