Sanskrit Kurs Lektion 108

Aus Yogawiki

Dieser Sanskrit Kurs führt anhand einfacher Beispielsätze und -verse in die Grammatik des Sanskrit ein. Einen ausführlichen Überblick über das Sanskrit findest Du im Artikel Sanskrit. Hinweise zur indischen Schrift, der wissenschaftlichen Umschrift (Transliteration) sowie der korrekten Aussprache gibt der Artikel Devanagari. Stichwörter, nach denen Du in der Yoga Vidya Wiki suchen kannst, sind in vereinfachter Schreibweise (Transkription) wiedergegeben.

Die Wohllautregeln des Sandhi (8): Visarga und Anusvara

In der Lektion 101 haben wir begonnen, die Regeln des Sandhi etwas systematischer zu betrachten. Diese behandeln alle lautlichen Veränderungen, die beim Aufeinandertreffen von Wörtern (Shabda) oder Wortbestandteilen mit den beteiligten Lauten (Varna) nach genau beschriebenen Gesetzmäßigkeiten vor sich gehen. In dieser Lektion schließen wir die Betrachtung der Regeln für die verschiedenen Realisierungen von Anusvara und Visarga in Schrift und Aussprache ab und veranschaulichen dies an zwei weiteren Beispielversen aus der Hatha Yoga Pradipika. Dann gibt es die Auflösung des Formen-Rätsels aus Lektion 107 sowie ein neues Formen-Rätsel.

Beispielverse aus der Hatha Yoga Pradipika

Die gesamte Hatha Yoga Pradipika besteht aus Versen, deren häufigstes Versmaß der Shloka (Anushtubh) ist. Hier folgen zwei zusammengehörige Verse aus dem vierten Kapitel (Upadesha), das der Praxis der Meditation und Versenkung (Samadhi) gewidmet ist. Im 3. und 4. Vers werden 16 synonyme Begriffe aufgezählt, die allesamt den höchsten Bewusstseinszustand bezeichnen, auf den die Praxis des Hatha Yoga abzielt:


राजयोगः समाधिश्च उन्मनी च मनोन्मनी |
अमरत्वं लयस्तत्त्वं शून्याशून्यं परं पदम् || ४.३ ||
अमनस्कं तथाद्वैतं निरालम्बं निरञ्जनम् |
जीवन्मुक्तिश्च सहजा तुर्या चेत्येकवाचकाः || ४.४ ||


  • wissenschaftliche Transliteration:
rāja-yogaḥ samādhiś ca unmanī ca manonmanī |
amaratvaṃ layas tattvaṃ śūnyāśūnyaṃ paraṃ padam || 4.3 ||
amanaskaṃ tathādvaitaṃ nirālambaṃ nirañjanam |
jīvan-muktiś ca sahajā turyā cety eka-vācakāḥ || 4.4 ||


  • vereinfachte Transkription:
raja-yogah samadhish cha unmani cha manonmani |
amaratvam layas tattvam shunyashunyam param padam || 4.3 ||
amanaskam tathadvaitam niralambam niranjanam |
jivan-muktish cha sahaja turya chety eka vachakah || 4.4 ||


  • Wort-für-Wort-Übersetzung:
rāja-yogaḥ : königlicher Yoga (Rajayoga, Nom. Sg. m.)
samādhiḥ : Versenkung (Samadhi, Nom. Sg. m.)
ca : und (Cha, Partikel)
unmanī : (der Zustand) jenseits des Geistes ("Selbstvergessenheit", Unmani, Nom. Sg. f.)
ca : und
manonmanī : (der Zustand) des Geistes jenseits des Geistes (Manonmani, Nom. Sg. f.)
amaratvam : Unsterblichkeit, Göttlichkeit (Amaratva, Nom. Sg. n.)
layaḥ : Auflösung (Laya, Nom. Sg. m.)
tattvam : Wahrheit, Realität, die wahre Natur ("So-sein", Tattva, Nom. Sg. n.)
śūnyāśūnyam : leere Nichtleere (Shunyashunya, Nom. Sg. n.)
param padam : höchster Para, Nom. Sg. n.) Ort, Zustand (Pada, Nom. Sg. n.)
amanaskam : der geistlose (Zustand, Amanaska, Nom. Sg. n.)
tathā : und, ebenso (Tatha, adv.)
advaitam : Nichtzweiheit, Nichtdualität (Advaita, Nom. Sg. n.)
nirālambam : (der Zustand) ohne Stütze (Niralamba, Nom. Sg. n.)
nirañjanam : der reine, unbefleckte (Zustand, Niranjana, Nom. Sg. n.)
jīvan-muktiḥ : Lebenderlösung, Erlösung zu Lebzeiten (Jivanmukti, Nom. Sg. m.)
ca : und
sahajā : der natürliche, angeborene (Zustand, Sahaja, Nom. Sg. f.)
turyā : der vierte (Zustand, Turya, Nom. Sg. f.)
ca : und
iti : so (lauten, Iti, adv.)
eka-vācakāḥ : (die Begriffe) die ein und dasselbe bedeuten ("zum Ausdruck bringen", Ekavachaka, Nom. Pl. m.)


  • Übersetzung:
Königlicher Yoga, Versenkung, (Zustand) jenseits des Geistes und (Zustand) des Geistes jenseits des Geistes,
Unsterblichkeit, Auflösung, Wahrheit, leere Nichtleere, höchster Zustand;
geistloser (Zustand), Nichtdualität, (Zustand) ohne Stütze und unbefleckter (Zustand),
Erlösung zu Lebzeiten, natürlicher (Zustand) und vierter (Zustand) - so (lauten die Begriffe), die allesamt ein und dasselbe bedeuten.


Erläuterungen

  • Syntax: Beide Verse bestehen aus einer Aufzählung synonymer Begriffe (Paryaya), die alle im Nominativ Singular stehen und im vierten Pada mit iti "so" zusammengefasst und als gleichbedeutend bezeichnet werden. Die Verbindungspartikel ca "und" sowie das Adverb tathā "ebenso" sind nach Bedarf so eingefügt, dass das Metrum (Chhandas) vervollständigt wird.

Betrachten wir die nun verschiedenen vokalischen und konsonantischen Veränderungen des Sandhi im Einzelnen:

  • Ein auslautendes a verschmilzt mit anlautendem u zu o: manonmanī (mana + unmanī).
  • Ein auslautendes a/ā verschmilzt mit anlautendem a/ā zu ā: śūnyāśūnyaṃ (śūnya + aśūnyaṃ) und tathādvaitaṃ (tathā + advaitaṃ).
  • Ein auslautendes a verschmilzt mit anlautendem i zu e: cety (ca + iti). Das auslautende i von iti wird vor anlautendem Vokal (hier: e) zum Halbvokal (Antahstha) y: cety eka° aus ceti + eka°.
  1. Vor nachfolgendem Sibilant (Zischlaut, Ushman) wird Visarga () geschrieben, dieser in der Aussprache jedoch dem nachfolgenden Zischlaut angeglichen (assimiliert): rāja-yogaḥ samādhiś sprich: rāja-yogaś samādhiś.
  2. Vor stimmlosem Palatal (Talavya, hier: c) geht Visarga in den entsprechenden Sibilanten (hier: ś) über: samādhiś ca aus samādhiḥ + ca und jīvan-muktiś ca aus jīvan-muktiḥ + ca.
  3. Vor stimmlosem Dental (Dantya, hier: t) geht Visarga in den entsprechenden Sibilanten (hier: s) über: layas tattvaṃ aus layaḥ + tattvaṃ.
  4. Im absoluten Auslaut wird Visarga als ein Hauchlaut ausgesprochen, der den vorangehenden Vokal wie ein schwaches Echo wiederholt: eka-vācakāḥ sprich: eka-vācakāha.
  • Anusvara: Die Endung m von amaratvam, tattvam, śūnyāśūnyam, param, amanaskam, advaitam, nirālambam und nirañjanam geht vor folgendem Konsonanten (Vyanjana) in Anusvara () über, welcher vereinfachend wie m ausgesprochen werden kann. In der klassischen Rezitationsweise wird Anusvara jedoch je nach dem folgenden Konsonanten unterschiedlich ausgesprochen und ggfs. als der jeweilige Klassennasal artikuliert: Aussprache als m vor l, ś und p (= Klassennasal). Aussprache als n vor t (= Klassennasal) und n. Hieraus ergeben sich folgende von m abweichende Aussprachen: amanaskan tathādvaitan nirālamban nirañjanam für amanaskaṃ tathādvaitaṃ nirālambaṃ nirañjanam.

Fragen und Feedback

Für Fragen und Feedback zum Sanskrit Kurs wendet Euch gerne an Dr. phil. Oliver Hahn. Er ist Indologe und Autor für Yoga Wiki, Seminarleiter, Yogalehrer, Übersetzer und Lektor.

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