Schlange und Vogel

Aus Yogawiki

Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993)

Indische Mythen und Symbole - Kapitel 3: Die Wächter des Lebens

Teil 3: Schlange und Vogel

Unter den Motiven, die aus der frühen mesopotamischen Kunst stammen und in den indischen Überlieferungen fortgesetzt werden, befindet sich bis zum gegenwärtigen Tage das Muster des zwillingshaft verschlungenen Schlangenpaares. Dieses alte Motiv erscheint gewönlich auf Votivschreinen für Schlangengenien. Solche Steintafeln, Nagalkals genannt und auf verschiedene Weise mit Schlangengestalten verziert, sind Weihgeschenke Nachkommenschaft ersehnender Frauen. Sie stehen in Tempelhöfen, an den Eingängen der Städte und Dörfer, bei Teichen oder unter heiligen Bäumen. Man nimmt an, daß die Teiche von Nagas bewohnt sind.

Wenn der Bildhauer solch einen Stein vollendet hat, wird dieser für sechs Monate in einen Teich gelegt, um mit der Lebenskraft des Elementes Wasser durchtränkt zu werden. Ebenso und aus dem gleichen Grunde wird der Stein einem Ritual unterworfen und mit magischen Formeln (Mantra) behandelt. Dann wird er aufgerichtet, am liebsten unter einem Pipa- oder einem Nimba-Baum. Diese zwei Bäume stehen oft zusammen und werden als verheiratete Paare angesehen; in der Feuchtigkeit zwischen den Wurzeln sollen die Schlangen hausen.

Die Nagakals aus dem Staat Mysore in Südindien zeigen Schmuckreliefs von verschiedener Art. Einige zeigen Schlangenköniginnen des Seejungfrautypus mit Schlangenschwanz und menschlichem Leib, darüber eine Glorie von aufgeblasenen Kobrahauben; in ihren über der Brust gekreuzten Armen trägt eine zwei Schlangenkinder, die ihr über die Schultern wachsen. Andere zeigen eine Schlange mit einer Anzahl von Köpfen und aufgeblasenen Hauben; andere wiederum tragen das mesopotamische Schlangenpaar mit einander zugewandten Köpfen und in liebender Umarmung verschlungen.

In Mesopotamien erscheint das typische Motiv in einer frühen Zeichnung auf dem Opferbecher König Gudeas von Lagash. In diesem Werk der sumerischen Epoche, ungefähr 2600 v. Chr., finden wir das gewohnte Schlangenpaar verschlungen und einander ansehend. Das Motiv muß zu sehr früher Zeit nach Indien eingedrungen sein, noch vor der Ankunft der Arier. Zusammen mit gewissen anderen, nichtvedischen und vorarischen, dem einheimischen Boden entsprossenen Eigentümlichkeiten erscheint es bis heute in den konservativen örtlichen Überlieferungen, besonders in der mittel- und südindischen Volksreligion, aufbewahrt. Es ist nun sehr interessant, daß sowohl in den lebendigen Überlieferungen Indiens wie auch auf diesem goldenen Becher aus ferner, archaischer sumerischer Vergangenheit der klassische Widerspieler der sagenhaften Schlange der sagenhafte Vogel ist.

Der Becher König Gudeas zeigt ein kriegerisches Paar geflügelter vogelähnlicher Ungeheuer mit Löwenvorderpfoten, die aufrecht auf Adlerklauen stehen. Solche Vogelwesen vertreten das Firmament, das obere, göttliche, ätherische Reich, genau wie die Schlangen das lebenschenkende, fruchtbarmachende Element der irdischen Gewässer repräsentieren. Sie befinden sich in ewiger Entgegensetzung zu den Schlangenmächten und bilden darum mit diesen ein archetypisches Paar symbolischer Gegensätze, Kämpen jeweils des Himmels und der Erde.

Der Adler gehört zum Himmelsvater, zum Vater Zeus in der Mythologie der Griechen. Auf der anderen Seite umgeben Schlangen die Göttin Hera, die Gattin des Zeus, die Mutter Erde. Vielfältig sind die mythologischen Episoden, welche den Gegensatz der beiden schildern. Als zum Beispiel Herakles, das Kind einer heimlichen Verbindung des Zeus mit dem sterblichen Weib Alkmene, noch ein Kind in der Wiege war, sandte die eifersüchtige Hera ihre Schlangen, ihn zu töten. Aber der kleine Sohn des Himmelsvaters brachte sie um. Nach Homers Ilias wiederum erschien während der Belagerung von Troja über den versammelten griechischen Helden eines Tages ein Adler. Sie sahen wie der Adler langsam den Himmel durchschwebte, eine blutende Schlange in seinen Klauen. Der weissagende Priester deutete die Erscheinung als günstiges Vorzeichen, welches den Triumph der Griechen über die Trojaner prophezeite. Der Himmelsvogel, der die Schlange überwältigte, versinnbildlichte für ihn den Sieg der patriarchalischen, männlichen, himmlischen Ordnung Griechenlands über das weibliche Prinzip Asiens und Trojas. Dieses verkörperte sich in der wollustvollen asiatischen Göttin Aphrodite und vor allem in ihrem unmoralischen Akt, welcher zur Ursache des trojanischen Krieges wurde: nämlich daß sie Helena, des Menelaos' Gattin, überredete, die Bande ihrer unter dem patriarchalischen, männlichen Gesetz geschlossenen Ehe zu brechen und Beilager mit Paris, einem Genossen ihrer eigenen Wahl, zu halten.

Das Doppelsymbol des Adlers und der Schlange ist von einer Vitalität erfüllt, die alle Zeitalter überdauert. Im Westen feiert es seine Wiedererscheinung in der modernen Literatur in Nietzsches »Also sprach Zarathustra«, wo der Adler und die Schlange die beiden Begleittiere des Einsiedlerweisen dieses Philosophen sind. »Das stolzeste und das schlaueste unter den Tieren«, nennt er sie. Als Verkörperungen der hauptsächlichsten Tugenden des ersten Übermenschen versinnbildlichen sie die wiedervereinigten Mächte, welche den Weg in das neue Zeitalter eröffnen sollen.

Diese Symbolik ist wahrscheinlich viel älter als der Kelch des alten sumerischen Königs Gudea. Dennoch mag das mesopotamische Sumerien sehr wohl die Wiege gewesen sein, aus der heraus diese religiöse Formel ihren Weg fand, nach der einen Richtung westlich zu den Griechen und zum modernen Europa, in der anderen östlich nach dem alten Indien und dann noch weiter in die ferneren Teile Indonesiens. In Mesopotamien wurden die beiden Schlangen als symbolisch für den Gott der Heilkunst Ningishzida angesehen; so wurden sie in Griechenland dem Gott der Medizin Asklepios zugesellt und sind heute unser Symbol für den ärztlichen Beruf.

Wie ein Fluß, der seinen Weg sucht, kriecht die Schlange den Boden entlang; sie haust in der Erde und schnellt von dort heraus wie ein Quell aus seinem Loch. So ist sie eine Verkörperung des Lebenswassers, das aus dem tiefen Leib der Mutter Erde entspringt. Die Erde ist die uranfängliche Mutter des Lebens. Sie nährt alle Kreaturen aus ihrer Substanz und verschlingt sie alle wieder; sie ist das allen gemeinsame Grab. Das Leben, das sie erzeugte, hält sie fest an ihrer Brust und verweigert ihm die unbegrenzte Freiheit der himmlischen Räume. Im Gegensatz dazu bedeutet die Unendlichkeit des Himmels den freien Schwung des ungebundenen Geistes, der hindernislos wie ein Vogel schweift und von den Fesseln der Erde nicht gehalten wird. Der Adler vertritt dieses höhere, spirituelle, von der Bindung an die Materie gelöste Prinzip, das sich in den durchsichtig leuchtenden Äther erhebt und zu seinem Geschlecht und Ursprung, den Sternen, und selbst zu dem höchsten göttlichen Wesen über ihnen emporsteigt. Auf der anderen Seite ist die Schlange die Lebenskraft in der Sphäre der Lebensmaterie. Hartnäckigste Vitalität wird der Schlange zugeschrieben. Sie erneuert sich selbst, indem sie ihre Haut abstreift.

Während in der westlichen Überlieferung der spirituelle Gegensatz von Vogel und Schlange im allgemeinen verstanden und betont wird, beschränkt sich die Entgegensetzung, wie sie in Indien versinnbildlicht wird, auf die natürlichen Elemente: Sonnenkraft gegen die flüssige Energie der irdischen Gewässer. Flammend von der Hitze der glühenden Sonne und die Feuchtigkeit des Landes auftrocknend verfolgt der »Schöngefiederte« (Suparna), goldbeschwingte, einem Greifen gleichende Herr des Himmels gewalttätig, erbarmungslos und ewig den Verkörperer und Wächter des belebenden Nasses der allnährenden Erde. Der Vogel wird als »Schlangentöter« oder »Nagatöter« (Nagântaka, Bhujagântaka), oder "Schlangenverzehrer" (Pannagâsana, Nâgasana) angerufen. Sein eigentlicher Name ist Garuda, von der Wurzel gri, »herunterschlingen«. Als unbarmherziger Vernichter der Schlangen ist er mit mystischer Macht über die Wirkungen des Giftes begabt. Daher seine Beliebtheit in der Volksreligion und dem täglichen Kult. Zu Puri in der indischen Provinz Orissa werden von Schlangen gebissene Personen zur Haupthalle des großen Tempels gebracht, wo sie einen von der Magie des himmlischen Vogels erfüllten Garudapfeiler umarmen. Im allgemeinen wird Garuda mit Schwingen, menschlichen Armen, Geierbeinen und einer gebogenen, schnabelähnlichen Nase dargestellt. Zwei vergnügliche Exemplare sieht man an dem Endstück einer Balustrade aus Siam: in triumphierender Haltung über einem Riesenpaar von Schlangen mit erhobenen Köpfen packen die stämmigen kleinen Garudas ihre besiegten Opfer mit den Klauen.

Garuda ist der Träger oder Vähana des Höchsten Gottes, Vishnu. Er trägt ihn auf seinen Schultern, während der Gott in seiner erhobenen Hand den scharfrandigen Kampfdiskus, »Den schön anzublickendem (sudarsana) hält, die feurige Sonnen¬scheibe mit tausend Speichen, das Rad (cakra), das er gegen seine Widersacher schleudert. In der Kambodscha-Architektur wird nicht nur Vishnu, sondern sein ganzer Tempel von Garuda ge¬tragen. Der Vogel tritt hier in großer Zahl auf, zu Karyatiden-reihen geordnet, welche die Last des Bauwerkes halten, das als eine irdische Nachbildung Vaikunthas, des Gottes himmlische Wohnung gedacht ist. So ist Vishnu (wie Nietzsches Zarathustra) mit jedem von den beiden ewigen Widerspielern verbunden. Shesha, die Schlange Endlos, die Repräsentantin der kosmischen Wasser und die Quelle aller Gewässer überhaupt, ist seine tierische Vertreterin. Aber ebenso ist dies Garuda, das erobernde Prinzip, der Widersacher der Schlange. Wir haben hier ein wohlbegründetes Paradox, denn Vishnu ist das Absolute, die allenthaltende göttliche Essenz. Er begreift alle Entzweiungen in sich. Das Absolute differenziert sich in polarisierten Manifestationen, und durch diese werden die vita¬len Spannungen des Weltprozesses ins Dasein gebracht und auf¬recht erhalten.

Siehe auch

Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?

  • Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
1.1 Die Parade der Ameisen
1.2 Das Rad der Wiedergeburten
1.3 Die Weisheit des Lebens
Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
1.1 Vishnus Maya
1.2 Die Wasser des Daseins
1.3 Die Wasser des Nichtseins
1.4 Maya in der indischen Kunst
Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
1.1 Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha
1.2 Gottheiten und ihre Träger
1.3 Schlange und Vogel

Literatur

Seminar

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