Sanskrit Kurs Lektion 85

Aus Yogawiki

Dieser Sanskrit Kurs führt anhand einfacher Beispielsätze und -verse in die Grammatik des Sanskrit ein. Einen ausführlichen Überblick über das Sanskrit findest Du im Artikel Sanskrit. Hinweise zur indischen Schrift, der wissenschaftlichen Umschrift (Transliteration) sowie der korrekten Aussprache gibt der Artikel Devanagari. Stichwörter, nach denen Du in der Yoga Vidya Wiki suchen kannst, sind in vereinfachter Schreibweise (Transkription) wiedergegeben.

Die Verben der 2. Klasse bzw. Ad Klasse (3)

In Lektion 83 und 84 haben wir die Beugung (Konjugation) der Verben der 2. Klasse (Ad Klasse), die zur athematischen Konjugation gehört, betrachtet. Nun folgt ein weiterer Beipsielvers aus der Hatha Yoga Pradipika, die Auflösung des Verb-Rätsels aus Lektion 84 sowie ein neues Verb-Rätsel.

Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika

Die gesamte Hatha Yoga Pradipika besteht aus Versen, deren häufigstes Versmaß (Chhandas) der Shloka (Anushtubh) ist. Wir betrachten einen Vers aus dem vierten Kapitel (Upadesha), das der Praxis der Meditation und Versenkung (Samadhi) gewidmet ist. Der 49. Vers steht im Zusammenhang mit Khechari Mudra.


अभ्यसेत्खेचरीं तावद्यावत्स्याद्योगनिद्रितः |
सम्प्राप्तयोगनिद्रस्य कालो नास्ति कदाचन || ४.४९ ||


  • wissenschaftliche Transliteration:
abhyaset khe-carīṃ tāvad yāvat syād yoga-nidritaḥ |
samprāpta-yoga-nidrasya kālo nāsti kadā-cana || 4.49 ||


  • vereinfachte Transkription:
abhyaset khe-charim tavad yavat syad yoga-nidritah |
samprapta-yoga-nidrasya kalo nasti kada-chana || 4.49 ||


  • Wort-für-Wort-Übersetzung:
abhyaset : (der Yogi) übe (abhi + as, Verb)
khe-carīm : Khechari (Mudra, das "Siegel der im Luftraum Wandelnden", Akk. Sg. f.)
tāvat : so lange (Tavat, adv.)
yāvat : bis ("wie lange", Yavat, adv.)
syāt : (er) ist ("sei", as, Verb)
yoga-nidritaḥ : im Schlaf (Nidrita, Nom. Sg. m.) des Yoga
samprāpta-yoga-nidrasya : für den, der den Yoga-Schlaf (Yoga Nidra, Gen. Sg. m.) erreicht hat (Samprapta)
kālaḥ : die Zeit, der Tod (Kala, Nom. Sg. m.)
na : nicht (Na, Partikel)
asti : existiert ("ist", as, Verb)
kadā-cana : jemals, mehr ("irgendwann", Kadachana, adv.)


  • Übersetzung:
Man übe Khechari Mudra solange, bis man sich im yogischen Schlaf befindet.
Für den, der den Yoga-Schlaf erreicht hat, gibt es keine Zeit (keinen Tod).


Erläuterungen

  • Syntax: Der erste Halbvers (erster und zweiter Pada) besteht aus einem Haupt- und einem Relativsatz, der zweite Halbvers (dritter und vierter Pada) aus einem einfachen Satz.
  • Die Verbform abhyaset ("er/sie/es/man übe, soll üben") ist die 3. Person Singular Optativ der Gegenwart der Verbalwurzel as "werfen" (4. bzw. Div Klasse, nicht zu verwechseln mit der gleichlautenden Wurzel as "sein" der 2. bzw. Ad Klasse, s.u.), die in Verbindung mit dem Verbalpräfix (Upasarga) abhi "üben, wiederholen" bedeutet. Der Optativ drückt hier eine neutrale Aufforderung aus, die im Deutschen der Verwendung des Modalverbs "sollen" entspricht. Das logische Subjekt (der Yogin bzw. "man") wird hier nicht ausdrücklich erwähnt, sondern aus dem Gesamtzusammenhang des Verses im Text ergänzt.
  • Der Akkusativ (Dvitiya) khe-carīm ist das logische Objekt (Karman) der Verbalhandlung abhyaset.
  • Die beiden Adverbien tāvat "so lange dauernd" und yāvat "wie lange dauernd" beziehen sich wie die Korrelativpronomen Yad und Tad aufeinander, wobei tāvat den Hauptsatz und yāvat den Relativsatz einleitet. Der Hauptsatz lautet abhyaset khecarīṃ tāvad, der Relativsatz yāvat syād yoga-nidritaḥ.
  • Die Verbform syāt ("er sei") ist die 3. Person Singular Optativ der Gegenwart der Verbalwurzel (Dhatu) as "sein" (2. bzw. Ad Klasse). Der Optativ drückt hier einen Zustand aus, der in der Zukunft mit Wahrscheinlichkeit eintreten wird.
  • Der Nominativ (Prathama) yoga-nidritaḥ ist ein Kompositum (Samasa) des Typs Tatpurusha und das logische Subjekt (Agens, Kartri) der Verbalhandlung syāt.
  • Der Genitiv (Shashthi) samprāpta-yoga-nidrasya ist ein Kompositum des Typs Bahuvrihi. Es besteht aus Yoga Nidra (das seinerseits ein Kompositum des Typs Tatpurusha ist) und Samprapta. Die weibliche Endung von yoga-nidrā wird zu -a verkürzt, da sich das adjektivische Kompositum samprāpta-yoga-nidra (m.) hier auf ein Maskulinum (den zu ergänzenden Yogin, Gen. Sg. yoginaḥ) bezieht und somit den Genitiv auf -sya bildet (vgl. Lektion 6, männliche Substantive auf -a). Dieser Genitiv steht in syntaktischer Beziehung zum Nominativ kālaḥ und bezeichnet denjenigen (Yogi), für den die Zeit bzw. der Tod nicht mehr existiert.
  • Der Nominativ kālaḥ ist das logische Subjekt (Agens, Kartri) der Verbalhandlung asti.
  • Die Negationspartikel na gehört syntaktisch zum Verb asti: nāsti "existiert nicht".
  • Sandhi: Die Endung m von khe-carīm geht vor folgendem Konsonanten (Vyanjana) in Anusvara () über. Das stimmlose dentale t von yāvat und syāt wird vor stimmhaftem Konsonant (hier: y) zu stimmhaftem d. Die Form kālo steht für kālaḥ, da auslautendes -aḥ vor stimmhaftem Konsonant (hier: n) zu -o wird. Das auslautende bzw. anlautende kurze a von na und asti verschmilzt zu einem langen ā in nāsti.

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