Gerundivum
Als Gerundivum bezeichnet man in der Sanskrit Grammatik ein Verbaladjektiv bzw. Partizip, das eine Handlung in der Zukunft (Futur, Bhavishyat) ausdrückt und zugleich eine passivische Bedeutung hat. Das Gerundivum wird wie alle Partizipien von einer Verbalwurzel (Dhatu) abgeleitet. Eine alternative Bezeichnung für das Gerundivum ist Participium Necessitatis.
Bildung und Bedeutung
Zur Bildung des Gerundivums werden drei Suffixe (Pratyaya) gebraucht, die sich in unterschiedlicher Weise auf den Vokal (Svara) der Verbalwurzel auswirken. Die Bedeutung aller drei Bildungstypen bleibt dabei unverändert.
- Suffix -tavya verlangt die Vollstufe (Guna) der Wurzel: kṛ "tun, machen" + -tavya ergibt kartavya (Kartavya) "zu tun, zu machen"
- Suffix -anīya verlangt die Vollstufe (Guna) der Wurzel: kṛ + -anīya ergibt karaṇīya (Karaniya) "zu tun, zu machen"
- Suffix -ya verlangt die Vollstufe (Guna) oder Dehnstufe (Vriddhi) der Wurzel: kṛ + -ya ergibt kārya (Karya) "zu tun, zu machen"
Oft dient ein Gerundivum dazu, das deutsche "sollen" oder "müssen" auszudrücken bzw. eine Aufforderung, die sich auf die (nähere) Zukunft bezieht.
Übersicht: Die Gerundiva einiger häufiger Verbalwurzeln
Die nachfolgende Übersicht zeigt die Formen der mit den Suffixen -tavya, -ya und -anīya gebildeten Gerundiva einiger wichtiger Verbalwurzeln (Dhatu) und deren Hauptbedeutung(en). Von manchen Wurzeln existieren alle drei Bildungsmöglichkeiten, von anderen nur zwei. Zuweilen unterscheiden sich die verschiedenen Gerundivformen in der Bedeutung, manchmal sind sie synonym.
Verbalwurzel | Bedeutung | mit Suffix -tavya | mit Suffix -ya | mit Suffix -anīya | Übersetzung |
---|---|---|---|---|---|
yuj | verbinden, anwenden | yoktavya | yojya | yojanīya | (ist, sind) zu verbinden, anzuwenden |
tyaj | verlassen, meiden, aufgeben | tyaktavya* | tyājya | tyajanīya | (ist, sind) zu verlassen, zu meiden, aufzugeben |
vac | sagen, benennen | vaktavya* | vācya | vacanīya | (ist, sind) zu sagen, zu benennen |
muc | befreien, freilassen | moktavya* | mocya | mocanīya | (ist, sind) zu befreien, freizulassen |
kṛ | machen, tun | kartavya | kārya | karaṇīya* | (ist, sind) zu machen, zu tun, herzustellen |
hṛ | wegnehmen | hartavya | hārya | haraṇīya | (ist, sind) zu wegzunehmen |
dhṛ | tragen, halten, bewahren | dhartavya | dhārya | dharaṇīya* | (ist, sind) zu tragen, zu halten, zu bewahren |
smṛ | erinnern, gedenken | smartavya | smārya | smaraṇīya* | (ist, sind) zu erinnern, zu gedenken |
gam | gehen | gantavya | gamya | gamanīya | (ist, sind) zu (be)gehen, zugänglich, erreichbar, verständlich |
badh/bandh | binden, gefangen nehmen, verschließen | bandhya | bandhanīya | (ist, sind) zu binden, gefangenzunehmen, zu verschließen | |
budh | erwachen, verstehen, erkennen, wahrnehmen | boddhavya* | bodhya | bodhanīya | (ist, sind) zu erwecken, zu verstehen, zu erkennen, wahrzunehmen |
ji | siegen | jetavya | jeya | (ist, sind) zu besiegen, besiegbar | |
śru | hören | śrotavya | śravya, śrāvya | śravaṇīya* | (ist, sind) zu hören, hörbar, hörenswert |
bhū | sein, werden | bhavitavya | bhavya, bhāvya | bhavanīya | (hat, haben) zu sein, zu werden, zu geschehen; zukünftig |
bhid | spalten, durchbohren | bhettavya* | bhedya | bhedanīya | (ist, sind) zu spalten, zu durchbohren |
chid | abschneiden, abhauen | chettavya* | chedya | chedanīya | (ist, sind) abzuschneiden, abzuhauen |
dah | verbrennen | dagdhavya* | dāhya | dahanīya | (ist, sind) zu verbrennen |
guh | verbergen, verhüllen, geheim halten | gūhitavya | guhya | (ist, sind) zu verbergen, zu verhüllen, geheim zu halten | |
grah | ergreifen, nehmen | grahītavya | grāhya | grahaṇīya* | (ist, sind) zu ergreifen, zu nehmen |
sev | aufsuchen, ehren, bedienen | sevitavya | sevya | sevanīya | (ist, sind) aufzusuchen, zu ehren, zu bedienen |
dṛś | sehen | draṣṭavya* | dṛśya | darśanīya | (ist, sind) zu sehen, sichtbar, ansehnlich, hübsch, schön |
sādh | ausführen, zubereiten, beweisen | sādhya | sādhanīya | (ist, sind) zu auszuführen, zuzubereiten, zu beweisen | |
bādh | verdrängen, vertreiben, beseitigen | bādhya | bādhanīya | (ist, sind) zu verdrängen, zu vertreiben, zu beseitigen | |
rakṣ | hüten, schützen, bewachen | rakṣitavya | rakṣya | rakṣaṇīya* | (ist, sind) zu hüten, zu schützen, zu bewachen |
gup | hüten, bewachen, geheimhalten | goptavya | gopya | gopanīya | (ist, sind) zu hüten, zu bewachen, geheimzuhalten |
vand | loben | vandya | vandanīya | (ist, sind) zu loben, lobenswert | |
man | meinen, denken, ehren | mantavya | mānya | (ist, sind) zu meinen, zu denken, anzusehen, zu beachten, zu ehren, ehrenwert | |
snā | (sich) baden | snātavya | sneya | (hat, haben sich) zu baden | |
jñā | (er)kennen, wissen, erfahren, wahrnehmen | jñātavya | jñeya | (ist, sind) zu (er)kennen, kennenzulernen, zu wissen, zu erfahren, zu erforschen, anzusehen, wahrnehmbar | |
pā | trinken | pātavya | peya | (ist, sind) zu trinken, trinkbar, schmeckbar | |
dā | geben, schenken | dātavya | deya | (ist, sind) zu geben, zu schenken | |
sthā | stehen, verweilen, bleiben | sthātavya | stheya | (hat, haben) zu stehen, zu verweilen, zu bleiben | |
gā/gai | singen | gātavya | geya | (ist, sind) zu singen |
*Anmerkung: Bei der Verbindung von Verbalwurzel und Suffix treten die Wohllautregeln des Sandhi in Kraft. Dabei bewirkt ein ṛ oder r (Repha) sowie ein (k)ṣ der Wurzel eine Zerebralisierung des n des Suffix -anīya zu ṇ: sādhanīya (von Wurzel sādh) vs. karaṇīya (von Wurzel kṛ).
Syntax und Beispielsätze
Passive Konstruktion
Das Gerundivum nimmt wie ein Adjektiv (Visheshana) Fall (Kasus), Zahl (Numerus) und Geschlecht (Genus) des Substantivs an, auf das es sich bezieht. Es bezeichnet das logische Objekt (Karman) der Handlung und steht daher in der passiven Konstruktion (Karmani Prayoga) im Nominativ (Prathama). Das logische Subjekt bzw. der Agens (Kartri) der Verbalhandlung, d.h. derjenige, der die Handlung "tut", steht stets im Instrumental (Tritiya).
Hier folgen drei Beispiele zur Verdeutlichung der grammatischen Übereinstimmung (Kongruenz) von Substantiv und Gerundivum:
- kaṭaḥ (Nom. Sg. m.) puruṣeṇa (Instr.) kartavyaḥ (Nom. Sg. m.) "Die Matte (Kata) von dem Mann (Purusha) ist zu machen bzw. soll gemacht werden", d.h. "Der Mann soll/muss eine Matte machen."
- mālā (Nom. Sg. f.) kanyayā (Instr.) karaṇīyā (Nom. Sg. f.) "Die Kette (Mala) von dem Mädchen (Kanya) ist zu machen bzw. soll gemacht werden", d.h. "Das Mädchen soll/muss eine Kette machen."
- pātraṃ (Nom. Sg. n.) tvayā (Instr.) kāryam (Nom. Sg. n.) "Das Trinkgefäß (Patra) von dir (Tvam) ist zu machen bzw. soll gemacht werden", d.h. "Du sollst/musst ein Trinkgefäß machen."
Unpersönliche Konstruktion
In der unpersönlichen Konstruktion (Bhave Prayoga) gibt es kein logisches Objekt (Karman). Das Gerundivum bezeichnet hier "die Handlung an sich" bzw. die reine Wurzelbedeutung (Bhava bzw. Dhatvartha) und wird stets in der Form des Neutrums verwendet, die auf -am endet:
- āsitavyaṃ devadattena (Instr.) "es ist zu sitzen bzw. es soll/muss gesessen werden von Devadatta", d.h. "Devadatta soll/muss sitzen."
Erläuterung: Devadatta ist der Agens (Kartri) der Handlung, der im Instrumental steht. Das die Funktion des Verbs erfüllende Verbalnomen āsitavyam ist das im Neutrum stehende Gerundivum der intransitiven Wurzel ās und bedeutet "ist zu sitzen, soll/muss gesessen werden". Die unpersönliche Konstruktion des Sanskrit wird im Deutschen mit dem Aktiv wiedergegeben: "Devadatta soll/muss sitzen."
- gantavyaṃ devadattena (Instr.) "es ist zu gehen bzw. es soll/muss gegangen werden von Devadatta", d.h. "Devadatta soll/muss gehen."
Erläuterung: In diesem Beispiel wird die Verbalhandlung durch das (sächliche) Verbalnomen gantavyam ausgedrückt, das Gerundivum der transitiven Wurzel gam. Der Agens "Devadatta" steht wieder im Instrumental. Die deutsche Wiedergabe lautet entsprechend "Devadatta soll/muss gehen".
Weblinks
Siehe auch
- Sanskrit Kurs Lektion 21
- Sanskrit Kurs Lektion 49
- Sanskrit Kurs Lektion 50
- Sanskrit Kurs Lektion 51
- Sanskrit Kurs Lektion 63
- Sanskrit Kurs Lektion 73
- Sanskrit Kurs Lektion 74
- Sanskrit Kurs Lektion 81
- Sanskrit Kurs Lektion 94
- Sanskrit Kurs Lektion 95
- Sanskrit Kurs Lektion 96
- Sanskrit Adjektiv
- Sanskrit Verbalwurzel
- Sanskrit Verb
- Sanskrit Grammatik
- Sanskrit Sprache
- Partizip Futur
- Partizip Präteritum Passiv
- Partizip Präteritum Aktiv
- Partizip Präsens
- Mukhya Kriya
- Nomen Agentis
- Nomen Actionis
- Wörterbuchform
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