Tantra Einführung und Geschichte
Das Wort Tantra kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „Gewebe“, „Zusammenhang“. Tantrismus ist eine religionsübergreifende spirituelle Bewegung, deren Ursprünge im Dunkeln liegen. Sie erachtet das Göttliche als im Universum manifest. Tantrismus sieht das Universum als ein Zusammenspiel von Bewusstsein (oft als Shiva bezeichnet) und Energie (Shakti). Beides sind göttliche Prinzipien, die in Wahrheit eins sind. Da alles im Universum ein Zusammenspiel von Bewusstsein und göttlicher Energie ist, ist letztlich alles göttlich. So ist Tantrismus wahrhaft monistisch (also von Einheit ausgehend). Vom höchsten Standpunkt aus gibt es nichts Gutes, nichts Schlechtes, da alles göttlich ist. Es gibt auch nicht die Unterscheidung von wirklich und unwirklich. Ziel ist es, zum höchsten Bewusstsein der Einheit zu kommen. Dies wird erreicht, indem man mittels verschiedener Praktiken den eigenen Energielevel so erhöht, dass man die Einheit von Shiva und Shakti wahrnimmt. Da das Bewusstsein als passiv gesehen wird, wird vor allem Shakti, die Kosmische Energie, verehrt. So ist Tantrismus meist mit der Verehrung des Göttlichen in der weiblichen Form, der Göttin, der Urmutter, eben der Kosmischen Energie verbunden.
Unterscheidung rotes, schwarzes und weißes Tantra
Rotes Tantra
Im roten Tantra übt man diverse Energiepraktiken, um sinnliches und sexuelles Vergnügen zu erhöhen. Im Westen wird, wie bereits ausgeführt, Tantra oft auf das rote Tantra reduziert.
Schwarzes Tantra
Im schwarzen Tantra werden Mantras rezitiert, Yantras als Amulette getragen, Rituale ausgeführt, um egoistische Ziele zu erwirklichen. Dazu können beispielsweise gehören: Reichtum, Macht, jemand anderes becircen oder sogar jemandem schaden zu können. Auf gewisse Weise ist diese Form des Tantra wie schwarze Magie, auch wenn sie nicht notwendigerweise negativ genutzt wird. In manchen Teilen Indiens wird Tantra mit schwarzem Tantra gleichgesetzt. Da kann es geschehen, dass man vor einem bestimmten Menschen gewarnt wird: „Sei vorsichtig, Mister X ist ein Tantriker!“, was so viel heißt wie: Er hat geistige Kräfte, mit denen er anderen schaden kann; er führt schwarzmagische Riten aus, er hat den bösen Blick oder anderes. Da ist sicher auch viel Aberglaube dabei.
Weißes Tantra
Im weißen Tantra übt man, um sich selbst zu reinigen, seinen Energielevel zu erhöhen, um zum Instrument der göttlichen Kraft zu werden, Liebesfähigkeit zu entwickeln und schließlich zur Einheit zu gelangen. Weißes Tantra kann stark rituell und damit religiös geprägt sein. Dabei werden verschiedene Formen von Pujas (Verehrungsrituale), Homas (Feuerzeremonien) oder Yatras (Pilgerreisen) zu Tempeln ausgeführt, Heilige Schriften rezitiert; die Göttin wird auf verschiedene Weisen verehrt. Weißes Tantra kann aber auch aus weniger religiös gebundenen Formen von Sadhana (spirituelle Praxis) bestehen. Dieses nichtrituelle Tantra ist gleichbedeutend mit Kundalini-Yoga. Nichtrituelles Tantra und damit Kundalini-Yoga kann unabhängig von einer Religionszugehörigkeit praktiziert werden und verbindet auch in Indien Hindus mit Buddhisten und Sikhs, teilweise sogar mit islamischen Sufis und im indischen Mittelalter mit nestorianischen Christen. Kundalini-Yoga kann natürlich auch mit rituellem Tantra verbunden sein. Überdies schließt weißes Tantra rotes und schwarzes Tantra nicht notwendigerweise aus, so wie eigentlich (fast) nichts im Tantra ausgeschlossen wird.
Unterteilung Tantra in Vamachara und Dakshinachara
Vamachara (linkshändiger Tantra)
Im Vamachara Tantra werden Praktiken geübt, die außerhalb der gesellschaftlichen Gepflogenheiten sind. Dazu gehören dann Meditation auf Friedhöfen und in Krematorien, eventuell sogar auf einer ausgegrabenen Leiche; diverse sexuelle Praktiken, Einnahme von Drogen. Oft wird im linkshändigen Tantra von den fünf M’s (Panchamakara) gesprochen, welche die Verkehrung der fünf vedischen Reinigungsriten sind:
- Matsya [oder Mīna] (Fisch)
- Māmsa (Fleisch)
- Madya (Wein)
- Mudrā (getrocknete Körner, auch Drogen)
- Maithuna (ritualisierter Geschlechtsakt)
Diese sollen eingefahrene Denkmuster überwinden und zu ekstatischen Erfahrungen führen. Wörtlich verstanden und ausgeführt widersprechen sie wichtigen ethischen Prinzipien. Gerade bei jeder intensiven Energiearbeit und vor allem bei erweckter Kundalini der Verzicht auf Fleisch, Fisch, Alkohol, Drogen und Tabak essentiell.
Dakshinachara (rechtshändiger Tantra)
Im Dakshinachara Tantra werden vor allem Praktiken ausgeübt, die im Rahmen der gesellschaftlichen Gepflogenheiten sind.. Im rechtshändigen Tantra gelten die Panchamakaras daher als Symbole für tiefere Weisheiten. Man sollte selbstverständlich kein Fleisch essen, keinen Wein trinken und so weiter. Matsya heißt nicht: Verzehr von Fisch, sondern bezieht sich auf die Übung, sich mit dem Göttlichen verbunden zu fühlen – der Aspirant schwimmt in göttlicher Liebe. Mamsa heißt nicht: Verzehr von Fleisch, sondern die Überwindung der tierischen Natur, Madya heißt: Trinken des göttlichen Nektars der Liebe, Mudra heißt: Bewusstseinserweiterung in tiefer Meditation, Maithuna heißt: Vereinigung von Kundalini und Shiva.
Geschichte Tantra
Manchmal liest man in Büchern über indische Philosophie Folgendes: Die Ursprünge indischer Philosophie und des Hinduismus entstanden durch die Begegnung der arischen Einwanderer mit den indischen Ureinwohnern (Drawiden) im Rahmen der Eroberung der Indus- und Gangesebene 1500–800 v. Chr. Dabei entstand zunächst die vedische Religion, in der Götter wie Indra, Agni, Varuna wichtig waren. Daraus entwickelten sich dann etwa 800–200 v. Chr. die Upanishaden, welche die Hochphilosophie des Vedanta enthalten. Vedanta beschreibt die Einheit von der Seele im Menschen (Atman) mit der Weltenseele (Brahman) und sieht die manifeste Welt als Täuschung (Maya) an.
Da diese Hochphilosophie für das einfache Volk nicht zu verstehen war, bekamen die Brahmanen, die Priester, immer größere Macht. Sie ließen Religion und Philosophie in Ritualen und Vorschriften erstarren und betonten dabei die Leidhaftigkeit und Illusion dieser Welt. Als Gegenbewegung entstanden dann die Volksreligionen des Shaivismus, Vaishnavismus und Tantrismus, welche als höchste Gottheit Shiva, Vishnu beziehungsweise Shakti/Devi verehrten. Besonders der Tantrismus war dabei sehr viel diesseitsorientierter, körperbejahender, genussfreudiger und bedurfte nicht mehr der Vermittlung durch Priester. Zwischen dem 2. und 8. Jh. n.Chr. entstanden Schriften, die „ Agamas“ beziehungsweise „Tantras“ genannt wurden. Im indischen Mittelalter folgte die Blütezeit des Tantrismus, welcher dann auch die brahmanische Hochreligion durchdrang. Diese geschichtliche Einschätzung wird in ähnlicher Form von den meisten deutschen Indologen geteilt.
Seit Urzeiten gab es in Indien gleichzeitig diverse spirituelle und religiöse Richtungen, welche sich gegenseitig beeinflussten, befruchteten und dann wieder voneinander abgrenzten. Tantrismus war dabei mit der Verehrung der Muttergottheit und damit der Kosmischen Energie verbunden. Zwar haben die Tantriker erst in den nachchristlichen Jahrhunderten eigene Schriften verfasst, aber man findet schon zu Zeiten der Induskulter (4. bis 3. Jt. v. Chr.) die Symbole des Tantras wie Muttergöttinnen und Darstellungen von Shiva in Meditation und als Shivalingam. In den klassischen Schriften (den Veden, den Puranas und den Itihasas wie Ramayana und Mahabharata) gibt es zahllose Hinweise auf Tapaswins ( Asketen), die Atemübungen und andere Energieübungen praktizierten und die Göttin verehrten.
Gerade im späteren indischen Mittelalter, als Indien unter Fremdherrschaft diverser moslemischer Steppenvölker geriet, wurde die vorherrschende brahmanische Religion von den Regierenden unterdrückt und die Volksreligionen wurden stärker, befruchteten und vermischten sich untereinander mit dem Brahmanismus und dem Vedanta. Heutzutage lehren die meisten Yoga-Meister zum einen die Philosophie der Einheit im Sinne des Vedanta, zum anderen aber auch tantrische Praktiken wie Hatha- und Mantra-Yoga und verbinden das mit Raja-, Bhakti- und Karma-Yoga. Letztlich sind die verschiedenen Systeme nicht als historische Entwicklungen zu verstehen, sondern als verschiedene Aspekte des gleichen umfassenden ganzheitlichen Yoga.