Yoga der Bhagavad Gita - Kapitel 6 - Yoga der Sorgen des Suchers

Aus Yogawiki
Krishna (Inkarnation Gottes) unterweist Arjuna auf dem Schlachtfeld

Yoga der Bhagavad Gita - Kapitel 6 - Yoga der Sorgen des Suchers

Yoga der Sorgen des Suchers

Man mag sich darüber wundern, warum Sorgen Yoga genannt werden können, doch diese Sorgen des 1. Kapitels sind der erste Schritt in der Yoga Praxis und nicht zu vergleichen mit den sonst üblichen Sorgen im Umgang mit der menschlichen Gesellschaft. Wenn jemand einen nahe stehenden und geliebten Menschen verliert, wird er von Sorgen und Gram überfallen.

Doch die im 1. Kapitel der Bhagavad Gita beschriebene Sorge ist eine gänzlich andere. Sie wird manchmal in der vom Hl. Johannes vom Kreuz benutzten mystischen Sprache ‘die dunkle Nacht der Seele’ genannt. Die dunkle Nacht des suchenden Geistes ist sehr verschieden von der dunklen Nacht der Unwissenheit, in der die meisten Menschen versunken sind. Hier handelt es sich um einen Zustand und eine Vorbedingung, die für den weiteren Aufstieg im Yoga notwendig ist und die sich an die Vorbereitungen, die der Sucher zum Zweck der eigentlichen Praxis aufnimmt, anschließt.

Arjuna war keine närrische Person und auch kein Feigling. Er war keineswegs kampfunfähig und durchaus in der Lage, selbst Lord Shiva gegenüberzutreten und dessen Gnade durch intensives ‘Tapas’ (Buße) zu gewinnen. Wie kann jemand behaupten, dass er schwachsinnig gewesen wäre und von nichts eine Ahnung gehabt hätte? Selbst ein Held wie er, konnte in der Konfrontation mit den kriegerischen Tatsachen in einen Zustand der Besorgnis verfallen. Diese Sorge ist eine spirituelle Bedingung der inneren Suche und nicht die melancholische Haltung eines psychologischen Komplexes.

Es ist notwendig, den Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Kummer der Menschen und jener Sorge zu unterscheiden, die als Teil des Yoga der Bhagavad Gita beschrieben wird. Diese Sorge Arjunas ist ein höchst erhabener Zustand der individuellen Seele und nicht die gewöhnliche Niedergeschlagenheit einer verwickelten Seele. Die Seele überschreitet hier das einfache Phänomen des ‘Samsara’ (Rad von Geburt und Tod) bzw. das phänomenale Leben der Welt, womit als erstem Schritt auch der Anfang im Yoga gemacht ist. Wenn wir uns vom Kontakt mit den Äußerlichkeiten zurückziehen, ist zu vermuten, dass wir uns tatsächlich im 1. Kapitel der Bhagavad Gita befinden. Der Rückzug, auch ‘Pratyahara’ genannt, führt uns nicht unmittelbar zum Bewusstsein des wahren Yoga. Dem danach folgenden höheren Aufstieg geht eine so genannte ‘Dunkelheit’ voraus.

Die Erkenntnisse, die wir in dieser Welt haben, sind sinnenhafter Natur und das gilt letztlich auch für die intellektuelle oder vernunftgemäße Erkenntnis, die eine veredelte Form der sinnenhaften Wahrnehmung ist, sodass hier ein qualitativ großer Unterschied zwischen der spirituellen Wahrnehmung oder Intuition einerseits und dem sinnenhaften Kontakt andererseits, den wir in der gewöhnlichen Umgangssprache ‘Wissen’ nennen, vorhanden ist. Wenn wir die gesamten Fähigkeiten der Sinne und des Intellektes zurückziehen, dann ist das gewöhnliche Wissen abwesend und der Anblick der Welt verschwindet. Dann ist kein Objekt mehr vorhanden, denn wenn die Sinne von den Objekten weggezogen und ihnen entwöhnt werden, kann natürlicherweise keine Wahrnehmung mehr stattfinden. Wie sonst sollten die Sinne irgendwelche Objekte wahrnehmen oder sich ausdenken, wenn sie von diesen Objekten zum inneren Zentrum zurückgezogen werden? Nichts ist zu sehen, alles ist in Dunkelheit.

Diese Dunkelheit ist das Ergebnis des Rückzuges der Sinne von den Objekten und entspricht einem sehr fortgeschrittenen Zustand, der unmittelbar vor der Bedingung, wie sie im 2. Kapitel der Gita beschrieben wird, vorherrscht, wo sozusagen Gott selbst kommt und uns an der Hand hin in Höhere Reiche führt.

Das 1. Kapitel der Bhagavad Gita ist somit ein notwendiges Stadium im Yoga, auch wenn es ‘Vishada-Yoga, das ‘Yoga des Kummers und der Sorge’ genannt wird. Hier findet sich die suchende Seele selbst in einem Zustand der Zurückgezogenheit von äußeren Kontakten und gelösten Beziehungen zu äußeren Erscheinungen. Dies ist der Anfang einer neuen Interpretationsweise von Werten, in der die Seele jetzt alles im Kontext der Beziehung von allem zum Ganzen und nicht zur jeweilig beschränkten Position, erkennt.

Der Unterschied zwischen der interpretierenden Erkenntnis auf dieser Stufe und der gewöhnlichen Erkenntnis im Alltag beruht auf folgender Tatsache: Während wir auf ein Objekt schauen oder irgendetwas sinnlich erfassen, wenn wir eine Person sehen oder Dinge beurteilen, vergessen wir die Beziehung dieser Person, dieser Dinge und Objekte zum allumfassenden Ganzen. Wir begehen fortlaufend den Irrtum der persönlichen Beurteilung und wegführenden Bewertung, wie zum Beispiel in Form von „diese Person ist gut oder schlecht“, oder „dies oder jenes ist schön oder hässlich“ und so weiter, womit wir zweifellos falsch urteilen, da es uns als individuellen und abgesonderten Betrachtern nicht möglich ist, den Kontext dessen zu erfassen, in dem das jeweilige Objekt in seiner inneren Beziehung zum Ganzen steht. Deshalb sind grundsätzlich alle Beurteilungen und Bewertungen falsch. Solange das Urteil durch ein vom Objekt isoliertes Individuum erfolgt, kann das Urteil nicht angemessen und richtig sein. Im Zustand des Yoga verändert sich die Art der Bewertung. Alles wird vom Universellen Standpunkt aus beurteilt.

Die Vision des Absoluten beginnt bereits im 1. Kapitel der Gita, auch wenn es nur ein anfänglicher Hinweis auf diese große Vision ist. Allmählich ergibt sich eine Verdichtung der Wahrnehmung und diese Verdichtung wird auf unterschiedliche Weise durch die Verse der verschiedenen Kapitel der Bhagavad Gita hindurch bis zum Abschluss des 6. Kapitels beschrieben, wo sich eine vollständige Erneuerung der individuellen Persönlichkeit herausschält und ein höchst konzentrierter Zustand im Individuum erreicht wird. Dieser konzentrierte Zustand, in den sich das Individuum zum Zweck der bevorstehenden Aufgabe begibt, ist das ‘Dhyana-Yoga’ (Yoga der Meditation) des 6. Kapitels, in dem sich das zerstreute Individuum weiterhin zu einer gesammelten Persönlichkeit verdichtet.

Doch auch das 6. Kapitel ist noch nicht das vollständige Yoga. Vielmehr ist es die Ergänzung in eine Integration der Persönlichkeit, die für den weiteren Anstieg, beginnend mit dem 7. Kapitel, notwendig ist, wo das Individuum dann damit beginnt, - wie ‘Hanuman’ (treuer Ergebener von Lord Rama in Affengestalt), der das Meer nach ‘(Shri)Lanka’ überflog - , das Meer der Existenz zu überqueren und in das Meer des Absoluten einzutauchen.

Die für das beobachtende Individuum charakteristische Individualität verliert allmählich ihre Merkmale und beginnt sich ab dem 7. Kapitel auf das Universale hin einzustimmen. Während in den ersten sechs Kapiteln das Individuum beschrieben wird, befasst sich das Thema der Nächsten sechs Kapitel mit dem Universalen. Doch es genügt nicht, das Universale nur zu beschreiben oder nach außen hin zu erschauen, - das Individuum muss sich mit dem All-Sein vereinigen. Dies ist schließlich das Thema der letzten sechs Kapitel.

Die Integration des Individuums, das Wahrnehmen des Universalen und die Vereinigung des Individuums mit dem Universalen Sein sind die Stufen des Yoga der Bhagavad Gita. Den Höhepunkt erreichen wir im letzten Kapitel namens ‘Moksha-Sannyasa’, der Entsagung jeglicher Art von Individualität in der Befreiung des Geistes, - wundervoll illustriert anhand der gemeinsamen Fahrt von Arjuna und Krishna im alleinigen Kosmischen Gefährt, was als Quintessenz im letzten Vers deutlich zum Ausdruck kommt:

Yatra Yogeshvarah Krishno Yatra Partho Dhanur
Dharahtatrasrir Vijayo Bhutir Dhruva-Nitir Matir Mama

Wenn das gereinigte und integrierte Individuum in Gestalt von Arjuna in demselben Gefährt sich befindet, in dem Shri Krishna, das Höchste Absolute sitzt, dann sind Frieden, Wohlstand, Sieg, Fülle und Gerechtigkeit überall vorhanden.

Das ist die Gerechtigkeit im Sinne von ‘Satya’ (Wahrheit) und ‘Rita’ (Rechtschaffenheit), wie sie in den Veden verkündet wird. Das Evangelium der Bhagavad Gita ist das Evangelium des Yoga. Es ist zugleich kosmisch, individuell, sozial, politisch und in lebendiger Beziehung zum Leben ganz allgemein.

Dieses Yoga ist für jeden, - für dich und mich und für jede Person auf jeder Bewusstseinsstufe. Deshalb ist dieses Yoga mit seiner Interpretation des Individuums in Begriffen von höheren Werten im Leben und der Bewertung jeder niederen Ebene in Begriffen der Höheren identisch mit dem ethischen, rechtlichen und sozialen Standard des menschlichen Lebens. Das Prinzip der Bhagavad Gita besteht folglich darin, im Bewusstsein der Höchsten Wirklichkeit zu leben und sich im eigenen Leben vom Licht dieser Bewusstheit Höherer Seins-Reiche leiten zu lassen.

Om

© Divine Life Society

Siehe auch

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