Sanskrit Kurs Lektion 92
Dieser Sanskrit Kurs führt anhand einfacher Beispielsätze und -verse in die Grammatik des Sanskrit ein. Einen ausführlichen Überblick über das Sanskrit findest Du im Artikel Sanskrit. Hinweise zur indischen Schrift, der wissenschaftlichen Umschrift (Transliteration) sowie der korrekten Aussprache gibt der Artikel Devanagari. Stichwörter, nach denen Du in der Yoga Vidya Wiki suchen kannst, sind in vereinfachter Schreibweise (Transkription) wiedergegeben.
Die Verben der 3. Klasse bzw. Hu Klasse (3)
In den Lektionen 90 und 91 haben wir die Beugung (Konjugation) der Verben der 3. Klasse (Hu Klasse, athematische Konjugation) in der Gegenwart betrachtet. Nun folgt ein weiterer Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika, die Auflösung des Verb-Rätsels aus Lektion 91 sowie ein neues Verb-Rätsel.
Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika
Die gesamte Hatha Yoga Pradipika besteht aus Versen, deren häufigstes Versmaß (Chhandas) der Shloka (Anushtubh) ist. Hier folgt ein im Versmaß Upajati abgefasster Vers aus dem ersten Kapitel (Upadesha), das der Praxis der Asanas gewidmet ist. Der 29. Vers beschreibt die Wirkungen von Matsyendrasana, dem "Sitz Matsyendras" bzw. vollständigen Drehsitz.
- मत्स्येन्द्रपीठं जठरप्रदीप्तिं प्रचण्डरुग्मण्डलखण्डनास्त्रम् |
- अभ्यासतः कुण्डलिनीप्रबोधं चन्द्रस्थिरत्वं च ददाति पुंसाम् || १.२९ ||
- wissenschaftliche Transliteration:
- matsyendra-pīṭhaṃ jaṭhara-pradīptiṃ pracaṇḍa-rug-maṇḍala-khaṇḍanāstram |
- abhyāsataḥ kuṇḍalinī-prabodhaṃ candra-sthiratvaṃ ca dadāti puṃsām || 1.29 ||
- vereinfachte Transkription:
- matsyendra-pitham jathara-pradiptim prachanda-rug-mandala-khandanastram |
- abhyasatah kundalini-prabodham chandra-sthiratvam cha dadati pumsam || 1.29 ||
- Wort-für-Wort-Übersetzung:
- matsyendra-pīṭham : die Körperhaltung ("Sitz", Pitha, Nom. Sg. n.) des Matsyendra
- jaṭhara-pradīptim : das Aufflammen ("Glanz", Pradipti, Akk. Sg. f.) des Verdauungsfeuers ("Magens", Jathara)
- pracaṇḍa-rug-maṇḍala-khaṇḍanāstram : eine Waffe (Astra, Nom. Sg. n.) zum Beseitigen ("Zerstückeln", Khandana) einer (ganzen) Schar, Menge (Mandala) von überaus heftigen, grimmigen, schrecklichen (Prachanda) Krankheiten (Ruj)
- abhyāsataḥ : aufgrund der Praxis, durch das Üben (Abhyasa, Abl. Sg. m.)
- kuṇḍalinī-prabodham : das Erwachen (Prabodha, Akk. Sg. m.) der Kundalini
- candra-sthiratvam : die Beständigkeit, Bewegungslosigkeit, Festigkeit (Sthiratva, Akk. Sg. n.) des Mond(-Nektars, Chandra)
- ca : und (Cha, Partikel)
- dadāti : gibt, verleiht, verursacht (dā, Verb)
- puṃsām : den Menschen (Pums, Gen. Pl. m.)
- Übersetzung:
- Die Matsyendra-Stellung (Matsyendrasana), die eine (mächtige) Waffe zum Beseitigen einer Menge schlimmer Krankheiten ist, verleiht den Menschen bei (regelmäßiger) Praxis eine Stärkung des Verdauungsfeuers, das Erwachen der Kundalini, und Beständigkeit (d.h. das Nichtherabfließen) des Mond(nektars).
Erläuterungen
- Syntax (Anvaya): Dieser Vers besteht aus einem einzigen Satz (Vakya), dessen syntaktische Grundstruktur das Verb dadāti und das logische Subjekt matsyendra-pīṭham bilden: "Die Matsyendra-Stellung ... verleiht ...". Aufgrund der aktiven Konstruktion des Verbs (Kartari Prayoga) steht das logische Subjekt (Kartri) im Nominativ und das logische Objekt (Karman) im Akkusativ.
- Der Nominativ (Prathama) matsyendra-pīṭham ist das logische Subjekt (Agens, Kartri) der Verbalhandlung dadāti.
- Die Akkusative (Dvitiya) jaṭhara-pradīptim, kuṇḍalinī-prabodham und candra-sthiratvam sind logische Objekte (Karman) der Verbalhandlung dadāti. Alle drei Komposita (Samasa) gehören zum Typ Tatpurusha, bei dem das Hinterglied (Determinatum) durch das Vorderglied (Determinans) näher bestimmt ("determiniert") wird.
- Das Kompositum pracaṇḍa-rug-maṇḍala-khaṇḍanāstram gehört ebenfalls zum Typ Tatpurusha und ist eine nähere Bestimmung zu matsyendra-pīṭham. Es steht daher (in der syntaktischen Funktion eines Adjektivs) gleichfalls im Nominativ Singular Neutrum. Dieses fünfgliedrige Kompositum ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Wort durch ein vorangestelltes Wort näher bestimmt wird. Die semantische Auflösung des Kompositums erfolgt somit "von hinten", wörtlich: "eine Waffe (astra) zum Beseitigen ("Zerstückeln", khaṇḍana) einer Menge (maṇḍala) von Krankheiten (rug) die schrecklich (pracaṇḍa) sind". Diesem Bildungstyp folgen auch viele deutsche Komposita, bspw. Haus·tür·schlüssel, d.h. "ein Schlüssel für die Tür eines Hauses".
- Der Ablativ (Panchami) abhyāsataḥ bezeichnet hier eine Ursache bzw. Voraussetzung. Er ist mit dem Suffix (Pratyaya) -tas (abhyāsa + tas) gebildet.
- Die Verbindungspartikel ca "und" steht häufig nur hinter dem letzten Wort einer Aufzählung, und nicht - wie im Deutschen - zwischen den aufgezählten Wörtern. Im vorliegenden Satz werden die drei logischen Objekte miteinander verknüpft: jaṭhara-pradīptim, ... kuṇḍalinī-prabodhaṃ candra-sthiratvaṃ ca (d.h. a, b und c).
- Die Verbform dadāti ("gibt, verleiht") ist die 3. Person Singular (Indikativ Präsens Aktiv bzw. Parasmaipada) der Verbalwurzel dā "geben" (3. bzw. Hu Klasse). Das Verb steht im Sanskrit oft an letzter Stelle im Satz, hier aus Gründen des Versmaßes an vorletzter Stelle ( ... dadāti puṃsām ||).
- Der Genitiv (Shashthi) puṃsām steht hier im Sinne eines Dativs (Chaturthi) und bezeichnet den "Empfänger der Handlung" (Sampradana), also denjenigen, dem die Handlung zugute kommt.
- Sandhi: Die Endung m von matsyendra-pīṭham, jaṭhara-pradīptim, kuṇḍalinī-prabodham und candra-sthiratvam geht vor folgendem Konsonanten (Vyanjana) in Anusvara (ṃ) über, welcher vereinfachend wie m ausgesprochen werden kann. In der traditionellen Rezitationsweise wird Anusvara jedoch als Klassennasal des Folgekonsonanten ausgesprochen, d.h. der jeweilige Nasal passt sich in der Aussprache dem auf ihn folgenden Konsonanten an: matsyendra-pīṭhañ jaṭhara-pradīptim pracaṇḍa° und kuṇḍalinī-prabodhañ candra-sthiratvañ ca. Somit wird Anusvara (ṃ) vor palatalem c und j als ñ ausgesprochen sowie vor labialem p als m. Im wortinternen Sandhi verschmelzen in matsyendra a und i zu e (matsya + indra) sowie in khaṇḍanāstra a und a zu ā (khaṇḍana + astra). Das stammauslautende j von ruj wird im absoluten Auslaut zunächst zu stimmlosem k, und im Kompositum vor folgendem stimmhaften Konsonanten (hier: m) zu stimmhaftem g: rug-maṇḍala.
Metrische Analyse des 1. und 2. Pada
Das Versmaß Upajati besteht aus 4 Versvierteln (Pada) zu je 11 Silben (Akshara). Die vier Padas unterscheiden sich lediglich in der beliebigen Kürze ( υ ) bzw. Länge ( - ) der ersten Silbe, die übrigen zehn Silben sind in der Abfolge der kurzen und langen Silben identisch. Für den vorliegenden Vers ergibt sich folgendes Schema:
1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 |
– | – | υ | – | – | υ | υ | – | υ | – | – (Pada a) |
υ | – | υ | – | – | υ | υ | – | υ | – | – (Pada b) |
– | – | υ | – | – | υ | υ | – | υ | – | – (Pada c) |
– | – | υ | – | – | υ | υ | – | υ | – | – (Pada d) |
Betrachten wir das erste (Prathama) und zweite (Dvitiya) Versviertel (Pada) dieser Upajati noch einmal hinsichtlich der Längen (Dirgha) und Kürzen (Hrasva) der einzelnen Silben (Akshara). Lange Silben enden auf langen Vokal, oder auf einen kurzen Vokal (Svara), der von zwei Konsonanten (Vyanjana) gefolgt wird (inklusive Anusvara und Visarga). Dies nennt man Positionslänge*. Kurze Silben enden auf kurzen Vokal:
Silbe | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 |
Devanagari | म | त्स्ये | न्द्र | पी | ठं | ज | ठ | र | प्र | दी | प्तिं | प्र | च | ण्ड | रु | ग्म | ण्ड | ल | ख | ण्ड | ना | स्त्रम् |
Transliteration | ma | tsye | ndra | pī | ṭhaṃ | ja | ṭha | ra | pra | dī | ptiṃ | pra | ca | ṇḍa | ru | gma | ṇḍa | la | kha | ṇḍa | nā | stram |
Silbenlänge | lang* | lang | kurz | lang | lang | kurz | kurz | lang* | kurz | lang | lang | kurz | lang* | kurz | lang* | lang* | kurz | kurz | lang* | kurz | lang | lang |
Symbol | – | – | υ | – | – | υ | υ | – | υ | – | × | υ | – | υ | – | – | υ | υ | – | υ | – | × |
Hinweise zur Aussprache: Alle elf Silben jedes Pada werden in einem Zuge, also ohne Pause, ausgesprochen. Zwischen den Versvierteln (also nach jeder elften Silbe) wird eine kurze Pause (Yati) eingehalten, so dass die letzte Silbe eines Pada stets als lang gilt, unabhängig von ihrer tatsächlichen Kürze oder Länge (× "Anceps"): die beiden Silben ptiṃ und stram am Ende des 1. bzw. 2. Pada sind aufgrund von Anusvara bzw. auslautendem m ohnedies lang. Die Positionslänge der 1. und 18. Silbe (Pada 1) bzw. der 2., 4., 5. und 8. Silbe (Pada 2) ergibt sich durch die Aufteilung in mat-sye und rap-ra bzw. caṇ-ḍa-rug-maṇ-ḍa und khaṇ-ḍa.
Fragen und Feedback
Für Fragen und Feedback zum Sanskrit Kurs wendet Euch gerne an Dr. phil. Oliver Hahn. Er ist Indologe und Autor für Yoga Wiki, Seminarleiter, Yogalehrer, Übersetzer und Lektor.
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Siehe auch
- Sanskrit Kurs Lektion 1
- Sanskrit Kurs Lektion 2
- Sanskrit Kurs Lektion 3
- Sanskrit Kurs Lektion 4
- Sanskrit Kurs Lektion 5
- Sanskrit Kurs Lektion 6
- Sanskrit Kurs Lektion 7
- Sanskrit Kurs Lektion 8
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