Sanskrit Kurs Lektion 50: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 11. November 2016, 12:15 Uhr

Dieser Sanskrit Kurs führt anhand einfacher Beispielsätze und -verse in die Grammatik des Sanskrit ein. Einen ausführlichen Überblick über das Sanskrit findest Du im Artikel Sanskrit. Hinweise zur indischen Schrift, der wissenschaftlichen Umschrift (Transliteration) sowie der korrekten Aussprache gibt der Artikel Devanagari. Stichwörter, nach denen Du in der Yoga Vidya Wiki suchen kannst, sind in vereinfachter Schreibweise (Transkription) wiedergegeben.

Das Gerundivum (2)

In Lektion 49 haben wir die Bildung und Verwendung des Gerundivums betrachtet. Der folgende Beispielvers enthält ein Gerundivum in passiver Konstruktion.


Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika

Die gesamte Hatha Yoga Pradipika besteht aus Versen, deren häufigstes Versmaß (Chhandas) der Shloka (Anushtubh) ist. Hier folgt ein Vers aus dem vierten Kapitel (Upadesha), das der Praxis der Meditation und Versenkung (Samadhi) gewidmet ist. Der 48. Vers handelt von einer Meditationstechnik auf das Stirnchakra bzw. "dritte Auge", in dem sich der Geist (Manas) auflöst und so der höchste Bewusstseinszustand (Turya) eintritt.


भ्रुवोर्मध्ये शिवस्थानं मनस्तत्र विलीयते |
ज्ञातव्यं तत्पदं तुर्यं तत्र कालो न विद्यते || ४.४८ ||


  • wissenschaftliche Transliteration:
bhruvor madhye śiva-sthānaṃ manas tatra vilīyate |
jñātavyaṃ tat padaṃ turyaṃ tatra kālo na vidyate || 4.48 ||


  • vereinfachte Transkription:
bhruvor madhye shiva-sthanam manas tatra viliyate |
jnatavyam tat padam turyam tatra kalo na vidyate || 4.48 ||


  • Wort-für-Wort-Übersetzung:
bhruvoḥ : den Augenbrauen (Bhru, Gen. Dual f.)
madhye : zwischen ("in der Mitte", Madhya, Lok. Sg. n.)
śiva-sthānam : ist Shivas Wohnstatt ("Stätte", Sthana, Nom. Sg. n.)
manas : der Geist (Manas, Nom. Sg. n.)
tatra : dort (Tatra)
vilīyate : wird absorbiert, löst sich auf, verschwindet (vi + , Verb)
jñātavyam : ist zu erkennen, zu verstehen (Jnatavya, Nom. Sg. n., Gerundivum)
tad : dieser (Tad, Nom. Sg. n.)
padam : Zustand, Ort (Pada, Nom. Sg. n.)
turyam : (als) der vierte (Turya, Nom. Sg. n.)
tatra : dort
kālaḥ : die Zeit, den Tod (Kala, Nom. Sg. m.)
na: nicht (Na, Negationspartikel)
vidyate : es gibt (vid, Verb)


  • Übersetzung:
Zwischen den Augenbrauen ist Shivas Wohnstatt. Dort löst sich der Geist auf.
Diesen Zustand soll man als den "Vierten" erkennen. Dort gibt es keine Zeit (keinen Tod).


Erläuterungen

  • Syntax: Dieser Vers besteht aus vier kurzen Sätzen (Vakya), die sich jeweils über ein Versviertel (Pada) erstrecken. Der erste Satz ist ein Nominalsatz, d.h. er besteht nur aus Nomen. Das Verb "ist" wird hier mitverstanden. Im zweiten und vierten Satz steht jeweils ein finites Verb. Im dritten Satz nimmt das Gerundivum die Stellung der Verbalhandlung ein.
  • Der Genitiv (Shashthi) Dual bhruvoḥ "der beiden Brauen" bezieht sich auf den Lokativ madhye.
  • Das Kompositum (Samasa) śiva-sthānam ist das logische Subjekt (Agens, Kartri) des Nominalsatzes in Pada 1. Es steht im Nominativ und gehört zum Tatpurusha genannten Typ. Es bedeutet wörtlich "Shiva-Ort" bzw. "Shiva-Stätte".
  • Der Nominativ (Prathama) manas ist das logische Subjekt (Agens, Kartri) der Verbalhandlung vilīyate.
  • Das Adverb tatra "dort" bezieht sich auf den Lokativ madhye im ersten Pada.
  • Die Verbform vilīyate ("löst sich auf, verschwindet") ist die 3. Person Singular Medium (Atmanepada der Gegenwart der Verbalwurzel (4. bzw. Div Klasse), die in Verbindung mit dem Verbalpräfix (Upasarga) vi "sich auflösen, verschwinden" bedeutet.
  • Das Gerundivum jñātavyam bezieht sich als Verbaladjektiv auf padam und steht daher auch im Nominativ Singular Neutrum. Es erfordert eine passive Konstruktion, bei der das logische Objekt im Nominativ steht (s.u.). Das Gerundivum jñātavyam ist von der Wurzel jñā "wissen, kennen, erfahren" abgeleitet.
  • Das Demonstrativpronomen tad "dieser" bezieht sich syntaktisch auf padam und steht daher ebenfals im Nominativ Singular Neutrum.
  • Der Nominativ padam ist logisches Objekt (Karman) der als Gerundivum erscheinenden Verbalhandlung jñātavyam. Im Sanskrit liegt hier eine passive Konstruktion (Karmani Prayoga) zugrunde, wörtl.: "der Zustand, der (als der 'Vierte') erkannt werden soll".
  • Der Nominativ turyam ist eine Apposition zu padam. Diese Beziehung kann im Deutschen mit "als" ausgedrückt werden.
  • Das Adverb tatra "dort, in diesem" bezieht sich auf den turyam genannten Zustand im dritten Pada.
  • Der Nominativ kālaḥ ist das logische Subjekt der Verbalhandlung vidyate.
  • Die Verbform vidyate ("es gibt") ist die 3. Person Singular Passiv der Gegenwart der Verbalwurzel vid "finden" (6. bzw. Tud Klasse). Die Passivform vidyate bedeutet "es gibt" (wörtl.: "es findet sich").
  • Die Negationspartikel na gehört syntaktisch zum Verb vidyate: na vidyate "es gibt nicht". Ins Deutsche übersetzt man jedoch "es gibt keine Zeit" bzw. "es gibt keinen Tod".
  • Sandhi: Die Form bhruvor steht für bhruvoḥ, da Visarga () nach anderen Vokalen als a oder ā vor stimmhaften Konsonanten zu -r wird. Die Endung -m von °sthānam, jñātavyam, padam und turyam geht vor folgendem Konsonanten (Vyanjana) in Anusvara () über, welcher vereinfachend wie m ausgesprochen wird. Die Form kālo steht für kālaḥ, da -aḥ vor stimmhaften Konsonanten zu -o wird.


Metrische Analyse des 3. und 4. Pada

Betrachten wir das dritte (Tritiya) und vierte (Chaturtha) Versviertel (Pada) dieses Shloka noch einmal hinsichtlich der Längen (Dirgha) und Kürzen (Hrasva) der einzelnen Silben (Akshara). Lange Silben enden auf langen Vokal, oder auf einen kurzen Vokal (Svara), der von zwei Konsonanten (Vyanjana) gefolgt wird (inklusive Anusvara und Visarga). Dies nennt man Positionslänge*. Kurze Silben enden auf kurzen Vokal:


Silbe 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8
Devanagari ज्ञा व्यं त्प दं तु र्यं का लो त्र वि द्य ते
Transliteration jñā ta vyaṃ ta tpa daṃ tu ryaṃ lo ta tra na vi dya te
Silbenlänge lang lang* lang* lang* kurz lang* lang* lang* lang lang lang* kurz kurz lang* kurz lang
Symbol υ υ υ υ


Hinweise zur Aussprache: Alle acht Silben jedes Pada werden in einem Zuge, also ohne Pause, ausgesprochen. Zwischen den Versvierteln wird eine kurze Pause (Yati) eingehalten**. Die Positionslänge der 2., 3., 4., 6., 7. und 8. Silbe (Pada 3) bzw. der 1. und 6. Silbe (Pada 4) ergibt sich durch die Aufteilung in tav-yaṃ tat pa-daṃ tur-yaṃ bzw. tat-ra und vid-ya.


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