Sanskrit Kurs Lektion 29
Dieser Sanskrit Kurs führt anhand einfacher Beispielsätze und -verse in die Grammatik des Sanskrit ein. Einen ausführlichen Überblick über das Sanskrit findest Du im Artikel Sanskrit. Hinweise zur indischen Schrift, der wissenschaftlichen Umschrift (Transliteration) sowie der korrekten Aussprache gibt der Artikel Devanagari. Stichwörter, nach denen Du in der Yoga Vidya Wiki suchen kannst, sind in vereinfachter Schreibweise (Transkription) wiedergegeben.
Das Kompositum (2)
In Lektion 28 haben wir das Kompositum (Samasa) näher betrachtet. Der folgende Beispielvers enthält drei Komposita, die teils die Funktion eines Adjektivs, teils eines Substantivs erfüllen.
Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika
Die gesamte Hatha Yoga Pradipika besteht aus Versen, deren häufigstes Versmaß der Shloka (Anushtubh) ist. Hier folgt ein Vers aus dem zweiten Kapitel (Upadesha), das der Praxis des Pranayama und den Reinigungstechniken (Shatkarman) gewidmet ist. Der 30. Vers beschreibt die positiven Folgen der Nasenreinigung (Neti):
- कपालशोधिनी चैव दिव्यदृष्टिप्रदायिनी |
- जत्रूर्ध्वजातरोगौघं नेतिराशु निहन्ति च || २.३० ||
- wissenschaftliche Transliteration:
- kapāla-śodhinī caiva divya-dṛṣṭi-pradāyinī |
- jatrūrdhva-jāta-rogaughaṃ netir āśu nihanti ca || 2.30 ||
- vereinfachte Transkription:
- kapala-shodhini chaiva divya-drishti-pradayini |
- jatrurdhva-jata-rogaugham netir ashu nihanti cha || 2.30 ||
- Wort-für-Wort-Übersetzung:
- kapāla-śodhinī : sie reinigt (Shodhini "reinigend", Nom. Sg. f.) den Schädel (Kapala)
- ca : und, auch (Cha, Partikel)
- eva : gewiss, sicherlich (Eva, Partikel)
- divya-dṛṣṭi-pradāyinī : sie verleiht (Pradayini, Nom. Sg. f.) himmliche, göttliche (Divya) Sicht (Drishti)
- jatrūrdhva-jāta-rogaugham : die Menge ("Flut", Ogha, Akk. Sg. m.) der Krankheiten Roga), die oberhalb (Urdhva) der Schlüsselbein(e, Jatru) entstanden sind (Jata, Partizip Präteritum Passiv der Wurzel jan)
- netiḥ : Neti
- āśu : geschwind, schnell (Ashu, Adverb)
- nihanti : vertreibt (ni + han, Verb)
- ca : und
- Übersetzung:
- (Die Nasenreinigung) Neti reinigt sicherlich den Schädel und verleiht göttliche Sicht (d.h. das Sehen feinstofflicher, für gewöhnlich unsichtbarer Dinge).
- Und sie vertreibt schnell eine Menge Krankheiten, die oberhalb der Schlüsselbeine entstehen.
Erläuterungen
- Dieser Vers enthält drei Komposita (Samasa), die jeweils als Substantiv (jatrūrdhva-jāta-rogaugham) und Adjektiv (kapāla-śodhinī, divya-dṛṣṭi-pradāyinī) fungieren.
- Die beiden Komposita kapāla-śodhinī und divya-dṛṣṭi-pradāyinī beziehen sich als Adjektiv auf netiḥ und stehen daher ebenfalls im Nominativ Singular Femininum.
- Der Nominativ (Prathama) netiḥ ist das logische Subjekt bzw. der Agens (Kartri) der Verbalhandlung nihanti.
- Der Akkusativ (Dvitiya) jatrūrdhva-jāta-rogaugham ist das logische Objekt (Karman) der Verbalhandlung nihanti.
- Das Adverb āśu "schnell" ist als Umstandsbestimmung der Art und Weise eine nähere Bestimmung zum Verb nihanti.
- Die Verbform nihanti ("sie vertreibt") ist die 3. Person Singular (Indikativ Präsens Aktiv bzw. Parasmaipada) von der Verbalwurzel (Dhatu) han "schlagen", die in Verbindung mit dem Verbalpräfix (Upasarga) ni "vertreiben, vernichten" bedeutet.
- Die Partikeln ca und eva dienen in diesem Vers hauptsächlich zum "Auffüllen des Metrums", d.h. sie könnten in einem nicht-metrischen Text auch weggelassen werden.
- Sandhi: Gleichartige Vokale (Svara) verschmelzen in Komposita zu einem Langvokal: u + ū wird zu ū in jatrūrdhva°; a + e wird zu ai (caiva); a + o wird zu au (rogaugha). Die Form netir steht für netiḥ, da Visarga (ḥ) vor Vokalen zu -r wird, wenn er nicht zwischen zwei a-Lauten (kurz oder lang) steht.
Auflösung und Übersetzung der Komposita
Komposita stellen eine sehr praktische Möglichkeit des Sanskrit dar, komplexe syntaktische Strukturen zu vereinfachen, also in einem einzigen - wenngleich zusammengesetzten - Wort auszudrücken. Beim Übersetzen ist es jedoch erforderlich, die zugrundeliegende Struktur zu erkennen bzw. zu "rekonstruieren". Bei der Analyse von Sanskrit-Komposita geht man in der Regel systematisch von rechts nach links vor. Kürzere Komposita erschließen sich mit einiger Übung auch intuitiv. Der Länge von Komposita sind, abgesehen vom jeweiligen Versmaß (Chandas), im Sanskrit keine natürlichen Grenzen gesetzt.
- Das Kompositum kapāla-śodhinī lässt sich problemlos ins Deutsche übertragen: "Schädel-reinigend" (Substantiv + Adjektiv). Auflösung von rechts nach links: "sie reinigt (śodhinī) den Schädel (kapāla)".
- Das Kompositum divya-dṛṣṭi-pradāyinī könnte man so übertragen: "göttliche-Sicht (divya-dṛṣṭi, Substantiv) verleihend (pradāyinī, Adjektiv)", wobei divya-dṛṣṭi ("göttliche-Sicht") wiederum ein Kompositum ist, bei dem das Substantiv dṛṣṭi durch das Adjektiv divya näher bestimmt wird. Auflösung von rechts nach links: "sie verleiht (pradāyinī) eine Sicht bzw. ein Sehen (dṛṣṭi) die bzw. das göttlich ist (divya)".
- Das Kompositum jatrūrdhva-jāta-rogaugham erfordert eine systematische Auflösung von rechts nach links, wobei das aus fünf Wörtern bestehende Kompositum wiederum in zwei zugrundeliegende Komposita aufzulösen ist: jatrūrdhva-jāta (Adjektiv, bestehend aus jatru + ūrdhva + jāta) und rogaugham (Substantiv, bestehend aus roga + ogha). Auflösung von rechts nach links: "die Menge (ogha) der Krankheiten (roga), die entstanden sind (jāta) oberhalb (ūrdhva) der Schlüsselbeine (jatru).
Da in einem Kompositum die einzelnen Worte (Shabda, Pada) in der Regel in der Stamm- bzw. Wörterbuchform erscheinen, können sie je nach Kontext als Singular (Ekavachana), Dual (Dvivachana) oder Plural (Bahuvachana) zu verstehen sein. In diesem Beispiel handelt es sich um mehrere Krankheiten (roga, Plural) und zwei Schlüsselbeine (jatru, Dual).
Metrische Analyse des 3. und 4. Pada
Betrachten wir das dritte (Tritiya) und vierte (Chaturtha) Versviertel (Pada) dieses Shloka noch einmal hinsichtlich der Längen (Dirgha) und Kürzen (Hrasva) der einzelnen Silben (Akshara). Lange Silben enden auf langen Vokal (auf den noch ein Konsonant folgen kann), oder auf einen kurzen Vokal (Svara), der von zwei Konsonanten (Vyanjana) gefolgt wird (inklusive Anusvara und Visarga). Dies nennt man Positionslänge*. Kurze Silben enden auf kurzen Vokal:
Silbe | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 |
Devanagari | ज | त्रू | र्ध्व | जा | त | रो | गौ | घं | ने | ति | रा | शु | नि | ह | न्ति | च |
Transliteration | ja | trū | rdhva | jā | ta | ro | gau | ghaṃ | ne | ti | rā | śu | ni | ha | nti | ca |
Silbenlänge | lang* | lang | kurz | lang | kurz | lang | lang | lang | lang | kurz | lang | kurz | kurz | lang* | kurz | lang** |
Symbol | – | – | υ | – | υ | – | – | – | – | υ | – | υ | υ | – | υ | – |
Hinweise zur Aussprache: Alle acht Silben jedes Pada werden in einem Zuge, also ohne Pause, ausgesprochen. Zwischen den Versvierteln wird eine kurze Pause (Yati) eingehalten**. Die Positionslänge der 1. Silbe (Pada 3) bzw. der 6. Silbe (Pada 4) ergibt sich durch die Aufteilung in jat-rū bzw. han-ti.
**Unabhängig von ihrer eigentlichen Kürze oder Länge gilt die 8. bzw. letzte Silbe eines Versviertels stets als lang, da ihr eine Pause folgt.
Fragen und Feedback
Für Fragen und Feedback zum Sanskrit Kurs wendet Euch gerne an Dr. phil. Oliver Hahn. Er ist Indologe und Autor für Yoga Wiki, Seminarleiter, Yogalehrer, Übersetzer und Lektor.
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Siehe auch
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