Göttin

Aus Yogawiki

Göttin - weibliche Form von Gott. Die Göttin wurde seit Urzeiten verehrt. Manche sagen, dass die Göttinnenverehrung die Urform von Religiösität ist. Durch das Wunder der Geburt erscheint die Frau als die Ur-Schöpferin. So verwundert es nicht, dass die Schöpfung als Ganzes als Ur-Göttin angesehen wurde. Die ganze Schöpfung als Göttin - jeder Teil ruht im Schoß der Göttin. Und die Göttin gebärt immer wieder aufs Neue.

Lakshmi ist die Göttin der Fülle

Die Göttin in Indien

In der indischen Mythologie spielt die Göttin eine besondere Rolle. Es gibt drei Hauptströmungen im Hinduismus: Shaivismus, Vaishnavismus und Shaktismus:

  • Im Shaivismus wird Shiva als Hauptgottheit verehrt - Kali, Durga, Parvati, Shakti sind Namen der Göttin, die Shiva zur Seite steht
  • Im Vaishnavismus wird Vishnu als Hauptgottheit verehrt - und an seiner Seite Lakshmi als die Göttin. Vishnu inkarniert sich immer wieder - die bekanntesten Avatare sind Krishna und Rama. Krishna hat an seiner Seite Radha, Inkarnation der Göttin. Rama hat an seiner Seite Sita, Inkarnation von Lakshmi.
  • Im Shaktismus, auch Tantra genannt, ist die Göttin am wichtigsten. Sie wird als Devi und als Shakti, also als die Strahlende Göttin (Devi) und Kosmische Energie (Shakti) bezeichnet. Im Shaktismus nimmt die Göttin viele Gestalten an: Kali, Durga, Lakshmi, Saraswati, Gayatri...
Shakti als Durga Mahisasuramardini

Indische Mythen und Symbole - Kapitel 5: Die Göttin

Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993

Teil 1: Die Entstehung der Göttin

Die Legende von Kirttimukha zeigt uns, wie die gewaltsame Erregung eines Gottes in Form eines selbständigen Ungeheuers herausprojiziert oder externalisiert werden kann. Von solchen Erscheinungen überquillt es in den mythologischen Annalen Indiens. Shivas zerstörerische Gewalt ist rings um ihn herum in der Horde seiner zornvollen »Heerschar« niedergeschlagen, einem Schwarm kleinerer Shivas, die als »Rudras« nach der vedischen Bezeichnung des Gottes bekannt sind. Die Wut Devis, der Höchsten Göttin, kann als verschlingender Löwe oder Tiger projeziert werden. Eine Râjputmalerei des 17. Jh. zeigt sie als schwarze Dämonin, im menschenzerstörenden Zorn über ein Schlachtfeld dahingeifernd. Es handelt sich hier um eine Materialisation des vernichtenden Aspektes der Weltenmutter. Auf gleiche Weise kann sich ein Fluch personifizieren. Nach einer berühmten Mythe, die sich in Indien unter den nachvedischen brahmanischen Theologen entwickelte, machte sich der König der Götter, Indra, einer schrecklichen Sünde schuldig, als er den gliedlosen Drachen Vritra erschlug, um die Wasser des Kosmos aus seinen Schlingen zu lösen. Indem sie die Götter und Titanen unter die Angehörigen der Brahmanenkaste rechneten, behaupteten die späteren Kommentatoren, daß Indra mit der Vernichtung Vritras sich des abscheulichsten aller überhaupt möglichen Verbrechen schuldig gemacht hätte, nämlich der Tötung eines Brahmanen. Ein Mythos entstand, der den Gott-Helden durch einen unversöhnlichen weiblichen Oger verfolgt zeigt, der den Fluch seines Verbrechens verkörpert.

Dieses Prinzip der Projektion oder Externalisierung wird herangezogen, um die erste Erscheinung der Göttin selbst zu erklären, und zwar in einem herrlichen Mythos, überliefert in »Der Schrift von der wunderbaren Wesenheit der Göttin« (Devi Mahatmya - Markandeya Purana, 81-93. Diese Purana ist die berühmteste der vielen Mythensammlungen, die den Charakter und die Taten der Göttin beschreiben). Sie wird als unbesiegbare, wunderbare Kriegermaid beschrieben, die aus dem vereinigten Zorn aller zum Rat versammelten Götter ins Dasein trat. Dieses Wunder geschah gelegentlich eines jener dunklen Augenblicke für die Götter, als wieder ein tyrannischer Dämon die Welt zu vernichten drohte. Diesmal waren nicht einmal Vishnu oder Shiva zur Hilfe imstande. Der Titan war ein kolossales Ungeheuer in Form eines furchtbaren Büffelstieres namens Mahisha. Von Brahma geführt hatten die Götter ihre Zuflucht zu Vishnu und Shiva genommen. Sie hatten von dem Angriff des siegreichen Dämons berichtet und den Beistand des zweifältigen Allerhöchsten erfleht. Vishnu und Shiva schwollen von Zorn. Auch die anderen Götter waren von der Macht ihrer Entrüstung erfüllt. Da geschah es, daß ihre ungemessenen Kräfte als Feuer aus ihrem Mund brachen. Vishnu, Shiva und alle Götter, jeder nach seiner Natur, sandten ihre Energien in Gestalt von Feuerwirbeln und -strömen aus. Diese Feuer rannen alle zusammen und vereinigten sich zu einer flammenden Wolke, die wuchs und wuchs und sich zugleich verdichtete. Schließlich nahm sie die Gestalt der Göttin an, die mit achtzehn Armen bewehrt war.

Als sie diese so sehr verheißungsvolle Personifikation der höchsten Energie des Alls erblickten, diese wunderbare Verschmelzung all ihrer Kräfte, jubelten die Götter und zollten ihr als ihrer aller Hoffnung ihre Verehrung. In ihr, »der schönsten Maid der drei Städte« (Tripurasundari), dem ewigen, uranfänglichen Weiblichen erschienen all die gesonderten und begrenzter Kräfte ihrer verschiedenen Persönlichkeiten machtvoll integriert. Solch eine überwältigende Totalisierung bedeutete die Allmacht. Durch eine Gebärde vollkommener Hingabe und voll williger Selbstabdankung hatten sie ihre Energien zu der uranfänglichen Shakti, der Einen Kraft, der Quelle, zurückgewandt, aus der ursprünglich alles stammte, und das Ergebnis war nun eine große Erneuerung des ursprünglichen Zustands universaler Macht und Stärke. Als der Kosmos sich zuerst in ein System streng geschiedener Sphären und Kräfte entfaltete, wurde die Lebensenergie in einer Menge individueller Manifestationen aufgeteilt. Diese aber hatten nun ihre Kraft verloren. Ihrer aller Mutter, die Lebensenergie selbst als das uranfängliche mütterliche Prinzip, hatte sie in sich zurückgenommen und in den Allschoß wieder eingeschlungen. Nun stand sie bereit, aus der Fülle ihres Wesens zu handeln.

Durga Devi

Eine Handschriftenminiatur um 1800 n. Chr. zeigt »Die Entstehung der Göttin«. Sie stellt die Schar Götter dar, wie sie die kosmisch bedeutsame Gebärde des Verzichts, eines willentlichen Verzichts auf ihre jeweiligen männlichen Gewalten, auf das Königliche, Tapfere und Heldische vollziehen, damit der Titanendämon vernichtet werden möge. In die Hand der Höchsten Göttin überliefern sie ihre verschiedenen Waffen, Geräte, Ornamente und Embleme, die ihre partikularisierten Energien und Charakterzüge enthalten. Ihre ungleichartigen Naturen und unvereinbare Tatkraft lassen sie nun in die allumfassende Quelle, aus der sie einst entstiegen, zurückschmelzen. Im oberen linken Winkel wird Shiva, der Asket, gezeigt, wie er den Dreizack übergibt. Ihm gegenüber oben rechts steht der vierköpfige Brahma, der sich von seiner Almosenschale und der Handschrift der Veden mit ihrer magischen Weisheit trennt. Vorn in der Mitte sehen wir Kala, den Gott der Zeit, wie er der Göttin Schwert und Schild entgegenstreckt. Zu seiner Rechten steht der legendarische Vater der Göttin, der Bergkönig Himalaya, mit ihrem Reittier, dem Löwen.

Ein Relief des siebenten Jahrhunderts aus Mamallapuram in dem zarten und vergeistigten Pallava-Stil zeigt eine Darstellung der »Göttin, die den Büffel-Dämon erschlägt« (Devi Mahisasuramardini, siehe auch oben rechts). Die Werke aus dieser Pallava-Zeit sind trotz ihrer Kraft sanft und liebenswürdig. Selbst bei der Darstellung brutal-dramatischer Szenen wie des in Frage stehenden Kampfes suchen sie den Höhepunkt zu vermeiden und das Beabsichtigte mit Zurückhaltung und auf indirekte Weise zu vermitteln. Die Göttin wird hier im Vorgehen gezeigt, auf dem Löwen thronend und von den frohlockenden Göttern begleitet. Der gigantische und groteske Gegner weicht verdrießlich zurück. Der Endtriumph ist nicht abgebildet, aber ganz außer Frage. Die strahlende Amazone, mit den Waffen aller Götter gerüstet und von ihren Lobgesängen angespornt, ist die Repräsentation aller bejahenden Kräfte des Alls. Der Dämon ist schon ohne Hoffnung; sein massiver Kopf und seine Keule, Finsternis, Gewaltsamkeit und Groll verkörpernd, sind zum Fall bestimmt.

Nachdem sie erst das Heer des Titanen vernichtet hat, fing die Göttin die mächtige Büffelgestalt mit einer Schlinge. Der Dämon aber entsprang, indem er aus der Büffelgestalt in die eines Löwen schlüpfte. Sofort enthauptete die Göttin diesen, worauf Mahisha kraft seiner Mayafähigkeit zur Selbstverwandlung wieder entwischte und zwar nun in die Gestalt eines schwertbewehrten Helden. Unbarmherzig überschüttete die Göttin diese neue Verkörperung mit einem Schauer von Pfeilen. Aber plötzlich stand der Dämon als Elefant vor ihr, faßte mit seinem Rüssel nach ihr und ergriff sie. Schon zog er sie zu sich hin, als sie den Rüssel mit einem Schwertschlag abtrennte. Nun kehrte der Dämon zu seiner Lieblingsgestalt, der des Riesenbüffels, zurück, der das All mit dem Gestampf seiner Hufe erschütterte. Aber die Göttin lachte zornig und lachte auch weiter laut zu all seinen Tricks und Einfällen. Mitten im Zorn hielt sie dennoch einen Augenblick inne und hob heiter eine mit dem berauschenden, kraftspendenden Naß der göttlichen Lebenskraft gefüllte Schale an die Lippen. Und während sie an diesem unvergleichlichen Trank nippte, erglühten ihre Augen. Der Büffeldämon riß mit seinen Hörnern Gebirge aus und schleuderte sie verächtlich brüllend gegen sie. Sie aber ließ sie mit ihren Pfeilen zu Staub zerfallen. Laut rief sie dem brüllenden Ungeheuer zu: »Brülle nur! Brülle nur noch einen Augenblick, du Narr, während ich dies köstliche Getränk bis zur Neige schlürfe. Bald werden die Götter jubeln vor Freude, wenn du tot zu meinen Füßen liegst.«

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Noch während sie sprach, schwang sich die Göttin in die Luft und stieß von oben herab auf den Nacken des Dämons, schleuderte ihn zu Boden und durchbohrte ihn mit dem Dreizack. Noch einmal versuchte der Gegner, die Büffelform zu verlassen, indem er als Krieger mit einem Schwert aus ihrem Maule glitt. Aber er war erst halb draußen, als ihn die Göttin mit einem schnellen und furchtbaren Schlag enthauptete.

Diese lebhafte Reihenfolge von Verwandlungen bietet ein ausgezeichnetes Beispiel für den mythologischen Charakterzug der Externalisierung oder Projektion. Der Büffeldämon gebraucht seine Mayamacht, um seine vitale Energie in neue Formen zu projezieren. Seine Agressivität, sein Hochmut, sein Siegeswillen geben, um zu überleben, Gestalt nach Gestalt auf. Der jeweilige Charakter der Projektionen bestimmt sich nach der Art der im Spiel befindlichen Energie. Shivas Zorn nahm die Form Kirttimukhas an; der Zorn aller Götter brachte die unbesiegbare Göttin mit den vielen Armen hervor. So brechen nun die übernormalen Energien des Welttyrannen, die er durch jahrelange unmenschliche Strenge und Selbstbemeisterung gesammelt hat und die machtvoll genug sind, um die Götter zu entthronen und das All zu besiegen, schnell und geschickt in immer wieder neue Formen aus.

Wenn die Lebensenergie des Leibes und der Seele wachgerufen wird, strömt sie fort und wird externalisiert, sei es in zornigen oder segnenden, in dämonischen oder göttlichen Formen, je nach Art der Gelegenheit. Die Götter haben das Schlachtfeld des Alls mit solchen vorübergehenden Externalisationen oder Projektionen erfüllt. Mehr noch, das Universum selbst ist im Grunde nichts als eine solche Verwandlung — eine Verwandlung oder Externalisation des Absoluten. In den Shiva feiernden Legenden ist Shakti die Materialisierung der vitalen Macht ihres Gatten. Nach dem für Vishnu gültigen System ist »die Göttin« der menschengestaltige Widerpart zum kosmischen Goldlotos: Vishnu bringt den Lotoskelch hervor und beginnt so die Entwicklung, die Entfaltung der Weltsphären, die alsbald mit Geschöpfen bevölkert zu werden bestimmt sind, die ihrerseits wieder nur Energieumwandlungen sind. Wenn der ruhende Vishnu den Raum aus sich sendet und ihn dann mit dem Werde-Prozeß des Alls erfüllt, projeziert er einfach die Kräfte, die er in seinem Innern beherbergte. Der Weltprozeß ist die Materialisierung von Vishnus Traum.

Die Lektion kann aber auch psychologisch verstanden werden, als auf uns selbst bezogen, die wir keine Götter, sondern begrenzte Wesen sind. Die beständige Projektion und Externalisation unserer besonderen Shakti (Lebensenergie) ist unser »kleines Universum«. Sie ist unsere beschränkte Sphäre und unmittelbare Umgebung, alles was immer uns betrifft und berührt. Wir bevölkern und beleben die indifferente, neutrale Leinwand mit den Filmgestalten und -dramen der inneren Träume unserer Seele, und werden dann ihren dramatischen Ereignissen, Freuden und Unglücksfällen zur Beute. Die Welt, nicht wie sie an sich ist, sondern wie wir sie erfassen und auf sie reagieren, ist das Erzeugnis unserer eigenen Maya oder Verblendung. Diese kann als unsere eigene mehr oder weniger blinde Lebensenergie verstanden werden, die dämonische Gestalten und Erscheinungen hervorbringt und projeziert. So sind wir die Gefangenen unserer eigenen Maya-Shakti und des Filmes, den sie ununterbrochen produziert. Immer wenn wir in lebenswichtige, leidenschaftliche Probleme verwickelt und verstrickt sind, haben wir mit den Projektionen unserer eigenen Substanz zu tun. Es ist der Zauber der Maya; es ist der Zauber der schöpferischen, lebensschaffenden und lebenserhaltenden Energie; es ist der Zauber der Unwissenheit, des »Nicht-Besserwissens«.

So repräsentieren die Gestalten und Figuren, die von den erbitterten und gereizten Hindugöttern projeziert werden, eine sehr enthüllende psychologische Einsicht, ja selbst eine Philosophie und eine Metaphysik. Das Höchste Wesen ist der Herr und Meister der Maya. Der ganze Rest von uns aber — niedere Götter, Dämonen, menschliche Wesen — ist das Opfer unserer eigenen individuellen Maya. Wir fallen dem Zauber unserer eigenen Vitalität zur Beute, die uns mit ihrer Blindheit, Leidenschaft und ihren Besessenheiten ansteckt. Ihre Prozesse in unserer Psyche sind autonom, jenseits unserer Kontrolle; unsere Reaktionen darauf erzwungen. Unser Zustand ist so einer der Sklaverei und Gefangenschaft unter der lebenserhaltenden, das Leben vorwärtspeitschenden Zaubermacht Maya-Shaktis. Wenn dies nicht der Fall wäre, würden wir gar keine Individuen sein; wir würden weder Geschichte noch Biographie besitzen. Die eigentliche Essenz unseres persönlichen Lebens besteht in unserer Lebensillusion.

Seine persönliche Maya suggerierte Indra, an seine eigene Herrlichkeit zu glauben. So fühlte er sich verpflichtet, seinen Herrschersitz nach einem in seinen Dimensionen immer wachsenden Plan erbauen zu lassen. Den Menschen von dieser Zaubermacht, dieser Sklaverei seiner eigenen, ihm innewohnenden Shakti zu befreien, von dieser Maya der Zwecke und Bestrebungen seines Daseins, diesen glühenden Farben der Wünschbarkeit und der Furcht, des Schreckens und Entsetzens, die ihm die Gegenstände seiner Umgebung färben, ist das Hauptziel aller großen indischen Philosophien. Im Gegensatz zu den modernen Philosophien des Westens, die rein intellektuelle Bestrebungen zur Klärung, Benennung und Systematisierung des menschlichen Denkens darstellen, zielt die Weisheit Indiens, wie sie auf den das Denken übersteigenden Erfahrungen des Yoga aufgebaut ist, nach einer gänzlichen Verwandlung der menschlichen Natur und auf ein völlig neues Gewahrwerden sowohl des eigenen Selbstes wie der Welt. Indisches Denken möchte die Menschen aus dem zaubergebannten Annehmen der Projektionen und Externalisationen ihrer eigenen Shakti erlösen, aus den Hervorbringungen ihrer eigenen Maya, aus ihrer eigenen subjektiven, phänomenalen und Gefühls-»Wirklichkeit«. Wonach es strebt, ist die Verwandlung des Sklaven der Maya in einen Herrn der Maya, der mit dem Höchsten Wesen, mit Gott selbst, verglichen werden kann, wie er sich in Vishnu oder Shiva personifiziert. Indische Philosophie sucht ernsthaft und mit einem Willen zum Ergebnis, Menschen durch Yoga und Erleuchtung göttlich zu machen, und zwar göttlich noch über jene Gottheiten hinaus, die wie Indra unter dem Netz ihrer eigenen Maya wohnen bleiben.

Die Sinnbilder der indischen Kunst verkünden dieselbe Wahrheit wie die indische Philosophie und der indische Mythos. Sie bilden Wegzeichen entlang dem Pfad derselben Pilgerschaft, indem sie die Energien des Menschen zu demselben Ziel der Verwandlung lenken. Als Erforscher indischer Mythen und Symbole haben wir darum die abstrakten Vorstellungen der indischen philosophischen Lehren als eine Art intellektuellen Kommentars zu dem zu verstehen, was in den Gestalten und Vorbildern der Symbole und Kunstwerke kristallisiert und entfaltet dasteht. Umgekehrt haben wir die Symbole und Kunstwerke als den in Bilderschrift abgefaßten Text zu lesen, der Indiens im letzten wandellose Weisheit enthält.

Bei einem weiteren Beispiel müssen wir uns bemühen, den Sinn der eigentümlichen Haltung der Göttin bei der Tötung des Büffeldämons zu erfassen. Es handelt sich hier vielleicht um die großartigste Darstellung der Durga Mahishasura Mardini überhaupt. Das Werk gehört der klassischen javanischen Kunst an, die im achten Jahrhundert n. Chr. und in den folgenden Jahrhunderten von Südindien herüberkam. Ihre Samen wurden durch Einwanderer von der Malabarküste gebracht. Nicht nur für die javanische Kunst, sondern auch für die frühe Khmer-Kunst Kambodschas bildet der Pallava-Stil des eigentlichen Indiens das Muster und die schönsten der kolonialen Meisterwerke erreichen durchaus die Errungenschaften des Mutterlandes. Mehr, die eigentümlichen Tendenzen der Pallava-Kunst werden in den Zielen und dem Stil der klassischen Hindukunst Javas fortgesetzt. Die Elemente der Gewaltsamkeit und Grausamkeit werden vermieden, gemildert, herabgestimmt; das dramatische, den Höhepunkt betonende Element wird zu heiterer Größe sublimiert und die Sinnlichkeit zu spirituellem Charme und spiritueller Anmut verfeinert.

Der massige Leib eines Dämons wie der hitzige Büffeltyrann hier zeigt nichts von drohender Wildheit; er erscheint fast freundlich gedämpft. Der Titan ist so degradiert, daß er zu einem feinen Preisexemplar des braven, phlegmatischen, widerkäuenden Rindergeschlechtes wird. Und der verzweifelte Dämonenkrieger, der zum letzten Widerstand der Stiergestalt enttaucht, zeigt mit seiner kunstvollen Frisur eine groteske, weibliche Lieblichkeit. Er scheint völlig in seinen Untergang durch die Hand der Göttin ergeben.

Diese hat den Dämon an seinen Haaren ergriffen und ist dabei, den tötenden Schlag zu führen, den heldischen Hieb, der die Welt retten wird. Aber in den Zügen der großen Siegerin zeigt sich keine Spur zorniger Erregung; sie ist in die Heiterkeit ewiger Stille versunken. Obgleich die an Raum und Zeit gebundene Tat vollbracht werden muß, verkleinert der Ausdruck auf dem Antlitz der Göttin ihre Wichtigkeit, ja hebt sie auf. Für sie ist der ganze Lauf des Universums, einschließlich ihrer eigenen Erscheinung in der Rolle seiner Befreierin, nur ein Teil eines kosmischen Traumes, nur ein Einzelzug aus dem universalen Spiel der Maya.

Obgleich die Göttin als das höchste göttliche Wesen eine Gestalt annimmt, eine Rolle im Traumdrama des Alls ausfüllt und an einer entscheidenden Wendung des Stückes spielerisch die leitende Persönlichkeit verkörpert, verhält sie sich dennoch wie jemand es tun würde, der die Rolle des Helden in seinem eigenen Traum darstellt, während er völlig gewahr ist, daß er nur träumt. Grundsätzlich und bewußt bleibt diese göttliche Macht von ihrer eigenen triumphierenden Manifestierung ganz unbetroffen. Ihr erhabenes, kraftvolles und anmutiges Antlitz, so träumend und weit entrückt, ist in dieser Beziehung der rätselhaften Maske des tanzenden Shiva vergleichbar.

Siehe auch

Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?

  • Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
1.1 Die Parade der Ameisen
1.2 Das Rad der Wiedergeburten
1.3 Die Weisheit des Lebens
Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
2.1 Vishnus Maya
2.2 Die Wasser des Daseins
2.3 Die Wasser des Nichtseins
2.4 Maya in der indischen Kunst
Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
3.1 Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha
3.2 Gottheiten und ihre Träger
3.3 Schlange und Vogel
3.4 Vishnu als Besieger der Schlange
3.5 Der Lotos
3.6 Der Elefant
3.7 Heilige Flüsse
Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
4.1 Fundamentale Gestalt und spielende Manifestationen
4.2 Das Phänomen der expandierenden Gestalt
4.3 Shiva-Shakti
4.4 Der große Oberherr
4.5 Shivas Tanz
4.6 Das Antlitz der Glorie
4.7 Der Zerstörer der drei Städte
Kapitel 5: Die Göttin
5.1 Die Entstehung der Göttin
5.2 Die Juweleninsel

Literatur

Seminar

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