Allgestalt

Aus Yogawiki

Krishna zeigt sich dem Arjuna als Allgestaltiger und Allvernichtender

Ausschnitt aus dem Buch "Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahabharatam". Eine Übersetzung der Bhagavadgita von Paul Deussen. Leipzig. F.a. Brockhaus. 1911. S. 75-85. So lautet in der Bhagavadgita das Schauen der Allgestalt (Vivarupa - Darshanam).

Krishna und Arjuna mit dem Streitwagen

Arjuna sprach:

1. (1247.) Dieweil du aus Gnade gegen mich diese höchste geheimnisvolle Rede, die da heißt die Rede vom höchsten Atman, mitgeteilt hast, darum ist meine Betörung von mir gewichen,
2. (1248.) Denn ich habe ausführlich nun vernommen den Ursprung und Vergang der Wesen von dir, o Lotosaugiger, und die unvergängliche Majestät.
3. (1249.) So wie du nun in dieser Weise dich selbst geschildert hast, o höchster Gott, so möchte ich deine göttliche Gestalt schauen, du höchster Geist.
4. (1250.) Wenn du es für möglich hältst, dass dieselbe von mir gesehen wird, o Gebieter, dann zeige du mir, o Herr des Yoga, dein unvergängliches Selbst.

Der Heilige sprach:

5. (1251.) Siehe, o Prithasohn, meine Gestalten hundertfach und tausendfach, die mannigfaltigen, himmlischen, welche mancherlei Farben und Formen zeigen.
6. (1252.) Siehe die Adityas,die Vasus, die Rudras, die Ashvins und die Maruts, siehe, o Bharata, viele nie zuvor gesehene Wundergestalten,
7. (1253.) siehe hier gegenwärtig vereinigt die ganze Welt des Beweglichen und Unbeweglichen in meinem Leibe, o Lockiger, und was du sonst noch zu sehen wünschst.
8. (1254.) Aber du wirst mich nicht mit diesem deinem eigenen Auge sehen können [lies: Cakshyase mit Schlegel]; ich gebe dir ein himmlisches Auge, mit dem sollst du meine göttliche Zauberkunst sehen.

Sanjaya (der Erzähler) sprach:

9. (1255.) Nachdem so, o König, der Herr der großen Zauberkraft Hari (Vishnu - Krishna) gesprochen hatte, zeigte er dem Sohne der Pritha seine höchste göttliche Gestalt,
10. (1256.) mit vielen Mündern und Augen, mit vielen wunderbaren Anblicken, mit vielem himmlischem Schmucke, mit himmlischen gezückten Waffen von mancherlei Art,
11. (1257.) ihn, den mit himmlischen Kränzen und Gewändern angetanen, mit himmlischen Wohlgerüchen gesalbten, alle Wunder in sich befassenden, unendlichen, nach allen Seiten seine Angesichter kehrenden Gott.
12. (1258.) Wenn am Himmel auf einmal der Glanz von tausend Sonnen sich erhöbe, ein solcher Glanz würde ähnlich sein dem Glanze jenes Hochsinnigen.
13. (1259.) Daselbst schaute der Sohn des Pandu in dem Leibe des Gottes der Götter die ganze Welt in einem befasst in ihren mannigfachen Teilen.
14. (1260.) Und von Erstaunen erfüllt, mit gesträubtem Haare, verneigte sich der Gewinner der Güter mit seinem Haupte vor dem Gotte, legte seine Hände zusammen und sprach:

Arjuna sprach:

15. (1261.) Ich sehe, o Gott, in deinem Leibe alle Götter und die Schar der mannigfachen Wesen, den Gottherrn Brahman auf seinem Lotossitze und alle Rishis und die himmlischen Schlangengötter.
16. (1262.) Ich sehe dich mit vielen Armen, Leibern, Mündern und Augen, deine Gestalt nach allen Seiten ins Unendliche erstreckend, kein Ende, keine Mitte und keinen Anfang deiner sehe ich, o Allgott, Allgestaltiger.
17. (1263.) Mit Diadem, mit Keule und mit Diskus in einer Fülle von Glanz, nach allen Seiten hinflammend, sehe ich dich, den schwer zu Schauenden, den nach allen Seiten wie flammendes Feuer und Sonnen Strahlenden, Unermesslichen.
18. (1264.) Du bist das höchste Unvergängliche, das soll man wissen, du bist der höchste Hort dieser ganzen Welt, du bist der unwandelbare Hüter der ewigen Gesetze, du bist von mir erkannt worden als der unvergängliche Purusha.
19. (1265.) Ich sehe dich als ohne Anfang, Mitte und Ende, von unendlicher Tapferkeit, mit unendlichen Armen, mit Sonne und Mond als Augen, mit dem lohenden Opferfeuer als Mund, mit deiner Glut das ganze Weltall durchglühend.
20. (1266.) Alles dies hier, was zwischen Himmel und Erde liegt, und alle Weltenräume sind erfüllt von dir, dem Einen. Die Dreiwelt, o Hochsinniger, sieht diese deine wunderbare, furchtbare Gestalt und erzittert.
21. (1267.) Hier diese Scharen von Göttern gehen ein in dich, und andere, voll Furcht, lobsingen dir mit zusammengelegten Händen; "sei uns gegrüßt", so sprechen Scharen von großen Weisen und Vollendeten, und preisen dich mit überströmenden Lobgesängen.
22. (1268.) Die Rudras, Adityas, Vasus und Sadhyas, die Vicve Devah, die beiden Ashvins, die Maruts, die Genießer der Totenspende, die Gandharvas, Yakshas, Asuras und Siddhas, in Scharen schauen sie dich an und alle staunen.
23. (1269.) Deine große Gestalt, deine vielen Münder und Augen, o Großarmiger, deine vielen Arme, Schenkel und Füße, deine vielen Leiber, deine vielen, klaffenden Zähne, - die Welten sehen sie und erbeben, und so auch ich.
24. (1270.) Wenn ich dich sehe, wie du bis zum Himmel aufreichst, flammend und vielfarbig, mit aufgerissenem Rachen, mit glühenden großen Augen, so erzittert meine innere Seele, o Vishnu, und ich finde keine Fassung und keine Ruhe.
25. (1271.) Und wenn ich deine Münder mit klaffendem Gebiss sehe, wie sie dem Weltuntergangsfeuer vergleichbar sind, so unterscheide ich die Himmelsrichtungen nicht mehr und finde mir keine Rettung; sei gnädig, o Herr der Götter, der du die Welt der Lebenden erfüllst!
26. (1272.) Auch sie [gehen ein] in dich, die Söhne dort des Dhritarashtra, alle mitsamt den übrigen Scharen der Erdeherren, Bhishma und Drona und jener Wagenlenkersohn (Karna), und ebenso die auf unserer Seite stehenden vorzüglichsten Kämpfer,
27. (1273.) sie alle stürzen eilig in deine zähneklaffenden furchtbaren Rachen, und manche von ihnen scheinen schon mit zermalmten Häuptern zwischen deinen Zähnen zu hängen.
28. (1274.) Wie die vielen Wasserstürze der Ströme auf den Ozean zueilen, so stürzen diese Helden der Menschenwelt in deine ringsum flammenden Rachen.
29. (1275.) Wie Mücken sich zu ihrem Verderben mit beschleunigter Eile in ein flammendes Feuer stürzen, so stürzen sich die Welten zu ihrem Verderben mit beschleunigter Eile in deine Rachen.
30. (1276.) Du züngelst, indem du die gesamten Welten ringsum in deine glühende nRachen hineinschlingst, und deine furchtbaren Flammen, o Vishnu, erfüllen mit ihrem Lichtglanz die ganze Welt und setzen sie in Gluten.
31. (1277.) Erkläre mir, wer du bist, der du diese furchtbare Gestalt trägst, Verehrung sei dir, o höchster Gott, sei mir gnädig! Dich, den Uranfänglichen, möchte ich erkennen, denn ich begreife nicht, wie du dich betätigst.

Der Heilige sprach:

32. (1278.) Ich bin die Zeit, welche in ihrem Fortschreiten den Untergang der Welt bewirkt, und betätige mich hienieden darin, dass ich die Menschen hinwegraffe; und auch ohne dich würden sie alle nicht am Leben bleiben, sie, welche in Schlachtreihen als Kämpfer gegenüberstehen.
33. (1279.) Deshalb erhebe dich, erwirb dir Ruhm, besiege die Feinde, genieße die glückliche Herrschaft. Schon längst sind diese hier von mir erschlagen, du sollst nur mein Werkzeug sein, du auch mit der linken Hand Gewandter.
34. (1280.) Drona, Bhishma, Jagadratha, Karna und die anderen Kampfeshelden sind schon von mir erschlagen, so erschlage du sie ohne Zagen; kämpfe, denn du wirst die Widersacher in der Schlacht besiegen.

Sanjaya (der Erzähler) sprach:

35. (1281.) Als dieses Wort des Vollhaarigen der Diademträger mit zusammengelegten Händen und zitternd gehört hatte, da sprach er in Ehrfurcht weiter zu Krishna mit stammelnder Stimme, voll Angst und Schrecken, indem er sich verneigte.

Arjuna sprach:

36. (1282.) Mit Recht geschieht es, o Struppiger, dass die Welt bei deinem Namen sich erfreut und an ihm hängt, dass die bösen Geister von Furcht ergriffen nach allen Seiten fliehen und dass alle Scharen der Vollendeten dir Verehrung zollen.
37. (1283.) Und wie sollten sie sich dir nicht beugen, o Hochsinniger, der du älter selbst als der Gott Brahman, der du der Urschöpfer bist; du, o unendlicher Herr der Götter und Welterfüller, du bist jenes Höchste, Unvergängliche, das da ist und zugleich nicht ist.
38. (1284.) Du bist der Erstlingsgott, der Purusha, der Alte, du bist der höchste Hort dieses Weltalls, der Wisser alles Wissbaren und die höchste Stätte; durch dich ist dieses Weltall ausgebreitet, o Unendlichgestalteter.
39. (1285.) Du bist Vayu, Yama, Agni, Varuna und der Mondgott, du bist Prajapati und der Ururvater der Welt. Verehrung sei dir, Verehrung tausendfach und abermals und weiter Verehrung um Verehrung!
40. (1286.) Verehrung sei dir von Osten und von Westen, Verehrung dir von allen Seiten, du Allseitiger! Unendlich ist deine Kraft, unermesslich dein Heldentum, du durchdringst die Welt nach allen Seiten, darum bist du der Allseitige.
41. (1287.) Wenn ich, dich bloß für einen Freund haltend, ohne Umschweife zu dir geredet habe mit den Worten: "du Krishna, du Yadava, du, der du mein Freund bist"; wenn ich in dieser Weise, da ich diese deine Majestät nicht kannte, aus Unbedacht oder mit Vertraulichkeit gesprochen habe,
42. (1288.) oder wenn ich scherzweise dir beim Lustwandeln, Lagern, Sitzen oder Speisen nicht die gebührende Ehre erwiesen habe, sei es dass du allein mit mir warst, o Unerschütterlicher, oder in Gegenwart von diesen dort, so bitte ich dich um Verzeihung, dich, den Unermesslichen.
43. (1289.) Du bist der Vater der Welt, des Beweglichen und Unbeweglichen, du von ihr zu verehren als Meister und mehr als Meister; dir ist keiner gleich, viel weniger überlegen in den drei Welten, o unvergleichlich Gewaltiger.
44. (1290.) Darum neige ich mich, werfe meinen Leib vor dir nieder und bitte dich, den preiswerten Gottherrn, um Gnade; wie der Vater mit dem Sohne, wie der Freund mit dem Freunde, wie der Liebende mit der Geliebten mögest du, o Gott, mit mir Nachsicht haben.
45. (1291.) Ich bin entzückt, indem ich sehe, was ich früher nie gesehen, und zugleich ist mein Geist von Furcht erschüttert. Zeige mir, o Gott, diese deine Gestalt, erzeige mir die Gnade, du Gottherr, der du die Welt der Lebenden erfüllst.
46. (1292.) Mit dem Diadem, mit der Keule, mit dem Diskus in der Hand möchte ich dich auch einmal sehen, erscheine mir in dieser Gestalt, mit vier Armen, o Tausendarmiger, Allgestaltiger.

Der Heilige sprach:

47. (1293.) Aus Gnade, o Arjuna, habe ich dir diese meine höchste Gestalt gezeigt durch meines Selbstes Zauberkraft, die aus Glanz bestehende, volle, unendliche, uranfängliche, welche außer dir keiner je an mir geschaut hat.
48. (1294.) Nicht durch Veda, Opfer und Studium, nicht durch Schenken, nicht durch Zeremonien, nicht durch furchtbare Askese kann ich in solcher Gestalt in der Menschenwelt gesehen werden außer von dir, o Kuruheld.
49. (1295.) Keine Bestürzung, kein verwirrtes Wesen soll dich überkommen, wenn du diese meine so furchtbare Gestalt sehen wirst; befreit von Furcht vielmehr und erfreuten Herzens sollst du diese meine Gestalt schauen.

Sanjaya (der Erzähler) sprach:

50. (1296.) Nachdem Vasudeva mit diesen Worten dem Arjuna ja gesagt hatte, zeigte er ihm sodann weiter seine Gestalt, und da er von Furcht erfüllt wurde, flößte er ihm wieder Mut ein, indem er wiederum in seiner milden Gestalt erschien, der Hochherzige.

Arjuna sprach:

51. (1297.) Indem ich, o Janardana (Heimsucher der Menschen), diese deine menschliche und milde Gestalt wiederum sehe, bin ich nun wieder zur Besinnung gelangt und zu mir selbst zurückgekommen.

Der Heilige sprach:

52. (1298.) Jene schwer zu schauende Gestalt, in der du mich gesehen hast, auch die Götter sind allezeit verlangend, mich in dieser Gestalt zu schauen.
53. (1299.) Nicht durch Veden, nicht durch Askese, nicht durch Gaben und nicht durch Opfer kann einer es erreichen, mich in der Gestalt zu schauen, in der du mich erblickt hast.
54. (1300.) Aber durch Verehrung, die mir allein gewidmet ist, kann einer, o Arjuna, in dieser Weise mich erkennen, mich schauen, wie ich bin, und in mich eingehen, o Schreck der Feinde.
55. (1301.) Wer meine Werke tut, mich als das Höchste hat und mich verehrt ohne Anhänglichkeit an die Welt, wer ohne Feindschaft ist gegen alle Wesen, der kommt zu mir, o Pandusohn.

Literatur

  • Paul Deussen: "Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahabharatam". Übersetzung der Bhagavadgita. Leipzig. F.a. Brockhaus. 1911.


Siehe auch