Zerstörung

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Zweck des Vedanta: Zerstörung eines angebornen Irrtums

Artikel aus dem Buch „Das System des Vedanta“ von Paul Deussen, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906, S. 48 - 62.

Der Grundgedanke des Vedanta und seine Vorgeschichte; Blick auf verwandte Theoreme des Okzidents

In der Einleitung, welche Shankara (S. 5-23) seinem Kommentare über die Brahma Sutras vorausschickt, führt er uns sofort auf die Grundanschauung des Systems, indem er alles empirische, physische Wissen für ein Nichtwissen (Avidya) erklärt, welchem er die Metaphysik des Vedanta als das Wissen (Vidya) entgegenstellt. — Ehe wir der Ausführung dieses Gedankens näher treten, wollen wir an einiges erinnern, welches geeignet ist, die philosophische Bedeutung desselben und damit die des in ihm wurzelnden Vedantasystemes ins Licht zu setzen.

Der Gedanke, dass die empirische Betrachtung der Natur nicht imstande ist, uns zur letzten Ergründung des Wesens der Dinge zu führen, tritt uns nicht nur bei den Indern, sondern auch in der Philosophie des Okzidents in mannigfacher Form entgegen; ja, genau betrachtet, ist dieser Gedanke die eigentliche Wurzel aller Metaphysik, sofern ohne ihn überhaupt keine Metaphysik entstehen oder bestehen kann. Denn wenn die empirische oder physische Forschung imstande wäre, uns das wahre und innerste Wesen der Natur zu enthüllen, so würden wir nur auf diesem Wege fortzuschreiten haben, um zuletzt zum Inbegriffe aller Wahrheit zu gelangen.

Das Endresultat würde eine Physik im weitern Sinne, als Lehre von allem sein, und zu einer Metaphysik wäre weder Veranlassung noch Berechtigung. Wenn daher die Metaphysiker alter und neuer Zeit, von dem empirischen Wissen unbefriedigt, zu einer Metaphysik fortgegangen sind, so erklärt sich dieser Schritt nur aus dem mehr oder weniger deutlichen Bewusstsein, dass alles empirische Forschen und Wissen zuletzt nur auf eine große, in der Natur unseres Erkenntnisvermögens begründete Täuschung hinauslaufe, über welche uns die Augen zu öffnen die Aufgabe der Metaphysik ist.

Dreimal, soviel wir wissen, ist diese Erkenntnis in der Menschheit zum ursprünglichen Durchbruch gelangt, und jedesmal, wie es scheint, auf verschiedenem, durch Zeitalter, Nation und Individualität bedingtem Wege; das eine Mal bei den Indern, von denen wir reden wollen, das andere Mal in der griechischen Philosophie durch Parmenides, das dritte Mal in der neuen Philosophie durch Kant.

Was zunächst den Eleatischen Weisen dazu trieb, über die Welt zu der Erforschung des „Seienden" hinauszugehen, das scheint der von seinem Vorgänger Xenophanes geltend gemachte Begriff der Einheit des Seins, d. h. der Einheit der von ihm benannten Natur gewesen zu sein, dessen Konsequenzen Parmenides mit unvergleichlicher Energie der Abstraktion nachging, der Natur den Rücken kehrend, daher er sich auch den Rückzug zu derselben abschnitt.

Zu derselben Erkenntnis gelangte auf ganz anderm Wege Kant, indem er, mit deutscher Geduld und Gründlichkeit, das menschliche Erkenntnisvermögen einer kritischen Analysis unterzog, eigentlich oder angeblich nur, um zu prüfen, ob dasselbe zur Erforschung transzendenter Dinge wohl das geeignete Instrument sei, wobei er jedoch die höchst merkwürdige Entdeckung machte, das unter anderm drei wesentliche Bestandstücke der Welt, nämlich der Raum, die Zeit und die Kausalität, nichts anderes als drei dem Subjekt anhaftende Formen des Erkennens, d. h., physiologisch gesprochen, angeborne Funktionen des Gehirns sind; hieraus folgerte er, mit unweigerlicher Konsequenz, dass die Welt, wie sie in Raum und Zeit sich ausbreitet und in allen ihren Erscheinungen im Größten wie im Kleinsten durch den Kausalnexus verknüpft ist, in dieser Form nur für unser Erkenntnisvermögen vorhanden, weil durch dasselbe bedingt ist, dass sie mithin nur „Erscheinungen", nicht das Wesen der „Dinge an sich" uns offenbart. Was das letztere sei, das hielt er, den Blick nur auf die äußere Erfahrung als Quelle des Erkennens richtend, so lange wir auf Erkenntnisformen wie die unsern angewiesen seien, für unerkennbar.

Diese Methoden des griechischen und des deutschen Denkers, so bewunderungswürdig sie sind, mögen äußerlich und kalt erscheinen, wenn wir sie mit dem Wege vergleichen, auf welchem, wie wir schon nach dem jetzigen Stande der Forschung annehmen dürfen, die Inder zu derselben Grundanschauung gelangt sind. Ihr Vorrang wird begreiflich, wenn wir erwägen, dass kein Volk der Erde es mit der Religion so ernst genommen hat, keines sich den Weg zum Heile so sauer hat werden lassen, wie sie. Zum Lohne dafür ist ihnen, wenn nicht der wissenschaftlichste, so doch der innigste und unmittelbarste Aufschluss über das letzte Geheimnis des Seins geworden.

Wie dabei der Entwicklungsgang, der sie zu diesem Ziele geführt hat, im einzelnen vorzustellen ist, können wir noch nicht mit Bestimmtheit angeben; insbesondere scheint uns fraglich, wie das historische Verhältnis zwischen Brahman und Atman, den beiden Hauptbegriffen, an denen die indische Metaphysik erwachsen ist, und die schon in den Upanishaden, soweit wir sehen, durchaus als Synonyma gebraucht werden, zu denken ist: Ob der Begriff des Atman aus dem des Brahman durch eine bloße Verschärfung des subjektiven Momentes, welches in ihm liegt, sich entwickelt hat, oder ob wir vielmehr zwei Strömungen zu unterscheiden haben, eine mehr priesterliche, welche das Brahman, und eine mehr philosophische, welche den Atman zum Prinzip erhob, bis dann beide, ihrer Natur nach nahe verwandt, in ein gemeinsames Bette geleitet wurden. Von diesen und andern Bedenken für jetzt absehend, wollen wir durch einige ausgewählte Beispiele in der Kürze die mutmaßlichen Stufen des Weges markieren, auf denen der indische Genius zu der von uns demnächst darzustellenden Weltanschauung sich erhoben hat.

1. Wir wiesen bereits darauf hin, wie die Inder, ausgehend von einem Kultus personifizierter Naturmächte, die Zentralkraft aller Kräfte in der Natur, das schaffende und tragende Prinzip aller Götter und aller Welten in jener Erhebung des Gemüts über das Bewusstsein der individuellen Existenz hinaus, welche beim Gebete stattfindet, d. h. in dem Brahman erkannten, ein Wort, welches noch im ganzen Rigveda nie etwas anderes, als die erhebende und begeisternde Kraft des Gebets bedeutet. Von diesem Standpunkte der Auffassung des Brahman als einer im Subjekte ruhenden kosmischen Potenz aus nimmt z. B. das Taitti Riga Brahmanam (2,8,9,6) eine im Rigveda (10,81,4) gestellte Frage wieder auf und beantwortet sie wie folgt:

Wo ist der Baum, wo ist das Holz gewesen,
Aus dem sie Erd' und Himmel ausgehauen?
Im Geist erwägend fragt ihm nach, ihr Weisen,
Worauf gestützt sich hat der Welten Träger!" (Rigv. 10,81,4.)
Das Brahman ist der Baum, das Holz gewesen,
Aus dem sie Erd' und Himmel ausgehauen;
Im Geist erwägend meld' ich euch, ihr Weisen,
Auf Brahman stützte sich der Welten Träger!

2. Hieran schließt sich die Vorstellung, dass das Brahman das Innerste und das Edelste in allen Erscheinungen der Welt ist; es ist, wie die Kathaka Upanishade (5,1-3) es ausdrückt, indem sie den Vers Rigv. 4,40,5 vertiefend umdeutet, die Sonne am Firmamente (Hansah Shucishad), der Gott (vasu, der Gute) im Luftraume, der Hotar am Altare, der Gast an der Schwelle des Hauses, es weilt überall, wird überall geboren, — aber der nur ist vom Leide befreit und seiner Erlösung gewiss, welcher es, „das Ungeborne, unwankbar Geistige" in „der Stadt mit elf Toren" (dem Leibe) verehrt, in welcher es wohnt, ringsum die Lebensorgane, —

Und in der Mitte sitzt ein Zwerg,
Den beten alle Götter an."