Yoga der Bhagavad Gita - Kapitel 4 - Das Selbst

Aus Yogawiki
Krishna (Inkarnation Gottes) unterweist Arjuna auf dem Schlachtfeld

Yoga der Bhagavad Gita - Kapitel 4 - Das Selbst

Das Selbst

Wir müssen uns nun ein wenig dem Begriff ‘Selbst’ zuwenden. Wie es eine Menge irrtümlicher Vorstellungen von der Natur der Verstandeskontrolle quer durch die verschiedenen Arten der Yoga-Praxis gibt, so gibt es auch immer wieder Missdeutungen des Begriffes ‘Selbst’, wiewohl beide, Verstand und Selbst, gleichermaßen schwierig zu verstehen sind, da wir in diesem Versuch beständig auf ein Hindernis stoßen. Wie können wir den Verstand zurückhalten und kontrollieren, wenn uns dessen wahre Natur nicht bekannt ist, und wie können wir ihn im Selbst verankern, wenn wir nicht wissen, was das Selbst ist!

Das Selbst ist weder eine Substanz noch ein Wesen, Körper oder Objekt. ES ist auch nicht irgendetwas innerhalb des Körpers, wie manche Leute vermuten und was als geläufige Redewendung häufig verwendet wird. Das ‘Innere’ Atmans hat eine besondere Bedeutung, die sich sehr von der räumlichen Eingeschlossenheit eines Objektes unterscheidet.

Atman ist nicht ‘innerhalb’ von etwas, wie dies im Sinne der vier Wände als einer Art von physikalischer Begrenzung der Fall ist. Das ‘Innere’ oder ‘Im Inneren Sein’ Atmans, wie es von den ‘Upanishaden’ (Teil der Veden) verkündet wird, unterscheidet sich davon völlig. Wenn wir von einer Person sprechen, die sich in einem Zimmer befindet, haben wir eine bestimmte Vorstellung von dem, was es bedeutet, sich im Raum zu finden, doch diese Vorstellung entspricht nicht dem ‘Im Inneren Sein’ Atman.

Atman ist nicht in einem Körper und somit auch nicht außerhalb von etwas. Die Schriften erklären uns, dass Atman alldurchdringend und allgegenwärtig ist. Wie also könnte behauptet werden, dass etwas ‘innen’ ist, wenn es alldurchdringend, allgegenwärtig und alles beinhaltend ist? Worin liegt der Nutzen von Erklärungen, Ausdruck bringen, dass Atman ‘innen’ ist?

Hier befinden wir uns am Scheideweg in der Yoga-Praxis. Atman ist ‘innen’, ja! - und gegenwärtig ist Er auch. Dies sind zwei Konzepte, die sich nicht zusammen vertragen, die vielmehr den Zugang zum wahren Verständnis Atmans erschweren.

Wie ist es dem allgegenwärtigen Absoluten möglich, ‘innen’ zu sein

Zur weiteren Klärung müssen wir wissen, wie die Schriften die Bedeutung des Begriffes ‘innen’ verstehen. Das ‘Pratyakchetana’, von dem die Schriften sprechen, - jenem einwärts gewendeten Bewusstsein, das mit dem Selbst gleichgesetzt wird, ist kein räumliches ‘Inneres’ irgendeiner physikalischen Substanz oder eines Gedankens, sondern eine ‘Universale Subjektivität’, die für das Selbst charakteristisch ist und mit deren Qualität der Verstand in Einklang zu bringen ist. Für diesen Zweck muss im Gegensatz zur sonst üblichen und einfachen Methode der Zurückhaltung eine besondere und ungewöhnliche Technik zur Zurückhaltung der Verstandeskraft angewendet werden. Man kann das Denkorgan nicht in der gewöhnlichen Weise zurückhalten wie man zum Beispiel ein Pferd oder einen Löwen beziehungsweise Elefanten bändigt, da der hier beabsichtigte Rückzug der Verstandeskraft, dessen Harmonisierung mit den Merkmalen des Selbst’ verlangt, die gleichermaßen ‘universal’ und ‘innerhalb’ sind.

Das ‘Innere’ Atmans ist die Subjektivität Atmans. Atman ist kein Objekt oder ‘Vishaya’, weshalb die Bewegung des Denkorganes hin zu den Objekten nicht der rechte Weg zum Erreichen Atmans ist, denn jegliche Art nach außen gerichteter Bewegung ist unverträglich mit der Beschaffenheit des Selbstseins von irgendetwas.

Atman ist nicht außerhalb, obwohl Es überall ist. Dies ist eine Besonderheit, die wir verstehen müssen. Auf die Frage, warum Es nicht außerhalb sein soll, wenn Es doch überall ist, gibt es als Antwort sowohl ein ‘ja’ als auch ein ‘nein’. Es ist innerhalb und trotzdem überall.

Die Bedeutung liegt in der Allgegenwart, die sich durch Subjektivität auszeichnet, - dies ist ‘Vaishvanara-Atma-Tattva’, von dem die Upanishaden erzählen und das es zu verstehen gilt.

Atman ist Vaishvanara; - das Selbst von allem. Von etwas unabhängig zu sein, deutet darauf hin, dass diese Sache nicht auf ein Objekt gerichtet ist. Selbst bedeutet, dass es unmöglich ist, Es auf irgendeine Art und Weise auf ein Objekt zu richten. Es kann weder in einer Vorstellung, noch in einem Gedanken oder im Denkorgan als Objekt betrachtet werden. Das Selbst kann niemals, auch nicht unter den größten Anstrengungen und Ausdehnungen der Vorstellungskraft, nach außen gerichtet werden. Das ist die Bedeutung des Wortes ‘Selbst’ oder ‘Atman’, das überall ist.

Ist es irgend jemandem möglich, ist es menschlich vorstellbar, diesen Zustand zu verwirklichen, wo sich die Verstandeskraft in einer Allgegenwart fixieren kann, welche der Veräußerlichung und Objektivierung nicht fähig ist? Dieser besondere Zustand des Seins ist Gott oder ‘Atma-Tattva’!

Es ist oft zu hören, dass Atman dasselbe wie Brahman ist, und wenn wir die entsprechenden Textstellen der Upanishaden studieren, wird uns wahrscheinlich auffallen, dass das ‘eine’ mit dem ‘anderen’ gleichgesetzt wird. Atman stimmt mit Brahman überein, verschmilzt in Ihm oder ist Ihm gleich, heißt es dort.

Doch nichts dergleichen trifft zu. Atman kann nicht mit Brahman identifiziert werden; auch gibt es keinerlei Verbindung zwischen den beiden, da es überhaupt keine zwei Wesen dieser Art gibt. Sie sind lediglich das Ergebnis zweier Aussagen zu dem einen ungewöhnlichen Zustand, der nicht so einfach erfasst werden kann, bevor er nicht in seinen verschiedenen Aspekten erklärt worden ist. Wenn wir das Schwergewicht auf den Aspekt der ‘Allgegenwart’ dieses Seins legen, nennen wir es Brahman, der dann zu Atman wird, wenn wir das ‘Selbst sein’ derselben Allgegenwart hervorheben wollen. Die beiden Begriffe, ‘Brahman’ und ‘Atman’, zeigen keine zwei verschiedenen Dinge an, sondern sind lediglich zwei verschiedene Definitionen oder Aspekte ein und desselben Sein’s’.

Der Aspekt des Selbst wird Atman und der Aspekt der Allgegenwart Brahman genannt. Nun gilt es, die Bedeutung dieser beiden Aspekte in eine einzige Abfolge der Verstandesarbeit zu verschmelzen, was dann tatsächliches Yoga ist. In einem einzigen augenblicklichen Gedanken sollte es uns möglich sein, die Mischung dieser beiden Aspekte, - Atman und Brahman -, in ihrer Essenz zu erfassen. Dies ist für gewöhnlich nicht möglich, da das, der Objektivität nicht fähige Selbst sein, nicht als ein allgegenwärtiges Sein wahrgenommen werden kann, da im selben Moment, wo wir uns die Allgegenwart vorzustellen versuchen, dieselbe bereits äußerlich ist und zu irgendetwas Räumlichem oder Zeitlichem geworden ist.

Unsere gewöhnliche Idee von der Allgegenwart ähnelt der Vorstellung von einem weit ausgedehnten Raum. Raum ist jedoch der ungeeignete Vergleich mit dieser Allgegenwart, denn Raum ist, obwohl überall, bereits außerhalb. Er ist etwas, das vom Verstand erfasst werden kann, womit er zeitlich und auch vergänglich ist. Die zeitlose Allgegenwart der Natur des Selbst besitzt keinen Raum. Weil dies so ist, ist Es kein Objekt, weshalb die normale Verstandestätigkeit, die im Allgemeinen in Begriffen von Objekten denkt, zum Zweck der eigenen Einbettung in die wahre Natur Atmans überprüft werden muss. Die Technik zur Überprüfung der Verstandeskraft ist erneut Yoga, was mit dem Wort ‘Viniyatachitta’ trefflich angedeutet wird.

Es ist wahrhaftig schwierig genug, diese Bedeutung zu erfassen. Noch schwieriger ist es jedoch, sie zu praktizieren, da der Verstand gegen die bloße Idee einer solchen Definition vom Sein, - unserem Ideal im Yoga -, revoltiert. Das Denkorgan kann etwas, das keinen Raum hat und zeitlos ist, gedanklich nicht erfassen, und so ist es auch nicht in der Lage, sich Atman vorzustellen, geschweige denn sich selbst im Yoga verankern zu können. Aus diesem Grund, und um der Versuchung eines all zu plötzlichen und nicht hilfreichen Luftsprunges vorzubeugen, wird eine stufenweise Methode zur Annäherung an das Ideal vorgeschrieben. Es gibt eine Technik des inneren Wachstums, mittels der das Denkorgan dazu befähigt wird, im Sinne einer Selbst-Transzendierung über sich hinaus zu wachsen.

Es handelt sich hierbei um Yoga-Stufen, wie sie insbesondere in den Aphorismen von ‘Patanjali’ (indischer Philosoph) zum Ausdruck kommen. In einer sehr genauen Art und Weise gibt uns Bhagavan Shri Krishna einen Hinweis auf die Notwendigkeit, uns selbst mit jeder Ebene unseres Seins abzustimmen, indem Er sagt:

Yuktahara-Viharasya Yukta-Cheshtasya Karmasu
Yukta-SvapnavaBodhasya Yogo Bhavati Dukhaha

Wie werden gebeten, auf jeder Ebene und Stufe unseres Lebens in unserem Verhalten und Betragen ausgeglichen zu sein. Es sollte kein Übergewicht auf irgendeinen Aspekt gelegt werden. Yoga ist Gleichgewicht. Wir haben die verschiedenen Ebenen durch Annahme der ‘Goldenen Mitte’, der ‘Via Media’ zu durchschreiten. Wir sollten jegliche Extreme auf jedem Schritt und auf jeder Ebene unserer Praxis vermeiden.

Hinter dieser Empfehlung zum Beschreiten des ‘goldenen Mittelweges’ steht die Idee, dass wir keinen Aspekt der Wirklichkeit vernachlässigen sollten. Während wir im Allgemeinen dazu neigen, uns die Wirklichkeit als ein transzendentes Sein zu denken, sollten wir nicht vergessen, dass sie ebenso eine irdisch gegenwärtige Wirklichkeit ist. Sie ist nicht nur ‘hoch droben’, sondern ebenfalls ‘mitten drin’, ja selbst als die niedrigste erscheinende Materie offenbar. Auch hier in dieser, den Sinnen und dem Verstand unmittelbar gegenwärtigen Wirklichkeit des Körpers ist ein Wahrheitselement, das zweifellos zu transzendieren ist und dennoch nicht vernachlässigt, geschweige denn ignoriert werden darf.

Die Tatsache, dass etwas zu transzendieren ist, deutet überhaupt nicht darauf hin, dass es deshalb wertlos ist. Jede Ebene des Seins ist eine Stufe oder ein Abschnitt der Wirklichkeit, und jede Stufe hat eine gleichberechtigte Bedeutung wie jede andere auch, solange man sich in diesem Abschnitt der Entwicklung befindet. Die Stufe, auf der sich jeder von uns gerade befindet, ist seine einzige Wirklichkeit. Wir sind nicht in der Lage, die niedrigere Ebene in Begriffen der Höheren zu beurteilen, solange wir nicht die Höhere erreicht haben. Dabei sollte das Ideal der höheren Ebene stets vor dem geistigen Auge verweilen, damit wir dazu fähig werden mögen, uns selbst in die höheren Bereiche zu erheben. Das vom Sucher in der Yoga-Praxis einzuhaltende Gleichgewicht ist ein sehr schwieriges Unterfangen.

Es gibt im spirituellen Sucher immer einen Hang zum Übereifer. „Ich wünsche mir nur Gott und sonst nichts; ich wünsche mir nicht die Welt.“ Das sind so die gängigen Verlautbarungen von Suchern in ihrem anfänglichem Eifer. Es ist wunderbar, nur Gott allein zu lieben und nach nichts anderem zu verlangen, doch es muss auch klar sein, wer oder was Gott ist, bevor man versucht, die Methode zu erkennen, die den Kontakt mit Ihm ermöglicht und die Ihn zum einzigen Ziel und Zweck beinhaltet.

Wenn sich unbelehrte und unreife Geisteskräfte Gott als das Lebensideal ersinnen und sich im Übereifer oder in überschäumender Hingabe auf das erwählte Ideal konzentrieren, dann stellen sie sich höchstwahrscheinlich Gott als transzendentes Wesen vor, das von den Beziehungen zu den unmittelbaren Wirklichkeiten des Lebens abgeschnitten ist. Daraus resultiert dann das mangelnde Gefühl für die Wirklichkeiten jenes Reiches, in dem sie sich gerade befinden, verbunden mit allerlei unvorhersehbaren Schwierigkeiten in Form eines Aufstandes innerhalb des physischen Körpers, dem lebenserhaltenden inneren Organismus, den Sinnen und auch den verschiedenen Neigungen des Denkorganes. Der Aufstand des Körpers kann zu Erkrankungen und Schwächen der verschiedensten Art führen; der Aufstand des lebenserhaltenden Organismus bewirkt die unterschiedlichsten, von der Psychoanalyse ausführlich beschriebenen neurotischen Zustände und Komplexe wie zum Beispiel Schwermütigkeit, Melancholie, Verbitterung und innerer Kummer, - alles Dinge, die das genaue Gegenteil dessen darstellen, was der spirituelle Sucher eigentlich anstrebt.

Auf jeder Stufe der Yoga-Praxis wird vom Suchenden eine positive und bejahende Haltung, Absicht und Neigung erwartet. Im Gesicht des Suchenden sollte stets eine sichtbare Freude und Zufriedenheit, wenn auch von einer geringeren Ausprägung erkennbar sein, - auf gar keinen Fall aber Melancholie und Niedergeschlagenheit.

Die von Patanjali angeführten Schwierigkeiten sind die wahren Hindernisse im Yoga, die kein Anzeichen für wirklichen Fortschritt sind, sondern Probleme, die es zu lösen gilt. Diese Schwierigkeiten begegnen uns entsprechend unserer Fehleinschätzung der Dinge auf Grund einer extremen Gefühlslage. Wir können Gott nicht so einfach als transzendentes Wesen erfassen, vielmehr müssen wir uns auf Ihn in Seiner Form der ‘Allgegenwart’ erst einstimmen, was eine sehr gewichtige Ermahnung der Bhagavad Gita ist.

Gott muss in Seiner Wirklichkeit erkannt werden und nicht in irgendeiner vermeintlichen Form, die der Verstand mittels einer bequemen theoretischen Definition als Ruhepolster bereithält. Die in der Bhagavad Gita erwähnte Diät deutet auf die Notwendigkeit des Ausgleiches und der Harmonie in der Yoga-Praxis hin. Es ist für einen Sucher unerlässlich zu wissen, wo er sich (spirituell) genau befindet. Wir müssen sowohl unsere Stärken als auch unsere Schwächen kennen, und wir sollten uns weder über- noch unterschätzen, was insgesamt nichts anderes bedeutet, als dass wir aufrichtig und ehrlich zu unserem eigenen wahren Selbst auf allen Seinen Ausdrucksstufen sein müssen.

Yoga-Praxis ist keine Demonstration vor anderen und für andere. Sie ist die innere Annäherung an die letztendliche Wirklichkeit und eine Unterwerfung vor dem allwissenden Sein, was es überaus notwendig macht, leidenschaftslos zu sein. Heuchelei, gleich welcher Art, ist hier unangebracht. Man kann wissentlich oder manchmal unwissentlich heucheln, indem man sich, auf Grund der vorherrschenden Unwissenheit, in sich selbst vorstellt, etwas zu sein, was man nicht ist. Manchmal kann man auch absichtlich heucheln, was in der Tat unglückselig ist, denn Selbsttäuschung ist wahrlich der größtmögliche Schaden, den man sich zufügen kann. Deshalb muss man sich sehr genau,- wie ein Rechnungsprüfer, der die Bilanzen einer Firma kontrolliert, indem er kritisch jede Einzelheit untersucht und alle Schwachpunkte und Stärkeposten gleichzeitig erkennt -, überprüfen, bevor man sich auf den Yoga-Weg begibt.

Wir müssen eine Bilanz von unserer eigenen psychologischen Persönlichkeit erstellen, um genau zu wissen, wo wir zur gegebenen Zeit stehen. Außerdem müssen wir wissen, dass wir uns in dem Moment, wo wir in das Yoga eintreten, in der Gegenwart Gottes Selbst befinden. Wir sind dann nicht mehr nur soziale Wesen. Selbst der erste Schritt im Yoga bedeutet den Einstieg in das spirituelle Reich.

Die Bestrebung, den Yoga-Weg zu beschreiten, ist dazu gedacht, das Reich des normalen Studiums, - auch des Studiums der Veden -, zu überschreiten, denn das spirituelle Leben ist ein Schritt hin in eine neue Qualität des Lebens und sehr verschieden von der sonst üblichen Denkweise in sozialen Begriffen, oder gar vom Standpunkt der eigenen individuellen Persönlichkeit aus.

Was in diesem Zusammenhang deutlich werden sollte, ist die Tatsache, dass wir nicht übereifrig nach Gottverwirklichung streben sollten, bevor wir uns nicht Klarheit über die Struktur und Arbeitsweise unseres Geistorganes, als auch und in besonderem Maße über unsere Schwächen verschafft haben. Die Schwächen des psychologischen Organs sind nicht minder wichtig wie das Streben des Verstandes nach Gott, denn der Unzufriedenheit der eigenen Persönlichkeit liegt bereits eine fehlerhafte Bewegung des Verstandes zu Grunde.

Diese Bewegungen sind mit intelligenten Mitteln in die rechte Bahn zu lenken. Es hat keinen Sinn, vor diesen Schwächen die Augen zu schließen, da sie eines Tages auferstehen und wie ein Wirbelsturm den Strebenden unvorbereitet attackieren können. Selbst eine kleine Schwäche kann die gewaltigen Ausmaße eines Berges annehmen, wenn sie für längere Zeit nicht beachtet wird, sodass auch der geringsten Schwäche Aufmerksamkeit zu schenken und große Vorsicht und Ernsthaftigkeit bezüglich der eigenen Ausstattung geboten ist. Nun muss dies natürlich nicht bedeuten, dass jemand seine Schwächen vor dem Publikum und in den Zeitungen ausbreiten muss. Man sollte sich ein privates Tagebuch anlegen und jene Schwächen notieren, die dem spirituellen Leben nicht zuträglich sind, damit diese mit gewaltiger Anstrengung durch Befolgung des ‘Goldenen Mittelweges’ und unter Vermeidung jeglicher Überbetonung überwunden werden können.

Niemand sollte sein Denkorgan unter Druck setzen, nur weil dieses Schwächen zeigt. Schwäche ist eine Art Erkrankung, die man nicht unterdrücken sollte. Sie kann nur durch intelligente Meditations-Methoden geheilt werden.

Yoga-Praxis ist keine Unterdrückung der Verstandeskräfte oder des Willens, vielmehr ist sie eine Verfeinerung des Aufbaues des gesamten geistigen Reiches. Sie ist das Verdichten des Denkorganes in dessen Quintessenz und in die Befähigung, in die Kosmische Atmosphäre zu infiltrieren. Deshalb sollte niemand gewaltsame Willenskraft auf irgendeinen Aspekt der Unzufriedenheit des Geistorganes ausüben, bevor nicht ein wirklich positiver Schritt zur Yoga-Praxis hin unternommen worden ist.

Zur Überwindung der Schwäche gibt es verschiedene Methoden, wie sie auch ein guter Arzt zur Behandlung einer Erkrankung in Form von zum Beispiel Injektionen, Diät, Anregung zu einer natürlichen Lebensweise und soweiter, zusammen mit der Verordnung einer geeigneten Medizin und unter Umständen einer Isolation, Quarantäne und so weiter empfiehlt oder auch vorschreibt.

Das Geistorgan muss in ähnlicher Weise behandelt werden. Eine Anwendungsmethode allein genügt nicht, manchmal muss der Verstand psychologisch isoliert werden, ein andermal muss er auf etwas verzichten, und wieder ein andermal muss er gefüttert werden. Wichtig ist dabei immer, zu erkennen, wann, in welchem Verhältnis, wo und auf welche Weise er gefüttert werden und wann er fasten soll. Dies entspricht der Behandlungstechnik eines guten Arztes.

Wir können dem Geistorgan nicht die falsche Methode auferlegen, da es unser eigenes ‘Ich’ und nicht irgendetwas außerhalb von uns ist. Es ist nicht außerhalb, weil es die eigene innere Struktur ist, die man als Geist- oder Denkorgan, Verstand, Gemüt und so weiter bezeichnet. Folglich behandelt sich jeder selbst. Im Yoga werden das Objekt und das Subjekt gleichzeitig behandelt. Jeder ist sein eigenes Mittel und ebenso sein eigener Zweck.

Auf jeder Ebene des Aufstieges in der Yoga-Praxis wird dasselbe Ding in unterschiedlichen Stufen der Intensität, sowohl Subjekt als auch Objekt, bis schließlich jene Ebene erreicht worden ist, wo sich der Unterschied zwischen dem subjektiven und dem objektiven Aspekt auf eine Identität des Seins konzentriert, sodass am Ende weder Subjekt noch Objekt vorhanden ist. Jener Zustand des Höchsten Sein’, der weder als Subjekt noch als Objekt erachtet werden kann, ist der allgegenwärtige Atman, in den es das Denkorgan zu verankern gilt und wofür ‘Niyamana’ oder die Zurückhaltung des Denkorganes in der Gita vorgeschrieben wird.

Die Bhagavad Gita geht nicht immer in kleinere Einzelheiten der Beschreibung, vielmehr erstellt sie eine weite Übersicht über die verschiedenen Praxisstufen. Es liegt an uns, die Absichten und die Bedeutungen hinter diesen Erklärungen zu erkennen, was manchmal ein Lesen zwischen den Zeilen erfordert. Wir müssen den Charakter oder die Natur des Rückzuges, der dem Denkorgan auferlegt wird verstehen, um seine Verankerung in der Allgegenwart des Selbst überhaupt erkennen zu können.

Stufe für Stufe muss dem Denkorgan die Kunst gelehrt werden, sich nicht auf Objekte zu richten. Das allein ist die Bedeutung von Selbstbeschränkung, - die Beschränkung des niederen Selbst zum Zweck der Erfahrung des Höheren und Höchsten Selbst. Es gibt da gleichzeitig Ebenen des niederen Selbst und ebenso des Höheren Selbst. So ist mit jedem Schritt eine Stufe des niederen Selbst zu kontrollieren und zu überwinden, um schließlich eine Stufe des Höheren Selbst zu erreichen. Wenn das unmittelbar darüber befindliche Höhere Selbst erreicht worden ist, wird es automatisch zum niederen Selbst im Verhältnis zum wiederum nächst Höheren, sodass auf jeder Ebene ein weiterführender Zweck mit den Mitteln der Selbstbeschränkung erreicht werden muss.

Allerdings unterscheidet sich die Natur der Beschränkung in ihrer qualitativen Technik. Die auf einer Stufe angewandte Technik muss nicht unbedingt für die nächste Stufe geeignet sein, auch wenn die Anweisung lautet, dass die niedere zum Zweck der Erfahrung der nächst höheren zurückzuhalten ist. Man muss erkennen, welche Art der Beschränkung auf welchen besonderen Typus von niederem Selbst anzuwenden ist, da es verschiedene Stufen der Intensität sowohl des niederen als auch des Höheren Selbst gibt.

All dies erfordert die beständige Führung durch einen spirituellen Meister, analog einer chronischen Erkrankung, die beständig durch einen Arzt behandelt wird. Warum geht jemand zum Arzt? Weil da täglich ein neues Problem auftaucht, wobei es auch zu Reaktionen auf die Behandlung hin kommen kann, wenn diese nicht angemessen durchgeführt wird. Häufig werden sich neue Gefühle und Erfahrungen physischer, vitaler und geistiger Art zeigen. Aus diesem Grund geht man auch zum Arzt, um die eigenen Erfahrungen und Gefühle mit dessen Kenntnissen abzustimmen und um abzuklären, welcher weitere Schritt in der Behandlung notwendig ist.

Gleichermaßen sollte man sich für eine längere Zeitdauer in die Nähe eines spirituellen Führers begeben. Dies ist keine durch Bücherstudium erlernbare Technik, denn hierbei handelt es sich um eine Lebensweise voller Vitalität und Bedeutungsfülle, stets verbunden mit einem praktischen Erleben auf jeder Stufe und somit nicht bloß um die Frage nach dem intellektuellen Verständnis einer theoretischen Technik. Insofern jeder Schritt im Yoga, selbst der geringste und letzte, mit dem praktischen Leben eines jeden Strebenden unmittelbar zu tun hat, ist die persönliche Führung notwendig. Wenn eine bestimmte Methode angenommen worden ist und wenn eine Technik zur Kontrolle des Denkorganes in der Meditation benutzt wird, stellen sich automatisch gewisse Erfahrungen ein, die etwas über das gesamte physische, vitale und psychologische System auszusagen haben.

In dieser Zeit muss man dazu fähig sein, zu erkennen, was gerade geschieht und sollte nicht verblüfft oder gar verwirrt sein über das, was alles geschehen kann. Speziell bei ‘Patanjali’ sind verschiedene Hinweise auf all das, was sich ereignen kann, nachzulesen, so zum Beispiel das Schütteln des Körpers und Visionen der unterschiedlichsten Art und Weise und so weiter. Die verschiedenen Erfahrungen können sowohl physisch wie geistig als Auswirkungen des Behandlungsprozesses selbst erachtet werden, wobei es jedoch unabdingbar ist zu wissen, dass es sich hierbei um notwendige Stufen handelt, die man zu durchschreiten hat.

Erneut muss ich hier auf die Notwendigkeit eines Guru’ verweisen, da es manchmal so ausschaut, als handle es sich bei der Yoga-Praxis um ein Spiel mit dem Feuer. Eingeweihte erachten die Mühe, das Denkorgan zu kontrollieren, als vergleichbar mit dem Versuch, den Ozean durch das Schaufeln mit einem Grashalm zu entleeren. Mit steter Zuversicht und Beständigkeit im Denken, mit entschiedener Willenskraft und einem sorgfältig überschauenden Verständnis gilt es zum Zweck der Verankerung des Denkorganes im Selbst das zuerst genannte mit großer Geduld und Leidenschaftslosigkeit zu kontrollieren und zurückzuhalten, - mit jenen Qualitäten also, die eine Person benötigt, wenn sie versucht, den Ozean mit einem Grashalm zu entleeren. Es erscheint praktisch unmöglich, doch eines Tages mag es gelingen. Die Schwierigkeit in dieser Praxis entsteht sowohl wegen der Gier des Denkorganes, an seinen gegenwärtigen Denkgewohnheiten und Vorstellungen in Begriffen der Sinnesobjekte und den Beziehungen zur Gesellschaft und so weiter fest zu halten als auch im Versuch, diese Regeln und Gesetze der physischen und sozialen Wahrnehmung auf das spirituelle Reich zu übertragen, in dem längst ein neues Gesetz vorherrscht.

Das spirituelle Gesetz unterscheidet sich qualitativ von sozialen und physischen Gesetzen, sodass unsere, auf die menschliche Gesellschaft anwendbaren, wertvollen und höchst bedeutungsvollen Traditionen keinerlei Bedeutung für das spirituelle Leben haben. Aus diesem Grund ist der Eintritt in einen neuen Typus von Lebensgestaltung notwendig. Wer den spirituellen Weg beschreiten will, muss nahezu eine ‘neue Geburt’ annehmen. Man muss sozusagen ‘wieder geboren werden’, wie uns die großen Meister oft erzählen. Ohne diese ‘Wiedergeburt’ gibt es keine Hoffnung auf Fortschritt auf dem spirituellen Pfad. ‘Wiedergeburt’ bedeutet hier die völlige Umwandlung des Organismus, einschließlich den Vorstellungen des Denkorganes, ja der Denkweise als solcher und eine Neuorientierung der psychischen Struktur zum Zweck der Einstimmung auf die Gesetze des spirituellen Lebens. Dies ist die tiefgründige Bedeutung dieser kernigen Erklärung in dem folgenden Vers der Bhagavad Gita:

Yada Viviyatam Chittam Atmany Eva Vitishthate
Nihsprihah Sarvakamebhyo Yukta Ity-Uchyate Tada

Das Denkorgan wird unmittelbar von allen Wünschen nach Sinnesobjekten befreit, und ohne irgendeine besondere eigene Anstrengung ereignet es sich ganz selbstverständlich und gerade so, als würde jemand aus einem Traum erwachen, - ein spontaner Rückzug des Denkorganes von allem, was im Traum zu sehen war.

Dies ist der positive Aspekt der Selbstbeschränkung, der die Frucht der Freude und der inneren Freiheit von Konflikten und Spannungen jeglicher Art hervorbringt. Tatsächlich lässt sich der Erfolg im Yoga daran ablesen, inwieweit sich jemand innerlich frei fühlt und ohne irgendeine besondere Neigung zum Erwerb von äußerlichen Dingen Kraft, Stärke und Freude empfindet, die aus der innersten Tiefe emporsteigt. Nichts braucht sich von außen her ereignen, und doch hat sich innerlich alles verändert. Die Freude, die sich auf dem Gesicht einer Person widerspiegelt und das Positive, das von der ganzen Persönlichkeit ausstrahlt, ist ein Hinweis auf den Erfolg, der in der Yoga-Praxis erreicht worden ist

Die Zurückhaltung und Verankerung des Denkorganes in der Natur des Selbst oder Atmans, ist nicht nur das Hauptthema im Dhyana-Yoga-Kapitel der Bhagavad Gita, sondern auch die Essenz der gesamten Lehre, die die wesentliche Bedeutung des Zieles im Leben der Menschheit zusammenfügt. Das Gleichgewicht, das in der Beziehung zwischen dem Denkorgan und dem Selbst besteht, ist der eigentliche Yoga-Zustand, und dieser Zustand muss durch sehr bedächtig und allmählich ausgeführte Bemühungen, Schritt für Schritt, hergestellt werden, - wobei kein einziger Schritt in diesem Bewegungsprozess des Aufstieges auszulassen ist, denn jeder versäumte Schritt käme dem Vorläufer eines Rückfalles gleich.

© Divine Life Society

Siehe auch

Literatur

Seminare

Vedanta

28.02.2025 - 02.03.2025 Der Geist, das Glück und die Gunas - Vedanta im Alltag
Jedes der drei Themen werden wir in einem Workshop gezielt untersuchen: Höre im Vortrag das Wissen von Vedanta dazu, reflektiere in angeleiteten Übungen, was es für dich bedeutet, und verinnerliche e…
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14.03.2025 - 16.03.2025 Indische Schriften und Philosophiesysteme
Die wichtigsten Yogaschriften: Die 6 Darshanas. Unterrichtstechniken: Korrekturen und Hilfestellungen speziell für Anfänger, Yoga für den Rücken.