Veda

Aus Yogawiki
Es heißt, Brahma hält die Veden in einer Hand.

Einiges über den Veda

Artikel aus dem Buch „Das System des Vedanta“ von Paul Deussen, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906.

Der große, noch nicht völlig zu übersehende Schriftenkomplex, welcher den Namen Veda, d.h. "das (theologische) Wissen" führt, und dessen Umfang den der Bibel wohl mehr als sechs Mal übertreffen mag, gliedert sich zunächst in vier Abteilungen, den Rigveda, Samaveda, Yajurveda und Atharvaveda; bei jedem dieser vier Veden haben wir drei nach Inhalt, Darstellungsform und Zeitalter verschiedene Schriftgattungen zu unterscheiden: 1) die Samhita, 2) das Brahmanam, 3) das Sutram; endlich sind die meisten dieser zwölf Abteilungen, je nach den Schulen, denen sie zum Studium dienten, in verschiedenen, mehr oder weniger abweichenden Redaktionen vorhanden, welche man gewöhnlich als die Shakhas, d. h. als "die Zweige" des Vedabaumes bezeichnet.

Zum Verständnisse dieser komplizierten Verhältnisse wird es förderlich sein, zu unterscheiden zwischen der Gestalt, in welcher der Veda gegenwärtig vorliegt, und dem historischen Entwicklungsgange, durch welchen er zu dieser Gestalt erwachsen ist.

Der literarische Bestand des Veda

Zunächst nun sind die vier Veden in der Form, wie sie uns entgegentreten, nichts anderes als die Manuale der brahmanischen Priester (Ritvij), welche diesen das zum Opferkultus erforderliche Material an Hymnen und Sprüchen an die Hand geben, sowie den rechten Gebrauch desselben lehren sollen. Zu einer vollständigen Opferhandlung nämlich gehören vier, ihrem Studiengange und Amte nach verschiedene Hauptpriester: 1) der Hotar, welcher die Verse (Ric) der Hymnen rezitiert, um dadurch die Götter zum Genusse des Soma oder sonstigen Opfers einzuladen, 2) der Udgatar, der die Bereitung und Darbringung des Soma mit seinem Gesange (Saman) begleitet, 3) der Adhvaryu, welcher die heilige Handlung vollzieht, während er die entsprechenden Verse und Opfersprüche (Yajus) hermurmelt, 4) der Brahman, dem die Beaufsichtigung und Leitung des Ganzen obliegt.

Das kanonische Buch für den Hotar ist der Rigveda (wiewohl die Rigveda Samhita schon von Haus aus eine weiter greifende, nicht bloß rituelle, sondern literarische Bedeutung hat), das für den Udgatar der Samaveda, das für den Adhvaryu der Yajurveda, während hingegen der Atharvaveda mit dem Brahman, der alle drei Veden kennen muss, eigentlich nichts zu tun hat und sich nur zum Scheine in Beziehung zu demselben setzt, um seiner Erhebung zur Dignität eines vierten Veda, die ihm lange Zeit verweigert wurde, Vorschub zu leisten. Praktische Verwendung findet derselbe einerseits beim häuslichen Kultus (Geburt, Hochzeit, Totenbestattung, Krankheiten, Erntesegen, Viehbesprechungen usw.), andererseits bei gewissen Staatsaktionen (Königsweihe, Schlachtsegen, Verwünschung der Feinde usw.); in letzterer Hinsicht ist er der Veda der Kshatriya Kaste, wie die drei anderen Veden die der Brahmanen sind, und mag in einem ähnlichen Verhältnisse zum Purohita (Hauspriester des Fürsten) gestanden haben, wie jene zu den Ritvijs (vgl. Yajnavalkya 1,312).

Jeder der genannten Priester bedarf bei seinen Verrichtungen zweierlei, eine Sammlung von Gebetsformeln (Mantra) und eine Anweisung zur richtigen liturgischen und rituellen Verwendung derselben (Brahmanam). Beide finden wir, mit Ausnahme des schwarzen Yajurveda, mehr oder weniger streng voneinander gesondert und in zwei verschiedene Abteilungen verwiesen.

I. Die Samhita jedes Veda ist, wie der Name besagt, eine „Sammlung" der ihm zugehörigen Mantras, welche entweder Verse (Ric) oder Gesänge (Saman) oder Opfersprüche (Yajus) sind. So besteht die Rigveda Samhita aus 1017 Hymnen in 10580 Versen, aus welchen der Hotar den für den jedesmaligen Zweck erforderlichen Preisruf (Shastram) zusammenzustellen hat; die Samaveda Samhita enthält eine, wenn nicht aus der Rigveda Samhita, so doch aus dem dieser zugrunde liegenden Materiale getroffene Auswahl von 1549 (oder mit den Wiederholungen 1810) Versen, welche bis auf 78 sämtlich auch im Rigveda sich vorfinden und zum Zwecke des Gesanges (Saman) weiterhin in mannigfacher Weise moduliert werden. Die Samhita des weißen Yajurveda enthält teils Opfersprüche (Yajus) in Prosa, teils Verse, welche letztere ebenfalls größtenteils aus dem Materiale der Rigveda Samhita, entnommen sind. Hingegen besteht die Atharvaveda Samhita wiederum aus 760 Hymnen, von denen nur etwa ein Sechstel ihr mit dem Rigveda gemeinsam ist, während die übrigen eine selbständige, in vieler Hinsicht ganz eigentümliche Stellung in dem Ganzen der vedischen Mantra-Literatur einnehmen. Jede dieser vier Samhitas ist, je nach den Shakhas oder Schulen, in denen sie studiert wurde, in verschiedenen Rezensionen vorhanden, welche jedoch in der Regel nicht erheblich voneinander abweichen. Anders ist es, wie sogleich zu zeigen, mit der zweiten Abteilung der vedischen Literatur.

II. Das Brahmanam, dessen nächste Bestimmung im allgemeinen die ist, den praktischen Gebrauch des in der Samhita vorliegenden Materiales zu lehren, geht in seiner meist sehr breiten Anlage weit über diesen unmittelbaren Zweck hinaus und zieht mancherlei in seinen Bereich, was man (mit Madhusudana) unter den drei Kategorien Vidhi, Arthavada und Vedanta unterbringen kann.

  • 1) Als Vidhi (d. h. Vorschrift) befiehlt das Brahmanam die Zeremonie, erörtert ihre Veranlassung sowie die Mittel zu ihrer Ausführung und schildert endlich den Gang der heiligen Handlung selbst.
  • 2) Hieran schließen sich unter dem Namen Arthaveda (d. h. Erklärung) die mannigfachsten Erörterungen, welche den Inhalt der Vorschrift exegetisch, polemisch, mythologisch, dogmatisch usw. begründen sollen. 3) Hierbei erhebt sich nun die Betrachtung zu Gedanken philosophischer Art, welche, weil sie meist gegen Ende der Brahmanas vorkommen, Vednnta (d. h. Veda-Ende) heißen. Sie sind der wesentliche Inhalt der Nachträge zu den Brahmanas, welche Aranyakas heißen, und deren ursprüngliche (wiewohl nicht streng durchgeführte) Bestimmung gewesen zu sein scheint, für das Leben im Walde (Aranyam), welchem der Brahmane im Greisenalter obliegen soll, einen Ersatz für den, wenn nicht ganz wegfallenden, so doch wesentlich beschränkten Kultus zu bieten. Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass wir in ihnen vielfach eine wundersame Vergeistigung des Opferkultus antreffen: An die Stelle der praktischen Ausführung der Zeremonie tritt die Meditation über dieselbe und mit ihr eine symbolische Umdeutung, welche dann weiter zu den erhabensten Gedanken hinüberleitet.

Die wichtigsten Stücke dieser Aranyakas hob man später unter dem Namen Upanishad aus ihnen heraus und fasste sie aus den verschiedenen veden zu einem Ganzen zusammen: Ursprünglich aber hat, wie wir annehmen müssen, jede Vedaschule ihr besonderes rituelles und daneben ein mehr oder weniger reiches dogmatisches Textbuch gehabt, und wenn wirklich, wie die Muktika Upanishad (Ind. St. III, 324) behauptet, 21 + 1000 + 109 + 50 = 1180 Shakhas bestanden hätten, so müsste es auch, wie sie daraus folgert, 1180 Upanishads gegeben haben. In Wirklichkeit stellt sich jedoch die Sache viel einfacher dar, sofern die Anzahl der Shakhas, die wir wirklich kennen, sich für jeden Veda auf einige wenige beschränkt, deren Textbücher den gemeinsamen rituellen und dogmatischen Stoff in verschiedener Anordnung, Bearbeitung und Ausführung darbieten. So sind uns zum Rigveda nur zwei Chakas näher bekannt, die der Aitareyins und die der Kaushitakins, deren jede ein Brathmanam und ein Aranyakam besitzt, welches letztere die Upanishad der Schule einschließt. — Zum Samaveda kennen wir für die Brahmana-Abteilung bis jetzt genau und vollständig nur eine Chakha, die der Tandins, auf welche folgende Schriften zurückgehen:

  • a) das Paucavinca Brahmanam,
  • b) das Shadvinsha Brahmanam, welches sich schon durch den Namen als einen Nachtrag dazu zu erkennen gibt,
  • c) auch das noch nicht näher bekannte Chandogya Brahmanam dürfen wir wohl der Schule der Tandins zuweisen, sofern Shankara, p. 892,9, unter ihrem Namen eine Stelle zitiert, welche nach Rajendralala Mitra (The Chandogya-Upanishad, Introduction, p. 17 N.) den Anfang des Chandogya Brhmanam bildet,
  • d) endlich zitiert Shankara wiederholt die Chandogya Upanishad als die der Tandins; so Chandogya 3,1(3 (zitiert p. 889,10. 890,8) 8,13,1 (p. 899,3. 907,7. 908,5) 6,8,7 (p. 923,8).

Ein zweites selbständiges Ritualbuch zum Samaveda ist möglicherweise das Talavakara Brahmanam der Jaiminiya Chakha (vgl. die Mitteilungen Shankaras zur Kena Upanishad, p. 28, und Burnells bei Müller, Upanishads I, p. XC), nach Burnell in fünf Adhyayas, deren vorletzter die bekannte kleine Kena Upanishad enthält (zitiert p. 70,1.4.10. 163,3. 808,10), während der letzte aus dem Arsheya Brahmanam besteht (zitiert p. 301,8). Die vier übrigen Brahmanass des Samaveda (Samavidhana, Vansha, Deratadhyaya, Samhitopanishad) können auf den Namen selbständiger Textbücher von Schulen keinen Anspruch machen. — Beim Yajurveda haben wir zwei Formen zu unterscheiden, den schwarzen (d. h. ungeordneten) und den weißen (geordneten) Yajurveda. Jener enthält den Brahmana-artigen Stoff mit den Mantras verbunden bereits in der Samhita. In solcher Form haben uns den Yajurveda die Schulen der Taittiriyakas (deren Brahmanam und Aranyakam bloße Fortsetzungen der Samhita sind), der Kathas und der Maitrayaniyas überliefert.

Das Taittiriya Aranyakam enthält am Schluss zwei Upanishaden, die Taittiriya- (Buch VII. VIII. IX) und die Narayaniya Upanishad (Buch X). Zur Schule der Kathass gehört die Kathaka Upanishad, die heute nur noch in einer Atharva Rezension vorhanden ist, während sie zu Shankaras Zeit noch mit den übrigen Texten der Kathas ein Ganzes gebildet zu haben scheint, worüber später; unter dem Namen Maitri Upanishad ist uns ein spätes Produkt von sehr apokryphem Charakter erhalten; den Namen einer vierten Shaka des schwarzen Yajurveda, der Shvetâshvataras, trägt eine metrisch abgefasste Upanishad sekundären Ursprungs, welche jedoch vielfach von Shankara als „Shvetashvataranam Mantropanishad" (p. 110,5, vgl. 416,1. 920,4) und dem Anscheine nach auch schon von Badarayana (1,1,11. 1,4,8. 2,3,22) zitiert wird.

Im Gegensatze zu den Chakhas des schwarzen Yajurveda haben die Vajasaneyins, die Hauptschule des weißen Yajurveda, nach Art der übrigen Veden Mantras und Brahmanas gesondert; erstere sind in der Vajasaneyi Samhita zusammengefasst, letztere bilden den Inhalt des Chatapatha Brahmanam, dessen letzter Teil (B. XIV) die größte und schönste aller Upanishaden, das Brihad Aranyakam enthält. Ein ihr nahe verwandtes Stück ist wohl nur wegen seiner metrischen Form der Vajasaneyi Samhita als Buch XL, angehängt worden und heißt, nach dem Anfangsworte, die Isha Upanishad. Im Kanon des Anquetil Duperron werden noch vier andere Stücke derselben Samhita, Shatarudriyam (B. XVI), Purushasutktam (XXXI), Tadeva (XXXII), und Shivasamkalpa (XXXIV, Anfang) als Upanishaden aufgeführt.

Neben den Vajasaneyis zitiert Shankara dreizehn Mal eine andere Schule des weißen Yajurveda, die Jahalas; neun dieser Zitate (p. 222,8. 223,1. 417,11. 988,8 — 991,4. 999,4. 1000,1.3. 1025,8) finden sich, mit erheblichen Varianten, in der heute den Atharva Upanishaden eingereihten Jaba1as Upanishad wieder, vier andere (924,7. 1059,1. 931,4. 933,4) hingegen nicht, so dass, wie es scheint, dem Shankara ein vollständigeres Werk dieser Schule vorgelegen hat. Ob Badarayana dieselbe (1,2.32. 4,1,3) zitiert, bleibt ungewiss.

Zum Atharvaveda gehört das Gopatha Brahmanam, ein Werk von vorwiegend kompilatorischem Charakter und ohne nähere Beziehungen zur Atharva Samhita. Bei Shankara finden wir kein Zitat aus demselben; vielmehr lässt sich vielleicht aus dem Umstande, dass er zu 3,3,24, p. 889 fg., nicht auch Gopatha-br. II. 5,4 berücksichtigt, wahrscheinlich machen, dass er dieses Werk nicht kannte oder nicht anerkannte. Endlich haben sich an den Atharvaveda, der wohl nicht in dem Grade wie die anderen Veden durch zünftige Überwachung vor neuen Eindringlingen geschützt sein mochte, eine lange Reihe meist kurzer Upanishaden angeschlossen, von denen viele einen ganz apokryphen Charakter haben und nichts anderes als die Textbücher späterer indischer Sekten sind.

Für den Vedanta sind zwei Upanishaden des Atharvan von hervorragender Bedeutung, die Mundaka- und die Prashna Upanishad, welche beide von Badarayana und Shankara vielfach zitiert werden, während wir aus der im Vedantasara so stark benutzten merkwürdigerweise kein sicheres Zitat finden.

III. Eine dritte und letzte Stufe der vedischen Literatur bilden die gleichfalls nach Veden und Chakhas (deren Verhältnisse jedoch vielfach verschoben erscheinen) verschiedenen Sutras, welche den Inhalt der Brahmanas, auf denen sie beruhen, abkürzend, systematisierend und vervollständigend zum Zwecke des praktischen Gebrauches zusammenfassen, in kompendiösester Form und in dem lapidaren, ohne Kommentare vielfach ganz unverständlichen Stile, zu welchem sich auch die grammatische und, wie wir demnächst sehen werden, die philosophische Literatur in Indien zugespitzt hat. Die vedischen Sutras befassen drei Arten: 1) die Shrauta Sutras, welche den öffentlichen Kultus, 2) die Grihya Sutras, welche die häuslichen Gebräuche (bei Geburt, Hochzeit, Totenbestattung) regeln, und 3) die Dharma Sutras, in denen die Pflichten der Kasten und Ashramas auseinandergesetzt werden, und aus denen die späteren Gesetzbücher des Manu usw. hervorgegangen sind. Wie die Shrauta Sutras auf der Shruti (d. h. der göttlichen Offenbarung), so beruhen die beiden andern Klassen auf der Smriti (d. h. der Tradition) und dem Achara(d. h. dem Usus); über die Bedeutung dieser Ausdrücke in der Terminologie des Vedanta wird weiter unten die Rede sein.

Zur Genesis des Veda

Das älteste Denkmal in diesem ausgebreiteten Literaturkreise (und somit wohl das älteste literarische Denkmal der Menschheit überhaupt) sind die Hymnen des Rigveda, sofern sie, ihrem Hauptbestande nach, in eine Zeit zurückgehen, wo die Inder noch nicht im Gangestale, sondern im Stromgebiete des Indus wohnten, noch keine Kasten, keinen privilegierten Kultus, keine brahmanische Staats- und Lebensordnung kannten, sondern, zu kleinen Stämmen (Vic) unter meist erblichen Königen vereinigt, ihren Acker bauend, ihre Herden weidend und sich gegenseitig befehdend ein einfaches, naturfrisches Dasein genossen. Über alle diese Verhältnisse entrollen die Hymnen des Rigveda ein anschauliches Bild, insbesondere aber können wir in ihnen die Genesis der altindischen Naturreligion durch ihre verschiedenen Phasen hindurch verfolgen, teilweise noch von dem Momente an, wo ihre Götter aus den Naturphänomenen unter der Hand des Sängers kristallisieren, bis dahin, wo der Glaube an sie für den denkenden Teil der Nation zu verblassen beginnt und in den ersten Regungen philosophischer Spekulation seinen Ersatz findet, letzteres besonders in den späteren, zumeist im letzten Mandalam sich vorfindenden Hymnen, deren manche, wie z. B. das Purusha Lied, Rigv. 10,90 (VS. 31. AS. 19,6. TA. 3,12), schon die Einwanderung im Gangestale nebst der ihr folgenden Entwicklung des Kastenwesens und der brahmanischen Hierarchie voraussetzen.

Nachdem nämlich die Inder unter mancherlei Kämpfen und Schiebungen, deren poetische Reflexe uns noch im Mahabharatam erhalten sind, in der paradiesischen Ebene des Ganges zwischen Himalaya und Vindhya feste Wohnsitze gewonnen hatten, nahm unter den veränderten äußeren Verhältnissen ihre Lebensordnung eine von der früheren wesentlich verschiedene Gestalt an. Zunächst wurde zwischen den Chadras, der zurückgedrängten Bevölkerung der Eingeborenen, und den eingewanderten Ariern eine unübersteigbare Scheidewand aufgerichtet; weiter aber erhoben sich über die Vaishyas, d. h. die Gesamtmasse des arischen Stammes, einerseits als die Inhaber der materiellen Macht die Kshatriyas, der Kriegeradel mit den Königen an der Spitze, andererseits die wirklichen oder vermeintlichen Nachkommen der altvedischen Sängerfamilien, welche sich Brahmanas (Beter, Priester) nannten und den in ihren Familien erblichen Besitz der vedischen Hymnen und des an sie gebundenen Kultus mehr und mehr zu einem Monopol der Religionspflege als auch der nationalen Erziehung zu gestalten wussten.

Zwar durften nach wie vor alle Mitglieder der drei oberen Kasten, sofern sie Dvijas („Zweimalgeborene", durch das Sakrament des Upanayanam, der Aufnahme in die brahmanische Kirche, gleichsam Wiedergeborene) waren, Opfer veranstalten und teilweise auch verrichten, aber nur die Brahmanen durften die Opferspeise essen, den Soma trinken und den Opferlohn (Dakshina) annehmen, ohne welchen das Opfer nicht wirksam war, nur sie konnten somit Ritvijs (Opferpriester für einen andern gegen Entgelt) und Purohitas (fest angestellte Hauspriester der Fürsten) werden. Von diesen Privilegien ihrer Kaste wussten die Brahmanen einen mit der Zeit mehr und mehr ausgedehnten Gebrauch zu machen. In dem Maße, wie, durch Konsolidierung der äußeren Verhältnisse, der Wohlstand der Fürsten und des Volkes wuchs, steigerte sich auch das äußere Gepränge des Kultus: die Zahl der dabei beschäftigten Priester nahm zu, die Namen Brahman, Hotar, Adhvaryu, Udgatar, die wir im Rigveda erst sporadisch und ohne strenge Sonderung auftauchen sehen, schlossen sich zu einem Systeme zusammen, und jedem dieser Ritvijs stand bei einem größeren Opfer eine Anzahl von Gehilfen zur Seite.

Je komplizierter aber der Gottesdienst wurde, um so mehr erforderte er eine spezielle Vorbildung, und dieses praktische Bedürfnis wurde maßgebend für die Gestaltung der vedischen Literatur. Wenn man anders dieses Wort gebrauchen will von einem Zustande, wo an irgendwelche schriftliche Aufzeichnung allerdings noch nicht zu denken ist. Nach und nach bildete sich eine feste Tradition über die Verse und Sprüche, mit denen der Adhvaryu seine Manipulationen zu begleiten hatte (Yajurveda), sowie über die Gesänge, die der Udgatar bei der heiligen Handlung anstimmte (Samaveda); endlich durfte auch der Hotar sich nicht mehr mit der Kenntnis der in seiner eigenen Familie erblichen Lieder begnügen; die einzelnen Liederschätze schlossen sich zu Kreisen (Mandalam), die Kreise zu einem Ganzen zusammen (Rigveda), welches dann noch eine gewisse Zeit hindurch für neu hinzukommende Produktionen offen blieb.

Nicht alle alten Lieder fanden in diesem Kanon Eingang; manche mochten ausgeschlossen bleiben, weil man ihren Inhalt anstößig oder sonstwie nicht geeignet fand, andere, weil sie, aus dem Volke entsprungen, durch keine Autorität eines berühmten Sängergeschlechts empfohlen wurden. Zu ihnen gesellten sich immer noch neue Blüten, welche der alte Stamm vedischer Lyrik in der Brahmana Periode trieb, und die von dem veränderten Bewusstsein der Zeit deutliche Kunde geben. Aus diesen Materialien, die sich längere Zeit außerhalb der Schulen durch den Volksmund fortpflanzen mochten (worauf ihre vielfache, besonders metrische Verwahrlosung hindeutet), kam im weiteren Verlaufe eine vierte Sammlung (Atharvaveda) zustande, welche lange zu kämpfen hatte, ehe sie eine, immer noch bedingte, Anerkennung errang.

Inzwischen waren jene älteren Sammlungen die Grundlage eines gewissen Schulunterrichtes geworden, der mit der Zeit immer fester geregelte Formen annahm. Ursprünglich war es der Vater, welcher seinen Sohn in dem von der Familie überlieferten heiligen Wissen unterwies, so gut er es vermochte (Brih. 6,2,4. Chand. 5,3,5), bald aber mochte dieses der zunehmenden Schwierigkeit des Verständnisses der alten Texte, dem immer verwickelter sich gestaltenden Ritual, dem mehr und mehr sich erweiternden Studienkreise gegenüber nicht mehr genügen; man musste die für irgend eine der zu erlernenden Theorien (Vidya) bewährten Autoritäten aufsuchen, fahrende Schüler (Caraka) reisten weit umher (Brih. 3,3,1), berühmte Wanderlehrer zogen von Ort zu Ort (Kaush. 4,1). und zu manchem Lehrer mochten die Schüler strömen „wie die Wasser zur Tiefe" (Taitt. 1,4,3).

In der Folge erforderte es die Sitte, dass jeder Arya eine Reihe von (nach Apast. Dharma Sutra 1,1,2,161 mindestens zwölf) Jahren im Hause eines Lehrers weilte, die Brahmanas, um sich auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten, die Kshatriyas und Vaishyas, um die für ihr späteres Denken und Leben maßgebenden Einflüsse zu empfangen. Wir müssen annehmen (vgl. Manu 2,241. Shank. ad Brih. p. 345,13 fg.), dass das Erteilen dieses Unterrichts mit der Zeit ausschließliches Vorrecht der Brahmanen wurde. Nur so erklärt sich der Einfluss ohnegleichen, welchen die Brahmanen auf das indische Volksleben zu gewinnen und zu erhalten wussten. Wie die äußere Tracht, so mag auch der Unterricht für die Schüler aus den verschiedenen Kasten ein verschiedener gewesen sein (vgl. Ait. ar. 3,2,6,9: Na Apravaktre).

Als Entgelt für denselben verrichteten die Schüler die Haus- und Feldarbeit des Lehrers; sie bedienten die heiligen Feuer (Chand. 4,10,1), hüteten das Vieh des Lehrers (Chand. 4,4,5), sammelten für ihn im Dorfe die üblichen Liebesgaben ein und brachten ihm am Schluss des Kursus Geschenke dar. In der Zeit, die diese mannigfachen Obliegenheiten ihnen frei ließen (Gurok Karma Atishena, Chand. 8,15), wurde der Veda studiert. Im ganzen mochte es weniger eine Lehrzeit als, wie der Name Ashrama zu verstehen gibt, eine „Übungszeit" sein, bestimmt zur Übung im Gehorsam gegen den Lehrer (wovon exorbitante Beispiele überliefert werden) und in angestrengter, selbstverleugnender Tätigkeit. Es lag in der Tendenz des Brahmanismus, das ganze Leben zu einem solchen Ashrama zu gestalten. Nicht alle gingen nach Absolvierung der Lehrzeit dazu über, eine Familie zu gründen. Manche blieben im Hause des Lehrers bis an ihr Lebensende (Naishthika), andere zogen in den Wald, um sich Entbehrungen und Kasteiungen hinzugeben; noch andere verschmähten auch diese Form einer geregelten Existenz und warfen alles von sich (Sannyasin), um als Bettler (Bhikshu) umherzuschweifen (Parivrajaka).

Weiterhin schloss man die verschiedenen Arten des „Ashrama" oder der „religiösen Kasteiung" zu einem Ganzen zusammen, in welchem dasjenige, was Ev. Matth. 19,21 als abrupte Forderung auftritt, zu einem großartigen, das ganze Leben umspannenden Systeme ausgebreitet erscheint. Danach sollte das Leben jedes Brahmana, ja eigentlich das eines jeden Dvija, in vier Übungsstadien oder Ashramas verlaufen. Er sollte 1) als Brahmacharin im Hause eines Lehrers leben, sodann 2) als Grihastha der Pflicht, eine Familie zu gründen, Folge leisten, hierauf 3) im Greisenalter dieselbe verlassen, um als Vsnaprastha (Einsiedler im Walde) mehr und mehr zu steigernden Kasteiungen obzuliegen und endlich 4) gegen Ende seines Lebens als Sannyasin (Bhikshu, Parivrajaka) aller Erdenbande ledig umherzuwandern und von Almosen zu leben. Wir wissen nicht, inwieweit die Wirklichkeit diesen idealen Anforderungen entsprochen hat.

Indessen so brahmanische Lehre und Lebensordnung mit immer festeren Netzen das Dasein des indischen Volkes umspann, sehen wir im Schoße des Brahmanismus selbst eine Weltanschauung heranreifen, welche, äußerlich an denselben sich anschließend, innerlich ihm von Grund aus entgegengesetzt ist. Schon im Rigveda geben sich starke Regungen eines gewissen philosophischen Triebes kund. Wir gewahren ein eigentümliches Suchen und Fragen nach der Einheit, welche zuletzt aller Vielheit zugrunde liegt, wir sehen, wie mancherlei Versuche angestellt werden, das Rätsel der Schöpfung zu lösen, durch den bunten Wechsel der Erscheinungswelt, durch die immer reicher sich entwickelnde Mannigfaltigkeit des vedischen Pantheons hindurch das letzte gestaltlose Prinzip alles Gestalteten zu ergreifen, bis dann zuletzt die Seele die Einheit da findet und erfasst, wo sie allein zu finden ist, nämlich in der Seele selbst.

Hier, in den geheimnisvollen Tiefen der eigenen Brust gewahrte der durch die Andacht des Gebetes (Brahman) über seine eigene Individualität hinausgehohene Beschauer eine Macht, welche er allen andern Mächten der Schöpfung überlegen fühlte, eine göttliche Kraft, die, wie er empfand, allem irdischen und überirdischen Sein als innerlich regierendes Prinzip (Antaryamin) innewohnt, auf der alle Welten und alle Götter beruhen, aus Furcht vor der das Feuer brennt, die Sonne leuchtet, das Gewitter, der Sturmwind und der Tod ihr Werk verrichten (Kath. 6,3), und ohne welche kein Strohhalm von Agni verbrannt, von Vayu fortgeführt werden kann (Kena 3,19. 23).

Dieselbe poetische Gestaltungskraft nun, welche Agni, Indra und Vayu mit Persönlichkeit umkleidet hatte, eben dieselbe war es, welche dann weiter jene „in niederer Enge nach allen Seiten sich entfaltende, als Erfreuer der großen Götter mit Macht wachsende, als „Gott zu den Göttern weithin sich ausbreitende und dieses „Weltall umfassende" (Rigv. 2,24,11) Kraft der Andacht zunächst noch in leicht durchsichtiger Personifikation (als Brihaspati, Brahmanaspati), dann aber wahrer, kühner, philosophischer als das Brahman (Gebet), den Atman (Selbst) über alle Götter erhob und diese mit der ganzen übrigen Welt in zahllos variierten Phantasiespielen aus ihm hervorgehen ließ.

Wir dürfen hoffen, bei dem Reichtum der im Rigveda, Atharvaveda und den Brahmanas erhaltenen Texte, mit der Zeit schrittweise verfolgen zu können, wie die im Rigveda angeschlagenen Funken philosophischen Lichtes weiter und weiter fortglimmen, bis sie endlich in den Upanishaden zu jener hellen Flamme aufschlagen, die noch heute uns zu erleuchten und zu erwärmen vermag.

Zahlreiche Anzeichen weisen darauf hin, dass die eigentliche Pflegerin dieser Gedanken ursprünglich nicht sowohl die am Zeremoniell ersättigte Priesterkaste, als vielmehr die der Kshatriyas gewesen ist. Immer wieder und wieder begegnen wir in den Upanishaden der Situation, dass der Brahmane den Kshatriya um Belehrung bittet, welche dieser, nach allerlei Betrachtungen über die Ungehörigkeit eines solchen Verfahrens, demselben erteilt (vgl. Brih. 2,1. Kaush. 4,1. Brih. 6,2. Chand. 5,3. Chand. 5,11. Kaush. 1,1).

Wie dem auch sei, die Brahmanen haben diese neue Lehre vom Brahman und seiner Identität mit dem atman sich zu eigen gemacht und so gut es gehen wollte, mit ihrem System der Werkgerechtigkeit verknüpft, in einer Weise, die wir weiter unten näher kennen lernen werden. Beide Systeme, das rituelle wie das philosophische, pflanzten sich in den Vedaschulen fort, waren innerhalb und außerbalb der Schule (hei öffentlichen Festen, an den Höfen der Könige usw.) der Gegenstand eifriger Erörterungen und einer nicht selten heftigen Polemik, beide erlitten im Kampfe und gegenseitigen Austausche mancherlei Umwandlungen und Fortbildungen, bis endlich als der Niederschlag dieses reichen geistigen Lebens in den einzelnen Schulen die Brahmanas nebst den Upanishads, in welche sie auslaufen, in der Form, in welcher wir sie noch gegenwärtig besitzen, sich bildeten und schließlich (wohl erst, nachdem ihre praktische Bedeutung schon längst an die Sutras übergegangen war) schriftlich aufgezeichnet wurden. Es steht zu hoffen, dass es mit der Zeit gelingen wird, aus ihnen, wenn auch nicht bis in alle Einzelheiten hinein, den Entwicklungsgang zu rekonstruieren, der in ihnen seinen Endpunkt gefunden hat.

Wir sahen bereits, wie an die altern Upanishaden, welche die philosophischen Textbücher der einzelnen Shakhas sind, eine lange Reihe jüngerer Produkte dieses Namens sich anschließt, in denen sich die weitere Fortbildung der religiösen Anschauungen und mit ihr Hand in Hand die Entwicklung eines eigentümlichen Strebens, durch eine gewisse praktische Anschickung (Yoga genannt) die Vereinigung mit dem Allgeist schon hier im Leben zu verwirklichen, bis in die Zeit des indischen Sektenlebens hinein verfolgen lässt, und welche, wie es scheint, rein äußerlich, an den Atharvaveda angeschlossen wurden.

Literatur

Paul Deussen: Das System des Vedanta, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906.