Spirituelle Anatomie
Die Anatomie des spirituellen Lebens – eine Übersetzung eines Morgenvortrags von Swami Chidananda aus dem Sivananda Ashram Rishikesh.
Spirituelle Anatomie
Swami Chidananda sagte: Ehrerbietung dir, der du das höchste anfangslose und endlose kosmische Prinzip bist. Du bist die höchste Wirklichkeit, das, was sich niemals verändert. Möge dein Licht allen scheinen. Mögest du strahlen für all diejenigen, die sich dir zuwenden, die sich dir nähern und dich erreichen wollen. Liebevolle Ehrerbietung auch an Shri Gurudev – unseren geliebten Meister Swami Sivananda Shri Maharaj –, der das Licht ist und die Führung unseres Lebens. Oh, Swami Sivanandaji, möge dein Blick uns durstende Seelen erreichen. Möge deine segnende Hand all diejenigen erreichen, die sich darum bemühen, deine Selbstlosigkeit und deinen intensiven Dienst zu erreichen.
Prana ist der Schlüssel zu allem
Strahlende, unsterbliche Seele, geliebte Kinder der Wahrheit, alles ist letztlich wegen Prana. Jede Zelle lebt aus Prana, jede Prana entwickelt sich aus Prana, aber in jedem Moment sterben auch Zellen, neue Zellen werden geboren. Diese beiden Prozesse des Sterbens und Geborenwerdens nennt sich Metabolismus. Aber wie werden überhaupt neue Zellen geboren? Wenn die Zellen anfangen zu sterben, warum gehen sie nicht einfach weiter ohne dass sie durch neue Zellen ersetzt werden? Warum werden die sterbenden Zellen überhaupt ersetzt? Warum? Das ist das Prana, Prana ist der Schlüssel zu allem.
Wenn du lebst und deine Gesundheit stark ist, wenn das Prana sich vorübergehend zurückzieht, dann wirst du wie ein Stück Holz werden. Im Zyklus von 24 Stunden bist du durch einen erstaunlichen Prozess von Gottes Schöpfung mal wach, du bist im Zustand von Jagriti, du bist in der Lage zu sehen, zu hören usw. In diesem Zustand ist das Prana im Ajna-Chakra, also im kleinen Raum zwischen den Augenbrauen bzw. etwas darüber. Ajna-Chakra ist der Sitz des Geistes. Wenn du also sehr aktiv bist, wenn du sprichst und verstehen kannst, wenn du anderen Anweisungen geben kannst, wenn du wünschen und planen kannst, dann sind all diese Prozesse möglich, weil Prana im geistigen Zentrum ist.
Der Traumzustand
Nachdem der Tag zu Ende ist, nachdem du den ganzen Tag gearbeitet hast, bist du müde. Vielleicht hast du dann dein Abendessen, vielleicht hörst du Radio oder sprichst mit dem ein oder anderen, und dann fängst du an zu gähnen, und irgendwann gehst du schlafen. Wenn du deinen Kopf auf das Kissen legst, dann wird die Welt abgestellt. In einem Moment verschwindet alles, egal ob es Kalkutta ist oder Honolulu, alles ist plötzlich verschwunden. Wie ist das passiert? Was ist das für ein Wunder? Prana hat sich zurückgezogen vom aktiven Geistzentrum. Aber natürlich, du fällst nicht sofort in den Tiefschlaf. Manchmal wird die ganze Erfahrung der Welt dupliziert, dann hast du selbst Dinge neu geschaffen. Du wirst jetzt auch Telefonate von jemandem im Büro beantworten, und was du sagst, das erscheint alles sehr klar, und auch was der andere antwortet, erscheint alles sehr klar. Eine Welt scheint zu existieren, aber dieser Zustand nennt sich Swapna Avastha – der Traumzustand, der zweite Zustand des Bewusstseins. Die äußere Welt existiert nicht mehr, und vorübergehend wird eine innere Welt geschaffen. Das Prana ist jetzt irgendwo im Kehlzentrum, in einem subtilen Strom, der Hita Nadi genannt wird. Nadi bedeutet Energiekanal, und Hita Nadi ist der Energiekanal, der – wenn er aktiv ist – Traum erzeugt.
Traumbewusstsein
Nach einiger Zeit wird ein anderer Schalter umgelegt und das Traumbewusstsein kommt zum abrupten Ende. Und dann bist du dir gar nichts bewusst, es ist absolute Stille, absoluter Friede, es gibt keinen Wissenden. Das „Ich genieße den Schlaf“-Bewusstsein wird auch abgestellt. In diesem Zustand geht das Prana ins Herzzentrum, ins Anahata-Chakra, wo es immer schon war. Natürlich nicht ins physische Herz – das befindet sich in der linken Hälfte des Brustkorbs –, sondern ins Anahata-Chakra, das in der Mitte des Brustkorbs ist. Das ist alles ein Wunder des Prana, und wenn das Prana endgültig den Körper verlässt, dann verlässt die Person den Körper dauerhaft. Es kommt nicht zurück.
Es ist immer Prana, die Lebensenergie, welches der Schlüssel zu diesem ganzen Prozess ist. In der traditionellen indischen Lebensweise, in der Erziehung, wurde der junge Mensch gelehrt: „Dreimal am Tag musst du an das höchste Wesen denken. Dreimal am Tag mache Vandana, Gottesverehrung. Dreimal am Tag verehre Surya, die Sonne. Und mache das am besten, wann immer die Nacht aufhört und wann immer der Tag endet – also in der Morgendämmerung und Abenddämmerung –, und dann noch mittags.“ Das sind die drei Zeiten, in denen Gottesverehrung im klassischen Hinduismus ausgeführt wird. Das nennt sich dann Sandhya Vandana. Und im Sandhya Vandana – also der Gottesverehrung zu diesen besonderen Tageszeiten – beginnt man mit Ajaman , das heisst etwas Wasser zu trinken. Dann folgt Majan , das heisst das Wasser wird in die verschiedenen Richtungen gesprenkelt, um alles zu reinigen. Und dann praktiziert man Pranayama – einatmen, anhalten und ausatmen.
Die heilige Schnur
Klassischerweise bekommen Kinder dann die heilige Schnur zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr, wenn ihr Verstehen sich entwickelt hat, und sie verstehen, was sie tun und warum sie es tun. Von diesem Tag an wird in der klassischen Erziehung in Indien Pranayama gelehrt, Surya Namaskar – also der Sonnengruß –, um so einen starken und gesunden Körper zu bekommen. Körperübungen machen den Körper stark. Pranayama macht den Körper immun gegenüber Krankheiten. Gleichzeitig wird der junge Mensch dazu aufgefordert, einen edlen Charakter und gutes Verhalten zu entwickeln. Die feste Grundlage eines edlen Lebens wird so von Anfang an gelegt, und natürlich muss der junge Mensch auch Wissen bekommen, sowohl weltliches als auch spirituelles. Man lehrt ihn die Subhashitas, Panchatantra Gita, Hitopadesha – also veschiedenste Geschichten mit ethischen Anweisungen. Und so entwickelt er sich weiter hin zu einer idealen jungen Persönlichkeit. So kommt er dann in das zweite Viertel der klassischen indischen Lebensweise. Er nimmt jemanden zum Partner/zur Partnerin fürs Leben, betritt Grahasta Ashrama, also das Berufs- und Familienleben, und macht dann aus seinem Haus eine Wohnstätte der Verehrung. Auch hier praktiziert er Trikhala Sandhya Vandana, also die Verehrung Gottes zu den drei besonderen Zeiten, außerdem Devata Archana – Verehrung Gottes – und Puja, eine spezielle Gottesverehrung.
Das Ehepaar – Mann und Frau – bemüht sich darum, ein ideales Eheleben zu führen. Das Paar sollte sich auch für die Gesellschaft einsetzen, gute Beziehungen mit den Nachbarn pflegen, und beide sollten etwas Paropakara ausüben, das heisst etwas Gutes tun. Denn es gibt ein Sprichwort, das besagt: „Paropakarartham Idam Shariram – dieser Körper ist dazu da, damit man für andere Gutes tut.“ Wenn die Kinder groß werden, wird ihnen die Verantwortung übergeben. Dann wird gesagt: „Wir sind da, wenn du unseren Ratschlag brauchst, aber du bist jetzt dafür zuständig, dich um die Dinge zu kümmern.“ So geht man in den dritten Lebensstand über. In diesem Lebensalter verbringt man die Zeit damit, Schriften zu lesen, man lebt ein eher inneres Leben, man macht Tirta Yatra, d.h. man geht auf Pilgerreisen, macht Vrata, das heisst man hat bestimmte Vorsätze und übt spezielle spirituelle Praktiken aus, ebenso pratikziert man Niya, was weitere spirituelle Praktiken sind, und Satsanga, das heisst man geht dorthin, wo Weise und Heilige leben, und lebt immer wieder in ihren Ashrams. Man geht mal für sieben, mal für zehn Tage in den Ashram.
Diese Periode des dritten Lebensalters führt dann in das vierte, in die vollkommende Entsagung des Menschen. Im vierten Lebensalter hat man sein Dharma Pathni – seinen Verantwortungsbereich – den erwachsen gewordenen Kindern übergeben. Man hat vielleicht Schwiegertöchter und –söhne , an die man alles abgeben kann und kann dann vollständiges Vairagya – vollständige Entsagung – ausüben (Tyaga – auf alles verzichten, Sannyasa – das Loslassen). So wendet man der Welt den Rücken zu und geht in den Wald. In den uralten Zeiten wird immer wieder darüber gesprochen, zum Beispiel gab es die Brihadaranyaka Upanishad und dort gibt es die Geschichte von Yajnavalkya. Dieser war einer der ganz großen Heiligen, eine riesige Persönlichkeit in dem Zeitalter der Upanishaden. Er hatte zu tun mit Rajas, Maharajas, Chakravatis – also Fürsten, Königen und sogar Kaisern. König Janaka, der selbst eine gottverwirklichte Person war, bat Yajnavalkya Maharishi öfters, zu ihm zu kommen und sagte ihm: „Bitte erleuchte uns mit deinem Wissen.“
Das war ein kleiner Einblick in die innere Anatomie des spirituellen Lebens. Beim nächsten Mal tauchen wir tiefer in das Thema ein. Möge Gott euch alle segnen. Hari Om Tat Sat. Mein Name Sukadev von www.yoga-vidya.de.
Siehe auch
- Einzigartigkeit Textauszug von Swami Chidananda
- Swami Chidananda
- Swami Sivananda
- Divine Life Society
- Guru
- Ashram
- Heilige
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