Vishnus Maya: Unterschied zwischen den Versionen
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Der Geist des [[Hinduismus]] verbindet solche Vorstellungen wie »vorübergehend, immer wechselnd, entfliehend, immer wiederkehrend« mit dem Begriff des »Unrealen« und umgekehrt »unvergänglich, wechsellos, standhaft und ewig« mit dem des »Realen«. So lange die Erfahrungen und Empfindungseindrücke, welche durch das [[Bewusstsein]] eines Individuums strömen, noch nicht von einer erweiternden, die Werte richtig stellenden Vision berührt sind, betrachtet es die vergänglichen Kreaturen, die im unendlichen Zyklus des Lebens ([[Samsara]], der Kreis der [[Reinkarnation|Wiedergeburten]]) auftauchen und verschwinden, als völlig real. Aber im Augenblick, wo ihr vor-überflutender Charakter erkannt ist, erscheinen sie fast unreal, als eine [[Illusion]] oder Fata morgana, eine Täuschung der [[Sinne]], die zweifelhafte Klitterung eines allzu beschränkten, ichgerichteten Bewußtseins. Auf diese Weise erfahren und begriffen ist die Welt [[Maya]]-maya, »aus dem Stoff der Maya«. Maya ist »Kunst«: dasjenige, durch was ein Künstliches, eine Erscheinung, hervorgebracht wird. | Der Geist des [[Hinduismus]] verbindet solche Vorstellungen wie »vorübergehend, immer wechselnd, entfliehend, immer wiederkehrend« mit dem Begriff des »Unrealen« und umgekehrt »unvergänglich, wechsellos, standhaft und ewig« mit dem des »Realen«. So lange die Erfahrungen und Empfindungseindrücke, welche durch das [[Bewusstsein]] eines Individuums strömen, noch nicht von einer erweiternden, die Werte richtig stellenden Vision berührt sind, betrachtet es die vergänglichen Kreaturen, die im unendlichen Zyklus des Lebens ([[Samsara]], der Kreis der [[Reinkarnation|Wiedergeburten]]) auftauchen und verschwinden, als völlig real. Aber im Augenblick, wo ihr vor-überflutender Charakter erkannt ist, erscheinen sie fast unreal, als eine [[Illusion]] oder Fata morgana, eine Täuschung der [[Sinne]], die zweifelhafte Klitterung eines allzu beschränkten, ichgerichteten Bewußtseins. Auf diese Weise erfahren und begriffen ist die Welt [[Maya]]-maya, »aus dem Stoff der Maya«. Maya ist »Kunst«: dasjenige, durch was ein Künstliches, eine Erscheinung, hervorgebracht wird. | ||
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Das Substantiv Maya ist etymologisch mit »messen« verwandt. Es ist aus der Wurzel ma gebildet mit der Bedeutung "messen" oder "auslegen" (wie z. B. den Grundriß eines Gebäudes oder die Umrisse einer Figur); hervorbringen, Kontur geben oder schaffen, zur Erscheinung bringen bzw. in Szene setzen.« Maya ist das Ausmessen oder die Schöpfung oder das zur Erscheinungbringen der Formen; Maya ist jede Illusion, jeder Trick, jedes Kunststück, jeder Betrug, jede Taschenspielerei, Zauberei oder Hexerei; ein illusorisches Bild oder eine Erscheinung, ein Phantasma, eine Gesichtstäuschung; Maya ist auch jeder diplomatische Trick oder Einfall politischer Geschicklichkeit mit Betrugsabsicht. Die Maya der Götter ist ihre Macht, verschiedene Erscheinungsformen anzunehmen, indem sie nach Belieben die einzelnen Aspekte ihres subtilen Wesens ausspielen. Aber die Götter sind selbst die Hervorbringung einer größeren Maya: der spontanen Selbstumformung einer im Innern ungeschiedenen, allerzeugenden göttlichen Substanz. Und diese größere Maya bringt nicht die Götter allein, sondern auch das All hervor, in dem sie sind und handeln. Die Gesamtheit der [[Weltall]]e, die gleichzeitig im [[Raum]] existieren und derer, die in der [[Zeit]] aufeinanderfolgen, all die Ebenen des Seins und die natürlichen oder übernatürlichen Geschöpfe dieser Ebenen sind Manifestierungen eines unerschöpflichen, ursprünglichen und ewigen Seinsbrunnens. Ihre [[Offenbarung]] geschieht durch das Spiel der Maya. In der Epoche der Nichtmanifestation, dem Zwischenspiel der kosmischen Nacht, hört die Maya zu wirken auf und die Ausformungen ihres [[Spiel]]s verschwinden. | Das Substantiv Maya ist etymologisch mit »messen« verwandt. Es ist aus der Wurzel ma gebildet mit der Bedeutung "messen" oder "auslegen" (wie z. B. den Grundriß eines Gebäudes oder die Umrisse einer Figur); hervorbringen, Kontur geben oder schaffen, zur Erscheinung bringen bzw. in Szene setzen.« Maya ist das Ausmessen oder die Schöpfung oder das zur Erscheinungbringen der Formen; Maya ist jede Illusion, jeder Trick, jedes Kunststück, jeder Betrug, jede Taschenspielerei, Zauberei oder Hexerei; ein illusorisches Bild oder eine Erscheinung, ein Phantasma, eine Gesichtstäuschung; Maya ist auch jeder diplomatische Trick oder Einfall politischer Geschicklichkeit mit Betrugsabsicht. Die Maya der Götter ist ihre Macht, verschiedene Erscheinungsformen anzunehmen, indem sie nach Belieben die einzelnen Aspekte ihres subtilen Wesens ausspielen. Aber die Götter sind selbst die Hervorbringung einer größeren Maya: der spontanen Selbstumformung einer im Innern ungeschiedenen, allerzeugenden göttlichen Substanz. Und diese größere Maya bringt nicht die Götter allein, sondern auch das All hervor, in dem sie sind und handeln. Die Gesamtheit der [[Weltall]]e, die gleichzeitig im [[Raum]] existieren und derer, die in der [[Zeit]] aufeinanderfolgen, all die Ebenen des Seins und die natürlichen oder übernatürlichen Geschöpfe dieser Ebenen sind Manifestierungen eines unerschöpflichen, ursprünglichen und ewigen Seinsbrunnens. Ihre [[Offenbarung]] geschieht durch das Spiel der Maya. In der Epoche der Nichtmanifestation, dem Zwischenspiel der kosmischen Nacht, hört die Maya zu wirken auf und die Ausformungen ihres [[Spiel]]s verschwinden. |
Version vom 17. Januar 2014, 15:33 Uhr
Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)
Indische Mythen und Symbole - Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
Teil 1: Vishnus Maya
Erschauen endloser Wiederholung und ziellosen Wiedererschaffens verkleinerte und vernichtete schließlich die naive Auffassung des siegreichen Indras von sich selbst und der Fortdauer seiner Macht. Seine sich ständig erweiternden Projekte sollten die passende Umgebung für einen natürlichen, selbstgewissen und würdevollen Ichbegriff bilden. Aber als die Zyklen der Vision aufstiegen, öffneten sich Bewußtseinsebenen, in denen Millennien zu Augenblicken, Äonen zu Tagen zusammenschrumpften. Der beschränkte Zustand des Menschen und solch niederer Götter wie er selbst verlor an Realität. Die Lasten und Entzückungen, Erwerbungen und Kümmernisse des Ichs, der ganze Inhalt und das Ergebnis menschlicher Lebenszeit, lösten sich in Unwirklichkeit auf. Was ihm eben noch so wichtig vorgekommen war, erschien ihm nun nicht mehr denn eine vorüberfliegende Phantasie, kaum entstanden und schon wieder vergangen, ungreifbar wie ein Wetterleuchten.
Die Umwandlung wurde durch eine Verschiebung in Indras Sehweise erreicht. Das Weiterwerden der Perspektive veränderte die Bewertung jedes Lebensaspektes der Welt. Es war als ob die Berge, so dauerhaft, wenn vom Standpunkt unserer kurzen menschlichen Lebensspanne von einigen sieben Jahrzehnten betrachtet, plötzlich alle auf einmal aus der Perspektive von ebenso vielen Weltaltern betrachtet würden. Sie würden sich wie Wogen heben und senken, das Feste würde als fließend erscheinen, und große Landmarken würden vor unseren Augen schmelzen. Jede Erfahrung von Maß und Wert würde plötzlich verwandelt werden; der Verstand würde es schwer haben, sich wieder zu orientieren, und ebenso die Gefühle, festen Grund zu finden.
Der Geist des Hinduismus verbindet solche Vorstellungen wie »vorübergehend, immer wechselnd, entfliehend, immer wiederkehrend« mit dem Begriff des »Unrealen« und umgekehrt »unvergänglich, wechsellos, standhaft und ewig« mit dem des »Realen«. So lange die Erfahrungen und Empfindungseindrücke, welche durch das Bewusstsein eines Individuums strömen, noch nicht von einer erweiternden, die Werte richtig stellenden Vision berührt sind, betrachtet es die vergänglichen Kreaturen, die im unendlichen Zyklus des Lebens (Samsara, der Kreis der Wiedergeburten) auftauchen und verschwinden, als völlig real. Aber im Augenblick, wo ihr vor-überflutender Charakter erkannt ist, erscheinen sie fast unreal, als eine Illusion oder Fata morgana, eine Täuschung der Sinne, die zweifelhafte Klitterung eines allzu beschränkten, ichgerichteten Bewußtseins. Auf diese Weise erfahren und begriffen ist die Welt Maya-maya, »aus dem Stoff der Maya«. Maya ist »Kunst«: dasjenige, durch was ein Künstliches, eine Erscheinung, hervorgebracht wird.
Das Substantiv Maya ist etymologisch mit »messen« verwandt. Es ist aus der Wurzel ma gebildet mit der Bedeutung "messen" oder "auslegen" (wie z. B. den Grundriß eines Gebäudes oder die Umrisse einer Figur); hervorbringen, Kontur geben oder schaffen, zur Erscheinung bringen bzw. in Szene setzen.« Maya ist das Ausmessen oder die Schöpfung oder das zur Erscheinungbringen der Formen; Maya ist jede Illusion, jeder Trick, jedes Kunststück, jeder Betrug, jede Taschenspielerei, Zauberei oder Hexerei; ein illusorisches Bild oder eine Erscheinung, ein Phantasma, eine Gesichtstäuschung; Maya ist auch jeder diplomatische Trick oder Einfall politischer Geschicklichkeit mit Betrugsabsicht. Die Maya der Götter ist ihre Macht, verschiedene Erscheinungsformen anzunehmen, indem sie nach Belieben die einzelnen Aspekte ihres subtilen Wesens ausspielen. Aber die Götter sind selbst die Hervorbringung einer größeren Maya: der spontanen Selbstumformung einer im Innern ungeschiedenen, allerzeugenden göttlichen Substanz. Und diese größere Maya bringt nicht die Götter allein, sondern auch das All hervor, in dem sie sind und handeln. Die Gesamtheit der Weltalle, die gleichzeitig im Raum existieren und derer, die in der Zeit aufeinanderfolgen, all die Ebenen des Seins und die natürlichen oder übernatürlichen Geschöpfe dieser Ebenen sind Manifestierungen eines unerschöpflichen, ursprünglichen und ewigen Seinsbrunnens. Ihre Offenbarung geschieht durch das Spiel der Maya. In der Epoche der Nichtmanifestation, dem Zwischenspiel der kosmischen Nacht, hört die Maya zu wirken auf und die Ausformungen ihres Spiels verschwinden.
Maya ist Dasein: Sowohl die Welt, derer wir gewahr werden, als wir selbst, die wir in dieser entstehenden und sich wieder auflösenden Umgebung enthalten sind, unsererseits selbst entstehend und wieder verschwindend. Maya ist gleichzeitig aber auch die höchste Kraft, welche das Spiel der Gestalten schafft und belebt: der dynamische Aspekt der universellen Substanz. So ist sie im Selben Wirkung (der Strom des kosmischen Daseins) und Ursache (die schaffende Gewalt); in diesem Zusammenhang ist sie als Shakti, »kosmische Energie« bekannt. Das Hauptwort Sakti stammt von der Wurzel sak mit der Bedeutung »fähig sein, möglich sein«. Sakti ist »Macht, Geschicklichkeit, Fähigkeit, Möglichkeit, Kraft, Energie, Tapferkeit; königliche Gewalt; künstlerische Bildekraft, dichterische Kraft, Genie; die Kraft oder Bedeutung eines Wortes oder Begriffes; die Kraft in der Kraft, die notwendig ihre notwendige Wirkung hervorruft; ein eiserner Speer oder Lanze, Pike, Pfeil; ein Schwert«; Sakti ist das weibliche Geschlechtsorgan; Sakti ist die aktive Kraft einer göttlichen Persönlichkeit, mythologisch als deren Göttin-Gemahlin und Königin aufgefaßt.
Maya-Shakti wird als die weltbeschützende weibliche, mütterliche Seite des Höchsten Seins angesehen und steht als solche für die spontane, liebende Annahme der greifbaren Realität des Lebens. Das Leiden, die Opfer, der Tod und die Kümmernisse erduldend, die zu jeder Erfahrung des Wandelbaren gehören, bestätigt sie, ist, vertritt und genießt den Wahn der manifestierten Formen. Sie ist des Lebens schöpferische Freude: sie ist die Schönheit, das Wunder, die Verlockung und die Verführung der lebendigen Welt. Sie flößt uns die Hingabe an die ewig wandelnden Erscheinungen des Daseins ein und ist diese Hingabe selbst.
Maya-Shakti ist Eva, »das Ewig-Weibliche«; sie, die aß, ihren Gesellen zum Essen verführte und selbst der Apfel war. Vom Blickpunkt des männlich-geistigen Prinzips (das auf der Suche nach dem Dauernden, Ewiggültigen und Göttlich-Absoluten ist) stellt sie das Rätsel aller Rätsel dar.
Nun ist der Charakter der Maya-Shakti-Devi (devi ist »Göttin«) auf mannigfache Weise zweideutig. Nachdem sie das All und das Individuum (Makro- und Mikrokosmos) als untereinander verbundene Manifestationen des Göttlichen geboren hat, bläst Maya sogleich Bewusstsein in die Hüllen ihrer vergänglichen Hervorbringung. Das Ich ist wie in einem Spinnennetz, einem sonderbaren Kokon eingeschlossen. »Dies um mich herum« und »mein eigenes Dasein« — äußere und innere Erfahrung — sind Kette und Einschlag des subtilen Gewebes. Eingewiegt durch uns selbst und den Einfluß unserer Umgebung und die Verblüffungskunststücke der Maya als völlig real ansehend, erdulden wir ein endloses schmerzliches Spiel von schmeichelndem Blendwerk, Begierden und Tod. Von einem Standpunkt aber eben oberhalb unserer menschlichen Art (wie er in der überzeitlichen, esoterischen Weisheit vertreten wird und dem unbegrenzten, überindividuellen Bewußtsein asketischer Yoga-Erfahrung bekannt ist) erscheint Maya — die Welt, das Leben, das Ich, an das wir uns klammern — so flüchtig und verfließend wie Wolken und Nebel.
Das Bestreben indischen Denkens war immer, das Geheimnis jener Täuschung zu erkennen und wenn möglich durch sie hindurch in eine Wirklichkeit außerhalb und jenseits der gefühls- und verstandesmäßigen Zusammenballungen zu gelangen, die unser bewußtes Sein zudecken. Dies war die Bemühung, zu der Indra aufgerufen wurde, als seine Augen durch die Erscheinung und Lehre des göttlichen Kindes und des alterslosen Weisen geöffnet wurden.
Siehe auch
Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?
- Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
- Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
- Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
- Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
- Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
- Kapitel 5: Die Göttin
Literatur
Seminar
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