Schlaf
Brahman als die Seele im tiefen Schlafe. Nach 1,3,19-21 und 1,3,40
Artikel aus dem Buch „Das System des Vedanta“ von Paul Deussen, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906, S. 197 - 202.
An die von uns Kap. KI,1, d (S. 170 fg.) behandelte Stelle schließt sich Chand. 8,7-12 die Belehrung des Indra durch Prajapati (eine mythologische Personifikation der Schöpferkraft, welche hier für Brahman steht) über die Natur des Selbstes.
Prajapati sprach: "Das Selbst, das sündlose, frei von Alter, frei von Tod und frei von Leiden, ohne Hunger und ohne Durst, dessen Wünschen wahrhaft, dessen Ratschluss wahrhaft ist, das soll man erforschen, das soll man suchen zu erkennen. Der erlangt alle Welten und alle Wünsche, wer dieses Selbst gefunden hat und kennt!" - Um über das Selbst Auskunft zu erhalten, senden zu Prajapati die Götter den Indra, die Asuren (Dämonen) den Virocana.
Die drei aufeinanderfolgenden Antworten, welche Prajapati auf die Frage, was das Selbst sei? erteilt, repräsentieren drei Stufen der Erkenntnis, vermöge deren man das Selbst in der Leiblichkeit oder in der individuellen Seele oder in der höchsten Seele erkennt. Die nächste Antwort auf die Frage: „Was ist das Selbst?" lautet: „Das Selbst ist der Leib (wörtlich die Person, Purusha), wie er in der Abspiegelung im Auge, im Wasser, im Spiegel sich darstellt." - Wer, wie Virocana und die Asuren, bei dieser Auffassung stehen bleibt, der wird im Sinnengenusse und in der Pflege des Leibes das höchste Ziel des Daseins erblicken und noch nach dem Tode den Leichnam mit allerlei Plunder (Bhiksha), mit Kleidern und Schmuck, ausstaffieren, — wohl um dadurch ein Leben im Jenseits zu erlangen.
Virocana begnügt sich mit dieser Antwort. Indra aber, in der Erkenntnis, dass, wenn das Selbst der Leib ist, das Selbst auch von den Gebrechen und dem Untergang des Leibes mitbetroffen wird, kehrt zu Prajapati zurück. Dieser erteilt ihm die zweite Antwort: „Das Selbst ist die Seele, wie sie sich im Traume ergötzt." Aber auch diese Erklärung genügt nicht. Zwar ist die Traumseele frei von den Gebrechen des Körpers, aber es ist doch, als würde sie getötet, oder verfolgt, und somit ist sie nicht frei vom Leiden. Mit diesen Bedenken kehrt Indra abermals zu Prajapati zurück und empfängt nun die dritte Erklärung: „Wenn einer so eingeschlafen ist ganz und gar und völlig zur Ruhe gekommen, dass er kein Traumgesicht erschaut, — das ist das Selbst, das ist das Unsterbliche, das Furchtlose, das Brahman."
Auf die Einwendung des Indra, dass in diesem Zustande auch das Bewusstsein seiner selbst und der andern Dinge aufhöre, dass er somit ein Eingang in das Nichts sei, antwortet schließlich Prajapati: „Sterblich fürwahr, o Mächtiger, ist dieser Körper, vom Tode besessen; er ist der Wohnplatz für jenes unsterbliche, körperlose Selbst. Besessen wird der Bekörperte von Lust und Schmerz; denn weil er bekörpert ist, ist keine Abwehr möglich der Lust und des Schmerzes. Den Körperlosen aber berühren Lust und Schmerz nicht. — Körperlos ist der Wind; die Wolke, der Blitz, der Donner sind körperlos. So wie nun diese aus dem Weltraume [in welchem sie, wie die Seele im Leibe, gebunden sind] sich erheben, eingehen in das höchste Licht und dadurch hervortreten in ihrer eigenen Gestalt, so auch erhebt sich diese Vollberuhigung [d. h. die Seele im tiefen Schlafe] aus diesem Leibe, gehet ein in das höchste Licht und tritt dadurch hervor in eigener Gestalt: das ist der höchste Geist, der dort umherwandelt, indem er scherzt und spielt und sich ergötzt, sei es mit Weibern, oder mit Wagen, oder mit Freunden [vgl. S. 173], und nicht zurückdenkt an dieses Anhängsel von Leib, an welches der Prana angespannt ist wie ein Zugtier an den Karren.
Wenn das Auge sich richtet auf den Weltraum, so ist er [der Prana] der Geist im Auge, das Auge [selbst] dient [nur] zum Sehen; und wer da riechen will, das ist der Atman, die Nase dient nur zum Geruche, und wer da reden will, das ist der Atman, die Stimme dient nur zum Reden; und wer da hören will, das ist der Atman, das Ohr dient nur zum Hören; und wer da verstehen will, das ist der Atman, der Verstand ist sein göttliches Vergangenheit und Zukunft umspannendes Auge. Mit diesem göttlichen Auge, dem Verstande, erschaut er jene Genüsse und freut sich ihrer. Ihn verehren jene Götter in der Brahmanwelt [die wie Indra belehrt worden sind] als das Selbst; darum besitzen sie alle Welten und alle Wünsche. Der erlangt alle Welten und alle Wünsche, wer dieses Selbst gefunden hat und kennt." So sprach Prajapati.
Im Gegensatze zu unserer Auffassung dieser Stelle, welche in den drei Hauptantworten des Prajapati (wenigstens nach dem, wie sie von den Fragern verstanden werden) den Ausdruck dreier philosophischer Standpunkte erkennen möchte, des materialistischen, welchem das Selbst der Leib, des realistischen, welchem es die Einzelseele, und des idealistischen, alle Vielheit negierenden, welchem es die höchste Seele ist, im Gegensatze zu dieser, wie uns scheint, allein dem ganzen Zusammenhang gerecht werdenden Auffassung nimmt Shankara an, dass auch schon in der ersten Antwort das im Auge wohnende, sehende, individuelle Selbst zu verstehen sei (S. 261,2), wobei also aus dem Mann (oder Geist), "der im Auge gesehen wird", ein solcher wird, "der im Auge sieht". Er weist ausdrücklich die Auffassung, dass das Spiegelbild im Auge gemeint sei, ab, weil sonst Prajapati die Unwahrheit gesagt haben würde (S. 266,13); aber man braucht nicht mit ihm anzunehmen, dass Prajapati, wenn wir bei jeder Antwort etwas anderes verstehen, ein Betrüger sei (S. 268,8); denn die Formel, mit der er jedesmal seine Erklärung einleitet: „Dieses will ich dir weiter erklären", passt sehr wohl auf eine stufenweise sich vertiefende Auffassung des Begriffes des Selbst.
Auch in der dritten Antwort, so entwickelt Shankara, ist die individuelle Seele zu verstehen, jedoch sofern sie in einen andern Zustand übergeht (S. 261,5), nämlich, sofern sie, aus dem Leibe sich erhebend, zum höchsten Geiste wird (S. 262,3), sofern also ihre wahre Natur offenbar wird (S. 262,6), welcher nach sie nicht individuell, sondern das höchste Brahman selbst ist (S. 263,2). Dieses nämlich ist nach Schriftstellen wie «das bist du» (Chand. 6,8,7) die wirkliche Natur (Paramarthikam Svarupam) der individuellen Seele, nicht die andere, welche durch die Bestimmungen (Upadhi) gebildet wird. Solange man nämlich das eine Vielheit annehmende Nichtwissen, welches dem Halten eines Baumstammes für einen Menschen vergleichbar ist [S. 263,5; dasselbe Bild S. 44,2. 86,12. 448,2; vgl. Platon. Phileb., S.38D], nicht beseitigt und das höchste, ewige, seinem Wesen nach schauende Selbst durch die Erkenntnis «Ich bin Brahman.» (Brih. 1,4,10) noch nicht erlangt hat, so lange ist die individuelle Seele individuell
Wenn man sich aber erhebt über das Aggregat von Leib, Sinnen, Manas und Buddhi und von der Schrift darüber belehrt wird, dass man nicht ein Aggregat von Leib, Sinnen, Manas und Buddhi, nicht eine wandernde Seele, sondern vielmehr jenes ist, von dem es heißt (Chand. 6,8,7): «das ist das Reale, das ist die Seele — aus reiner Erkenntnis bestehend — das bist du», dann kennt man das höchste, ewige, seinem Wesen nach schauende Selbst, und indem man sich dadurch über den Wahn dieses [[[Asmat]] zu lesen] Leibes usw. erhebt, wird man zu eben jenem höchsten, ewigen, seinem Wesen nach schauenden Selbst, denn so sagt die Schrift (Mund. 3,2,9): "Fürwahr, wer dieses höchste Brahman kennt, der wird selbst zu Brahman" (S. 263,4-264,3). Als solches tritt die Seele hervor „in ihrer eigenen Gestalt", wie das Gold, wenn es durch ätzende Materien von dem Zusatze anderer Stoffe befreit wird (S. 264,5), oder wie die Sterne, wenn der sie überwältigende Tag gewichen ist, in der Nacht in ihrer eigenen Gestalt hervortreten (S. 264,8).
Übrigens wird das ewige, geistige Licht niemals von irgend etwas überwältigt; vielmehr, ähnlich wie der Raum, berührt es sich mit der Sinnenwelt nicht und steht mit derselben in Widerspruch (S. 264,10). Die individuelle Seele ist, solange sie sich nicht aus dem Leibe erhoben hat [was eben im Tiefschlafe geschieht], sehend, hörend, denkend, erkennend. Wäre sie dieses nun auch nach ihrer Erhebung aus dem Leibe, so würde der [eben konstatierte] Widerspruch nicht stattfinden [S. 265,3; ich lese Avirudhyeta, Optativ mit a Privativum]. Nun aber steht es so, dass wir auseinanderhalten müssen den Zustand der Seele vor ihrer Unterscheidung von den Bestimmungen, Leib, Sinne, Manas, Buddhi, Objekte und Schmerzempfindung, und ihren Zustand nach der Unterscheidung von denselben.
Vor der Unterscheidung ist sie scheinbar von den Bestimmungen getrübt, wie der Kristall von der Farbe außer ihm; nach der Unterscheidung tritt sie in ihrer eigenen Natur hervor, wie der Kristall, nachdem man die Farbe beseitigt hat (S. 265). Somit ist die Bekörperung und Körperlosigkeit der Seele nur abhängig davon, ob man sie nicht unterscheidet oder unterscheidet von den Bestimmungen (S. 266,2), und die Trennung zwischen der individuellen und höchsten Seele beruht nur auf dor falschen Erkenntnis, nicht auf einer Einwirkung der Dinge, welche nicht möglich ist, da die Seele, wie der Raum, nicht an ihnen klebt (S. 266,8). Nur die Erkenntnis dieser, nur die (individuelle) Erkenntnis der Unterschiede (Vishesha - Vijnanam) wird im Tiefschlafe aufgehoben, nicht die Erkenntnis überhaupt (S. 267,7); denn die Schrift sagt (Brih. 4,3,30): „Für den Erkenner ist keine Unterbrechung des Erkennens".
Einige möchten dieser Identifikation der individuellen mit der höchsten Seele ausweichen, gegen den Zusammenhang der Stelle; vielmehr steht es so, dass nach Aufhebung des Nichtwissens, wie die vermeintliche Schlange zum Stricke wird, so auch die nicht wahrhaft reale individuelle Seele, welche mit Tun und Leiden, mit Liebe, Hass und andern Gebrechen befleckt und mit vielem Unheile behaftet ist, durch das Wissen übergeht in die entgegengesetzte, sündlose Wesenheit des höchsten Gottes (S. 268,10).
Wieder andere, darunter einige der unsern, halten (realistisch) die individuelle Natur der Seele für absolut real; gegen sie ist das Sharirakam (die Sutras des Badarayana) gerichtet, um zu zeigen, dass der einige, oberste, ewige, höchste Gott, dessen Wesen Erkenntnis ist, durch das Blendwerk (Maya) des Nichtwissens wie ein Zauberer vervielfältigt erscheint, und dass es kein anderes Erkenntniselement außer ihm gibt (S. 269,1). Somit ist zwar Gott verschieden von der individuellen Seele [solange von einer solchen die Rede ist], aber die individuelle Seele ist nicht verschieden von Gott [vgl. S. 816,7: der Prapanca ist Brahman, aber Brahman ist nicht der Prapanca; und S. 1060,2: der Samsarin ist Ishvara, aber Ishvara ist nicht der Samsarin], außer für den Standpunkt des Nichtwissens (S. 269,10).
Im Wachen ist sie der Aufseher in dem Käfige des Leibes und der Organe, im Traume weilt sie in den Adern und schaut die aus den Vorstellungen des Wachens gezimmerten Traumgebilde, im Tiefschlafe geht sie ein in das höchste Licht, d. h. in Brahman (S. 270,7). Denn dass Brahman das höchste Licht ist, folgt aus dem Zusammenhange (S. 327,8) und aus der erwähnten Unkörperlichkeit, welche nur dem Brahman allein zukommt (S. 328,3), sowie auch aus den Worten: „das ist der höchste Geist" (S. 328,4).