Shiva-Shakti
Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993
Indische Mythen und Symbole - Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
Teil 3: Shiva-Shakti
Viele Weisen gibt es, die Differenzierung des Absoluten in antagonistische und doch zusammenwirkende Gegensatzpaare darzustellen. Zu ihren ältesten und häufigsten gehören die auf der Dualität der Geschlechter beruhenden: Vater Himmel und Mutter Erde, Uranos und Gäa, Zeus und Hera, die chinesischen Prinzipien des Yang und Yin. Dies ist eine Konvention, die in den hinduistischen und den späteren buddhistischen Traditionen mit besonderem Nachdruck entwickelt worden ist. Obgleich ihre äußere Symbolisierung verblüffend erotisch wirkt, sind die Beziehungen dieser Gestalten fast ausschließlich allegorisch zu verstehen. Die ausgearbeitetsten und aufklärendsten Texte zu dieser lebhaften Bilderschrift sind die sogenannten Tantras — religiöse Schriften, welche die shivaistischen Richtungen der letzten großen Periode des Hinduismus repräsentieren. In dem uranfänglichen Paar, das die Sphären des Seins erzeugt, haben wir die Personifikation der göttlichen Wesenheit in ihrem produktiven Aspekt zu sehen, zur fruchtbaren Selbstspiegelung polarisiert.
Ein prachtvolles Beispiel von Gott und Göttin im Liebesspiel erscheint in einem bengalischen Relief, das Shiva mit seiner Gemahlin darstellt. Sie sitzt auf seinem linken Oberschenkel, den rechten Arm um seine Schulter gelegt, während sein linker Arm sanft ihren Leib umfaßt. Starr und maskengleich, voll intensiver Erregung, betrachten sich die beiden Gesichter. Sich mit tiefem, unvergehenden Entzücken anblickend, sind sie von dem verborgenen Wissen durchtränkt, daß sie, obgleich dem Anschein nach zwei, in Wahrheit doch nur eins sind. Um des Alls und seiner Geschöpfe willen hat das Absolute sich nach außen hin scheinbar zu dieser Zweiheit entfaltet, aus der nun all die Polaritäten des Lebens, die Antagonismen, die Unterschiede in den Mächten und Elementen kommen, wie sie die Erscheinungswelt charakterisieren. Fußringe, Armspangen und Armbänder, reiche Halsbänder und Königsdiademe bedecken das erhabene, auf dem Lotosthron, dem Symbol göttlicher Schöpfungskraft sitzende Paar. Ein kleineres Lotoskissen erscheint unter Shivas linkem gekrümmten Fuß; zwei weitere solcher Kissen unter den beiden Füßen des göttlichen Paares, die nach unten weisen. Unterwärts ruhen ihre jeweiligen Tragtiere (Vahana): der Löwe, animalisches Doppel der Großen Göttin, und Shivas Stier.
Shiva hat vier Arme. Mit einem umfaßt er sein Gemahl; mit zwei anderen hält er den Dreizack, die Waffe, die er als Held führt, und den Rosenkranz, sein Asketenabzeichen, die zusammen die Vereinigung des aktiven und kontemplativen, des extra- und introvertierten Prinzipes in ihm symbolisieren. Die übrige rechte Hand hält vor seiner Brust ein stengelartiges, mit einer Lotosranke verschlungenes und mit Blütenblättern des Lotos gekröntes Symbol. Dies ist augenscheinlich der Lingam, das Zeichen der schöpferischen Wesenheit der Gottheit. Schweigend weist er es der Göttin, deren Linke die Ergänzung und Entsprechung dazu, ein konvexes, aufschwellendes, durch eine Furche bezeichnetes Symbol emporhebt.
Ganz unten rechts erscheint winzig verkleinert der elefantenköpfige Ganesha, »Der Herr der Scharen« (Gana), ihr Sohn; die Trompete dieses Gottes, eine Seemuschel, ruht neben ihm auf einem dreifüßigen Thron. Skanda Karttikeya, der andere Sohn des göttlichen Paares steht links gegenüber, mit den Finger seiner linken Hand eine Trommel rasseln lassend, mit der anderen ein Schwert hinter dem Kopf schwingend. Gleich über den beiden sehen wir die Portraits des Stifters und seiner Familie, wie sie mit gefalteten Händen Blumen darbringen. Der Vater, auf Shivas Seite der Gruppe, ist von seinem Sohn und die Mutter, auf derjenigen der Großen Göttin, von ihren zwei Töchtern begleitet. So wird das menschliche Paar als Teilnehmer an der mystischen Einung des Göttlichen gezeigt: auch sie sind »ein Fleisch«.
Ein Paar himmlischer Diener steht an jeder Seite des Lotosthrones — in Brusthöhe des göttlichen Paares — ihre Fliegenwedel nach abwärts kehrend. Solche »Chowry«-Träger stehen allgemein zu Seiten königlicher, in feierlichem Staat sitzender Personen. Doch ist es natürlich üblich, die Wedel aufrecht zu halten. In vorliegendem Falle nun sind die Diener von frommem Entzücken so mitgerissen, daß sie ganz auf ihr Amt vergessen. In der Tat greift die innere Bewegung, mit welcher der Gott und sein Weib einander ansehen, auf alle Gestalten, menschliche wie göttliche, über, welche dieses Schauspiel zu erblicken begnadet sind. Nicht die Stifter nur und Chowry-Träger, auch der wimmelnde Schwarm von Shivas Gefolge, die himmlischen Musikanten, sind voll seligen Entzückens. Das Antlitz am oberen Ende des den Thron überwölbenden Rahmens ist die ornamentale Maske eines Dämons, der man gewöhnlich in Shiva-Heiligtümern und über den Türen von Shiva-Tempeln begegnet. Es ist ein apotropäischer Zauber, Kirtti-Mukha, »Antlitz der Glorie« genannt, eine Manifestation des schrecklichen Gottesaspektes. Seine Aufgabe ist, die Unfrommen abzuwehren und die Gläubigen zu beschützen.
Wieder und wieder erscheint, verschiedentlich abgewandelt, dieses klassische Thema des Gottes und der Göttin in Stein und Bronze in den Denkmälern der Hindukunst. Der Gott und die Göttin bilden die erste Selbstenthüllung des Absoluten, wobei der Mann die Personifikation des passiven Aspektes darstellt, den wir als Ewigkeit kennen, die Frau die Verkörperung der aktivierenden Energie (Shakti), der Dynamik der Zeit. Obgleich dem Augenschein nach Gegensätze, sind sie im Wesen eines; das Mysterium ihrer Wesensgleichheit wird hier im Sinnbild wieder gegeben. Der Gott ist der, den wir dreifaltig im Monument von Parel erblickten und der in der »Grundfigur« des Lingam wohnt. Die Göttin ist die Yoni, Mutter-Schoß der ewig-kreisenden Äonen, all der Weltalle, die sich endlos in den Raum dehnen, und jedes Atoms in der lebenden Zelle. »Die Macht des Alls« (Shakti) wird sie genannt, »Die Schönste der drei Welten« (Tripura Sundari). Als Uma, Durga, Parvati, Kali, Chamunda, Gauri, Haimavati, Vindhyavasini ist sie aus den Mythen bekannt. In jeder Frau besitzt sie ihre irdische Entsprechung, wie der Gott die seine in jedem Mann.
Aber diese sitzenden Paare verbleiben mit ihrer Vergegenwärtigung des Mysteriums im Statischen. Ein mehr dynamisches Symbol — typisch indisch in seiner Wiedergabe einer wachsenden oder expandierenden Form — ist das tief beredsame Shri Yantra, das »heilbringende Yantra«, das »Yantra aller Yantras«. Obgleich scheinbar nicht mehr als eine geometrische Anordnung, ist diese verwickelte Linienzusammenstellung als Unterlage für Meditationen bestimmt — genauer gesagt, für eine konzentrierte Visualisierung des polaren Spiels und des jede Logik erschütternden Paradoxes von Zeit und Ewigkeit. Aber bevor der Sinn des Symbols sich entfalten und der Geist seine Wirkungen zu erfahren beginnen kann, muß der Beschauer den richtigen Zusammenhang seiner bündig-gedrängten Linienführung zu den Grundprinzipien orientalischer Metaphysik verstanden haben. Die Komposition faßt gewissermaßen in einem einzigen Augenblick den Sinn einer ganzen Welt von Hindu-Mythen und -Symbolen zusammen.
Zunächst: Was bedeutet der Ausdruck »Yantra«? Das Suffix -tra wird im Sanskrit zur Bildung von Substantiven gebraucht, die Werkzeuge oder Geräte bezeichnen. Zum Beispiel bedeutet khan »graben«, khani »grabend« oder »umwühlend«; khanitra ist »ein Instrument zum Graben, ein Spaten, eine Harke, eine Pike, Schaufel, ein primitiver Stock, um Furchen zu ziehen und Löcher zur Aufnahme von Samen zu bohren«. Ähnlich bedeutet "man"
(etymologisch mit »mens« verwandt) »denken oder im Sinn haben: Mantra ist darum ein Instrument, um etwas in unserem Geist wach- oder hervorzurufen, insbesondere »eine heilige Formel oder ein magischer Zauber um die Vision und innere Gegenwart eines Gottes herbeizurufen und zum Bewusstsein zu bringen«.
Entsprechend ist Yantra ein Werkzeug zur Bereitung von Yam. Was heißt aber nun Yam? »Zügeln, unterwerfen, herrschen, kontrollieren«. Das Verbum Yam bedeutet, Kontrolle über die in einem Element oder Wesen enthaltene Energie zu gewinnen. So bezeichnet Yantra zuerst einmal jede Maschine — Maschine allerdings in einem vortechnischen, vorindustriellen Sinn genommen: einen Damm etwa, um Wasser zur Bewässerung der Felder zu sammeln; ein Katapult, um Steine gegen eine Festung zu schleudern, kurz jeden Mechanismus, dazu bestimmt, um für ein menschliches Willensziel Energie abzugeben. In der Tradition hinduistischer Frömmigkeit ist »Yantra« der allgemeine Begriff für Geräte und Hilfsmittel des Kultes, im besonderen für Idole, Bilder oder geometrische Diagramme. Ein Yantra kann erstens als Repräsentation einer bestimmten Personifikation oder eines gewissen Aspektes des Göttlichen dienen, dann als Modell für die zuinnerst im Herzen dargebotene Verehrung einer Gottheit, nachdem die Zubehöre äußeren Dienstes (Götterbild, Wohlgerüche, Opfer, hörbar geäußerte Gebete) von den fortgeschritteneren Frommen abgelegt wurden, und endlich als eine Art Grundkarte oder Schema für die stufenweise Entwicklung einer Vision, mit deren langsam wechselnden Inhalten sich das Selbst identifiziert; anders ausgedrückt: mit der Gottheit in allen ihren Verwandlungsphasen. In solchem Fall birgt das Yantra dynamische Elemente.
Wir können also sagen, daß ein Yantra ein Instrument zur Zügelung der psychischen Kräfte durch ihre Konzentrierung auf ein Modell oder Muster darstellt, und zwar derart, daß dieses Modell oder Muster von der visionären Einbildungskraft des Gläubigen reproduziert wird. So ist es eine »Maschine« zur Stimulierung von inneren Visualisierungen, Meditationen und Erlebnissen. Das vorgegebene Modell mag eine statische Vision der Gottheit suggerieren, die verehrt werden oder der übermenschlichen Macht, die realisiert werden soll. Es kann aber auch eine Reihe von Visualisierungen hervorrufen, die wie die verbindenden Glieder oder Stufen eines Entwicklungsprozesses sich wachsend auseinander entfalten.
Diese letzte Form ist der reichere, interessantere Typus und verlangt mehr von dem Meditierenden. Sie wirkt in zweierlei Richtung: erst vorwärts als ein Entfaltungs-, dann rückwärts als ein Rücknahmevorgang, in dem die vorher entwickelten Visionen wieder aufgelöst werden. Anders ausgedrückt: sie bildet in Miniaturausführung die Stadien oder Aspekte der Manifestation des Absoluten in der Entfaltung und Wiederauflösung der Welt nach. Mehr: die realisierende Vorstellungskraft des Gläubigen hat dem doppelten Prozeß der Schöpfung und Auflösung auf zwei verschiedene Weisen zu folgen: einmal als einen in Zeit und Raum geschehenden Ablauf, dann aber als einem Etwas, das die Kategorien von Raum und Zeit übersteigt — einer Gleichzeitigkeit also von einander entgegenstehenden Aspekten der einen und einzigen Wesenheit. Während so auf der einen Seite die dynamischen Diagramme einen fortdauernden Ausdehnungsprozeß von der Mitte des Modells zum Außenrand nahelegen und für diesen Vorgang einen Ablauf der Zeit fordern, sind sie auf der anderen Seite als eine bleibende Hierarchie oder Stufung gleichzeitig manifestierter Seinsgrade mit dem höchsten in der Mitte zu erfassen. Diese Grade symbolisieren die verschiedenen Verwandlungen des Absoluten auf der Erscheinungsebene der Maya-Shakti. Gleichzeitig vermitteln sie eine bildhafte Analyse der Struktur von Körper und Seele des Menschen. Denn das Höchste Wesen (Brahman), welches das Herz der Welt darstellt, ist identisch mit dem Höchsten Selbst (Atman), dem Kern der menschlichen Existenz. Die durch das Yantra erzeugten Vorstellungsrealisierungen, Meditationen und Erfahrungen sind daher nicht nur als Reflexe der göttlichen Wesenheit bei ihrem Auf- und Abbau der Welt anzusehen, sondern gleichzeitig — da die Weltprozesse und Entwicklungsstadien in Geschichte und Struktur des menschlichen Organismus ihr Doppel haben — als Emanationen aus der Psyche der Gläubigen. In Verbindung mit Yoga-Praxis gebraucht, stellen die Inhalte des Yantra-Diagramms jene Stadien der Bewußtheit dar, die vom Alltagszustand naiver »Unwissenheit« (Avidya) über die Grade der Yoga-Erfahrung zur Realisierung des Universalen Selbstes (Brahman-Atman) führen.
Typisch für die ganze Gruppe sind die Elemente des erwähnten Shri-Yantras:
- 1. ein viereckiger äußerer Rahmen, aus geraden Linien gebildet, die nach einem regelmäßigen Muster gebrochen sind;
- 2. eine darin eingeschlossene Anordnung konzentrischer Kreise und stilisierter Lotosblütenblätter;
- 3. eine konzentrische Komposition von neun sich durchdringenden Dreiecken.
Das eckige Rahmenwerk wird in der tantrischen Tradition »erschauert« (Sisirita) genannt, das heißt zitternd wie von Frost, welch seltsamer Ausdruck sich nicht auf seinen symbolischen Sinn, sondern auf seine äußere Form bezieht. Was der »erschauerte« Rahmen darstellen soll, ist ein quadratisches Heiligtum mit vier Türen, die sich nach den vier Weltgegenden öffnen, vier Plattformen davor und vier niedrigen Stufenreihen, die vom Erdboden zu dem erhöhten des Heiligtums führen. Dieses Heiligtum ist der Sitz (Pitha) der Gottheit und als die innerste Herzmitte des Gläubigen zu denken. Hier thront seine besondere, von ihm selbst ausgewählte Gottheit (Ishta Devata) die letzten Endes als eine Versinnbildlichung des Gottkernes, seines eigenen höheren Daseins, seines ewigen, höheren Selbstes zu verstehen ist.
Der Charakter der »erschauerten« Linie als Andeutung der vier Wände eines quadratischen Tempels wird besonders klar, wenn das Grundmuster von Farben und Gestalten erfüllt ist. Das ist gewöhnlich in Tibet der Fall, wo eine lamaistische Tradition von runden (mandala), zu herrlichen Gemälden erweiterten Mustern einen unerschöpflichen Schatz großartiger Gebilde schuf. Diese nördliche Tradition des Buddhismus entwickelte sich unter dem Einfluß stark mit Hindu- und insbesondere Shiva-Shakti-Ideen durchtränkter Doktrinen. In der wunderschönen Tempel¬decke aus der heiligen Stadt Lhasa etwa, die in Art 608 wieder is [Ewiges Selbst, das heißt des Ichs unsterbliches Selbst und unsterb¬licher Lenker, der »Allgemeine Mensch« in diesem Mann oder jener Frau, dem im letzten alle Verehrung zukommt. »Das bist Du.« »Wer immer zu einer Gottheit als einem ,Anderen' Zuflucht nimmt, denkend ,Er ist einer und ich bin ein anderer' hat nicht erkannt.« (Brihadarapyaka Upanisad 1. 4. 10.) »Einige sind so töricht, sich Gott vorzustellen, als ob er ,dort' sei, sich selbst aber als ,hier'. Es ist nicht so; Gott und Ich sind eins.« (Meister Eckhart, Pfeiffer, p. 469) — AKC.]
gegeben ist, erscheint ein vollständiges Yantra-Diagramm, nur mit einer Buddha-Figur auf dem Platz des Ishta Devatä, und streng buddhistischen Ausschmückungen ringsum. Die Personifi¬kation im Mittelpunkt ist der uranfängliche, ewige Adi-Buddha oder Vairochana. Von ihm zu den vier Seiten und den vier Ecken dazwischen ausstrahlend umgeben ihn acht Doppelgänger oder Manifestationen seiner Wesenheit, verschieden nach Farbe, Ge¬bärde und Beiwerk. Sie deuten die besonderen Wesensbestandteile an, die von dem unbeweglichen Absoluten in die Welt entsandt werden. Das All erleuchtend, das Ausgedehnte haltend, sind sie als im Herzinnern der kosmischen Blume beschlossen dargestellt. Diese wiederum ist in das quadratische Heiligtum gesetzt, zu dessen vier Seiten jeweils eine peinlich genau gemalte Tür gehört. Jenseits der Mauern sind geringere Persönlichkeiten dargestellt, Torwächter, Zeremonienschirme und andere Symbole lamaistischen Kultes. Der äußerste Ring endlich dieses Lotos des geschaffenen Alls ist als ein riesiger Kranz von vierundsechzig verschieden¬farbigen Blütenblättern wiedergegeben.
Wir müssen einen Augenblick innehalten, um die Bedeutung der Buddha-Figur darzulegen und zu erklären. Vom Standpunkt des vollkommenen Boddhisattva oder Buddha-Geistes aus gibt es nur eine Wesenheit, nämlich die Buddhaheit, die Erleuchtung selbst, den unbeschreiblichen Zustand oder Bereich der realisiert und erlangt wird, wenn alle Hervorbringungen und Folgen der Maya-Unwissenheit überwunden sind. Es ist die reine »So-heita oder »Das-heita jenseits differenzierender Eigenschaften, definier¬barer Beschränkungen und Charakteristiken. Es ist tathâ-tâ, wörtlich »der Zustand (-ta) des So-seins (tathâ)a. Tathä bedeutet »Ja, so ist es, so möge es sein, Amen!a Es ist der alltägliche Aus¬druck rückhaltloser Bejahung. Darum repräsentiert der Begriff »tatha-tä«, »So-heita, den einzigen wirklich wirklichen Zustand oder Wesensbereich, der nicht zerstört oder aufgelöst werden kann. Alle anderen Bewußtseinszustände entstehen und vergehen wieder, das Wachsein mit seinem Denken und seinen Sinnes
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eindrücken, der Traumzustand mit seinen raffinierten Erschei¬nungen und selbst die Zustände »höherer« Erfahrungen. Doch der Zustand des tatha-tä ist unzerstörbar; ist er doch in Einem Erfahrung und Wirklichkeit des Absoluten. »Diamanten« (vajra) wird er genannt, denn er kann weder durch physische Gewalt noch durch die Macht kritisch-analytischen Denkens zerspalten, zerlegt, aufgelöst oder auch nur geritzt werden. Das einzig mögliche menschengestaltige Symbol für tatha-tâ ist der Buddha, Er, der die Erfahrung des Diamanten erlangt hat. Und das passendste symbolische Objekt oder Gerät ist der Don¬nerkeil, die Waffe des Himmelsvaters und später Indras, des Königs der Götter. So ist der Donnerkeil (vajra, gleicher Aus¬druck wie für »diamanten«) das charakteristische Emblem einer besonderen buddhistischen Lehrrichtung, die sich selbst »Vajra-yâna« betitelt, »Das Fahrzeug des unwiderstehlichen Donner¬keils«, »Der Weg zur diamantenen Wirklichkeit der transzenden¬ten Wahrheit«. Das Vajra-Symbol figuriert hier gewöhnlich bei jeder Gelegenheit ikonographischer Dekoration. Es erscheint als magische Wand für den Exorzismus böser Mächte oder als Griff der bei der Lesung heiliger Texte zur Zeitmarkierung gebrauch¬ten Glocke. Auf der Tempeldecke in Lhasa umzirkeln acht vajras den Mittelbuddha, sechzehn seine acht Emanationen und zweiunddreißig den äußeren Rand des kosmischen Lotos. Auch ist es das Hauptattribut eines gewissen, sehr bedeutsamen, alle¬gorischen Buddhatypus, der als Vajra-dhara bekannt ist, »Der die diamantene Substanz der Waffe (vajra) Haltende oder Hand¬habende (dhara)«. Diese Gestalt wird als die erhabenste Perso-nalisierung der So-heit der Wirklichkeit betrachtet. Darum heißt sie Vajra-Sattva, »Er, dessen Wesen oder Sein (sattva) die dia¬mantene Substanz ist.« Genau wie die tiergestaltigen »Bestim-mer« der Hindu-Götter ihrem Wesen nach mit den menschen-gestaltigen Formen identisch sind, die sie tragen, so ist bei diesem höchsten Symbol der Vajrayäna-Sekte der diamantene Keil wesens¬gleich mit dem Buddha, der ihn in der Hand hält. 162
Als ein Sinnbild des Absoluten, das die Erscheinungswelt er¬schafft und stützt, wird Vajradhara-Vajrasattva auf dem Lotos-thron sitzend dargestellt. Da dieser Lotos ursprünglich das aus¬schließliche Emblem und »Tragzeug« der Göttin Padmä, der Mutter der Yoni des Alls Ÿ0 ist, ist er symbolisch für die Zeugungs¬kraft (sakti) der unsterblichen, diamantenen, ewigen Substanz. So versinnbildlicht ein Buddha auf dem Lotos oder in ihm das Wesen der Erleuchtung, wie es das Reich der Zeit durchdringt und aufrechterhält. Ein mit diesem abwechselnden Symbol jenes Mysteriums, das auf der Hindu-Vorstellung vom Gott und seiner Shakti beruht, findet sich weitverbreitet in der tibetanischen Ikonographie: Vajradhara in enger Umschlingung mit einem weiblichen Gespiel (Art 610). Im Tibetanischen heißt diese Formel »Yab-Yum«. In erhabenster Konzentration und Entrückung ineinander schmel¬zend sitzen die beiden Gestalten auf dem Lotosthron in einer ge¬bietenden Haltung voll unzerstörbarer Ruhe. Beide tragen das juwelengeschmückte Gewand und die Tiara gekrönter Boddhi-sattvas. Die letztendliche Identität von Ewigkeit und Zeit, Nir-väna und Samsära, der beiden Aspekte des sich offenbarenden Absoluten, könnte wohl kaum auf eine majestätisch-intimere Weise dargestellt werden. Zum Shri-Yantra zurückkehrend, vermögen wir unter der ab¬strakten Linearzeichnung dieses selbe uranfängliche Paar zu er¬kennen. Neun sich durchdringende Dreiecke enthält die Figur, von denen fünf nach unten, vier nach oben weisen. Das nach unten weisende Dreieck ist ein Symbol des Weiblichen, der Yoni ent¬sprechend. Es wird »Shakti« 21 genannt. Das nach oben zeigende 20 Vgl. pp. 102-105 oben. 21 Gleicherweise bedeutet nach den griechischen Lexikographen der grie¬chische Buchstabe d delta (obgleich aufwärtsweisend) das Weibliche: »delra, eFSwAov rv arxdov c Mehr noch: die europäischen Zigeuner bezeichnen in ihrer Symbolsprache das schöne Geschlecht durch Dreiecke, ein Gebrauch, den sie aus ihrer alten Heimat Indien mitgebracht haben. Wenn sie auf Tür 163
vertritt das Männliche, den Lingam, und heißt »das Feuer« (vahni). Vahni ist sinnverwandt mit tejas, »glühende Energie, Sonnenhitze, königlicher Glanz, drohender, feuriger Eifer des Asketen, Körperwärme des warmblütigen Organismus, im männ¬lichen Samen konzentrierte Lebenskraft«. So bedeuten die Vahni-Dreiecke das männliche Wesen des Gottes und die Shakti-Drei-ecke die weibliche Wesenheit seiner Gemahlin. Die neun bedeutet die erste Offenbarung des Absoluten bei seiner Differenzierung in gestufte Polaritäten: die schöpferische Aktivität der männlichen und weiblichen Energien des Kosmos in den aufeinander folgenden Stadien der Entwicklung. Am wichtig¬sten ist, daß das Absolute, das wirklich Reale, nicht repräsentiert erscheint. Es kann dies auch nicht sein, denn es wohnt jenseits von Gestalt und Raum. Das Absolute ist von dem sich konzen¬trierenden Gläubigen als ein entschwindender Punkt oder Fleck inmitten des Ineinanderspiels der Dreiecke zu visualisieren; als der »Tropfen« (bindu). Dieser Bindu ist der Kraftpunkt, das un¬sichtbare, sich entziehende Zentrum, von dem aus sich das ganze Diagramm ausdehnt. Und nun, während vier der Shakti-Dreiecke sich mit ihren männlichen Entsprechungen verbinden, bleibt das innerste, fünfte, übrig, um sich mit jenem unsichtbaren, sich ent¬ziehenden Zentrum zu vereinigen. Dies ist die erste, uranfängliche Shakti, die Gemahlin des transzendentalen Shiva, die schöpfe¬rische Energie als weibliche Manifestation des reinen, ruhenden Brahman, des Großen Ursprünglichen. Wie die Shiva-Shakti-Bilder symbolisiert das Shri-Yantra das Leben, und zwar sowohl das universale wie das individuelle, als eine unaufhörliche Wechselwirkung zusammen schaffender Ge¬gensätze. Die fünf weiblichen, sich von oben herab ausdehnenden Dreiecke und die vier männlichen, die von unten heraufsteigen, pfosten oder Zäunen ihre heimlichen Zeichen hinterlassen, um ihre nachfol¬genden Genossen zu unterrichten, was sie von den Hausbewohnern zu erwar¬ten haben, kritzeln sie zur Angabe der Zahl der dort befindlichen weiblichen Wesen ein oder mehrere Dreiecke. 164
bezeichnen den kontinuierlichen Schöpfungsvorgang. Gleich einer ununterbrochenen Reihe von Blitzen graben sie sich ineinander und spiegeln den ewigen schöpferischen Augenblick — eine Dy¬namik, die dennoch in einem statischen Muster von geometrischer Ruhehaftigkeit dargelegt wird. Es ist der archetypische Hieros Gamos, oder die »Mystische Hochzeit«, wiedergegeben in einem abstrakten Diagramm — ein Schlüssel zum Geheimnis des Er¬scheinungsblendwerks der Welt.
Siehe auch
Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?
- Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
- Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
- Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
- Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
- Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
Literatur
Seminar
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