Seelenwanderung

Aus Yogawiki

Der Auszug der Seele aus dem Leibe, nach 4.2.1-11.17. 3,1,1-7.

Artikel aus dem Buch „Das System des Vedanta“ von Paul Deussen, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906, S. 396-410

Vedische Grundlage

Die Lehre von dem Auszuge der Seele, welcher für alle, mit Ausnahme dessen, der das Samyagdarshanam besitzt (also für die Nichtwissenden und für die der niedern Wissenschaft anhängenden Verehrer des attributhaften Brahman), gemeinsam ist, lehnt sich teils an die im vorigen Kapitel enthaltenen Vor-stellungen von den Wassern, die bei der fünften Opferung mit Menschenstimme reden und von dem Glauben, den die Götter im ersten Opferfeuer opfern, teils an folgende (S. 284 im Zusammenhang übersetzte) Stelle aus Chand. 6,8,6:

„Wenn nun, o Teurer, der Mensch dahinscheidet, so gehet die Rede ein in das Manas, das Manas in das Leben. Das Leben in die Glut, die Glut in die höchste Gottheit."

Die Zusammenrollung der Organe, nach 4,2,1-5

1. Beim Sterben geht, nach der eben zitierten Stelle, zunächst die Rede ein in das Manas (S. 1087,6); unter der Rede sind hier die übrigen neun Indriyas (S. 356) mit zu verstehen, denn eine andere Schriftstelle (Prashna 3,9) sagt: „darum, wenn sein Glanz erloschen, so gehet er zur Wiedergeburt mitsamt den in das Manas eingegangenen Sinnen" (S. 1089,5). Ist nun hierbei unter den Sinnen, z. B. der Rede, diese selbst, oder nur ihre Funktion (Vritti) zu verstehen (S. 1087,8)?

Diese Frage erscheint sonderbar, nachdem, wie wir S. 359 sahen, unser Autor schon S. 715,10 erklärt hat, dass die Organe (Karanam) nur Funktionen (Vritti) seien, wie denn unter den mit der Seele auswandernden Indriyas natürlich nicht die materiellen Organe, sondern nur die als für sich bestehende Potenzen aufgefasste Funktionen derselben verstanden werden können. In diesem Sinne versteht es sich von selbst, dass nur die Funktion (Vritti) der Indriyas in das Manas eingeht (Sampadyate), während das körperliche Organ mit dem Leibe zerfällt. Die hier aufgeworfene Frage hingegen ist, wie aus der Art ihrer Beantwortung erhellt, in dem Sinne aufzufassen, dass unter Vritti nicht diese Funktionen, sondern nur die Betätigung derselben, und unter ihrer Sampatti nicht der Eingang in das Manas, sondern eine völlige Auflösung (Pravilaya S. 1088,1, Upashama S. 1088,4) verstanden wird.

Demnach müssen wir die in Rede stehende Frage dahin interpretieren: ob beim Sterben das der Seele anhaftende Sinnesorgan (die Vritti, nach S. 715,10), indem es in das Manas eingeht (Sampadyate), bei diesem Eingehen nur seiner Verrichtung (Vritti) nach, oder seinem Wesen nach zunichte wird (Sampadyate)? Die Antwort lautet, dass dabei nur die Verrichtung, nicht das Indriyam vergeht (Vag-Vrittir Manasi Sampadyate S. 1088,1), ersichtlich, weil sonst völlige Ungeteiltheit (Avibhaga) eintreten würde, der Zustand der Ungeteiltheit aber, nach 4,2,16, nur dem Erlösten, nicht auch den übrigen zukommt (S. 1088,5); sodann, weil die Wahrnehmung, welche zeigt, wie beim Sterben die Tätigkeit der Sinne erlischt, während die des Manas (das Bewusstsein) noch eine Weile fortbesteht, uns nur ein Recht gibt, von einem Erlöschen der Verrichtung, nicht von einem solchen des Verrichtenden zu reden (S. 1088,10); endlich, weil ein Ding seinem Wesen nach nur in das untergehen kann, woraus es entstanden ist, wie das Gefäß in den Ton, seiner Verrichtung nach aber auch in ein anderes, wie denn z. B. die Verrichtung des Feuers aus dem Brennholze entspringt und in dem Wasser erlischt, wiewohl ihm beide heterogen sind (S. 1088,14). Dass es nichtsdestoweniger in der Schriftstelle heißt, die Rede gebe ein in das Manas, beruht auf dem Sprachgebrauche (Upachara), welcher zwischen Verrichtung und Verrichtendem nicht unterscheidet (S. 1089,3). — Das Doppelspiel, welches unser Autor mit den Ausdrücken Vritti und Sampadyate treibt, bleibt uns unbegreiflich.

2. Der zweite Akt beim Sterben ist nach Chand. 6,8,6, dass das Manas in den Prana (als Prinzip des unbewussten Lebens, S. 359 fg.) eingeht. Hierbei wiederholt sich dieselbe Frage. Man könnte meinen, dass das Manas als Organ in den Prana eingehe, weil es Chand. 6,6,5 (S. 283) heißt, das Manas sei aus Nahrung, der Prana aus Wasser gebildet, während ja hinwiederum (S. 254) die Nahrung, d. h. die Erde, aus dem Wasser entstanden ist (S. 1090,4). Es ist aber vielmehr auch hier nur die Funktion (die Verrichtung) des Manas zu verstehen, welche in den Prana eingeht (vergeht) ; denn nur von der Funktion des Manas lässt sich beobachten, wie sie bei dem Schläfrigen und bei dem Ohnmächtigwerdenden (lies: Mumurkshosh Cha) in dem Prana zur Ruhe kommt (S. 1090,9); auch lässt sich aus der mittelbaren (Pranalika, als adj. unbelegt) Entstehung des Manas aus dem Prana nicht folgern, dass dasselbe auch in ihn zurückgehen müsse, indem sonst auch das Manas in die Nahrung, die Nahrung in das Wasser und der Prana in das Wasser sich auflösen müssten (S. 1090,13). Auch hier ist also unter Manas nur die Verrichtung, nicht das Verrichtende zu verstehen, indem der Sprachgebrauch zwischen beiden nicht scheidet (S. 1091,1).

3. Wenn es Chand. 6,8,6 weiter heißt, der Prana gehe ein in die Glut (Tejas), so ist zu bemerken, dass er zunächst nicht in diese, sondern in den Aufseher (Adhyaksha) eingeht, worunter der Aufseher über den Käfig des Leibes und der Organe", d. h. die individuelle Seele (Jiva) zu verstehen ist (S. 1091,6); dieselbe wird bei dieser Gelegenheit definiert als das mit den Bestimmungen (Upadhi) des Wissens, der Werke und der vorherigen Erfahrung versehene Erkenntnis-Selbst" (S. 1091,9), worunter, wie demnächst zu zeigen, die moralische Bestimmtheit zu verstehen ist. Mit ihr scheint hiernach die Seele enger als mit ihren Organen verbunden zu sein; denn während letztere erst in sie eingehen müssen, haftet ihr das Moralische schon von selbst an.

Wenn auch bei der Stufenfolge des Eingehens die Grundstelle Chand. (3,8,6 die individuelle Seele nicht erwähnt, so wird doch ihre Einschiebung zwischen Prana und Tejas gerechtfertigt durch eine andere Schriftstelle (Brih. 4,3,38, übersetzt S. 207), in der gesagt wird, dass beim Sterben alle Pranas in die Seele eingehen, und dass, indem sie auszieht, das Leben, mit diesem aber alle Lebensorgane ausziehen (S. 1091,12).

4. Erst nachdem die Pranas in die mit der moralischen Bestimmtheit behaftete Seele eingegangen sind, geht die Seele mit ihnen ein in die Glut, worunter hier, wie sogleich des weitern zu zeigen, mit der Glut (Tejas) auch die andern Elemente in der sublimierten Form zu verstehen sind, in welcher sie den Samen des Leibes bilden (S. 1092,2). Diese Absorption der Pranas in die Seele, der Seele in die Glut widerspricht den Worten der Grundstelle, wonach die Pranas in die Glut eingehen, nicht, denn wer von Shrughna nach Mathurâ und von Mathurâ nach Pâtaliputram geht, der ist eben damit von Shrughna nach Pataliputram gegangen (S. 1093,2).

Der feine Leib, nach 4,2,6-11. 3,1,1-6; vgl. 1,4,1-7.

Die Seele mit den, in sie eingegangenen Organen des bewussten und unbewussten Lebens (Indriyas, Manas, Prana) bedarf weiter, um ausziehen zu können, eines materiell gearteten Trägers (Ashraya), indem ohne einen solchen, ohne eine materielle Basis, wie die Erfahrung zeigt, kein Lebendiges gehen oder stehen kann (S. 744,9). Diese Basis ist der feine Leib, Sirkshmar Shariram (S. 341,3. 1097,14), oder, wie ihn Shankara gewöhnlich umschreibt: Deha-Vijani Bhuta-Sukshmani (S. 740,8. 741,3. 744,2: vgl. 1095,10. 1092,10), d. h. „die Feinteile der Elemente, welche den Samen des Leibes bilden". Um späterhin wieder zu einem, aus den verschiedenen Elementen bestehenden, Leibe zu gelangen, muss die Seele den Samen dieses Leibes mit sich führen, und dieser Same, nicht der Glut allein, sondern aller Elemente, ist zu verstehen, wenn es in der Grundstelle Chand.6,8,6 heißt: das Leben gehe ein in die Glut. Denn die Schrift (Brite. 4,4,5) sagt: „(diese Seele ist) erdartig, wasserartig, windartig, ätherartig, glutartig" (S. 1093,12),. und die Smriti (Manu 1,27) erklärt:

“Die schwindend kleinen Quanta der Halbzehne,
Durch die entstehet alles, nach der Ordnung."

Diese elementaren Keime des künftigen Leibes, von welchen umschlungen die Seele aus dem Leibe ausfährt (S. 741,3), sind nun auch nach den Ausführungen in 3,1,1-6 unter den Wassern zu verstehen, welche nach der Fünf-Feuer-Lehre bei der fünften Opferung mit Menschenstimme reden, nachdem sie fünfmal hintereinander, nämlich als Glaube, Soma, Regen, Nahrung und Same in den Feuern des Himmels, der Atmosphäre, der Erde, des Mannes und des Weibes von den Göttern geopfert worden sind (S. 741,6). Zwar ist dabei nur vom Wasser die Rede (S. 742,11), aber unter ihm sind die Keime aller Elemente zu verstehen (S. 744,2) und dieselben heißen Wasser, einmal, weil nach S. 259 das Wasser sämtliche Elemente (deren hier im Anschlusse an Chand. 6,2 nur drei genannt werden, worüber S. 249) in sich enthält (S. 743,4), sodann, weil im Leibe, der gleichfalls aus ihnen allen besteht (S. 260), das Wasser überwiegend vertreten ist (S. 743,9).

Diese, die Gesamtheit der Elementarkeime vertretenden Wasser sind es also, welche die Brücke von einem Menschendasein zum andern bilden, indem sie nacheinander als Glaube, Soma, Regen, Nahrung und Same geopfert werden. Die Bezeichnung der vier letzten als Wasser erklärt sich leicht aus dem Überwiegen des Wässerigen in diesen Materien (S. 746,1); aber ebenso wohl sind auch unter dem bei der ersten Opferung als Opfermaterial auftretenden Glauben eben diese Wasser zu verstehen (S. 746,6), erstlich, weil nur so Frage und Antwort miteinander in Einklang stehen (S. 746,10), sodann, weil die erste Opferspende als die Ursache von den folgenden als ihren Wirkungen nicht wesensverschieden sein kann (S. 746,13). „Auch ist es ja nicht möglich, den Glauben, sofern er als Vorstellung (Pratyaya) eine Qualität des Manas oder der Seele ist, aus der Substanz, welcher derselbe inhäriert, herauszureißen wie aus den Opfertieren das Herz usw., um ihn zur Opferung zu verwenden.

Unter dem Worte «Glauben sind also die Wasser zu verstehen" (S. 747, 1-3). Diese Bezeichnung entspricht dem Sprachgebrauche des Veda (Taitt. samh. 1,6,8,1: Shraddha Va Apah), und erklärt sich daraus, dass die Wasser als Leibessame eine dem Glauben ähnliche Feinheit annehmen (S. 747,5), etwa wie man einen Helden von löwenartiger Tapferkeit einen Löwen nennt (S. 747,6). — Wir werden demnächst sehen, wie sich unser Autor mit dieser ausdrücklichen Erklärung des „Glaubens" als des elementaren Leibessamens in handgreiflichen Widerspruch setzt.

Dieser, den Samen des Leibes bildende „feine Leib" — fein, weil er durch die Adern auszieht (S. 1097,7) — hat nun seinem Wesen nach einerseits Ausdehnung (Tanutvam) und dadurch Lokomobilität (S. 1097,8), anderseits aber Durchsichtigkeit (Svacchatvam), vermöge deren er beim Auszuge auf kein Hindernis stößt und auch von den Umstehenden nicht gesehen wird (S. 1097,8). Von ihm rührt die Körperwärme her (S. 1097,14: anders Chand. 3,13,8, übersetzt S. 182); daher der Leib im Leben sich warm anfühlt, nach dem Tode hingegen kalt, während er doch seinem übrigen Bestande nach noch unverändert ist (S. 1098,1.). Auf der Feinheit dieses Leibes beruht es endlich, dass derselbe bei Verletzungen des Körpers, z. B. Verbrennen (wobei natürlich nicht an die Verbrennung der Leiche gedacht werden darf), nicht mit verletzt wird S. 1097,11).

Sutram 4.2,8: "Leser bis zum Eingange, wegen der Aufzeigung des Samsara". — Kommentar: „Wenn es weiter im Texte (Chand. 13,8.6, S. 3911) heißt: «die Glut in die „höchste Gottheit», so bedeutet dies, dass die vorerwähnte „[den feinen Leib bedeutende] Glut begleitet von dem Aufseher, dem Prana und der Schar der Organe und verbunden mit den andern Elementen, beim Dahinscheiden des Menschen in die höchste Gottheit eingeht. Aber welcher Art ist dieser Eingang? Das ist zu überlegen. Man könnte meinen, es sei eine definitive Auflösung des eigenen Wesens in der höchsten Gottheit, aus welcher es entsprungen ist; denn der Ursprung alles Entstandenen, körperlich Gewordenen ist, wie wir festgestellt haben, die höchste Gottheit; und somit wäre auch dieser Eingang in die Ungeteiltheit ein definitiver. — Darauf erwidern wir: dieser aus der Glut usw. gebildete feine Leib, wie er der Träger der Organe, Ohr usw., ist, bleibt bis zum Eingange, bis zur Erlösung vom Samsara, wie sie die Folge der universellen Erkenntnis ist, bestehen: wegen der Aufzeigung des Samsara, wie sie in den Worten geschieht (Kath. 5,7):

„In einen Mutterschoß gelangend die einen werden körperhaft;
in eine Pflanze andre fahren, je nach Verdienst und Wissenschaft."

„Denn sonst würde für jeden das bloße Sterben eine Vernichtung der Upadhis und ein definitiver Eingang in das Brahman sein; dann aber wäre der Gesetzeskanon zwecklos, und ebenso der Kanon des Wissens. Aber die Bindung hat ihren Grund in der falschen Erkenntnis und kann daher nicht anders als durch die universelle Erkenntnis gelöst werden. Darum ist, trotz des Ursprungs aus ihm, dieser Eingang in das Seiende, ebenso wie der beim Tiefschlafe und Weltuntergang, ein solcher, bei welchem ein Samen übrig bleibt und fortbesteht" (S. 1096,3-1097,3).

In Wahrheit ist dieser, den Vedatexten zuliebe festgehaltene Eingang des Sterbenden in das Brahman ein bloßer Durchgang durch dasselbe, und nicht einmal dieses: denn das System, als solches, weiß von ihm nichts, sondern lässt die Seelen nach dem Tode unmittelbar teils auf dem Pitriyana zum Monde, teils in die Hölle, teils endlich auf dem Devayana in das [niedere] Brahman gelangen.

Auf allen diesen Wegen wird die Seele von dem feinen Leibe begleitet; denn derselbe bleibt, wie wir eben sahen, so lange bestehen, wie der Samsara, dieser aber ist von Ewigkeit her vorhanden (S. 301 fg.) und währt bis zur Erlösung, woraus folgt, dass die Seele, wie mit den Organen (S. 336), so auch mit dem feinen Leibe von Ewigkeit her umkleidet ist und es so lange bleibt, bis ihr die universelle Erkenntnis, d. h. die esoterische Wissenschaft, zuteil wird. Hingegen befreit das exoterische Wissen, wie es auf dem Devayana in das niedere Brahman hinaufführt, noch nicht von dem feinen Leibe. Zwar, da dieser feine Leib ein Sichstützen der Seele auf die Elemente ist, dieses Sichstützen zum Zwecke der Wiedergeburt geschieht, die Wiedergeburt aber bei dem (exoterisch) Wissenden nicht mehr statt hat, sofern er nach der Schrift die Unsterblichkeit (das nicht mehr sterben Können, S. 160. 309) erlangt, so könnte man meinen, nur der Nichtwissende ziehe (mit dem feinen Leibe bekleidet.) aus (S. 1094,12); dem ist aber nicht so: vielmehr ist. beim Nichtwissenden und (axeterisch) Wissenden alles gleich bis auf die Verschiedenheit des Weges, den sie einschlagen; der Nichtwissende geht mit dem feinen Leibe zu neuer Verkörperung, der (exoterisch) Wissende auf seinem besondern Wege zur Unsterblichkeit (S. 1095,10); zwar ist die Unsterblichkeit im vollen Sinne des Wortes nicht der Aufenthalt an einem bestimmten Orte, erfordert somit kein Hingehen und folglich auch kein materielles Substrat (S. 1095,13); aber die Unsterblichkeit des (exoterisch) Wissenden, um die es sich hier handelt, ist, da derselbe noch nicht alles Nichtwissen verbrannt hat, nur eine relative (Apekshika); daher zu ihr ein Hingehen, und, damit dieses möglich werde, der feine Leib als materieller Träger erforderlich ist, da ohne einen solchen ein Gehen nicht stattfinden kann (S. 1096,1).

Moralische Bestimmtheit der wandernden Seele

a) Vorbemerkung. Alle die bisher besprochenen Upadhis, mit welchen umkleidet die Seele auszieht (also: Indriyani, Manas, Mukhya Prana, Sukshmam Shariram), sind lauter indifferente, nicht individuell bestimmte Prinzipien, und auch die Seele selbst ist ein solches, da sie ihrem Wesen nach mit Brahman identisch und nur durch die Umkleidung mit den genannten Upadhis scheinbar von ihm verschieden ist. Somit ist die Seele mit allen ihren Organen ein völlig neutrales, keinerlei moralische Unterschiede an sich tragendes Ding, — ganz konsequent von indischem, und von jedem Standpunkte aus, der wie er das Wesen der Seele in das Erkennen und nicht in das Wollen setzt.

Woher aber nun die moralischen Bestimmtheiten, welche die Unterschiede der Charaktere, die Verschiedenheit der Wege ins Jenseits, den Gegensatz von Lohn und Strafe in der andern Welt und die Form der ihnen folgenden Wiedergeburt in dieser Welt bedingen? — Wir müssen für die ausziehende Seele außer dem eben beschriebenen elementaren Substrate (Bhuta-Ashraya) noch ein zweites, und zwar ein moralisches Substrat (Karma-Ashraya) annehmen, und beide werden, unter diesen Namen, von Shankara S. 1094,5 ausdrücklich unterschieden. Worin besteht nun dieses moralische Substrat, welches alle Unterschiede der Charaktere wie der Schicksale bedingt?

Wie alles Moralische, wird diese wichtige Frage (aus dem S. 61 angedeuteten Grunde) von Shankara sehr unzulänglich behandelt, und alles, was wir darüber finden, besteht in gelegentlichen Hindeutungen auf einige Schriftstellen, an die wir uns, den Intentionen unseres Autors gemäß, sonach zu halten haben.

b) Der Karma-Ashraya, nach 4,2,6, S. 1094. In Brih. 3,2,13 befragt der Sohn des Ritabhaga den Yajnavalkya: „«Yajnavalkya,» so sprach er, «wenn nach dem Tode eines Menschen seine Rede in das Feuer eingeht, sein Odem in den Wind, sein Auge in die Sonne, sein Manas in den Mond, sein Ohr in die Pole, sein Leib in die Erde; sein Atman in den Akasha, seine Leibhaare in die Kräuter, seine Haupthaare in die Bäume, sein Blut und Samen in das Wasser, — wo bleibt dann der Mensch?» — Da sprach „Yajnavalkya: «Fass mich, Artabhaga, mein Teurer, an der Hand; darüber müssen wir beiden unter uns allein uns verständigen, nicht hier in der Versammlung.» — Da gingen die beiden hinaus und beredeten sich; und was sie sprachen, das war Werk, und was sie priesen, das war Werk. —„Fürwahr, gut wird einer durch gutes Werk, böse durch böses." „Da schwieg des Ritabhaga Sohn." Zu dieser merkwürdigen Stelle, in der wir, wie es scheint, die Genesis der Seelenwanderungslehre selbst vor Augen haben, bemerkt Shankara nur (S. 1094,6), dass dieselbe auf die Werke nur das Hauptgewicht lege und somit das andere, materielle Substrat der Seele, den Bhuta-Ashraya, d. h. den feinen Leib, von dem a. a. O. die Rede ist, nicht ausschließe. Den Widerspruch, dass die Organe nach dieser Stelle in die Naturkräfte eingehen, während nach unserm Systeme die Seele dieselben in sich hineinzieht, beseitigt er in der Anm. 126, S. 399 angedeuteten Weise. — Im Übrigen gibt der Umstand, dass außer dem Shariram auch der Atman (nach Shank. freilich wäre er das Atma-Adhishthanam Hridaya-Akasham) sich auflöst, während das Karman fortbesteht, im Hinblick auf den Buddhismus vielerlei zu denken.

c) Vidya-Karma-Purvaprajno, nach 3,4,11. Von der Seele nach dem Tode heißt es Brih. 4,4,2 (übersetzt S. 208): „dann nehmen sie das Wissen und die Werke bei der Hand und ihre neuerworbene Erfahrung," — letzteres, sofern wir Apurvaprajna lesen und schon hier den Begriff des Apurvam finden dürfen, von dem sogleich weiter die Rede sein wird. Shankara allerdings liest (S. 740,4. 1091,9) Purvaprajna, „die vorherige Erfahrung" (welche er ad Brih. S. 843 als Purva-Anubhuta-Vishaya Prajna, „das Bewusstsein des früher Erlebten", auffasst). Den Gegensatz von Wissen und Werk erklärt er 3,4,11 zuerst im Anschluss an das Sutram dahin, dass die einen (die auf dem Devayana gehen) vom Wissen, die andern (bei denen durch den Pitriyana die Wanderung sich fortsetzt) vom Werke bei der Hand genommen werden (S. 984,4); dann aber besinnt er sich darauf, dass hier noch nicht von der Erlösung (zu der ja auch der Devayana führt), sondern nur vom Samsara die Rede sei, und erklärt, im Einklang mit seinem Kommentare zu Brih. 4,4,2, dass es sich nur um ein den Samsara betreffendes Wissen handele, dass somit unter Vidya hier „gebotenes und verbotenes Wissen" (Govinda führt als Beispiele für ersteres den Udgitha, für letzteres Nagna-Stri-Darshanam an), sowie unter Karman die Ausübung von Gebotenem und Verbotenem zu verstehen sei (S. 984,9). Unter Purvaprajna versteht er ad Brih. 1. c., wie schon bemerkt, die vorherige Erfahrung" und erklärt sie als Eindrücke (Vasana), welche die Dinge in der Seele hinterlassen, und auf denen die angeborenen Fertigkeiten im künstlerischen Tun (er nennt als Beispiel das Talent zur Malerei) wie auch vielleicht im moralischen handeln beruhen", — letzteres, wenn wir Vishaya-Upabhogeshu und Karmani (ad Brih. S. 844,5.7) so verstehen dürfen, worin allerdings der für uns so wichtige Begriff einer angeborenen Bestimmtheit des moralischen Charakters nur vorübergehend gestreift, nicht deutlich entwickelt wird.

d) Pas Apurvam, nach 3,2.38-41. 3,1,6. In der endlosen Kette der Seelenwanderung ist jeder neue Lebenslauf seinem Tun und Leiden nach bedingt durch die Werke in dem vorhergehenden Leben; diese also sind es, welche die Wendungen im Schicksal der Seele herbeiführen, welche als ein neues Moment, als „ein früher nicht Dagewesenes" Apurvam) eingreifen (wiewohl auch sie, nach der Konsequenz des Systems, vgl. S. 347, durch den ihnen vorhergehenden Lebenslauf nezessitiert werden). Dieser Begriff des Apurvam gehört, der Karmamimansa-Schule an und ist für sie das metaphysische Band zwischen dem Werke und seiner Vergeltung, dasjenige, was fortbesteht, während das Werk vergangen, und die Frucht desselben noch nicht eingetreten ist. „Es ist nicht möglich", so wird die Meinung des Jaimini in unserm Werke S. 841.0 resümiert, „dass das vorhergehende Werk die in der Zukunft verborgene Frucht trägt, ohne dass es ein bestimmtes Apurvam aus sich hervorgehen lässt. Also gewisse feine Fortbestände des Werkes oder Vorausbestände der Frucht, die heißen Apurvam." Dieser Begriff des Apurvam wird nun an der angeführten Stelle von Shankara insofern bekämpft, als der Vedanta die Vergeltung in die Hand Gottes legt (vgl. darüber S. 301. 348); das Apurvam ist ein Ungeistiges und kann somit, ohne von einem Geistigen bewegt zu werden, nicht wirken (S. 840,2); daher kann aus dem bloßen Apurvam die Frucht nicht erklärt werden (S. 842,1); „mag er dabei auf das Werk Rücksicht nehmen, oder auf das Apurvam Rücksicht nehmen, wie dem auch sei, die Frucht kommt von Gott" (S. 842,2). Wir dürfen in dieser Stelle keine unbedingte Verwerfung des Apurvam finden, wenn wir uns nicht in Widerspruch setzen wollen mit 3,1,6, wo das Apurvam ohne weiteres als ein bekannter und anerkannter Begriff auftritt, um den Glauben, der nach der Fünf-Feuer-Lehre im ersten Feuer geopfert wird, zu erklären, und zwar in einer ganz andern Weise, als wir dies Kap. XXXI, 3, S. 401 gesehen haben.

e) Die Shraddha, nach 3,1,2.5.6. Die S. 401 mitgeteilte Erklärung des Glaubens (Shraddha) als „der Wasser, sofern sie die den Samen des Leibes bildenden Feinteile der Elemente repräsentieren," scheint allerdings sehr gezwungen; erstlich, weil die Vorstellung des die Seele begleitenden feinen Leibes in Brih., Chand. und überhaupt in den ältern Upanishaden, soweit wir sehen, noch gar nicht besteht; sodann, weil das indische Shraddha (ebenso wie, wohl unrichtig, von Lactant. inst. 4,28 das lateinische religio) etymologisch auf den Begriff des Verknüpfens zurückgeführt wird und das Band zwischen dem Menschen und dem Jenseitigen bedeutet, somit eine moralische Erklärung zu fordern scheint. Eine solche bietet sich ungezwungen dar: denn es liegt sehr nahe, unter der Shraddha (welche Shankara ad Prashna, S. 250,6, als Shubha-Karma-Pravritti-Hetu definiert) in Brih. und Chand. a. a. O. die von dem Glauben getragenen Werke des Menschen, wie sie sein Wohl und Wehe im Jenseits bedingen, zu verstehen; und eben diese Erklärung bietet auch Shankara, wodurch er sich mit sich selbst in unvereinbaren Widerspruch setzt. Nachdem er nämlich S. 747 die oben S. 401 mitgeteilte Erklärung des Glaubens als der Wasser, sofern sie den feinen Leib bedeuten, gegeben hat, erklärt er unmittelbar darauf S. 747,7 sq. den Glauben als die Wasser, sofern sie, beim Opfern aufsteigend, der Träger der vom Glauben bedingten Werke sind; — dort also waren sie das Gewand der Verstorbenen, hier sind sie der moralische Schatz, welchen die noch lebenden Opfernden sich durch ihre Werke im Himmel sammeln: „also die aus der Opferspende bestehenden Wasser, denen das vom Glauben bedingte Werk inhäriert, diese, in der Gestalt des Apurvam, umkleiden die das Opfer darbringenden Seelen und führen sie, zum Empfange des Lohnes, in jene Welt" (S. 748,10); ebenso erklärt Shankara die Shraddha, S. 743,16, als die Karma-Samavayinya Apas und zwei Zeilen weiter wieder als die Deha-Vijani Bhuta-Sukshmani. Hierdurch werden alle Auseinandersetzungen in 3,1,1-6 sehr ins Unklare gerückt und machen den Eindruck, nicht sowohl als wenn sie von zwei verschiedenen Händen herrührten, sondern vielmehr, als wenn eine Hand bemüht wäre, zwei unvereinbare Auffassungen zugleich festzuhalten und zu einem scheinbaren Ganzen zu verarbeiten.

Der Weg ins Jenseits, nach 4,2,17

Nachdem die Seele in der eben beschriebenen Weise ihre Fühlhörner, die Organe, in sich hereingezogen hat, so geht sie (nach Brih. 4,4,1) ein in das Herz (in welchem sie, nach S. 335, allerdings schon ist); „alsdann wird die Spitze des Herzens leuchtend; aus dieser, nachdem sie leuchtend geworden, ziehet die Seele aus, sei es durch das Auge, oder durch den Schädel, oder durch andere Körperteile" (Brih. 4,4.2, S. 207); bis zu diesem Momente, wo die Spitze des Herzens leuchtend wird und dadurch den Weg erhellt (S.1104,9), ist alles für den Nichtwissenden und (exoterisch) Wissenden gemeinsam; hier aber scheidet sich der Weg, indem die Wissenden durch den Kopf, die Nichtwissenden durch andere Körperteile ausziehen (S. 1104,10), denn so sagt die Schrift (Chand. 8,6,6 = Kath. 6,16):

„Hundert und eine sind des Herzens Adern.
Von diesen leitet eine nach dem Haupte.
Unsterblichkeit erreicht, wer durch sie aufsteigt:
Nach allen Seiten Ausgang sind die andere."

Während also der Wissende durch die 101. Ader aufsteigt, um den Götterpfad zu gehen, der, als der exoterische Weg zur Erlösung, uns im folgenden Teile weiter beschäftigen wird, so fahren die andern durch andere Adern aus (S. 1105,3). Die weitern Stationen des Pitriyana, über welche Badarayana und Shankara nichts Näheres angeben, sind nach der Fünf-Feuer-Lehre der Reihe nach folgende: 1) der Rauch, während der Devayana durch die Flamme führt. Unter beiden scheint ursprünglich Rauch und Flamme des Leichenfeuers verstanden worden zu sein (wiewohl schon Chand. 4,15,5, übersetzt S. 178, der Eingang in die Arcis, Strahl oder besser Flamme, von der Begehung der Leichenfeier unabhängig gemacht wird); in unserm Werke, welches den Auszug der Seele nicht hei der Verbrennung, sondern schon beim Erkalten des Leichnams stattfinden lässt (S. 402), erklärt Shankara die „Flamme" (Arcis), wie wir später sehen werden, als die der Flamme vorstehende Gottheit", und dementsprechend wird in den Kommentaren ad Brih. S. 10:1:),11.. Chand. S. 341,13 auch der „Rauch" als die Gottheit des Rauches aufgefasst. — Auch die folgenden Stationen: 2) die Nacht, 3) die Monatshälfte, wo der Mond abnimmt, 4) die Jahreshälfte, wo die Tage abnehmen, werden auf die Gottheiten dieser Erscheinungen bezogen. Wir werden uns dieselben hier nicht als Zeitphasen, sondern räumlich als übereinander liegende Schichten zu denken haben, durch welche die Seele emporsteigt, um zu den folgenden Stationen zu gelangen; diese sind: 5) die Väterwelt, 6) (nur Chand.) der Äther, 7) der Mond, auf welchem die Vergeltung stattfindet unter den Einschränkungen, von welchen wir nunmehr zu handeln haben.

Siehe auch

Literatur

  • Vedanta für Anfänger von Swami Sivananda
  • Vedanta - Der Ozean der Weisheit von Swami Vivekananda
  • Paul Deussen: Das System des Vedanta, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906.
  • Soami Divyanand: Vedamrit - Die Botschaft der Veden. ISBN 3-926696-03-6 (Übersetzung der Veden auf Deutsch, Bd. 1); ISBN 3-926696-13-3 (Bd. 2); ISBN 3-926696-26-5 (Bd. 3)
  • Wilfried Huchzermeyer: Die heiligen Schriften Indiens - Geschichte der Sanskrit-Literatur. (edition-sawitri.de) ISBN 3-931172-22-8
  • Moritz Winternitz: Geschichte der Indischen Literatur, Leipzig, 1905 - 1922, Vol. I - III. Reprint in englischer Übersetzung: Maurice Winternitz: History of Indian Literatur, Motilal Barnarsidass, Delhi, 1985.
  • Aurobindo: Das Geheimnis des Veda, 2. Auflage 1997, Hinder + Deelmann, ISBN 3-873481-65-0
  • Lokamanya Bâl Gangâdhar Tilak: Orion ou Recherches sur l'Antiquité des Védas, Milan, Éditions Archè, 1989

Weblinks

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