Lilamurti
Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993
Indische Mythen und Symbole - Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
Teil 1: "Fundamentale Gestalt" und "spielende Manifestationen"
Das Hauptwort Brahman ist Neutrum (Brahman - sächlich - und Brahma - männlich - dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Das erstere bezieht sich auf das immanente und transzendente Absolute; der letztere ist eine menschen-gestaltige Personifikation des Schöpfergottes-Demiurgen): das Absolute steht jenseits der unterschiedsetzenden Geschlechtseigenschaften, jenseits aller begrenzenden und individualisierenden Eigenschaften überhaupt. Es ist die allenthaltende transzendente Quelle jeder möglichen Wirksamkeit und Form. Aus Brahman, dem Absoluten, gehen die Energien der Natur hervor, um unsere Welt der individuierten Form zu schaffen, diese wimmelnde Welt unserer empirischen Erfahrung, wie sie durch Begrenzungen, Polaritäten, Gegensätze und Zusammenwirken charakterisiert ist.
Den Neigungen der menschlichen Einbildungskraft und des menschlichen Gefühls nachgebend wird das Absolute für den Zweck der Verehrung gewöhnlich personifiziert. Es wird im Geist als eine oberste, menschengestaltige Gottheit vorgestellt, als »der Herr«, der alldurchdringende Lenker der Lebensvorgänge des Kosmos. Es ist dieser »Herr«, der das Mayawunder der Entfaltung, Erhaltung und Auflösung bewirkt.
Vishnu sahen wir bereits in dieser Rolle; wir haben nun den Symbolismus Shivas zu betrachten. Von den Gottheiten des Hindu-Pantheon können nur die nicht zu eng mit bestimmten Funktionen, Tätigkeiten oder Naturbereichen Verbundenen als Verleiblichungen des personifizierten Absoluten dienen. Agni, der Feuer-Gott und im besonderen ein Aspekt des Elementes Feuer (das Hauptwort Agni ist etymologisch mit lat. ignis, engl. igneous, ignite, ignition verwandt) ist viel zu spezialisiert, um die Quelle aller fünf Elemente vertreten zu können. Gleicherweise ist Vayu, der Windgott, als Repräsentant des Elementes Luft in seinem bewegten Zustand spezialisiert und daher nicht imstande, das Universale zu symbolisieren. Indra ist ursprünglich der Gott der Wolken, des Donners und des Regens. Selbst Brahma erscheint unter diesem Gesichtspunkt unbefriedigend, ungeachtet der Tatsache, daß er zur höchsten hinduistischen Triade Brahma des Schöpfers, Vishnu des Erhalters und Shiva des Zerstörers gehört. Denn in der Hindu-Mythologie personifiziert Brahma ausschließlich den positiven Aspekt des kosmischen Lebensvorganges und wird niemals als Zerstörer des von ihm Geschaffenen dargestellt. In einseitiger Art symbolisiert er mehr die schöpferische Phase und die reine Spiritualität. In seinen Mythen zeigt er nicht den zweideutigen, sich selbst widersprechenden, rätselhaften, sich in einer Fülle von einander gegensätzlichen Haltungen und Aktivitäten offenbarenden Charakter, der ihn zur Repräsentierung der paradoxen, allumfassenden Natur des Absoluten geeignet machen würde. Vishnu und Shiva dagegen, ebenso wie die göttliche Weltmutter, stellt man sich auf das stärkste als segnend und schrecklich zugleich vor, als schaffend und zerstörend, grausenerregend und schön. Darum sind alle drei besonders geeignet, die höchste Fülle der Gottheit zu repräsentieren.
Im modernen Hinduismus erscheinen Shiva und Vishnu als Gottheiten von gleichem Wuchs; beziehungsweise als die zerstörenden und erhaltenden Masken oder Gebärden des Absoluten. In seinen Mythen »wird« Vishnu Shiva, er nimmt die Erscheinungsform Shivas an, wenn er die periodische Auflösung aller Dinge herbeiführt. Auf der anderen Seite wird Brahma mehr als Werkzeug der schöpferischen Funktionen des Erhalters geschildert, als das erstgeborene Wesen, das auf dem Vishnus Nabel entsprossenen Lotos thront — eine menschengestaltige Manifestation von Vishnus demiurgischer Energie, aber keineswegs dem großen Gott gleichrangig.
Wenn Shiva mehr als Vishnu die Mitte der Bühne einnimmt, so ist die Rolle des verpersönlichten Brahman von Tod und Vernichtung bestimmt. Denn während Vishnu ein Gefühl der schöneren Seiten des Lebens wachruft und so am besten den Charakter des Schöpfer-Erhalters typisiert, wirft Shivas finsterer Asketismus einen Meltau über die Ebenen der Wiedergeburt. Seine Existenz verneint und überwindet das Kaleidoskop der Leiden und Freuden. Dennoch verleiht er Weisheit und Frieden und ist nicht nur schrecklich, sondern auch gnädig. Im selben Sinn wie Vishnu ein Zerstörer, ist Shiva ein Schöpfer und Erhalter; seine Natur überschreitet alle Polaritäten der lebenden Welt und schließt sie zugleich ein.
Die Fülle von Shivas einander entgegengesetzten Funktionen und Aspekten erhellt aus der Tatsache, daß seine Verehrer ihn mit hundert Namen anrufen. Er wird auch unter fünfundzwanzig »Spielenden Offenbarungen« (Lilamurti) oder nach einer anderen Überlieferung in sechzehn solchen erblickt. Gelegentlich finden wir die Vielfalt ausdrucksvoller Aspekte auf fünf zurückgeführt:
1. Die wohlwollende Manifestation (Anugrahamurti); 2. Die zerstörende Manifestation (Samharamurti); 3. Der wandernde Bettler (Bhiksatanamurti); 4. Der Herr der Tänzer (Nrttamurti); 5. Der große Oberherr (Maheshamurti). Unter den in den längeren Listen aufgeführten Titeln befinden sich: »Der Gott mit dem Mond in seinem Haar« (Chandrashekhara), »Träger des Ganges« (Gangadhara), »Besieger des Elefanten-Dämons« (Gajasamhara), »Gemahl der Göttin Uma und Vater Shandas, des Kriegsgottes« (Somaskanda), »Der Gott, der zur Hälfte Weib ist« (Adrhanarisvara), »Herr des Gipfels« (Sikhareshvara), »Herr der Ärzte« (Vaidyanatha), »Zerstörer der Zeit« (Kalasamhâra), »Herr des Viehs« (Pashupati), »Der Wohltätige« (Shankara), »Der Milde« (Shiva), »Der Heuler« (Rudra).
Aber der wichtigste und gewöhnlichste Gegenstand der Verehrung in Shiva-Schreinen ist der Phallus oder Lingam. Diese Form des Gottes kann bis zu der Verehrung primitiver Steinsymbole schon in der neolithischen Epoche zurückverfolgt werden. Schon im Mohenjo-Daro kommt der Lingam vor, Seite an Seite mit anderen bedeutsamen Symbolen, die den in der späteren Hindu-Ikonographie verwandten ähnlich sind). Der Lingam bedeutet die männliche Schöpferkraft Shivas und wird im Gegensatz und zur Unterscheidung von allen anderen Repräsentationen des Gottes »die feste oder unbewegliche« (Dhruva) genannt, »die fundamentale Gestalt« (Mulavigraha). Mit ihr verglichen werden die anderen Darstellungsformen des Gottes als sekundär betrachtet.
Die menschengestaltigen Bildwerke sind als »bewegliche« (Cala) bekannt, als »festliche oder zeremonielle Figuren« (Utsava Murti), als »Bildwerke für festliche Erfreuung« (Bhogamurti). Sie sind bestimmt, bei feierlichen Gelegenheiten in den Prozessionen getragen oder in den Hallen und Galerien des Tempels zur Erbauung der Verehrenden aufgestellt zu werden. In Reihen entlang den Korridoren stehend, welche zum Hauptschrein führen oder ihn umgeben, entrollen sie die verschiedenen Aspekte oder Manifestationen des Gottes und bilden so eine belehrende Bildergalerie für den wallfahrenden Gläubigen.
Der große, unterirdisch aus dem Felsen von Elephanta gehauene Höhlentempel bei Bombay, eins der eindruckvollsten und schönsten Denkmäler religiöser Hindukunst, ist mit vielen menschengestaltigen Darstellungen Shivas ebenso wie mit Szenen aus seiner reichen Mythologie geschmückt. Das Zentralheiligtum dieses ausgedehnten Tempels ist ein einfacher, monumentaler viereckiger Schrein mit vier Eingängen an den vier Seiten, jeder von zwei göttlichen Türhütern bewacht. Drinnen befindet sich das herbe Symbol des Lingam, der seine allerzeugende Energie in die vier Weltgegenden aussendet. Dieser Lingam bildet als das steinerne Hauptidol den Mittelpunkt der innersten Cella, des Allerheiligsten oder »Schoß-Hauses« (Garbha Griha). Ruhig erhebt er sich in der innersten Nische des Tempelorganismus als Lebenszentrum der unterirdischen Höhle.
Als Symbol der schöpferischen männlichen Energie wird der Lingam häufig mit dem Ursymbol der weiblichen Schöpfungsenergie, der »Yoni« verbunden, wobei diese die Basis des Bildwerkes bildet, aus deren Mitte sich der Lingam erhebt. Dies repräsentiert die schöpferische Vereinigung, welche das Leben des Alls hervorbringt und erhält. Lingam und Yoni, Shiva und seine Göttin, symbolisieren die entgegengesetzten und doch zusammenwirkenden Kräfte der Geschlechter. Ihre heilige Hochzeit (hieros gamos im Griechischen) wird in den verschiedenen Überlieferungen der Weltmythologie mannigfaltig wiedergegeben. Sie stellen die archetypischen Eltern dar, Vater und Mutter der Welt, sie selbst die Erstgeborenen des Urpaars der Gegensätze, der ersten Entzweiung am Beginn der kosmogonischen Realität, nun zu produktiver Energie wiedervereinigt. In Gestalt von Vater Himmel und Mutter Erde waren sie den Griechen als Zeus und Hera, den Chinesen als Tien und Ti, Yang und Yin bekannt.
Über die Entstehung des Lingam wird eine belehrende Geschichte erzählte. Sie dient der Erläuterung eines merkwürdigen phallischen Bildwerkes aus der späteren mittelalterlichen Tradition Südindiens (s. S.145). In dieser Mythe erscheint Shiva als Gewinner eines wichtigen Sieges über die beiden anderen höchsten Gottheiten der Hindu-Trias, Brahma und Vishnu; und wenn wir nach der erhaltenen Literatur urteilen dürfen, entspricht dieser Sieg einer wirklichen geschichtlichen Entwicklung. Denn in den früheren und klassischen Puranas ist Shiva nicht mehr als eine Funktion oder Maske, zu der Vishnu greift, wann immer der Augenblick für die Wiedereinschmelzung des Alls naht. Erst in einer späteren Schicht des Purana-Mythos sehen wir Shiva zum Vorschein kommen, um unabhängig und allein alle drei der großen Weltrollen: Schöpfung, Bewahrung und Zerstörung zu spielen.
Der Mythos vom »Ursprung des Lingam« (Lingobhava) beginnt mit der vertrauten Situation des Uranfangs: keine Welt, nur Wasser und die sternenlose Nacht zwischen Auflösung und Neuschöpfung. In dem unermeßlichen Ozean ruhen alle die Keime und Möglichkeiten der nachfolgenden Entfaltung im Schlummerzustand der Ungeschiedenheit. Vishnu, die menschengestaltige Verkörperung dieses Lebensfluidums, schwimmt — wie wir ihn schon zuvor erblickt haben — in und auf der Substanz seines eigenen Seins. In Gestalt eines leuchtenden Riesen lehnt er auf dem flüssigen Element, strahlend von der stetigen Glut seiner heiligen Kraft.
Doch nun vollzieht sich ein neues, erstaunliches Ereignis: Vishnu gewahrt plötzlich eine andere leuchtende Erscheinung, die im Glanz einer ganzen Milchstraße aus lauter Sonnensystemen schimmert und ihm mit der Schnelle des Lichtes naht. Brahma ist es, der vierköpfige, Yogi-Weisheit bergende Gestalter des Alls. Lächelnd befragt der Neuankömmling den ruhenden Riesen: »Wer bist Du? Wie bist Du entstanden? Was tust Du hier? Ich bin der erste Erschaffer aller Wesen; ich bin der, der aus sich selbst entstand. «
Vishnu erlaubte sich anderer Ansicht zu sein. »Im Gegenteil«, widersprach er, »ich bin der Schöpfer und Zerstörer des Alls. Ich bin es, der es wieder und wieder erschaffen und zerstört hat.«
Die beiden gewaltigen Erscheinungen fuhren fort, den Anspruch des anderen zurückzuweisen und sich zu streiten. Als sie so in der zeitlosen Leere disputierten, bemerkten sie auf einmal, wie aus dem Ozean ein hochgetürmter Lingam, von einer Flamme gekrönt, auftauchte. Rasch wuchs er in den unendlichen Raum. Die beiden Gottheiten hörten auf, sich zu streiten und betrachteten ihn mit entsetztem Staunen. Konnten sie doch weder seine Höhe noch seine Tiefe ermessen.
Brahma sprach: »Tauche Du; ich will aufwärts fliegen. Laß uns versuchen, seine beiden Enden zu entdecken.« Die beiden Götter nahmen ihre wohlbekannten Tiergestalten an; Brahma wurde zum Ganter, Vishnu zum Eber. Der Vogel schwang sich in den Himmel, der Eber tauchte in die Tiefe. Sie eilten in entgegengesetzten Richtungen fort und fort, fanden aber an keiner Seite das Ende. Denn während der Eber tauchte und Brahma stieg, wuchs und wuchs der Lingam.
Da brach der ungeheure Phallus an der Seite auf, und in der nischenähnlichen Öffnung stand der Herr des Lingams offenbart: Shiva, die höchste Kraft des Alls. Während Brahma und Vishnu sich in Anbetung neigten, erklärte er feierlich sich selbst als ihrer beider Ursprung. Als »Übershiva« verkündigte er sich, welcher die Dreiheit von Brahma, Vishnu und Shiva, von Schöpfer, Erhalter und Zerstörer zugleich in sich enthält und sie verkörpert. Obgleich aus dem Lingam hervorgehend, wohnten sie doch ewig in ihm. Sie waren Teile, wesentliche Teile, von ihm; Brahma bildete die rechte Seite, Vishnu die linke, aber die Mitte Shiva-Hara, »Der Wiedereinschmelzer«, »Der Wiederzurücknehmende« oder »Fortnehmende«.
So erscheint Shiva im Lingam vergrößert, erhöht, gesteigert als das allumfassende, allem zu Grunde liegende Element. Die Rolle des Zerstörers ist nun nur eine seiner drei Hauptmanifestationen. Seite an Seite mit Brahma dem Schöpfer und Vishnu dem Erhalter und zusammen mit ihnen existiert Shiva der Zerstörer in Shiva dem Höchsten.
Siehe auch
Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?
- Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
- Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
- Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
- Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
- Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
- Kapitel 5: Die Göttin
Literatur
Seminar
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