Die Wasser des Nichtseins

Aus Yogawiki

Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)

Indische Mythen und Symbole - Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus

Teil 3: Die Wasser des Nichtseins

Der Symbolismus der Maya wird weiter in einem großartigen Mythos entwickelt, der die jede Vernunft sprengenden Abenteuer eines mächtigen Weisen, Markandeya, während der Pause der Nichtmanifestation zwischen der Auflösung und der Wiedererschaffung des Alls beschreibt. Durch einen wunderbaren und seltsamen Zufall erblickt Markandeya Vishnu in einer Reihe archetypischer Umwandlungen: zuerst in der elementaren Verkleidung des kosmischen Meeres; dann als Riesen, der auf dem Wasser ruht; dann wiederum als göttliches Kind, das einsam unter dem Baum des Kosmos spielt; und endlich als eine majestätische Wildgans, deren Atem die magische Melodie der Schöpfung und Auflösung der Welt darstellt.

Der Mythos beginnt mit einer Überschau des Absinkens der kosmischen Ordnung während des langen, aber unumkehrbaren Vorbeizugs der vier Yuga. Das heilige Dharma verschwindet Viertel nach Viertel aus dem Leben der Welt, bis das Chaos eintritt und die Menschen am Ende nur voller Gier und Bosheit sind. Da ist auch nicht einer, nicht ein einziger mehr, in dem erleuchtende Güte (Sattva) wohnt, kein wirklicher Weiser, kein Heiliger, keiner, der Wahrheit redet und zu seinem geheiligten Wort steht. Der nach außen heilig scheinende Brahmane ist nicht besser als der Narr. Alte Leute, der wahren Weisheit, des tiefen Alters verlustig, möchten sich wie die Jugend benehmen, und dieser mangelt die Offenheit. Die gesellschaftlichen Klassen haben ihre unterscheidenden und würdegebenden Eigenschaften aufgegeben; Lehrer, Fürsten, Handelsvolk und Dienerschaft räkeln sich in ausnahmsloser Gemeinheit. Der Wille, sich zu etwas Höherem zu erheben, ist erloschen. Alle Bande der Sympathie und Liebe haben sich aufgelöst; die engste Ichsucht herrscht. Von einander ununterscheidbare Dummköpfe konglomerieren zu einer Art von zähem, unschmackhaftem Teig. Wenn dieses Elend die einst harmonisch geordnete Menschheit befallen hat, hat die Substanz des Weltorganismus sich über jede Rettungsmöglichkeit hinaus verschlechtert, und das All ist reif für die Auflösung.

Der Zyklus hat sich vollendet. Ein Tag Brahmas ist vorüber. Vishnu, das Höchste Wesen, von dem einst die Welt in Reinheit und Ordnung ausging, fühlt nun in sich den Drang, den heruntergekommenen Kosmos in seine göttliche Substanz zurückzunehmen. So gelangt der Schöpfer und Erhalter des Universums dazu, seinen zerstörerischen Aspekt zu offenbaren: er wird das unfruchtbare Chaos verschlingen und alle beseelten Wesen zerschmelzen, von Brahma hoch oben, dém inneren Herrscher und kosmischen Lebensgeist des All-Leibes, herunter bis zu dem letzten Grashalm. Hügel und Flüsse, Berge und Meere, Götter und Titanen, Kobolde und Geister, Tiere, himmlische Wesen und Menschen, alle müssen im Höchsten Wesen wieder aufgenommen werden.

In dieser indischen Schau des Zerstörungsvorganges wird der regelmäßige Ablauf des indischen Jahres — starke Hitze und Trockenheit, die mit sturzbachartigen Regen abwechselt — so vergrößert, daß er, anstatt das Leben zu erhalten, es vernichtet. Die Wärme, die sonst reift, und die Feuchtigkeit, die nährt, wenn sie in wohltuender Zusammenarbeit abwechseln, werden nun tötend. Vishnu beginnt seine furchtbare letzte Arbeit, indem er seine unendliche Energie in die Sonne ergießt. Er selbst wird die Sonne. Mittels ihrer grimmigen, verzehrenden Strahlen zieht er das Augenlicht aller lebenden Wesen in sich hinein. Die Welt vertrocknet und welkt, die Erde birst, und durch tiefe Risse wirft sich tödliche Hitze auf die göttlichen Wasser der unterirdischen Tiefe, die aufgesaugt und verschluckt werden. Wenn nun der Lebenssaft sowohl aus dem eiförmigen kosmischen Leib wie all den Leibern seiner Geschöpfe endgültig verschwunden ist, wird Vishnu zum Wind, zum kosmischen Lebenshauch, und entreißt allen Kreaturen die belebende Luft. Gleich dürren Blättern wirbelt die versengte Substanz des Alls unter dem Zyklon. Die Reibung entzündet den tumultuösen Tanz der hochentflammbaren Materie; der Gott ist zu Feuer geworden. Alles geht in einem Riesenweltbrand auf, um dann zu schwelender Asche zusammenzusinken.

Schließlich gießt Vishnu in Gestalt einer großen Wolke einen Sturzregen aus, süß und rein wie Milch, um den Brand der Welten zu löschen. Der versengte und gequälte Leib der Erde weiß jetzt endlich seine letzte Erlösung: das endgültige Erlöschen, das Nirvana. Unter der Flut des zu Regen gewordenen Gottes wird er in das Meer des Ursprungs zurückgenommen, dem er einst in der Frühe des All-Morgens entstieg. Der fruchtbare Wasserschoß schlingt die Asche aller Schöpfung wieder in sich; die letzten Elemente schmelzen in das ungeschiedene Flüssige ein, aus dem sie einst kamen. Der Mond und die Sterne lösen sich auf, und die steigende Flut wird zu einer grenzenlosen Wasserfläche. Dies ist die Pause einer Brahma-Nacht.

Vishnu schläft. Wie eine Spinne, die den Faden, der einst aus ihrem eigenen Organismus hervorging, hinaufgeklettert ist, indem sie ihn wieder in sich einschlang, hat der Gott das Gespinst des Universums in sich hineingenommen. Allein, eine riesige Gestalt auf der unsterblichen Substanz des Ozeans, halb untergetaucht, halb auf den Wogen flutend, genießt er seinen Schlummer. Da ist keiner, der ihn erblicken, keiner, der ihn begreifen könnte; da ist kein Wissen von ihm außer in ihm selbst.

Dieser Riese, »Herr der Maya, und der kosmische Ozean, auf dem er ruht, stellen die Doppelmanifestation eines und desselben Wesens dar. Denn der Ozean sowohl als die menschliche Gestalt sind beide Vishnu. Weiter: da in der Hindu-Mythologie die Schlange (Naga) das Sinnbild des Wassers ist, wird Vishnu gewöhnlich auf den Windungen einer Riesenschlange ruhend dargestellt, seinem symbolischen Lieblingstier, der Schlange Ananta, "Endlos". Vishnu ist so auch das Reptil, nicht nur die riesenhafte, anthropomorphe Gestalt und das grenzenlose Element.

Auf dem Schlangenozean seiner eigenen unsterblichen Substanz verbringt der Herr des Kosmos die Nacht des Alls. Innerhalb des Gottes ist der Kosmos wie ein ungeborenes Kind inmitten der Mutter; und hier ist alles zu seiner ursprünglichen Vollkommenheit wiederhergestellt. Obgleich da draußen nur Dunkelheit herrscht, gedeiht in dem göttlichen Träumer eine ideale Vision, wie das All sein sollte. Sich von Niedergang, Verwirrung und Unglück erholend, läuft die Welt wieder in harmonischen Bahnen.

Während dieses verzauberten Zwischenspieles nun geschah nach unserer Legende ein phantastisches Vorkommnis: Ein heiliger Mann, Markandeya mit Namen, wandert innerhalb des Gottes über die friedevolle Erde, ein zielloser Pilger, der mit Freude die erhebende Schau der idealen Weltvision betrachtet. Dieser Markandeya ist eine wohlbekannte mythische Figur, ein Heiliger mit unendlichem Leben. Viele tausend Jahre ist er alt, aber von nie ablassender Kraft und Klugheit. Bei seiner Wanderung durch das Innere von Vishnus Leib besucht er die heiligen Einsiedeleien und erbaut sich an dem gottgefälligen Streben der Weisen und ihrer Schüler. An Schreinen und geweihten Orten hält er inne, um seine Verehrung darzubringen, und sein Herz jubelt über die Frömmigkeit der Völker in den Ländern, die er durchstreift.

Aber jetzt geschieht ein Unfall. Im Lauf seiner ziel- und endlosen Spaziergänge entgleitet der handfeste alte Mann versehentlich dem Mund des allenthaltenden Gottes. Im ungeheuren Schweigen der Nacht schläft Vishnu, mit ein wenig geöffneten Lippen; sein Atem geht mit einem tiefen, klangvollen, rhythmischen Laut. Und der erstaunte Heilige, von des Schläfers Riesenlippe fallend, stürzt kopfüber in das kosmische Meer.

Infolge Vishnus Maya erblickt Markandeya zuerst den schlafenden Riesen gar nicht, sondern nur das dunkle, sich nach allen Richtungen hin in die sternenlose Nacht ausdehnende, allumfassende Meer. Verzweiflung packt ihn, und er fürchtet für sein Leben. Im nächtlichen Wasser platschend wird er plötzlich nachdenklich, grübelt und beginnt zu zweifeln. »Ist es ein Traum? Oder bin ich im Banne einer Illusion? Wahrlich, all dies Befremdliche muß ein Erzeugnis meiner Einbildung sein, denn die Welt, wie ich sie in ihrem harmonischen Lauf beobachtet habe, verdient nicht diese Vernichtung wie sie nun plötzlich über sie hereinzubrechen scheint. Ich sehe keine Sonne, keinen Mond, ich fühle keinen Wind; alle Berge sind verschwunden und die Erde hat sich aufgelöst. Was ist das für eine Art von Universum, in dem ich mich hier wiederfinde?«

Diese suchenden Überlegungen des Heiligen sind eine Art Kommentar zur Idee der Maya, zum Problem »Was ist real?«, wie es der Hindu faßt. »Realität« ist eine Funktion des Individuums. Sie ist das Ergebnis der besonderen Fähigkeiten und Begrenzungen individuellen Bewusstseins. Während der Heilige durch das Innere des kosmischen Riesen gewandert war, hatte er eine Realität bemerkt, die ihm seiner eigenen Natur kongenial erschien und hatte sie als fest und substantiell betrachtet. Dennoch war sie nur ein Traum oder eine Vision im Gemüt des schlafenden Gottes gewesen. Umgekehrt erscheint während der Nacht die Realität der ursprünglichen Substanz des Gottes dem menschlichen Bewußtsein des Heiligen als ein bestürzendes Wunder. »Es ist unmöglich«, überlegte er, »es kann nicht wirklich sein.«

Das Ziel der Lehren der Hindu-Philosophie und das der Übung in der Yoga-Praxis ist das Überschreiten der Grenzen des individualisierten Bewußtseins. Die mythischen Erzählungen sollen die Weisheit der Philosophen vermitteln und in einer volkstümlichen, bildhaften Form die Erfahrungen oder Ergebnisse des Yoga darlegen. Da sie sich unmittelbar an Einbildungskraft und Intuition wenden, sind sie als Deutung des Daseins für alle zugänglich. Sie werden nicht besonders kommentiert und durchleuchtet. Die Unterhaltungen und Reden der Hauptfiguren enthalten Elemente philosophischer Auslegung und Deutung, aber die Geschichte selbst wird niemals erklärt. Es gibt keinen ausgesprochenen Kommentar über den Sinn des mythologischen Geschehens. Die Erzählung wendet sich stracks an den Hörer, indem sie seine Intuition, seine schöpferische Einbildungskraft wachruft. Sie stachelt und nährt das Unbewußte. Durch eine Beredsamkeit der Umstände eher als der Worte dient die Mythologie Indiens ihrer Aufgabe als das volkstümliche Fahrzeug für die esoterische Weisheit der Yogaerfahrung und der orthodoxen Religion.

Die unmittelbare Wirkung ist immer gesichert; sind doch diese Geschichten nicht die Erzeugnisse individueller Erfahrungen und der Reaktionen darauf. Ihre Entstehung, Hortung und Kontrolle erfolgt vielmehr aus dem kollektiven Wirken und Denken der religiösen Gemeinschaft. Ihr Gedeihen ruht auf der immer erneuten Zustimmung sich folgender Geschlechter. Ein anonymer, schöpferischer Vorgang, ein kollektives, ahnendes Empfangen formen sie um und erfüllen sie mit neuem Sinn. Ihre Wirkung geht zunächst auf eine unterbewußte Ebene, die Intuition, das Gefühl und die Einbildungskraft anrührend. Ihre Einzelheiten prägen sich selbst dem Gedächtnis ein, um dann nieder zu sinken und die tieferen Schichtungen der Psyche zu formen. Bei näherem Nachdenken und immer wieder Nachdenken zeigt sich dann, daß die bedeutsamen Episoden dieser Erzählungen verschiedene Sinnschattierungen enthüllen können, je nach den Erfahrungen und Lebensnotwendigkeiten des betreffenden Individuums.

Die Mythen und Sinnbilder Indiens widerstreben jeder Intellektualisierung und Zurückführung auf feststehende Bedeutungen. Solches Vorgehen würde sie nur ihrer Magie berauben. Sind sie doch von einem viel archaischeren Typus als die uns aus der griechischen Literatur bekannten: die Götter und Mythen Homers und die Helden der attischen Tragödie bei Äschylos, Sophokles und Euripides. Letztere, vom Genie der Dichter neugeformt, sind weitgehend individuelle Schöpfungen und ähneln in dieser Beziehung unseren modernen Versuchen, sich überlieferter Formgehalte zu bemächtigen. Wie in den Werken Shelleys und Swinburnes, oder — und vor allem — Wagners, finden wir in den nachhomerischen Schöpfungen der Griechen ein Bestreben, die alte Münze des Mythos mit einem neuen Sinn, einer neuen Deutung des Daseins auf der Grundlage individueller Erfahrung zu beprägen. Im Gegensatz dazu wird uns in den Mythen Indiens die intuitive, kollektive Weisheit einer alterslosen, überpersönlichen und vielschichtigen Kultur nahegebracht.

Man sollte sich daher recht befangen fühlen, wenn man sich anheischig macht, einen indischen Mythos zu kommentieren. Besteht doch immer die Gefahr, daß die Eröffnung einer Blickrichtung eine andere dafür schließt. Dem Hinduhörer aus Erfahrung und Tradition vertraute, dem westlichen Leser aber fremde Einzelheiten sind gewiß zu erklären; die Formulierung endgültiger Deutungen aber sollte mit möglichster Scheu vermieden werden. So möchten wir ehrerbietigerweise auch Markandeyas Mißgeschick für sich selbst reden lassen. Nahe am Verzweifeln, verloren in der unendlichen Ausdehnung der Gewässer, wurde der Heilige endlich den Leib des schlafenden Gottes gewahr. Sein Herz erfüllte sich mit Verwunderung und seliger Freude. Zum Teil von den Fluten verborgen ähnelte die riesige Masse einer aus dem Wasser steigenden Bergkette, die von einem wundervollen, von innen her kommenden Licht erglühte. Der Heilige schwamm näher, die Erscheinung zu erforschen und hatte eben seine Lippen zu einer Frage geöffnet, als der Riese ihn ergriff und kurzwegs hinunterschluckte. Und wieder stand er in der vertrauten Landschaft des Innern.

So unversehens in die Harmonie-Welt von Vishnus Traum zurückversetzt, wurde Markandeya von äußerster Verwirrung befallen. Er konnte an seine ebenso kurze wie unvergeßliche Erfahrung nur wie an eine Vision zurückdenken. Und doch, wie paradox! Er selbst, ein menschliches Wesen, unfähig irgendeine Wirklichkeit aufzunehmen, die über die Verständniskraft seines beschränkten Bewußtseins hinausging, war nun innerhalb jenes göttlichen Wesens enthalten, eine Gestalt in seinem allumfassenden Traum. Auf der anderen Seite erschien Markandeya die Offenbarung, mit der er begnadet worden war, die Schau des Höchsten Seins bei sich und in sich selbst, in seiner allenthaltenden Einsamkeit und Stille, selbst wieder nur wie ein Traum.

Der zurückgekehrte Markandeya nahm sein früheres Leben wieder auf. Wie zuvor wanderte er, ein heiliger Pilger, über die weite Erde, sah die Yogis, die in den Wäldern ihre Bußübungen trieben, und nickte den königlichen Gebern Beifall, die kostspielige Opfer mit üppigen Geschenken an die Brahmanen vollzogen. Er sah, wie die Brahmanen die heiligen Riten zelebrierten und großzügigen Entgelt für ihre wirksame Magie erhielten. Er sah alle Kasten fromm den ihnen eigenen Aufgaben zugewandt und die heilige Folge der vier Lebensstände in voller, ordnender Macht unter den Menschen waltend. Voller Wohlgefallen an diesem idealen Zustand der Dinge wanderte er ungestört weitere hundert Jahre lang.

Aber dann glitt er versehentlich zum anderen Male aus des Schläfers Mund und fiel in die pechschwarze See. In dem schauerlichen Dunkel der schweigenden Wasserwüste erblickte er diesmal ein strahlendes Kind. Gottgleich lag der Knabe unter einem Feigenbaum, in friedlichem Schlummer begriffen. Dann wieder, durch einen Schachzug der Maya, sah Markandeya den einsamen kleinen Jungen bei selbstvergessenem Spiel, ganz unbestürzt inmitten des weiten Meeres ringsum. Der Heilige, ganz Neugier, konnte doch den überwältigenden Glanz, der von dem Kinde ausging, nicht aushalten und blieb deshalb in zuträglicher Entfernung. Während er sich gegen das Versinken in die schwarze Tiefe wehrte, grübelte Markandeya: »Etwas Ähnliches scheine ich schon einmal erlebt zu haben — vor langer, langer Zeit ...« Aber dann wurde er sich der unergründlichen Tiefe dieses Meeres ohne Küsten bewußt und kalter Schrecken befiel ihn.

»Willkommen, Markandeya!« begrüßte ihn freundlich der Gott, der die Gestalt des erhabenen Kindes angenommen hatte. Die Stimme hatte den sanften tiefen Ton des melodischen Donners segenverheißender Regenwolken. »Willkommen, Markandeya!« beruhigte ihn der Gott. »Sei nicht erschrocken, mein Kind. Fürchte Dich nicht. Komm näher.«

Der eisgraue, alterslose Heilige konnte sich nicht erinnern, daß jemand ihn »Kind« zu nennen oder ohne Erwähnung seiner Heiligkeit und Abstammung einfach mit seinem Vornamen anzureden gewagt hätte, und war tief beleidigt. Obgleich müde, erschöpft und in der denkbar ungünstigsten Lage ließ er doch seinem Temperament die Zügel schießen: »Wer wagt es, sich über meine Würde und meinen heiligen Beruf hinwegzusetzen und den Schatz magischer Kräfte zu verspotten, den ich mir durch strenge Bußübungen aufgehäuft habe? Wer ist das, der so mein ehrwürdiges Alter gering schätzt, das tausend Jahre umfaßt, aber Jahre wie sie die Götter zählen? Ich bin diese Art beleidigender Behandlung nicht gewöhnt. Selbst die obersten Götter behandeln mich mit besonderem Respekt. Nicht einmal Brahma würde es wagen, mich in dieser unehrerbietigen Manier anzureden. Brahma spricht höflich zu mir. ,O Langlebiger' nennt er mich. Wer spielt da mit dem Tod, stürzt sich blindlings in den Abgrund der Zerstörung und wirft sein Leben weg, indem er mich schechtweg Markandeya nennt? Wer möchte denn unbedingt sterben?«

Als der Heilige so seinen Zorn ausgelassen hatte, nahm der göttliche Knabe unverwirrt seine Rede wieder auf: »Kind, ich bin Dein Ahn, Dein Vater und Vorvater, das uranfängliche Wesen, das alles Leben leiht. Warum kommst Du nicht zu mir? Ich kannte Deinen Vater gut. In längst vergangenen Zeiten unterzog er sich schweren Übungen der Entsagung, um einen Sohn zu erhalten. Er gewann meine Gnade. In Wohlgefallen an seiner vollendeten Heiligkeit gewährte ich ihm eine Gabe, und er wünschte sich, daß Du, sein Sohn, mit unerschöpflicher Lebenskraft begabt sein und niemals alt werden möchtest. Dein Vater kannte den geheimen Kern seines Daseins, und aus diesem Kern stammst Du. Darum ist Dir erlaubt, mich nun zu erblicken wie ich auf den uranfänglichen, allenthaltenden Wassern ruhe, spielend als Kind unter diesem Baum.«

Entzücken goß sich über Markandeyas Züge. Seine Augen öffneten sich weit, gleich aufblühenden Blumen. In demütiger Ergebenheit machte er eine Bewegung, als ob er sich verneigen wolle und betete: »Laß mich das Geheimnis Deiner Maya wissen, das Geheimnis Deiner Erscheinung nun als Kind, ruhend und spielend auf dem unermeßlichen Meer. Herr des Alls, mit welchem Namen nennt man Dich? Du mußt das Wesen aller Wesen sein; denn wer sonst vermöchte zu sein wie Du?«

Vishnu erwiderte: »Ich bin der uranfängliche kosmische Erzeuger, Narayana; er, der das Wasser ist, das erste Wesen, die Quelle des Alls. Tausend Häupter besitze ich; ich hin das heiligste der heiligen Opfer; ich bin das heilige Feuer, das die Opfer der Menschen auf Erden zu den Göttern im Himmel emporträgt. Gleicherweise bin ich der Herr des Wassers und im Gewande Indras, des Königs der Götter, der erste der Unsterblichen. Ich bin der Kreislauf des Jahrs, der alles hervorbringt und wieder auflöst,