Schlussbetrachtung von Kunstform und Yoga im indischen Kultbild
Aus: Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild, 1987, S. 253 bis 257
Der Gandhara-Buddha trägt, wie alle aus klassischer Tradition erwachsenden Bildwerke einen festlichen Charakter. Die klassische Kunst ist durchaus festlich: hier ist auch der Tod noch ein Fest. Die Niobiden »sterben in Schönheit« Würde, Großartigkeit und Schmelz umwittern alle klassische Gestalt. Michelangelos Giuliano di Medici, il Pensieroso, sitzt in eine fürstliche Melancholie versunken, und ein pfeilbesäter Sebastian stellt die Überwindung des Todes durch die Anmut dar. Wie der Betende Knabe (Berlin) bringt die Klassische Kunst ihre eigene Schönheit huldigend dem Auge der Götter und Menschen dar, in ihr verklärt sich das Leben und preist seine eigene Vollendung.
Diesen Sinn der klassischen Kunst hat unter den Späteren kaum einer klarer gelebt und dargestellt als Tizian in einigen seiner Venusbilder — etwa in der Berliner Venus mit dem Orgelspieler. Zärtlich beugt sich Amor zu ihrem Ohr, wie sie dem weichen Spiel des Ritters zu ihren Füßen lauscht: Vollkommenheit zittert in der musikumquollenen Stunde dieses lauen Nachmittags wie um jede göttliche Schwellung ihres opalen-milchig schimmernden Leibes, den sanftester Atem in erquickender Unrast hält. Leis unterbricht der Ritter sein Orgelspiel, in dessen Wogen er versank und wendet den Kopf zu seiner Herrin, als fühle er plötzlich eine Leere um sich, als sei Sie, deren Schmelz in Tönen zu betten, für ihn einzige Lust vollkommener Stunde war, ihm jäh entrückt und entfremdet. Vernahm er einen leisesten Klageton, einen schon erstickten Laut ihrer himmlischen Kehle, die Gefühl mit Überfülle sprengte? — In ihren Augen glänzen Tränen: das Zeichen der Schönheit, die, um sich selbst wissend, an ihrer Grenze steht.
Vollkommene Schönheit ist ein Ende; hinter allem Vollkommenen steht der Tod, und das Glück der Vollendung, die sich selbst weiß — ein höchster Augenblick verklärten Lebens —, findet seine reine Auflösung einzig im süßen Weh unendlicher Schwermut, in dem trauerumflorten wunschlosen Wissen um die eigene Vergänglichkeit. Die klassische Kunst ist ein ewiger Hymnus zum Triumph erhöhten Lebens.
So gern uns die großen Worte, mit denen wir ihre ewigen Zeugnisse feiern müssen, auch im Angesicht indischer Götter und Heiliger über die Lippen flössen, wir bringen sie nicht mehr hervor. Denn wir wissen, daß sie zwar keineswegs fehl am Orte sind, daß man auch bei ihnen von Schmelz und Größe, Erhabenheit und Reizen sprechen kann, aber wir werden inne, daß damit nur vergleichsweise Beiläufiges, auch Vorhandenes angerührt wird, daß aber solchen Beschwörungen sich ihr Kern nicht aufschließt. Sind Reiz und Hoheit mehr als ein Schimmer, der diesen Kern umfließt und unser westliches Auge, unseren schönheitshungrigen Sinn verlockt, von diesem Kerne abzuirren mehr als ein Vordergründliches, das unseren Andrang schon mit schimmernder Schale abfängt und zersplittert?
— Immer wieder gleitet unser Blick von ihrer Schönheit, die ihn verführt und unser doch zu spotten scheint, die wie das Spiel der Maya ist, in der das Göttliche sein reines Wesen lustvoll verhüllt, hinüber zu jenen strengeren Geschwistern rein linearer Konstruktion, die schon in einer reineren, flimmerlosen Form des Scheins verschweigen, was im Schweigen der schmelzumflossenen Gestalten, vom Lockgesange schöner Formen übertönt, sich birgt. An ihnen sehen wir, was uns an ihnen fesselt und was verschwiegener Lebenskeim der schönen Bilder ist: die Notwendigkeit der Sinnbeziehungen aller Teile aufeinander, die Ruhe eines überwillkürhaften Nebeneinander, der letzte Ernst rein sachlicher Aussage, die Wahrheit more geometrico in wechselnden unendlichen Aspekten sub specie aeternitatis gottgewählten, notwendigen Scheines dargestellt — sind alle nicht mit jener Größe, jenem Reiz der Form, die uns zu indischer Kunst verlocken, unlöslich verbunden, haben ihr Lebensbereich, die Bühne, deren sie bedürfen, nicht allein im großen und im schönen Schein.
Hier setzt nicht ein gehobenes Lebensgefühl sich Denkmäler eigener Verklärung, hier hält nicht vollendetes Erdendasein sich den Spiegel seiner eigenen Schönheit vor, hier feiert nicht das Vergängliche seinen Sieg über die Mächte des Todes, die es ständig zu verkümmern drohen und im niederen Bann barer Bedürftigkeit und mühseliger Erhaltung des Lebens gefangen halten, feiert nicht seinen Aufstieg zur Freiheit gottgleichen Überschwanges, der sich zur Schönheit auskristallisiert und sich verschwendet. In der klassischen Kunst erscheint der Mensch als göttlich, weil er so schön ist. Er tritt an die Stelle der Götter, die sein Geist überwältigt und ausgelöscht hat, nun bleibt nur mehr die Feier seines eigenen Selbst als des Göttlichsten, das die Erde trägt. In ihr verweilt er als in seinem höchsten Augenblick.
Für die indische Kunst ist der Mensch Gott, und sie ist geschaffen, damit er es erfahre und ihrer nicht mehr bedürfe. Sie ist nur schön, weil das Göttliche, solange es sich selbst mit formerfülltem menschlichen Auge anschaut, als das Vollkommene auch schön erscheinen muß. Aber Schönheit ist nicht sein Wesen, und durch den Maya-Schleier seiner Schönheit in der Bilderscheinung ragt immer jener unauflösliche Kern, der jenseits von Schön und nicht-Schön, jenseits von Name und Form Wesen des Göttlichen ist — Wesen des Menschen. Tat Tvam Asi! — »Das bist — du!«
Die klassische Kunst und das indische Kultbild sind polar verschieden: diese feiert den schönsten Schleier der Maya, jenes breitet ihn in wechselnden, oft schönen Formen aus, weil nur in seiner Maya das Göttliche Erscheinung wird. Was für diese Ziel und Vollendung, ist für jenes Durchgang und Beginn. Auf Grund dieser Polarität der Ziele erscheint in beiden das Material aller künstlerischen Werkfreude, die Formenwelt der Maya, durchaus verschieden. Dank dieser Polarität ragt im indischen Kultbild formumspült jener stumme Kern, von dem die klassische beredte Kunst nichts ahnt, den sie nicht birgt, »vor dem (...)« — um eine Wendung der alten Weisen aus den Upanishads über das Brahman zu gebrauchen, dessen Maya sich ja im Kultbilde entfaltet — »vor dem die Worte umkehren, ohne ihn erreicht zu haben, mitsamt dem Denken (...)«
— Buddhistisch gesprochen: Weil im Buddhabilde das Nirvana oder die Leere (Shunyam) in sinnlicher oder übersinnlicher Erscheinungsform (als Nirmana- oder Sambhogakaya) räumlich gebannt wird, gilt von seinem Kern, der unsagbarer Grund seiner Erscheinung ist, was ein Vers der altbuddhistischen Gedichtsammlung Suttanipata über den vollendeten Heiligen spricht, zu dessen Stande ja das Kultbild, ihn verkörpernd, Wegweiser sein will: »Für den, der (wie die Sonne) zur Rüste gegangen ist, gibt es nichts mehr, womit man ihn vergleichen könnte; womit man ihn aussagen möchte, das ist an ihm nicht zu finden. Wo alle Vorstellungen zunichte geworden sind, da sind auch alle Pfade der Rede zunichte geworden.«
Nicht anders charakterisiert schließlich das Kularnava—Tantra den vollkommenen Adepten seiner Lehre, der im Bewußtsein seiner selbst zum Göttlichen geworden ist, dessen Maya-haftes Abbild Pratimas und Yantras aller Formen sind: »Denn wie für die gemeine Welt der Pfad, den Sonne und Mond, Sternbilder und Planeten am Himmel beschreiben, nicht wahrnehmbar ist, so auch der Wandel der Yogins. Wie im Luftraume der Vögel Pfad und im Wasser der Weg der Fische nicht zu sehen ist, so auch der Wandel der Yogins.«
Denn was wir am Kultbilde (Pratima) bewundern, ist ja bei aller Bedeutsamkeit, die ihm auf seiner Stufe eignet, eben nur für diese Stufe bedeutsam. Es hat seine Daseinsberechtigung daran, daß es über sich hinausweist: es ist Wesen nur für den in Unwissenheit (Avidya) Gebundenen, für den Noch-nicht-Erwachten (Aprabuddha): »Im Feuer ist Gott (Deva) für den opferkundigen, vedengelehrten Brahmanen (Vipra), im eigenen Herzen für den Andachtsvollen (Manishin), im Kultbilde (Pratima) für den Noch-nicht-Erwachten (Aprabuddha), in Allem (Sarvatra) für den, der um das (höchste) Selbst weiß.« - für den Viditatman, der um den Atman als Brahman weiß, um sein eigenes Wesen als das Wesen aller Wesen (Kularnava-Tantra).
Damit scheint die Grenze erreicht und bezeichnet, wo unser Erfassen und Reden, solange wir kein Andächtiger sind, der das Bild durch Pranapratishtha mit dem heiligsten Leben seines Herzens, der Gottheit im Herzen, beleben kann, sein natürliches Ende findet; genau da, wo der Schleier der Maya, der uns zur Betrachtung des Bildes verlockt, sich lüftet, und wo sein Wesen beginnt. — Mag sich der westliche Betrachter, in der Maya seiner Kunst erwachsen und befangen, an der baren Schönheit und Größe indischer Bilder weiden, oder sich von ihnen wenden und als ikonographisch-ethnologisches Material aussondernd verwerfen, was von Schönerem nicht zu trennen ist, wenn er daran vermißt, worin sein Auge und seine Ergriffenheit zu schwelgen wünscht; — er wird Rechenschaft geben müssen, wie weit all seine Beredsamkeit mehr enthüllen kann, als seine bloße liebende Ferne zum Kern der Gebilde, um die er kreist.
Siehe auch
- Kapitel 1: Einleitung - Indisches Kultbild und klassische Kunst (Indische Kunst)
- Kapitel 2: Yoga und figurales Kultbild
- 2.1 Die Andacht zum fuguralen Kultbild - Pratima
- 2.2 Äußeres Sehen und inneres Schauen (Visualisierung)
- Kapitel 2: Yoga und figurales Kultbild
- Kapitel 3: Yoga und lineares Kultbild - Yantra und Mandala
- 3.1 Das lineare Gebilde in Magie und Kult (Symbol)
- 3.2 Entfaltung und Einschmelzung innerer Gesichte (Andacht)
- 3.3 Lineare Yantras mit figuraler Füllung - Lamaistische Mandalas (Mahasukha)
- 3.4 Der Boro Budur - ein Mandala (Borobudur)
- 3.5 Das rein lineare Yantra
- 3.5.1 Figurales Kultbild und lineares Yantra (Bild)
- 3.5.2 Die Formensprache des rein linearen Yantra (Lineares Yantra)
- 3.5.3 Das Shri Yantra
- Kapitel 4: Zeichensprache und Proportion im Kanon indischer Kunst (Kanon)
- Kapitel 3: Yoga und lineares Kultbild - Yantra und Mandala
- Kapitel 5: Der Ort des Kultbildes in der Welt des Gläubigen (Offenbarung)
- Schlussbetrachtung von Kunstform und Yoga im indischen Kultbild
- Heinrich Zimmer
- Indische Mythen und Symbole
- Indische Geschichten
- Himmelsfrau
- Yantra
- Mandala
- Chakra
- Hinduismus
- Buddhismus
- Meditation
- Kontemplation
- Maya
Literatur
- Heinrich Zimmer, Kunstform und Yoga im indischen Kultbild (1926)
- Heinrich Zimmer, Der Weg Zum Selbst (1944)
- Heinricht Zimmer, Die Indische Weltenmutter (1980)
- Heinrich Zimmer, Buddhistische Legenden (1985)
- Helmut Hansen: Die Physik des Mandala (2007)
- Lama Anagarika Govinda: Mandala – Gedichte und Betrachtungen (1961)
- Paramahansa Satyananda, Tantra und Yoga Panorama
- Paul Deussen, Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahabharatam. Übersetzung der Bhagavadgita (1911)
- Swami Sivananda, Götter und Göttinnen im Hinduismus
- Swami Sivananda: Konzentration und Meditation
- Swami Sivananda, Parabeln
- Swami Vishnu-devananda: Meditation und Mantras, Sivananda Yoga Vedanta Zentrum
Weblinks
- Meditation Portal
- Mantra Meditation
- Yantra Yoga
- Universallexikon - Kultbilder
- Kultbilder
- Mandalas - Kraftkreise der Buddhas. Aus: Buddhismus heute
- Mönche erschaffen farbenprächtiges Mandala
- C. G. Jungs Begegnungen mit dem Osten
- Erkenntnisreiche Beschreibung eines Mandalas
- Über Mandalas
- Das Mandala - der heilige Kreis im tantrischen Buddhismus
- Mandala Ikonografie
- Das Mandala der Tibeter
- Trailer des Dokumentarfilmes MANDALA von Christoph Hübner und Gabriele Voss. Sechs Mönche aus der Drugpa-Kagyü-Schule des bhutanischen Buddhismus stellen ein Sandmandala her.
- Mandalas and their Symbolism
- Englische Einführung und Konstruktionsbeschreibung eines Mandalas
- Mandalas: Sacred Art and Geometry