Bhedabhava
Bhedabhava (Sanskrit: भेदभाव, bhedabhāva, m.) bedeutet wörtlich „Zustand der Trennung“ oder „Bewusstsein der Getrenntheit“. In der Bhakti-Tradition beschreibt dieser Begriff die innere Erfahrung eines gläubigen Menschen (Bhakta), der Gott als nicht gegenwärtig empfindet – und gerade durch diese scheinbare Trennung eine intensive Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Göttlichen entwickelt.
Bhedabhava – die spirituelle Erfahrung der Trennung von Gott
- Sanskrit: भेदभाव (Bhedabhāva)
- Bedeutung: Bheda = Unterschied, Trennung, Verschiedenheit; Bhava = Gefühl, Zustand, Empfindung
- Übersetzung: „Gefühl der Trennung“, „Erfahrung der Getrenntheit von Gott“
In der spirituellen Psychologie des Bhakti Yoga gilt Bhedabhava als ein wichtiger innerer Zustand auf dem Weg zu göttlicher Vereinigung (Moksha).
Er beschreibt die Phase, in der der Bhakta das Göttliche zwar liebt, es aber nicht unmittelbar erfährt. Diese Abwesenheit wird als tiefer Schmerz des Herzens erlebt – doch genau dieser Schmerz wird zur spirituellen Glut, die die Seele zur höchsten Hingabe führt.
- „So wie ein Liebender die Nähe des Geliebten sucht, sucht der Bhakta in Bhedabhava den göttlichen Geliebten – bis die Trennung in göttlicher Einheit vergeht.“
Philosophische Bedeutung von Bhedabhava
Im philosophischen Sinn steht Bhedabhava für die Dualität zwischen Mensch und Gott, zwischen dem individuellen Selbst (Jiva) und dem universellen Selbst (Ishvara). Diese Wahrnehmung der Trennung entsteht durch Avidya (Unwissenheit) – das Vergessen der wahren Einheit des Seins.
Doch in der Bhakti-Tradition wird Bhedabhava nicht negativ, sondern als heilsamer Zustand verstanden. Denn ohne das Gefühl der Trennung gäbe es keine Sehnsucht, ohne Sehnsucht keine Liebe, und ohne Liebe keine Vereinigung.
- „Bhedabhava ist der Schatten, der das Licht der Einheit umso heller erscheinen lässt.“
Bhedabhava im Bhakti Yoga
Im Bhakti Yoga wird Bhedabhava als spirituelle Reifung verstanden. Es ist der Zustand, in dem der Suchende erkennt, dass er die göttliche Gegenwart nicht vollständig erfahren kann, weil noch Ego, Wünsche oder Unreinheiten bestehen.
Diese Erkenntnis führt jedoch nicht zu Verzweiflung, sondern zu einer tiefen Sehnsucht nach Gott (Premabhakti) – einer reinen, selbstlosen Liebe, die keine äußeren Beweise braucht.
Zwei Stufen von Bhedabhava:
- 1. Erfahrener Schmerz der Trennung (Viraha):
- Der Bhakta empfindet den Schmerz, Gott nicht zu sehen oder zu spüren.
- Diese Erfahrung wird zur reinigenden Kraft, die das Herz öffnet.
- 2. Transzendente Vereinigung (Samanvaya):
- Durch tiefe Hingabe wandelt sich der Schmerz in Glückseligkeit.
- Der Bhakta erkennt, dass Gott nie getrennt war – die Trennung war nur Illusion.
- „Bhedabhava reinigt das Herz, bis es fähig wird, den göttlichen Namen zu tragen.“
Bhedabhava in der Mystik – Beispiele aus den Bhakti-Traditionen
Radha und Krishna
In der Radha-Krishna-Tradition ist Bhedabhava das Herz der göttlichen Liebe. Radha, die Verkörperung der göttlichen Hingabe, erlebt die Trennung von Krishna als unendlichen Schmerz. Doch diese Trennung ist kein Mangel – sie ist die höchste Form der Verehrung, denn in jeder Träne, in jedem Atemzug ist die Erinnerung an das Göttliche lebendig.
- „Radhas Schmerz ist göttliche Süße – denn sie liebt, obwohl sie nicht besitzt.“
Mirabai
Auch Mirabai, die große Bhakti-Heilige Indiens, sang von der Trennung von ihrem göttlichen Geliebten Krishna. Ihr Leben war Ausdruck von Bhedabhava, denn sie verließ weltliche Bindungen, um in Liebe zu Gott aufzugehen.
Heilige aller Traditionen
Ähnliche Erfahrungen finden sich in der christlichen Mystik (zum Beispiel: bei Teresa von Ávila oder Johannes vom Kreuz), wo das Gefühl der „Gottesferne“ den inneren Ruf nach Vereinigung intensiviert.
Spirituelle Praxis zur Transformation von Bhedabhava
Bhedabhava ist kein Zustand, der überwunden werden soll, sondern bewusst erfahren und transformiert werden kann. Durch Praxis, Hingabe und Meditation verwandelt sich die Trennung in göttliche Einheit.
- 1. Bhakti Sadhana – Praktiken der Hingabe
- Kirtan und Mantrasingen: Wiederholung heiliger Namen (zum Beispiel: Om Namo Bhagavate Vasudevaya) löst emotionale Blockaden.
- Puja und Rituale: Verehrung der göttlichen Form als Spiegel der eigenen Sehnsucht.
- Gebet: Ausdruck der inneren Bitte um Nähe, Liebe und Führung.
- 2. Meditation über die göttliche Gegenwart
Setze dich in Stille und spüre:
- Auch wenn Gott nicht sichtbar ist – das Bewusstsein, das sucht, ist selbst göttlich.
- Diese Erkenntnis führt von Bhedabhava (Trennung) zu Abhedabhava (Einheit).
- 3. Selbstreflexion und Hingabe
Frage dich:
- „Wer sucht? Und wer ist der Gesuchte?“
- In der Tiefe erkennst du, dass der Suchende und das Gesuchte eins sind – Gott sucht sich selbst durch dich.
Bhedabhava als spirituelle Reinigung
Die Erfahrung der Trennung ist wie ein Feuer, das das Herz läutert. Sie befreit von Anhaftung, Stolz und spiritueller Selbstzufriedenheit. Wenn der Bhakta bereit ist, diesen inneren Schmerz zu tragen, öffnet sich das Herz für bedingungslose göttliche Liebe (Prema Bhakti).
- „Bhedabhava ist wie das Salz im Meer der Liebe – es brennt, aber ohne es schmeckt die Liebe nicht vollkommen.“
Fazit: Bhedabhava – die heilige Sehnsucht nach dem Göttlichen
Bhedabhava ist die heilige Spannung zwischen Trennung und Einheit, der Zustand, in dem die Seele Gott sucht, obwohl sie nie getrennt war. Diese Erfahrung ist nicht Schwäche, sondern Ausdruck tiefer göttlicher Liebe. Sie führt den Menschen über Emotion und Verstand hinaus zur Verschmelzung mit dem Absoluten.
- „In der Tiefe des Bhedabhava ruft die Seele nach dem Göttlichen – und in diesem Ruf geschieht die Vereinigung.“