Vairagya

Aus Yogawiki

Vairagya (Sanskrit: वैराग्य vairāgya n. Wunschlosigkeit, Verhaftungslosigkeit, Leidenschaftslosigkeit) ist die Zweite der vier Sadhana Chatushtaya (Eigenschaften, die ein spiritueller Schüler braucht) und der Shubheccha (Sehnsucht und Suche nach Wahrheit).

Der Mensch übt sich in Entsagung gegenüber allen vergänglichen Leidenschaften, und identifiziert sich nicht mit den Ergebnissen seines Handelns. Dies wird einerseits durch die eigene Willenskraft hergestellt, entsteht andererseits auch durch die Befreiung von allem Verhaftungen, die sich durch das Bewußtwerden der Einheit mit dem Göttlichen (Purusha) einstellt.

Die drei weiteren Eigenschaften sind Viveka (Unterscheidungskraft), Shatsampat (sechsfache edle Tugenden) und Mumukshutva (Verlangen nach Befreiung).


Das Yoga Sutra von Patanjali

दृष्टानुश्रविकविषयवितृष्णस्य वशीकारसंज्ञा वैराग्यम् || 1.15 ||

तत्परं पुरुषख्यातेर्गुणवैतृष्ण्यम् || 1.16 ||


dṛṣṭānuśravika-viṣaya-vitṛṣṇasya vaśīkāra-saṃjñā vairāgyam || 1.15 ||

tat-paraṃ puruṣa-khyāter guṇa-vaitṛṣṇyam || 1.16 ||


Vairagya ist der Bewußtseinszustand, in dem das Verlangen nach sichtbaren und unsichbaren Objekten aufgehört hat.

Der höchste Zustand des Nichtanhaftens entsteht durch Erkenntnis des Selbst und ist frei von Gier nach den Eigenschaften der Natur.


Worte von Swami Sivananda

aus der "Göttlichen Erkenntnis"


Vairagya ist Leidenschaftslosigkeit, nicht aber die Aufgabe sozialer Pflichten und Verantwortlichkeiten im Leben. Ein Vairagi (ein leidenschaftsloser Mensch) hat kein Raga Dwesha (Zu- oder Abneigung). Ein weltlicher Mensch ist Sklave dieser beiden mächtigen Ströme. Ein leidenschaftsloser Mensch hat eine andere Ausbildung. Er macht überhaupt eine andere Erfahrung. Er ist ein Meister in der Kunst oder Wissenschaft des Sichlösens von Nichtdauerhaftem und Vergänglichem. Ein leidenschaftsloser Mensch ist der stärkste, glücklichste und reichste Mensch auf der Welt.

Setze alles daran, um von jedem Wunsch nach bekannten oder auch unbekannten Sinnenfreuden frei zu sein, und diese Leidenschaftslosigkeit kann erreicht werden durch ständiges sich Verdeutlichen des Übels, das darin liegt. Leidenschaftslosigkeit ist der Verzicht darauf, etwas zu erreichen. Es ist Abneigung gegen Sinnenfreuden, jetzt und später. Es gibt zwei Arten von Verhaftungslosigkeit oder Leidenschaftslosigkeit, niederer und höher. Vijnana Bhikshu unterscheidet die höhere und niedere Art von Vairagya folgendermaßen: „Erstere ist Widerwillen gegen die guten Dinge des Lebens, jetzt und später, aus der Erfahrung heraus, daß sie niemals ohne Mühe weder zu erwerben noch zu bewahren sind, daß es Schmerz verursacht, sie zu verlieren, und daß das Streben danach niemals frei von egoistischen Gefühlen ist. Letzteres jedoch basiert auf dem klaren Erkennen des Unterschiedes zwischen der Intelligenz und den Objekten, die in ihrem Licht erscheinen.“ Es gibt verschiedene Stadien der Leidenschaftslosigkeit. Der Entschluß, sich darin zu mäßigen, alle möglichen Sinnesobjekte zu genießen, ist die erste Phase. In der zweiten Phase verlieren bestimmte Dinge ihre Anziehungskraft für den spirituell Suchenden, und er versucht, auch die Anziehungskraft anderer zu zerstören. In der dritten Phase werden die Sinne beherrscht, ein unbestimmtes Verlangen nach Sinnenfreuden bleibt jedoch im Geist zurück. Im vierten verliert der Suchende vollständig jegliches Interesse an äußeren Dingen. Die letzte Phase ist der Zustand höchster Wunschlosigkeit. Diese Art von Leidenschaftslosigkeit verleiht dem Yogi absolute Unabhängigkeit. In dieser Phase entsagt der Yogi allen psychischen Kräften, wie etwa Allwissenheit, usw. Durch Üben und Leidenschaftslosigkeit kann das Fließen von Gedanken zu äußeren Dingen hin unter Kontrolle gehalten werden. Bloße Gleichgültigkeit nützt nichts. Üben ist ebenfalls notwendig. Sich immer wieder auf Gott zu besinnen ist auch Üben.

Worte aus der Bhagavad Gita, Kap. VI, 24-26

Sri Krishna sagt zu Arjuna hinsichtlich der Praxis der Geisteskontrolle: „Er möge vorbehaltlos alle Wünsche, die durch die Vorstellung des Geistes entstanden sind, aufgeben, insgesamt alle Sinne nach allen Seiten zügeln und auf diese Weise allmählich Ruhe erlangen mittels der Vernunft, die durch Beständigkeit kontrolliert wird; nachdem der Geist dazu gebracht wurde, im Selbst zu ruhen, denke er an nichts anderes. Immer wenn der schwankende und unstete Geist davon strebt, bringe er ihn unter die Kontrolle des Selbst.“

Artikel aus dem Yoga Vidya Journal von Sukadev Bretz

Vom Wortstamm her bedeutet es „Abwesenheit von Raga“. Raga heißt Wunsch, Mögen.

Vairagya ist der Zustand jenseits des Wünschens. Es ist die innere Überzeugung, dass nichts Äußeres dauerhaft glücklich macht. Die Mehrheit würde zustimmen, dass Geld alleine nicht glücklich macht. Bleibt die Frage, warum so viel Energie dahin geht, mehr Geld zu verdienen. Angenommen, es gäbe den Weihnachtsmann, der einem alles bringen würde, was man nur will oder eine Märchenfee, die sagt: „Du hast drei Wünsche frei. Es muss aber ein äußerer Wunsch sein“, und man würde alles bekommen, was man sich an äußeren Gütern wünscht – wäre man dauerhaft glücklich? – Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es nicht so ist. Die Verinnerlichung dieser Erfahrung ist Vairagya. Solange man denkt, glücklich sein zu können, wenn dies und jenes anders wäre, solange hat man noch kein tiefes Vairagya.

Man denkt z. B.:

Es müsste mich nur die oder der heiraten, dann wäre ich dauerhaft glücklich. Ich müsste nur endlich ein Kind bekommen. Wenn es mit der künstlichen Befruchtung funktioniert, dann werde ich glücklich. Wenn die Kinder endlich aus dem Haus sind, dann bin ich glücklich. Wenn meine Mutter wieder gesund ist, dann werde ich glücklich sein. Wenn endlich der Pflegefall vorbei ist, dann werde ich wieder leben können. Wenn ich diese besondere Wohnung habe, mit diesem ganz besonderen Ausblick und dieser besonderen Küche, dann werde ich dauerhaft glücklich sein usw. ….


Erwachtes Vairagya heißt nicht, dass es vollkommen ist. Man hat weiterhin alle möglichen Wünsche, weiß aber tief im Inneren, dass die Erfüllung dieser Wünsche nicht dauerhaft glücklich macht, sondern dass es etwas Tieferes geben muss. Wenn nur Vairagya da ist und die drei anderen (Viveka, Shatsampat, Mumukshutwa,...) nicht, kann das unter Umständen nicht nur positiv sein. Es kann sogar in Krisen führen. Manche Formen von Depression – aber keineswegs alle - sind eigentlich das Erwachen von Subecha (die erste Stufe des spirituellen Weges). Aber auch massivere Formen von Depression, sogar Selbstmordgefährdungen, können kommen, weil Vairagya erwacht, aber man nicht sieht, was tatsächlich glücklich macht, man keine Alternative, keinen tieferen Sinn sieht. Diesen Sinn verleiht die Überzeugung: Ja, es gibt ein höheres Ziel, nämlich die Verwirklichung der Einheit der ursprünglichen Essenz, und es lohnt sich, danach zu streben (Mumukshutwa). Manche Menschen geraten dann in Verzweiflung, denn gerade in unserer Gesellschaft ist Spiritualität nicht so oft eines der möglichen Lebensbilder. Zwar gibt es viele Yoga- und Meditationszentren, die Bücher des Dalai Lama sind Bestseller, dennoch wächst das durchschnittliche Kind nicht mit der Möglichkeit auf, den Weg der Spiritualität zu gehen. Wenn eine innere Suche angelegt ist, kann dies zu Krisen und Süchten führen. Das normale Leben ist nicht aushaltbar, also muss man es irgendwie betäuben. Auch hier gilt, dass nicht jeder, der eine Sucht hat, sich deshalb auf Subecha befindet. Aber es gibt einige. Nicht umsonst ist das bis heute erfolgreichste Programm gegen Alkoholismus das „Zwölf Schritte Programm der Anonymen Alkoholiker“. Es ist ein spirituelles Programm. Auf einer Stufe steht dort, dass man sich an Gott wendet, wie auch immer man ihn nennt, und ihm alles anvertraut. Viele sagen, es ist der wichtigste Schritt gewesen, dass sie zu einer spirituellen Überzeugung gekommen sind. Gerade diejenigen, die eigentlich in diesem Leben beginnende Subecha haben, brauchen nicht viel mehr als diese neue Perspektive, um Süchte wieder los zu werden.

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