Arii

Aus Yogawiki

Arii - buddhistischer Mädchen-Name, vermutlich aus Sri Lanka, eventuell aus Nepal, eventuell Pali.

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Arii - die Geschichte einer jungen buddhistischen Frau

Von von Judith Ranxloh, erschienen im Frühjahr 2006 im Yoga Vidya Journal Nr. 15

Das Licht kitzelte die Blätter der Papayabäume bis sie einer leichten Brise nachgaben, so dass es durch sie hindurch auf den Sand und die Ameisen herab fiel. Aus der Brise wurde ein Wind, der große, trockene Blätter auf den Weg wehte, den sie gerade sauber gefegt hatte. Als ob er mit ihr spielen wollte, zerrte er heftiger an den Baumwipfeln über ihrem Kopf, um Sonne und Schatten auf ihrem Gesicht tanzen zu lassen. Komm, gib mir ein Lächeln! Sie wusste, dass sie von Schönheit umgeben war, aber das war kein Grund zur Freude. Sie fing wieder von vorne an. Sie hasste Schönheit. Nach dem Fegen ging Arii in ihr winziges Haus, um pünktlich zum Zwölf-Uhr-Glockenschlag die letzte Mahlzeit des Tages einzunehmen. „Mit weiser Besinnung verzehre ich dieses Mahl. Nicht aus Spaß, nicht zum Rausch, nicht um mich zu mästen oder zu verschönern. Nur um diesen Körper lebendig und gesund zu halten auf dem Weg des spirituellen Lebens. Auf diese Weise setzt sich der Prozess des Lebens fort, schuldlos, leicht und friedvoll." Nach dem Essen wäre Zeit zum Ausruhen gewesen, aber sie stieg sofort auf den Dachboden des Frauengebäudes hinauf um zu meditieren.

Wenige Gelübde hatten ausgereicht. Das Versprechen, keinem Lebewesen den Atem zu rauben, nichts zu nehmen, was nicht gegeben wurde, das Bewusstsein nicht mit Rauschmitteln zu beeinträchtigen und sich an den Tagesablauf des Ordens zu halten. Sie hätte sich weder den Kopf zu rasieren, noch ihre normale Kleidung gegen die weiße Robe der Nonnen einzutauschen brauchen, um im „Garten der Befreiung des Geistes“ zu leben, aber sie hatte auf beidem bestanden.

Sie hatte etwas opfern wollen. Wie geübt sie darin war, konnte sie selbst nicht wissen, weil das Opfern ein Leben lang Normalität für sie gewesen war. Natürlich opferte man jugendliche Träumereien den Plänen der Eltern, die dasselbe für einen selbst getan hatten. Natürlich hatte sie dann für nichts anderes gelebt, als ihre eigenen Kinder wachsen und gedeihen zu sehen. Wie schwer es ihr gefallen war, sie in so jungem Alter von sich gehen zu sehen, würde nie jemand wissen. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich nichts mehr wünschen durfte als ihnen die bestmögliche Ausbildung zukommen zu lassen, ließ keine Äußerung ihres Schmerzes zu. Danach lebte sie von Fotos und dem Stolz ihres Mannes und der Nachbarn, denen es leichter gefallen war, den Wert eines Internatsabschlusses mit dem Verzicht einer Mutter aufzuwiegen. Aber nie hatte sie es als Opfer empfunden, sich den Beschlüssen des Mannes zu fügen, der ihr zur Seite gestellt worden war. Er war ein guter Mann gewesen und ein liebevoller Vater, der so hart und selbstlos gearbeitet hatte, dass seine Frau und Kinder stets etwas besser versorgt waren, als der bescheidene Wohlstand des Dorfes es einen sonst erwarten ließ.

War es dann überhaupt ein Opfer gewesen, das Leben anzunehmen, das ihr vorgeschrieben, aber auch geschenkt worden war? - Man könnte sagen, dass einige Opfer leichter gefallen waren als andere. Er war ein schöner Mann. Oft hatte sie ihrem Glück nicht glauben können, das den Sinn ihrer Eltern gelenkt hatte, als sie ihn als Ehegatten für sie gewählt hatten. Damals hatte sie die Schönheit noch geliebt. Und sie hatte den Gedanken daran stets als Hilfe genommen, um ihm die kleinen Momente der Unbesonnenheit zu verzeihen, die einem Mann unterlaufen, der schon seit vielen Jahre neben einer Frau lebt, die ruhig und geduldig ist, auch ohne dass man ständig ihr Begehren erforscht. Sie war nicht unzufrieden gewesen. Das Opfer, das es zu erbringen galt, als sie ihn mit einer anderen Frau beim Baden im Innenhof ihres Hauses sah, war ihr sehr viel schwerer gefallen. Sie war es gewesen, die ihr als das schönste Wesen in Erinnerung geblieben war, das es auf der Welt gab. Er hatte ihre Haut mit Öl eingerieben, und das Wasser perlte in glitzernden Tropfen daran ab, als er es über ihren Rücken goss und sie dabei dicht umschlungen hielt. Arii war leise aus dem Haus gegangen, hatte am Bahnhof die vier Stunden abgewartet, die sie zu früh gekommen war, und war dann heimgekommen, als ob nichts geschehen sei.

In diesen vier Stunden hatte sie Zeit gehabt um nachzudenken, und sie wusste, dass sie Rat brauchte. Ihre Freundin wusste keinen, aber sie brachte sie zu einem Mönch, der alleine im Wald lebte und in weitem Umkreis von der Bevölkerung bei Lebensfragen konsultiert wurde. Arii war immer eine gute Buddhistin gewesen, die dem kleinen Schrein in ihrem Vorgarten makellosen Dienst erwies. Sie vertraute dem Urteil eines Geistlichen. Er empfing sie sehr gütig und versuchte, ihr die Schüchternheit zu nehmen. „Was willst du jetzt tun?", fragte er, nachdem sie ihre Lage geschildert hatte. „Ich will meinem Mann sagen, dass er keine zweite Frau haben soll. Ich bin die, die ihm angetraut worden ist." Der Mönch schloss die Augen und blieb minutenlang bewegungslos, während Arii ihren Herzschlag in der Kehle fühlte. Als er sie wieder öffnete, sprach er sehr bestimmt. "Die Ehefrau, die toleriert, dass ihr Mann eine zweite Frau hat, wird für immer von ihm geehrt werden. Sage ihm, dass du seine Entscheidung akzeptierst. Denn wie könnte er dich nicht ehren, da es keinen Weg gibt, auf dem du mehr Größe beweisen könntest? Unsere Pflicht in dieser Welt ist es nicht, das einzufordern wonach wir verlangen. Wir können es ohnehin nicht haben. Sollten wir es einmal für einen flüchtigen Augenblick erhascht haben, zerrinnt es doch in unseren Fingern beim nächsten Wimpernschlag. Unsere Pflicht ist es, das gehen zu lassen, was geht und das anzunehmen, was kommt."

Als er geendet hatte, spürte sie ein Hindernis im Hals, das sie nicht schlucken ließ. Sie wusste nichts zu antworten, darum hob sie die aneinander gelegten Hände bis zur Stirn und verbeugte sich zum Abschied. Ihre Freundin führte sie zurück. Arii hatte die abstrakten Begriffe der Gelehrten schon zuvor nie ganz verstehen können, und auch jetzt wusste sie nicht was „Verlangen“, „Kommen und Gehen lassen“ und „es“ in ihrem Fall genau bedeuten sollten. „Pflicht“ verstand sie. In ihrer Welt war es dasselbe wie „opfern“. Auf dem langen Weg durch den Wald war ihr zuerst schwindelig gewesen, so dass ihre Freundin sie zweimal stützen musste, als sie strauchelte. Dann begann sie, klarer im Kopf zu werden und das Tier in sich niederzukämpfen, das Angst und Grauen vor dem empfand, was ihr bevorstand. Als sie es geschafft hatte, fühlte sie sich stark und ruhig. In der Gewissheit, das Richtige zu tun empfand sie fast so etwas wie Erleichterung. Nur an die Schönheit durfte sie jetzt nicht denken, um diese Klarheit nicht zu gefährden, und von da an nie wieder.

Als ihre Freundin sich am Dorfeingang von ihr trennte, war die kurze Dämmerung schon fast vorbei, und Arii beeilte sich, weil es tadelig gewesen wäre, nach Einbruch der Dunkelheit heimzukommen. Ihr Mann machte deswegen eine Bemerkung; auch darüber, dass sie fort gegangen war, ohne ihn wissen zu lassen, wohin. Zum ersten Mal hörte sie seinen Tadel nicht. Das Pochen in ihrer Kehle wurde stärker und war ihr hinderlich, als sie ihm direkt in die Augen sah und aussprach, was sie zu sagen hatte. Sie wusste nicht, welche Reaktion sie erwartet hatte. Aber unter allen Möglichkeiten von Dankbarkeit bis hin zu Gleichgültigkeit hatte sie mit dieser einen nicht gerechnet. Er blickte sie ebenso gerade an und wich nicht aus, als er ihr seinerseits ernst und ruhig seine Mitteilung machte.

Zwei Tage später, die sie sich mit keinem Moment ins Gedächtnis zurückrufen konnte, war er nicht mehr da. Er war zu seiner neuen Frau nach Surat Thani gezogen. Arii bekam dann noch einen Brief von ihm, in dem er erklärte, dass er selbstverständlich weiter für sie und die Kinder aufkommen werde, die ihn übrigens in den Sommerferien besuchen würden, damit sie sein neues Haus kennen lernen konnten. Das alte würde ihr Zeit ihres Lebens zur Verfügung stehen. Danach war nichts in ihrem Leben mehr wirklich. Wenn sie die Fotos an der Wand betrachtete, wurde ihr bewusst, dass ihre Kinder schon seit Jahren nicht mehr so aussahen wie zur Zeit dieser Aufnahmen. Die Briefe kamen weiterhin, erwähnten aber mit keinem Wort die Veränderung im Leben der Eltern, sondern nur die Aussicht, die nächsten Ferien beim Vater in der Stadt verbringen zu können. Den Stolz hatte er auch mitgenommen, Arii sah es in den Augen der Nachbarn, wenn sie auf der Straße gegrüßt wurde - aufmerksamer und gleichzeitig eiliger als sonst. Sie ging, den Hausschrein mit frischen Blumen zu schmücken und sah, dass er eine Farce geworden war. Er stand dort, um das Heim der Familie zu schützen. Welches Heim? Welche Familie? Und vor allem: warum hatte er seine Aufgabe nicht erfüllt? Sie erinnerte sich daran, dass die Mönche immer sagten, es reiche nicht aus, einen Hausschrein zu verehren, um glücklich zu werden. Was aber dann? Was hatte sie übersehen? Hatte sie nicht sogar das befolgt, was der Einsiedler ihr aufgetragen hatte? Er musste sich geirrt haben. Alleine machte sie sich auf den Weg durch den Wald und erreichte sein Haus, nachdem sie sich nur einmal verlaufen hatte, aber es war niemand da. Der Abend kam, bevor sie das Warten aufgab und wieder umkehrte. Verzweifelt versuchte sie sich seine genauen Worte ins Gedächtnis zurückzurufen, aber sie konnte sich nur an die Pflicht erinnern. Vielleicht hatte Arii sie nicht gut genug erfüllt, vielleicht hatte sie zu lange gezögert, sich ihr zu unwillig unterworfen. Aber wenn sie nicht sterben sollte, dann musste ihr Mann zu ihr zurückkommen, denn er hatte ihr Leben mitgenommen. Das Haus war nichts als das Skelett eines toten Heimes.

Die Nonne Arii hatte keine Erinnerung daran, wie lange es noch gedauert hatte, bevor sie die Notwendigkeit sah, dem Buddha ihren Willen zur vollständigen, makellosen Pflichterfüllung zu beweisen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie gelernt zu meditieren und ihre Tage in Schweigen zu verleben. Regelmäßig hörte sie die Vorträge des Abtes und anderer Mönche über "Dhamma" - das Naturgesetz, bestehend aus den vier Noblen Wahrheiten: Das Leiden, der Grund des Leidens, die Aufhebung des Leidens und der Grund der Aufhebung des Leidens. Sie hörte von der interdependenten Entstehung des Ich, dem achtfachen Noblen Pfad und den Fünf Entgleisungen des Geistes. Diese Lehren wurden - ohne Zweifel mit Rücksicht auf ungebildete Leute wie sie - ständig wiederholt, doch zu ihrer eigenen Überraschung lernte sie schnell. Die vier, die fünf, die acht, und die Texte der heiligen Schriften, die allabendlich in Pali gesungen wurden, all das konnte sie bereits wiederholen.

Aber nichts von alledem sprach zu ihr über Arii und deren Familie. Wenn von dem allgegenwärtigen Leiden "Dukkha" erzählt wurde, dann war das nicht ihr Schmerz. Den hatte sie auf dem Markt gesehen, wo sie einmal in der Woche vorbeikam, wenn sie bei den Dorfbewohnern Lebensmittel sammelte. Eine Kuh war überfahren worden, so dass es Rindfleisch zu kaufen gab. Die Marktfrau nahm sich gerade die Leber vor, die so frisch aussah, als ob sie noch lebendig sei, und stieß mit einer Gabel hinein. „Das ist meine Seele.", hatte Arii gedacht. Wenn sie jetzt bei der Meditation saß, öffneten sich die inneren Schutztore, die sie für gewöhnlich von den Gedanken über sich selber abschirmten, und sie spürte, dass aus ihrem Inneren das Blut herauf sprudelte, wie es damals aus der Leber gequollen war. Von der dunklen Stelle tief in ihr drin, an der ihr Atem leicht und still hätte ein- und ausströmen sollen, brodelte es empor, stieg in ihrer Leibeshöhle auf und füllte ihren Hals, bis kein Atem mehr hindurch kam. Sie riss die Augen auf, bevor es ihr aus dem Mund schoss und die anderen Nonnen um sie herum erschreckt aufschreien würden. Aber da gab es kein Blut, und sie war allein. Das heißt, ein Gecko war da, der einen Meter von ihr entfernt kopfüber an einem der Balken haftete, die das Dach stützten. Mit schwarz glänzenden Augen sah er sie an, und die dicken runden Zehen lagen ganz dicht am winzigen Körper, als wartete er gespannt auf ihre Reaktion. Er machte einen ohrenbetäubenden Lärm. "Gecko, gecko, gecko." , kam es unaufhörlich aus ihm heraus, als wollte er die ganze Welt auf seine harmlose kleine Existenz aufmerksam machen. „Dass ich das nicht vorher gehört habe!", dachte Arii und stand sehr langsam auf, um die Blutzirkulation in ihre Beine zurückkehren zu lassen. „Dass du mich vorher nicht gehört hast! Ich habe versucht, dich zu wecken.", antwortete der Gecko in ihre Gedanken hinein. Unwillkürlich hielt sie einen Moment inne, bevor sie den sonnendurchfluteten Dachboden verließ. Sie sah sich nicht um, weil sie wusste, dass das weiche Licht des Spätnachmittages ihn um diese Zeit in reine Schönheit verwandelte. „Ich kann nicht meditieren. Wenn ich versuche, Ruhe zu finden, geschieht das Gegenteil, und ich bin erregt und verwirrt. Ich will die richtige Bewusstheit erlangen, aber etwas mache ich falsch."

Der Abt hatte sich sofort Zeit für sie genommen, als sie ihn um eine Unterredung gebeten hatte. Jedes Mal war sie tief berührt durch die Aufmerksamkeit, die er ihr zollte, obwohl sie nur eine Nonne war. Eine Frau konnte nie zum Buddha werden, weil sie dazu von der Natur nicht mit genügend Willenskraft und Ausdauer ausgestattet worden war. So hatte der vorherige Abt und Gründer des Klosters es gelehrt, und er hatte einen großen Schritt zur Annäherung der [Weltreligion]]en getan, als er in zahlreichen Schriften und Vorträgen Christentum und Buddhismus in Hinsicht auf diesen Aspekt miteinander verglichen hatte. "Religion", re-ligio, bedeutet "zurück zum Ursprung". Dadurch, dass die Bibel den Mann als Sohn Gottes, die Frau aber als Tochter des Menschen bezeichnet, war auch die Lebensreise beider Geschlechter festgelegt, - jedes zurück zum Punkt seiner Entstehung. Der Ajahn, der sich wie ein echter Buddha nie selber zu seinem spirituellen Stand geäußert hatte, wurde seit seinem Tod allgemein als erleuchtet angesehen, weshalb Arii an seiner Auslegung der Lehren nicht zweifelte.

Um so mehr bewunderte sie seinen Nachfolger dafür, dass er trotz der scheinbaren Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens auch Nonnen all ihre Fragen beantwortete. Wahrscheinlich war es seine Pflicht, sie ihren eigenen Möglichkeiten gemäß zu fördern und vielleicht wollte er ihnen auch Gelegenheit geben, sich auf die Erleuchtung in einem späteren Leben nach ihrer Wiedergeburt als Mann vorzubereiten. Während seiner Vorträge lächelte er nie, nicht einmal wenn er einen Scherz machte. Das konnte mitunter zu Missverständnissen führen, wie jenes Mal, als er einer Reisegruppe von Gläubigen empfohlen hatte, die Schildkröten der Dummheit in seinem Kloster abzulegen und für immer zurückzulassen. Er hatte sich des Bildes der in Thailand sprichwörtlichen Dummheit der Schildkröte bedient, um die Befreiung von spiritueller Unwissenheit zu illustrieren. Dabei hatte er allerdings den Umfang der Schildkröten seiner Gäste unterschätzt, und zwar im doppelten Sinne. Denn sie kamen wieder und brachten Schildkröten mit Panzerdurchmessern von bis zu einem Meter mit. Unfähig, ein dargebotenes Geschenk abzuweisen, ordnete der Abt an, sie in einem sumpfigen Graben hinter der Versammlungshalle abzusetzen, wo sie eine Weile lang dicht aneinander gedrängt von den Gemüseabfällen der Nonnen existierten. Angesichts dieser Misere stellte er später eine Gruppe Mönche dazu ab, weiter abseits im Wald einen Teich anzulegen, für dessen Sauerstoffzufuhr er eigens eine Pumpe aus der Stadt anliefern ließ. Die Schildkröten wurden unter großer Anstrengung einzeln dorthin getragen, ausgesetzt und fortan nicht mehr gesehen. Arii hoffte, dass sie sich wohl fühlten, denn die Ausgaben, die für das Glück einiger Schildkröten gemacht worden waren, schienen ihr enorm für eine geistliche Gemeinschaft, die abgesehen von den Spenden einiger reicher Besucher kein eigenes Geld besaß.

Selbst Kleidung und Nahrung mussten die Mönche und Nonnen bei den Bewohnern der umliegenden Dörfer erbetteln, denen sie dadurch Gelegenheit boten, auf dem Weg der Erlösung fortzuschreiten. Einem Mönch etwas geben zu dürfen, war eine Ehre, für die der Geber sich mit einer kleinen Verbeugung bedankte. Ob er wusste, dass von seinen Gaben große Reptilien gefüttert wurden, hatte Arii sich gefragt. Aber sie hätte ihm versichern können, dass seine Selbstlosigkeit durch den hoch verehrten Abt unvermindert bis zu den niedrigsten aller Lebewesen weitergegeben wurde. Sie liebte ihn dafür, dass er keinen Unterschied zwischen den Bewohnern seines Klosters machte. Außerdem lächelte er wenn sie alleine waren. Wie um das letzte Licht seiner halb blinden Augen zu sparen, öffnete er sie so gut wie nie. Er hatte die Gegebenheiten des Klosterarsenals in den fünfzig Jahren seines Hierseins so gut kennen gelernt, dass er sich nun mit geschlossenen Augen darin zurechtfand. Als er unendlich langsam die Lider hob, erinnerte er Arii selbst an eine Schildkröte. „Du atmest ein und atmest aus! Heute bist du besser als gestern. Du machst weiter." Warum konnte man Mönchen seine Probleme so schwer verständlich machen? Es musste daran liegen, dass sie selber keine hatten, beschloss Arii.

Sie wollte es aber noch einmal versuchen. „Seit über einem Jahr tue ich nichts anderes bei meiner Meditation als ein- und auszuatmen. Aber nichts hat sich verändert. Ich sehe immer noch dieselben Bilder. Und ich habe Sorge, dass ich nicht meine Pflicht erfülle, wenn ich mich nicht richtig konzentrieren kann." Richtige Konzentration war der letzte Schritt des Noblen Achtfachen Pfades. „Du tust deine Pflicht wenn du atmest. Bilder fliegen vorbei. Gefühle schwimmen vorüber. Wenn du verstehst, bist du frei. Nichts wird sich je ändern." Und er schloss die Augen wieder, - langsam. Arii wartete noch einen Moment, aber scheinbar war es ihr nicht gegeben, ihre Lage so darzustellen, dass die Menschen ihrer Umgebung sie verstehen konnten. Immer wieder hatte sie um Anleitung gebeten, und immer hatte sie dieselben Sätze zu hören bekommen, die überhaupt keine Hilfe darstellten, sondern wie monotone Durchhalteparolen eines Geistes klangen, der sich nicht im Geringsten in ihre Gefühle hineindenken konnte. Niemand hatte sie je gefragt, warum sie in dieses Kloster gekommen war. Niemand wollte von ihrem früheren Leben erfahren. Erst als sie schon die halbe Strecke zum Nonnenquartier zurückgelegt hatte, wurde ihr bewusst wie wütend sie auf alle Ordensleute war, die angeblich voller Weisheit waren und ihr doch nicht helfen konnten - oder wollten.

Der warme Sand streichelte ihre Fußsohlen und flüsterte: „Ich bin da. Ich will dir helfen." Aber sie achtete nicht auf ihn, denn seit jenem Augenblick im Innenhof ihres Hauses mochte sie auch keine Sinnlichkeit mehr. "Ich habe sie dem Buddha geopfert!", sagte sie schließlich zum Sand, als wolle sie ihre Entscheidung moralisch untermauern. Als sie sich dem Frauenhaus näherte, wo einige der Nonnen wohnten, hörte sie Stimmen in der Küche. Drei Nonnen unterhielten sich beim Gemüseputzen. Arii konnte gut verstehen was sie sagten, während sie sich ihnen näherte, aber dann blieb sie unwillkürlich zwei Schritte vor der offenen Tür stehen. Eine junge Novizin mit geschorenem Kopf hatte Nathinee, der formell die Organisation des Frauenhauses unterstand, gefragt warum sie ihr Haar lang trug. Nathinee war dem Orden elf Jahre zuvor beigetreten und hatte immer noch einen langen Zopf im Nacken. Nur die Strähnen, die ihr an den Seiten ins Gesicht zu fallen drohten, steckte sie jeden Morgen ohne Spiegel und mit akribischer Genauigkeit mit Haarklammern fest. Arii mochte ihr ausdrucksstarkes Gesicht und ihre ausgeglichene Art. „Du wirst nicht Buddhist, indem du dir die Haare abschneidest!", hörte sie ihre Antwort. „Weißt du, wie viele Frauen ins Kloster kommen, sich den Kopf rasieren und nicht das Geringste vom Buddhismus wissen? Sie denken, sie könnten sich so von Buddha einen Wunsch erfüllen lassen - ein Kind, das sie nicht bekommen können, oder der Mann, der sie verlassen hat. Sie denken, Buddha sei eine Götzenfigur oder ein heiliger Baum, dem man zum Dank ein buntes Tuch umbindet wenn er einem sein Anliegen erfüllt hat. Ich sage dir, warum sich hier alle den Kopf scheren lassen. Weil es weit und breit keinen Spiegel gibt, den man braucht, um sich die Haare zu frisieren!" Alle drei lachten fröhlich und hell, aber in Ariis Ohren klang ihr Lachen schrill.

Sie machte kehrt und lief in den Wald. Sie hatte das Gefühl, dass man ausschließlich über sie gelacht hätte. Aber warum? Natürlich hatte sie angenommen, dass man dafür belohnt werden würde, ein guter Buddhist zu sein. Warum hätte man es denn sonst tun sollen? Und hatte sie in den Belehrungen nicht unablässig von Glückseligkeit und der Befreiung von Schmerz und allem Leiden gehört? War sie nicht zu Buddha als ihrer letzten Hoffnung gekommen? Und hatte sie nicht alles getan, was ihr jemals in Buddhas Namen empfohlen worden war, von der Bereitschaft, ihren Mann mit einer anderen Frau zu teilen bis hin zu den ungezählten Stunden, sinnlosen, stumpfsinnigen Stillsitzens? „Was willst du?", schrie sie in den Wald. „Was willst du denn von mir?" Seit der Geburt ihres zweiten Kindes hatte sie nicht mehr geschrieen, und selbst da hätte sie nicht gewagt, den Erleuchteten herauszufordern. Die Baumwipfel wiegten sich weiterhin sanft im Wind und neigten sich ihr freundlich zu. Erschöpft und ausgeleert ließ sie sich auf die Erde fallen und begann, sich selbst zu sehen. Sie beobachtete sich aus einiger Entfernung wie sie dasaß, in ihrem formlosen weißen Kittel mit dem kahlen Kopf, dem nicht einmal die Augenbrauen geblieben waren. Und irgendwann musste sie darüber lachen, dass sie gedacht hatte, ihr Mann könnte wirklich zurückkommen, um sie in diesem Zustand gegen seine wunderschöne Geliebte wieder einzutauschen. Sie musste verrückt gewesen sein. Wahrlich, kein Buddha der Welt könnte das bewerkstelligen.

Und in dem Moment da sie das wusste, fielen ihre Hoffnungen von ihr ab und mit ihnen alle Pflicht, denn es gab nichts mehr zu erreichen und nichts mehr, wovor man sich hätte fürchten müssen, da die Zukunft ohnehin aufgehört hatte zu existieren. Es gab nur noch Arii und den Waldboden. Und die Schildkröte. Sie hatte unter einem Haufen trockener Palmenblätter gesessen, aus denen sie sich nun unter lautem Rascheln befreite. Langsam schob sie den Kopf vor und hielt inne, dann begann sie sehr langsam einen Schritt mit dem rechten Vorderfuß, den sie aber vorerst anscheinend nicht zu vollenden gedachte. Arii sah sie überrascht an. Seit die Schildkröten ausgesetzt worden waren, schienen sie sehr darauf bedacht gewesen zu sein, jeder weiteren Begegnung mit den Menschen aus dem Weg zu gehen. Sie dachte an den Ajahn, lächelte und wartete auf die nächste Bewegung. „Du bist dran.", dachte die Schildkröte. „Was?" „Ich habe einen Schritt gemacht, jetzt musst du einen machen. So ist die Regel." Arii hörte kurz auf zu atmen. Die Worte der Schildkröte schwangen in der Gedankenleere ihres Geistes wie in einem großen schwarzen Raum.

Sie hörte in diesen Raum hinein, aber jetzt war er still. Sie lauschte noch einmal. „Du musst antworten." Ich muss antworten. Sie konnte nicht antworten. Sie konnte nur fragen. Sie hatte noch nie geantwortet. Sie war ja auch noch nie von jemandem irgend etwas gefragt worden. "Das geht ja schon ganz gut. Ein bisschen langsamer vielleicht. Weißt du, in der Langsamkeit liegt die Schönheit. Ich habe etwas übrig für Schönheit." „Ich nicht." , fuhr es Arii unwillkürlich durch den Kopf, wie schon hunderte und tausende von Malen in den vergangenen zwei Jahren. „Wirklich nicht?", fragte die Schildkröte, indem sie wenig zurückhaltend Ariis privaten Gedankengang unterbrach. „Aber wenn du mich zum Beispiel betrachtest.....“ Arii musste wieder lächeln. „Du siehst aus wie der Abt!2, sagte sie in den schwarzen Raum hinein, dem sie zu vertrauen begann, weil er immer noch da war. Die Schildkröte hob sehr langsam eines ihrer Lider, die Reptilien für gewöhnlich von der Unterseite her über ihre Augen ziehen. Dann senkte sie es wieder, aber nur so weit, dass das Auge einen Spalt weit geöffnet blieb. Arii hatte verstanden. Atemlos flüsterte sie in das Vakuum ihrer Gedanken: „Bist du der Abt?“ „Gewissermaßen. Ich bin bloß an die zweieinhalb tausend Jahre älter als er." „Buddha!" Da die Realität ohnehin aufgehört hatte zu existieren, konnte man auch getrost alles aussprechen, was einem in den Sinn kam. „Sie haben dir wohl erzählt, er sei ein schöner junger Prinz gewesen, der dann irgendwann weiser, älter und noch schöner geworden sei, was? Nun, das stimmt auch. Aber das widerspricht ja nicht der Tatsache, dass er außerdem eine Schildkröte ist. Weißt du, in unserer Welt widersprechen sich überhaupt keine Tatsachen, ganz egal was sie aussagen." „In wessen Welt?" „In deiner und meiner." „Was ist mit den anderen?" „Was für andere? Es gibt niemanden sonst." „Doch, natürlich, die anderen Nonnen, die Mönche, die Menschen...die anderen Menschen!" „Ich sehe keine." Sie wollte mit dem Arm in Richtung der Häuser zeigen, aber wusste, dass man sie von hier aus nicht sehen konnte. „Der Abt! Du kennst den Ajahn. Er zum Beispiel ist also noch in dieser Welt." , triumphierte Arii. „Natürlich. Er ist da. Aber er ist Teil deiner und meiner Welt. Schon vergessen?"“ Die Schildkröte zwinkerte ihr noch einmal in Zeitlupe mit dem Auge zu.


Jetzt begann Arii, Angst zu bekommen. Sie wollte ein Stückchen ihrer Realität wiederhaben. „Wenn du Buddha bist, dann hilf mir! Ich weiß nichts von meiner Welt. Ich weiß ja noch nicht einmal, was ich mit meinem Leben machen soll. Ich bin vierundvierzig Jahre alt, aber ich komme mir so hilflos vor und so dumm wie eine...". Sie brach ab. „Oh, - ist schon gut. Ich bin überhaupt nicht eitel. Dumm wie eine Schildkröte. Weißt du, so sind die Leute. Sie denken sich irgendwas aus, und dann fangen sie einfach an, daran zu glauben. Zu anderen Zeiten haben sie genau dasselbe von Frauen gesagt, und vor noch längerer Zeit von Männern. Aber nie hat jemand wirklich erforscht, wie klug oder dumm eine Schildkröte wohl sein mag. Wie auch? Statt dessen belegt man irgendein beliebiges Wesen mit den Eigenschaften, vor denen man selbst sich fürchtet, als wären sie damit gänzlich aus dem Weg geschafft und könnten einen nicht mehr befallen.

Ich liebe es, wie du dir deine Welt zusammen bastelst. Aber dann möchtest du dich trotz allem noch ein bisschen dumm fühlen, und anstatt zu sagen - „Arii ist dumm wie Arii.", verwandelst du dich in eine Schildkröte. Das ist fantastisch. Darauf muss man erst einmal kommen!" „Ich möchte mich nicht dumm fühlen!" „Dann hör auf." „Ich kann nicht einfach damit aufhören, mich irgendwie zu fühlen. Sonst hätte ich es längst getan." „Es ist deine Welt. Sie ist so wie du sie dir wünschst." „Das ist nicht wahr. Es war immer nur mein Wunsch gewesen, bei meiner Familie zu sein." „Tatsächlich? Und was war mit dem Wunsch der kleinen Arii, auf eine Schule zu gehen? Oder mit dem, sich einmal zu verlieben? Ist es wirklich das Höchste, was du dir vorstellen kannst, mit zwei Fotos als Kindern zu leben und einem gut aussehenden Einkommen als Ehemann? Nun, du weißt es nicht, weil du damals noch nicht in diese schöne Halle gekommen bist, um deinen Gedanken zuzuhören, aber ich bin schon etwas länger hier, und ich will es dir sagen: Nein, das war nie dein wirklicher Wunsch gewesen. Das hast du dir bloß eingeredet, um deine eingebildeten Pflichten zu erfüllen. Aber Wünsche sind stärker, weil sie ehrlicher sind. Sie riefen eine Rivalin herbei, die dir zeigen sollte, welche Rolle du wirklich in dieser Ehe spieltest. Und als du dich immer noch daran festgeklammert hast, haben die Wünsche deines Herzens dir das Ende einer Geschichte von Demütigung und Lieblosigkeit einfach aus den Händen gerissen und dich an einen Ort geschickt, wo du endlich lernen konntest, deine oberflächlichen Vorstellungen schweigen zu lassen. Wer nur an Pflichterfüllung denkt, kann nicht wissen, wer er selber ist. Du hast es sehr gut gemacht. Vielleicht meinst du jetzt, das sei ein langer, schwerer Weg gewesen. Aber glaube mir, er dauerte nur einen Wimpernschlag lang."

Wieder zwinkerte die Schildkröte, und es gab keinen Zweifel, dass sie dabei lachte. Die schwarze Halle in Ariis Innerem hatte sich geweitet und schien ihr mit einemmal unendlich viel Platz zum Atmen zu geben. Tatsächlich hatte der Atem angefangen, sie zu tragen, so dass sie unbeholfen aber schwerelos durch den Raum schwebte. Wenn sie eine der Wände berührte, merkte sie, dass sie mit schwarzem Samt ausgeschlagen waren, der Berührung aber sofort nachgaben und sich zurückzogen, so dass jedes Zusammentreffen den Raum augenblicklich noch vergrößerte. Dabei war es darin so still wie noch nie. Ganz still und ganz leicht. „Wer bin ich?", fragte sie sehr leise in die Stille hinein. „Wer bin ich?", echote die Schildkröte. Arii sah sie an, doch sie versuchte nicht mehr, nach ihrer verloren gegangenen Realität zu suchen. „Du bist Buddha." Anstatt etwas zu erwidern, zog die Schildkröte das linke Hinterbein nach und schob ihren Körper ein Stückchen weiter vor. Arii war noch einmal dran. „Du bist in meinen Gedanken. " „Du bist deine Kinder und dein Mann, die dir eine Pflicht zu erfüllen gaben, als es das war was du wolltest. Und du bist die schöne Geliebte deines Mannes, die dich freigesetzt hat, als du es nicht mehr wolltest", sagte die Schildkröte. „Und ein Gecko, der mich aus einem Alptraum errettet hat?" „Du bist die Welt. Es gibt nichts außer dir."

„Was ist mit den anderen Menschen? Sind sie dann nur Schattenfiguren, die ich mit Leben fülle, wenn ich sie brauche - ohne eigene Wünsche?" „Nein. Sie sind der Meister ihrer Welt, mit ihrem eigenen Ziel. Und du begegnest keinem von ihnen, ohne ihm dabei zu helfen, einen Schritt darauf zu zutun. Du bist ein Teil von ihren Wünschen, wie sie von deinen. - Wer sind wir also?" Sie hatte verstanden. Es war alles eins, untrennbar miteinander verwoben und verflochten durch denselben Atem, dessen Aufgabe schlicht und einfach die Erfüllung der Wünsche aller Lebewesen war, ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht. „Und wie heißt der, der sich dessen bewusst ist?", fragte die Schildkröte wie eine Lehrerin am Ende einer sehr langen Stunde. „Buddha.", sagte Arii und lächelte. Sie merkte, dass es angefangen hatte zu regnen und Ströme von rotbraunem Wasser rechts und links an ihr vorbeiliefen. Die Stille des Raumes in ihrem Inneren hatte das Prasseln der schweren Tropfen auf den Blättern übertönt, das ihr jetzt unwirklich laut erschien. Als ob die äußere Welt es fast damit übertreiben würde, sie wieder auf sich aufmerksam machen zu wollen. Die Schildkröte streckte genießerisch ihren Hals aus, um dem Regen ihren Kopf entgegen zu recken. Arii lächelte immer noch, und sie wusste auch nicht, ob sie wieder damit würde aufhören können. Das Wasser perlte vom Rückenpanzer der Schildkröte ab, der glänzte als ob er vorher eingeölt worden wäre. Manche Tropfen schlugen so heftig auf, dass sie in einen kleinen Sprühregen zerplatzten, andere blieben intakt und fingen wie geschliffene Kristalle das Sonnenlicht ein, das einzelne Strahlen zwischen den Schauerwolken bereits wieder ankündigten. Lange sah sie zu, ohne dass die Zeit fortschreiten wollte. „Und was mache ich jetzt?", fragte sie die Schildkröte dann. „Was wünschst du dir?"

Siehe auch

Literatur

Weblinks