Shivalinga: Unterschied zwischen den Versionen

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Aus dem Buch „Maya“ von [[Heinrich Zimmer]]
Aus dem Buch „Maya“ von [[Heinrich Zimmer]]


Im etruskischen Museum zu Volterra befindet sich eine merk¬würdige Kleinbronze aus den Gräberfunden der alten Stadt; sie hält den Blick fest, wenn sie ihn einmal gefangen hat. Es ist eine Figur von übertriebener Länge und Schlankheit; ein Traumgebilde: unwahrscheinlich und nicht fremd. Sie über¬ragt die anderen Gegenstände, die der Wandschrank in Re¬galen schichtet, Spiegel und Kleinbronzen, alle um ein Viel¬faches, sie überschneidet Regal um Regal; wie eine schlanke Rauchfahne hebt sich ihre unsinnliche Nacktheit aus schmal¬sten Füßen in einem Wachsen, das nicht enden will. — »L'ombra dell'uomo nella sera«, antwortet der grauhaari¬ge kleine Kustode auf den fragenden Blick — »Der Schatten des Menschen am Abend«. Der Schatten des Menschen ist seine Seele; am Abend seines Lebenstages, wenn die Sonne ihm sinkt und alle Schatten länger fallen, erhebt sich sein Schatten überlang aus ihm und wächst immer weiter in die Dämmerung hinaus, die Dämmerung umwächst ihn, überwächst ihn, und, mit ihr verschwimmend, verschmilzt er in die Nacht des Todes, aus der er einst in seinen Lebensmorgen trat: die Mütterliche nimmt den Dunklen heim in ihren dunklen Schoß.
Im etruskischen Museum zu Volterra befindet sich eine merkwürdige Kleinbronze aus den Gräberfunden der alten Stadt; sie hält den Blick fest, wenn sie ihn einmal gefangen hat. Es ist eine Figur von übertriebener Länge und Schlankheit; ein Traumgebilde: unwahrscheinlich und nicht fremd. Sie über¬ragt die anderen Gegenstände, die der Wandschrank in Regalen schichtet, Spiegel und Kleinbronzen, alle um ein Vielfaches, sie überschneidet Regal um Regal; wie eine schlanke Rauchfahne hebt sich ihre unsinnliche Nacktheit aus schmalsten Füßen in einem Wachsen, das nicht enden will. — »L'ombra dell'uomo nella sera«, antwortet der grauhaarige kleine Kustode auf den fragenden Blick — »Der Schatten des Menschen am Abend«. Der Schatten des Menschen ist seine Seele; am Abend seines Lebenstages, wenn die Sonne ihm sinkt und alle Schatten länger fallen, erhebt sich sein Schatten überlang aus ihm und wächst immer weiter in die Dämmerung hinaus, die Dämmerung umwächst ihn, überwächst ihn, und, mit ihr verschwimmend, verschmilzt er in die Nacht des Todes, aus der er einst in seinen Lebensmorgen trat: Die Mütterliche nimmt den Dunklen heim in ihren dunklen Schoß.
Mit Krischnas Hingang wachsen die Schatten der Dämmerung über den Himmel des indischen Mythos; Shiva, der Asket mit der Schädelschale als Trinkgefäß, im Knochenschmuck, den nackten Leib mit der Asche von Scheiterhaufen bepudert, beherrscht das End-Weltalter: der Friedebringer und Erlöser mit den Zeichen des Todes. In seinem vieldeutigen Zwielicht wächst der Mythos aus seiner gestaltigen Kraft ins konturlos Verblassende, er verschwimmt im Dunkel, das ihn riesenhaft überwächst — das er, im Riesenhaften ermattend, ergreifen will, und als dessen Grenzenlosigkeit er sich begreift.
 
Mit Krischnas Hingang wachsen die Schatten der Dämmerung über den Himmel des indischen Mythos; Shiva, der Asket mit der Schädelschale als Trinkgefäß, im Knochenschmuck, den nackten Leib mit der Asche von Scheiterhaufen bepudert, beherrscht das End-Weltalter: Der Friedebringer und Erlöser mit den Zeichen des Todes. In seinem vieldeutigen Zwielicht wächst der Mythos aus seiner gestaltigen Kraft ins konturlos Verblassende, er verschwimmt im Dunkel, das ihn riesenhaft überwächst — das er, im Riesenhaften ermattend, ergreifen will, und als dessen Grenzenlosigkeit er sich begreift.


===Die Entstehung des Linga===
===Die Entstehung des Linga===


Der erhabene Vishnu sprach: »Es war ein All-eines Meer, furchtbar und unzerteilt, aus Dunkel gebildet. Mitten darin lag ich, das ewige Wesen, mit meinen Waffen in Händen, mit tausend Köpfen und Augen, tausend Füßen und Armen. Da sah ich in der Ferne gewaltig leuchtend, wie Myriaden Son¬nen strahlend, den Gott, den die Veden als Herrn preisen: Brahma, von großem Yoga voll, mit vier Gesichtern: die ge¬staltende Ursache der Welt. In einem Nu war er bei mir, der Höchste der Yogakundigen sagte voll großen Glanzes lä¬chelnd zu mir: „Wer bist du? Woher bist du? Was weilst du hier? Das sag mir, denn ich bin der Schöpfer der Welten, der Ältervater, der aus sich selbst entstanden ist.“
Der erhabene Vishnu sprach: »Es war ein All-eines Meer, furchtbar und unzerteilt, aus Dunkel gebildet. Mitten darin lag ich, das ewige Wesen, mit meinen Waffen in Händen, mit tausend Köpfen und Augen, tausend Füßen und Armen. Da sah ich in der Ferne gewaltig leuchtend, wie Myriaden Sonnen strahlend, den Gott, den die Veden als Herrn preisen: Brahma, von großem Yoga voll, mit vier Gesichtern: die gestaltende Ursache der Welt. In einem Nu war er bei mir, der Höchste der Yogakundigen sagte voll großen Glanzes lächelnd zu mir: „Wer bist du? Woher bist du? Was weilst du hier? Das sag mir, denn ich bin der Schöpfer der Welten, der Ältervater, der aus sich selbst entstanden ist.“
   
   
Als Brahma so zu mir sprach, sagte ich: „Ich bin der Schöpfer der Welten und ihr Vernichter Mal um Mal“ — so breitete sich Hader zwischen uns beiden dank der Maya des Aller¬höchsten. Um uns beide zur Erkenntnis zu wecken, erschien ein unvergleichliches Linga: Shiva ist sein Wesen. Es sah wie das Feuer des Weltuntergangs aus und lohte rings von Flam¬menkränzen, es ward nicht kleiner und nicht größer, es hatte keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende. Da sprach Brah¬ma zu mir: „Geh du geschwind abwärts, ich will aufwärts ge¬hen, wir wollen herausfinden, wo sein Ende ist“ — so sprach der Ungeborene, und so wurden wir schnell einig und gingen: der eine aufwärts, der andere abwärts. Aber wir konnten bei¬de ein Ende nicht herausfinden, und so trafen wir uns wieder. Wundern überfiel uns, und wir fürchteten uns vor Shiva. Von seiner Maya verblendet, sammelten wir uns in innere Schau auf den Herrn, den All, und riefen feierlich den großen Ruf, die Silbe OM, das höchste Wort, legten unsere Hände be¬tend zusammen und priesen den Höchsten, den Friedebringer: „Anbetung dem Friedebringer, dem Arzt für das Leiden des kreisend sich immer erneuernden Lebens, des Wurzel ohne Anfang ist: Shiva dem Friedevollen, dem Brahman, dessen Gestalt das Linga ist! Anbetung ihm, der im Meere der Welt¬auflösung weilt, der das Entstehen der Auflösung bewirkt, der einem Flammenkranze gleicht und die Gestalt einer Feuersäule hat. Anbetung ihm, der ohne Anfang, Mitte und Ende ist, fleckenloser Glanz, stoffliches Urwesen der Welt, dessen Gestalt der unendliche Raum ist. Anbetung dem Wan¬dellosen, Wahren voll unvergleichlicher strahlender Kraft, dessen Gestalt die Zeit ist: Shiva, dem Friedevollen dem Brahman, dessen Gestalt das Linga ist!«
Als Brahma so zu mir sprach, sagte ich: „Ich bin der Schöpfer der Welten und ihr Vernichter Mal um Mal“ — so breitete sich Hader zwischen uns beiden dank der Maya des Allerhöchsten. Um uns beide zur Erkenntnis zu wecken, erschien ein unvergleichliches Linga: Shiva ist sein Wesen. Es sah wie das Feuer des Weltuntergangs aus und lohte rings von Flammenkränzen, es ward nicht kleiner und nicht größer, es hatte keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende. Da sprach Brahma zu mir: „Geh du geschwind abwärts, ich will aufwärts gehen, wir wollen herausfinden, wo sein Ende ist“ — so sprach der Ungeborene, und so wurden wir schnell einig und gingen: der eine aufwärts, der andere abwärts. Aber wir konnten beide ein Ende nicht herausfinden, und so trafen wir uns wieder. Wundern überfiel uns, und wir fürchteten uns vor Shiva. Von seiner Maya verblendet, sammelten wir uns in innere Schau auf den Herrn, den All, und riefen feierlich den großen Ruf, die Silbe OM, das höchste Wort, legten unsere Hände betend zusammen und priesen den Höchsten, den Friedebringer: „Anbetung dem Friedebringer, dem Arzt für das Leiden des kreisend sich immer erneuernden Lebens, des Wurzel ohne Anfang ist: Shiva dem Friedevollen, dem Brahman, dessen Gestalt das Linga ist! Anbetung ihm, der im Meere der Weltauflösung weilt, der das Entstehen der Auflösung bewirkt, der einem Flammenkranze gleicht und die Gestalt einer Feuersäule hat. Anbetung ihm, der ohne Anfang, Mitte und Ende ist, fleckenloser Glanz, stoffliches Urwesen der Welt, dessen Gestalt der unendliche Raum ist. Anbetung dem Wandellosen, Wahren voll unvergleichlicher strahlender Kraft, dessen Gestalt die Zeit ist: Shiva, dem Friedevollen dem Brahman, dessen Gestalt das Linga ist!«
 
Als wir den Großen Herrn priesen, offenbarte er sich, der große Yogin strahlte, er leuchtete wie Myriaden Sonnen, es war, als schlänge er den Himmelsraum mit seinen Myriaden Mündern. Er hatte tausend Hände und Füße, Sonne und Mond waren seine beiden Augen; ins Antilopenfell, den Schurz des Yogin gewandet, hielt der Erhabene den Bogen in Händen und führte den Dreizack, eine Schlange war die Opferschnur, die ihm um Schulter und Hüte lief, und seine Stimme war wie Wolkenpauken. Er sprach: „Ich bin erfreut, ihr beiden Besten der Götter! Schaut mich, den Großen Gott, an und lasst alle Furcht fahren! Vorzeiten seid ihr aus meinen Gliedern erzeugt worden, ihr Ewigen: Brahma, der Ältervater der Welten, in meiner rechten Seite, und in meiner linken Vishnu, der Erhalter, in meinem Herzen aber Hara, der die Welt vernichtend zusammenrafft. Ich freue mich wahrhaft an euch beiden und schenke euch, was ihr euch wünscht.“
 
So sprach der Große Gott, und Shiva selbst umarmte mich und Brahma, und war voll großer Gnade. Da fielen Vishnu und Brahma frohen Sinnes vor ihm nieder und sprachen, in sein Antlitz blickend: „Wenn du uns eine Gabe schenken willst, so wollen wir ewig dir, dem Großen Gott, ergeben sein.“ — Da lachte der erhabene Herr auf und sprach freundlich zu mir: „Du, Herr der Erde, vollziehst Auflösung, Bestand und Entfaltung der Welten — Kind, Kind, Hari, schirme alles umher, was geht und steht. Ich bin zweimal gespalten durch die unterschiedlichen Kräfte der Weltentfaltung, Welterhaltung und Weltauflösung unter die Namen Brahma, Vishnu und Hara, und bin dabei doch unterschiedslos, aller schminkenden Färbung bar. Lass fahren deinen Wahn, o Vishnu, und gewähre dem Altervater Brahma deinen Schutz, denn er wird dein ewiger Sohn sein, und ich werde, Gestalt eines Gottes tragend, zu Weltalters Beginn aus deinem Munde geboren werden. Mit dem Spieß in Händen werde ich, aus deinem Zorn geboren, dein Sohn sein.“


Als wir den Großen Herrn priesen, offenbarte er sich, der große Yogin strahlte, er leuchtete wie Myriaden Sonnen, es
So sprach der Große Gott und bezeigte Brahma und mir seine Güte und verschwand daselbst. Seit jener Zeit ist die Verehrung des Linga in allen Welten wohlbegründet. Das Linga ist das Brahman, ist höchster Leib des Brahman, das eben ist das göttlich-große Wunderwesen am Linga, davon wissen yogakundige Götter und Dämonen nichts. Denn das ist die höchste Erkenntnis, unentfaltet, nach Shiva benannt; mit ihr schaut, wer das Auge der Erkenntnis besitzt, das unwahrnehmbar Feinste, das Unausdenkbare.«
   
   
war, als schlänge er den Himmelsraum mit seinen Myriaden Mündern. Er hatte tausend Hände und Füße, Sonne und Mond waren seine beiden Augen; ins Antilopenfell, den Schurz des Yogin gewandet, hielt der Erhabene den Bogen in Händen und führte den Dreizack, eine Schlange war die Opferschnur, die ihm um Schulter und Hüte lief, und seine Stimme war wie Wolkenpauken. Er sprach: „Ich bin erfreut, ihr beiden Besten der Götter! Schaut mich, den Großen Gott, an und lasst alle Furcht fahren! Vorzeiten seid ihr aus meinen Gliedern erzeugt worden, ihr Ewigen: Brahma, der Älterva¬ter der Welten, in meiner rechten Seite, und in meiner linken Vishnu, der Erhalter, in meinem Herzen aber Hara, der die Welt vernichtend zusammenrafft. Ich freue mich wahrhaft an euch beiden und schenke euch, was ihr euch wünscht.
Sulpiz Boisserée erzählt, wie Goethe ihm auf ihrer gemeinsamen Reise 1815 in Darmstadt, als er ihn mittags zu Hofe begleitete, im Gehen die »Entstehung des Lingam« erzählte: Es sei unendlicher Geist und Weisheit in den indischen Sagen, er verehre sie sehr hoch. — Aus seiner Abneigung gegen die indische Kunst fügte er freilich hinzu: Aber nur müsste er ihre Bilder nicht dabei sehen, die verdürben gleich die Phantasie bis zum Verfluchen! Die Erscheinung des kosmischen Linga ist ein geläufiges Thema südindischer Plastik, und diese macht die erstaunliche Selbstoffenbarung Shivas in dem riesigen Gebilde, das unergründlich aus der Tiefe ins Grenzenlose aufwächst, anschaulicher, als der etwas kahle Bericht des Mythos: Als eine flammenumkränzte Säule ragt es mächtig auf, indes die beiden Götter sich vergeblich tummeln, seine Wurzel in der Tiefe des Weltmeers drunten, sein Ende droben im Weltraum auszufinden: Brahma schwingt sich als Schwan in die Höhe, während Vishnu als Eber sich in die vertraute Tiefe stürzt — umsonst, sie erreichen die Enden nicht. Indessen birst die Haut des gewaltigen Dinges, und Shiva offenbart sich als sein Kern.


So sprach der Große Gott, und Shiva selbst umarmte mich und Brahma, und war voll großer Gnade. Da fielen Vishnu und Brahma frohen Sinnes vor ihm nieder und sprachen, in sein Antlitz blickend: „Wenn du uns eine Gabe schenken willst, so wollen wir ewig dir, dem Großen Gott, ergeben sein.“ — Da lachte der erhabene Herr auf und sprach freund¬lich zu mir: „Du, Herr der Erde, vollziehst Auflösung, Be¬stand und Entfaltung der Welten — Kind, Kind, Hari, schir¬me alles umher, was geht und steht. Ich bin zweimal gespalten durch die unterschiedlichen Kräfte der Weltentfaltung, Welt¬erhaltung und Weltauflösung unter die Namen Brahma, Vishnu und Hara, und bin dabei doch unterschiedslos, aller schminkenden Färbung bar. Lass fahren deinen Wahn, o Vishnu, und gewähre dem Altervater Brahma deinen Schutz, denn er wird dein ewiger Sohn sein, und ich werde, Gestalt eines Gottes tragend, zu Weltalters Beginn aus deinem Mun¬de geboren werden. Mit dem Spieß in Händen werde ich, aus deinem Zorn geboren, dein Sohn sein.“
Der handgreiflichste Zweck dieses Mythos ist die Einführung des Lingakultes aus vorarisch-alter Tradition in die brahma¬nisch-hinduistische Überlieferung: Vishnu selbst wird bestellt, was die Veden und ganze Zeitalter nach ihnen bekämpften, endlich heiligzusprechen und das Linga als geheimnisvoll¬ster Offenbarung des höchsten Gottes zu lehren. Das Linga »ist das Brahman«, es ist sein »höchster Leib«. Das ist das »göttlich-große Wunderwesen« am Linga, davon wissen freilich selbst yogakundige Götter nichts: Vishnu und Brahma selbst sind der Offenbarung bedürftig. Die phallische Erscheinung in kosmischer Größe und reiner Materialität ist der höchste Leib der stofflos lautersten Kraft, des Brahman, die als Inbrunst und Ziel alles Aufschwungs nach Erkenntnis des Innersten erfahren wird. Es ist das All-in-Eins der Kräfte, die im Weltspiel weben, der entfaltenden, erhaltenden und wegraffenden Dreiheit Brahma, Vishnu und Shiva als Hara, der »Wegraffer«. Am Weltriesen Vishnu war Brahma in der Lotosblüte seines Nabels die demiurgische Gebärde und Shiva die furchtbare Maske, unter der er die müdgewordene Welt in sich zurücknahm — jetzt offenbart sich Shiva als der Allumgreifende: Brahma entsprang seiner einen, Vishnu der anderen Seite, aber sein Herz, seine Mitte, ist der wegraffende Tod. Das Wissen des letzten Weltalters ist: Entstehen und Bestand sind Facetten des Todes; das Zeichen aber, unter dem sich die Einheit der drei offenbart, ist das Symbol der Zeugung.
So sprach der Große Gott und bezeigte Brahma und mir sei¬ne Güte und verschwand daselbst. Seit jener Zeit ist die Ver¬ehrung des Linga in allen Welten wohlbegründet. Das Linga ist das Brahman, ist höchster Leib des Brahman, das eben ist das göttlich-große Wunderwesen am Linga, davon wissen yogakundige Götter und Dämonen nichts. Denn das ist die höchste Erkenntnis, unentfaltet, nach Shiva benannt; mit ihr schaut, wer das Auge der Erkenntnis besitzt, das unwahr¬nehmbar Feinste, das Unausdenkbare.«


Sulpiz Boisserée erzählt, wie Goethe ihm auf ihrer gemein¬samen Reise 1815 in Darmstadt, als er ihn mittags zu Hofe begleitete, im Gehen die »Entstehung des Lingam« erzählte: es sei unendlicher Geist und Weisheit in den indischen Sagen, er verehre sie sehr hoch. Aus seiner Abneigung gegen die indische Kunst fügte er freilich hinzu: Aber nur müsste er ihre Bilder nicht dabei sehen, die verdürben gleich die Phan¬tasie bis zum Verfluchen! Die Erscheinung des kosmischen Linga ist ein geläufiges Thema südindischer Plastik, und diese macht die erstaunliche Selbstoffenbarung Shivas in dem rie¬sigen Gebilde, das unergründlich aus der Tiefe ins Grenzen¬lose aufwächst, anschaulicher, als der etwas kahle Bericht des Mythos: als eine flammenumkränzte Säule ragt es mächtig auf, indes die beiden Götter sich vergeblich tummeln, seine Wurzel in der Tiefe des Weltmeers drunten, sein Ende dro¬ben im Weltraum auszufinden: Brahma schwingt sich als Schwan in die Höhe, während Vishnu als Eber sich in die vertraute Tiefe stürzt — umsonst, sie erreichen die Enden nicht. Indessen birst die Haut des gewaltigen Dinges, und Shiva offenbart sich als sein Kern.
Die weltentfaltende und die welterhaltende Kraft begegnen sich im Urmeer und prahlen gegeneinander, wer die höhere, die frühere Kraft sei; trunken von der eigenen strahlenden Herrlichkeit wähnt jede aus sich selbst zu stammen und in sich selbst zu beruhen das eben ist ihr Verfallensein an die eigene Mayanatur; da wächst jählings das Ungeheuerliche herauf, aus dem Unergründlichen in die grenzenlose Weltnacht, es loht umkränzt vom Flammenfeuer der Vernichtung, es trägt die Gestalt des Zeugenden und ist die Offenbarung des Wegraffend-Tödlichen. Die zerreißende Einheit zwischen Zeugen und darin Versterben, jenes Münden in eine allerfüllende Auflösung, ein Zerspringen der Maya von Ich und Du jenseits des Gegensatzpaares von Lust und Schmerz, aus dem alle Maya der Empfindungssphäre gewoben ist, dieses blitzende In-Eins der Gegensätze, aus denen der Ring des Lebens zusammenschießt: Schlichtes Erlebnis der Liebenden, aber in Indien dröhnend und feierlich als Mysterium geformt, ist der naturhaft-weltweite Grund dieses Symbols; es nimmt seine dunkel vielsagende Tönung aus dem Erlebnis, wie Tod ins Lebendige des Lebens verschlungen ist, wenn sich das Leben des Lebens wahrhaft begibt: Wie er als leidlos tiefer Atemzug aus dem elementarsten Rausche des Leben haucht.
Der handgreiflichste Zweck dieses Mythos ist die Einführung des Lingakultes aus vorarisch-alter Tradition in die brahma¬nisch-hinduistische Überlieferung: Vishnu selbst wird be¬stellt, was die Veden und ganze Zeitalter nach ihnen bekämpf¬ten, endlich heiligzusprechen und das Linga als geheimnisvoll¬ster Offenbarung des höchsten Gottes zu lehren. Das Linga »ist das Brahman«, es ist sein »höchster Leib«. Das ist das »göttlich-große Wunderwesen« am Linga, davon wissen freilich selbst yogakundige Götter nichts: Vishnu und Brah-ma selbst sind der Offenbarung bedürftig. Die phallische Er¬scheinung in kosmischer Größe und reiner Materialität ist der höchste Leib der stofflos lautersten Kraft, des Brahman, die als Inbrunst und Ziel alles Aufschwungs nach Erkenntnis des Innersten erfahren wird. Es ist das All-in-Eins der Kräfte, die im Weltspiel weben, der entfaltenden, erhaltenden und wegraffenden Dreiheit Brahma, Vishnu und Shiva als Hara, der »Wegraffer«. Am Weltriesen Vishnu war Brahma in der Lotosblüte seines Nabels die demiurgische Gebärde und Shiva die furchtbare Maske, unter der er die müdgewordene Welt in sich zurücknahm — jetzt offenbart sich Shiva als der Allumgreifende: Brahma entsprang seiner einen, Vishnu der anderen Seite, aber sein Herz, seine Mitte, ist der weg¬raffende Tod. Das Wissen des letzten Weltalters ist: Entste¬hen und Bestand sind Facetten des Todes; das Zeichen aber, unter dem sich die Einheit der drei offenbart, ist das Symbol der Zeugung.


Die religions- und kultgeschichtliche Leistung des Mythos: dass er neue Rangordnungen unter Göttern wirkt, ihre Plätze vertauscht und neue oder uralte Erscheinungen und Kulte heiligspricht, die auf Anerkennung harren, ist in den Shivamythen besonders greifbar. Es hat augenscheinlich eines langen Ringens bedurft, all die unheimliche Substanz, die sich von je an Shiva hängt, erträglich, ja heilbringend notwendig zu empfinden und mit ihm in die gültigheilige Welt des Brahmanismus hineinzunehmen. Was die arischen Veden mit ihm aus dem inneren Bezirk ihres Göttlichen ausgrenzten, konnte erst nach vielen wechselnden Zeitläufen sich mählich Duldung und Geltung, schließlich Macht und Vorherrschaft erringen.
Die weltentfaltende und die welterhaltende Kraft begegnen sich im Urmeer und prahlen gegeneinander, wer die höhere, die frühere Kraft sei; trunken von der eigenen strahlenden Herrlichkeit wähnt jede aus sich selbst zu stammen und in sich selbst zu beruhen — das eben ist ihr Verfallensein an die eigene Mayanatur; da wächst jählings das Ungeheuerliche herauf, aus dem Unergründlichen in die grenzenlose Welt¬nacht, es loht umkränzt vom Flammenfeuer der Vernich¬tung, es trägt die Gestalt des Zeugenden und ist die Offen¬barung des Wegraffend-Tödlichen. Die zerreißende Einheit zwischen Zeugen und darin Versterben, jenes Münden in eine allerfüllende Auflösung, ein Zerspringen der Maya von Ich und Du jenseits des Gegensatzpaares von Lust und Schmerz, aus dem alle Maya der Empfindungssphäre gewoben ist, die-ses blitzende In-Eins der Gegensätze, aus denen der Ring des Lebens zusammenschießt: schlichtes Erlebnis der Liebenden, aber in Indien dröhnend und feierlich als Mysterium ge¬formt, ist der naturhaft-weltweite Grund dieses Symbols; es nimmt seine dunkel vielsagende Tönung aus dem Erlebnis, wie Tod ins Lebendige des Lebens verschlungen ist, wenn sich das Leben des Lebens wahrhaft begibt: wie er als leidlos tie¬fer Atemzug aus dem elementarsten Rausche des Leben haucht.
Die religions- und kultgeschichtliche Leistung des Mythos: dass er neue Rangordnungen unter Göttern wirkt, ihre Plät¬ze vertauscht und neue oder uralte Erscheinungen und Kulte heiligspricht, die auf Anerkennung harren, ist in den Shiva¬mythen besonders greifbar. Es hat augenscheinlich eines lan¬gen Ringens bedurft, all die unheimliche Substanz, die sich von je an Shiva hängt, erträglich, ja heilbringend notwendig zu empfinden und mit ihm in die gültigheilige Welt des Brahmanismus hineinzunehmen. Was die arischen Veden mit ihm aus dem inneren Bezirk ihres Göttlichen ausgrenzten, konnte erst nach vielen wechselnden Zeitläufen sich mählich Duldung und Geltung, schließlich Macht und Vorherrschaft erringen.
   
   
===Shiva im Linga===
===Shiva im Linga===
  Shiva trägt die blauschwarze Farbe der Verwesung und die rote des vergossenen Blutes, sein Gefolge sind Geister, Gespenster und Leichendämonen, die sich auf Schlachtfeldern und Richtstätten und, wo die Toten verbrannt werden, am Blut und Fett der Leichen mästen, ihr Fleisch fressen und ihnen das Mark aus den Knochen saugen. Seit alters ist er der wilde Jäger des Dschungels, er führt den festen Bogen und die schnellen Pfeile, er sendet das Fieber und tötet Mensch und Tier, er heißt der »Herr der Tiere« und ist der dämonische Herrscher der Wildnis und ihrer Geschöpfe. Die springende Gazelle auf der Linken ist ein Zeichen seiner Kultfiguren, verknotete Schlangen bilden seine Opferschnur um Schulter und Hüfte, er hat das Tigerfell zu Schurz und Sitz als göttliches Vorbild den irdischen Asketen gegeben: es bezeichnet ihn als Bezwinger des furchtbarsten Tiers des Dschungels. Er ist die göttlich verkörperte Wildnis mit all ihren Schrecken, wie sie, in sich selbst versteckt, rings die den freundlichen Göttern unterstellte Dorfflur der Menschen unheimlich belauert und umstellt. Sein alter Name ist »Rudra«, der »Brüller«, er wird »Shiva« der »Gütige« genannt, weil er so schrecklich ist — begütigend wendet man sich an seine Gnade.
  Shiva trägt die blauschwarze Farbe der Verwesung und die rote des vergossenen Blutes, sein Gefolge sind Geister, Ge¬spenster und Leichendämonen, die sich auf Schlachtfeldern und Richtstätten und, wo die Toten verbrannt werden, am Blut und Fett der Leichen mästen, ihr Fleisch fressen und ihnen das Mark aus den Knochen saugen. Seit alters ist er der wilde Jäger des Dschungels, er führt den festen Bogen und die schnellen Pfeile, er sendet das Fieber und tötet Mensch und Tier, er heißt der »Herr der Tiere« und ist der dämoni¬sche Herrscher der Wildnis und ihrer Geschöpfe. Die sprin¬gende Gazelle auf der Linken ist ein Zeichen seiner Kultfigu¬ren, verknotete Schlangen bilden seine Opferschnur um Schulter und Hüfte, er hat das Tigerfell zu Schurz und Sitz als göttliches Vorbild den irdischen Asketen gegeben: es be¬zeichnet ihn als Bezwinger des furchtbarsten Tiers des Dschungels. Er ist die göttlich verkörperte Wildnis mit all ihren Schrecken, wie sie, in sich selbst versteckt, rings die den freundlichen Göttern unterstellte Dorfflur der Menschen un¬heimlich belauert und umstellt. Sein alter Name ist »Rudra«, der »Brüller«, er wird »Shiva« der »Gütige« genannt, weil er so schrecklich ist — begütigend wendet man sich an seine Gnade.
Die vedisch-brahmanische Religion gewährt ihm keinen ebenbürtigen Platz im Kulte Seite an Seite mit den anderen Göttern; an der Grenze ihres Schutzbereiches, außen an der Dorfmark, wird ihm geopfert: Der Unheimliche wird nicht hineingelassen ins götterbeschirmte Menschendorf, geschweige denn feierlich herbeigerufen und eingeladen wie die anderen Götter, im Opferbezirk unsichtbar Platz zu nehmen. Draußen an der Schwelle wird er abgefunden wie ein nicht geheurer Fremdling, ein unwillkommener Bettler, den man nicht ins Haus lässt, nicht zum Mahle bittet.
Die vedisch-brahmanische Religion gewährt ihm keinen ebenbürtigen Platz im Kulte Seite an Seite mit den anderen Göttern; an der Grenze ihres Schutzbereiches, außen an der Dorfmark, wird ihm geopfert: der Unheimliche wird nicht hineingelassen ins götterbeschirmte Menschendorf, geschwei¬ge denn feierlich herbeigerufen und eingeladen wie die ande-ren Götter, im Opferbezirk unsichtbar Platz zu nehmen. Draußen an der Schwelle wird er abgefunden wie ein nicht geheurer Fremdling, ein unwillkommener Bettler, den man nicht ins Haus lässt, nicht zum Mahle bittet.
 
Der Mythos erzählt — über die Zeiten hin in wechselnder Form —, wie er vom eigentlichen Götteropfer ausgeschlos¬sen, gewaltsam in die Feier einbrach: er verfolgte das Opfer, das in Gazellengestalt vor dem Jäger floh, und der Schütze traf es mit seinem Pfeil; der vedische Gott Savitar soll seine goldenen Hände, mit denen er unvergänglich alle Welt an¬treibt, ihre Bahnen zu ziehen, nicht, wie es eigentlich gemeint war, als Zeichen seiner alterslosen Kraft besitzen, vielmehr: Shiva hieb dem Bevorzugten, zum Opferfest Geladenen die Hände ab, als er ins Opfer einbrach, darum trägt Savitar goldgefertigte zum Ersatz. Der zahnlose Puschan, ein alter Gott der Wege und Herden, in Namen und Wesen der indi¬sche Bruder des griechischen Pan, ward angeblich erst zahn¬los, weil Shiva ihm die Zähne ausschlug, als er sich am Mahl des Opfers wohl sein ließ.
Der Mythos erzählt — über die Zeiten hin in wechselnder Form —, wie er vom eigentlichen Götteropfer ausgeschlossen, gewaltsam in die Feier einbrach: er verfolgte das Opfer, das in Gazellengestalt vor dem Jäger floh, und der Schütze traf es mit seinem Pfeil; der vedische Gott Savitar soll seine goldenen Hände, mit denen er unvergänglich alle Welt an¬treibt, ihre Bahnen zu ziehen, nicht, wie es eigentlich gemeint war, als Zeichen seiner alterslosen Kraft besitzen, vielmehr: Shiva hieb dem Bevorzugten, zum Opferfest Geladenen die Hände ab, als er ins Opfer einbrach, darum trägt Savitar goldgefertigte zum Ersatz. Der zahnlose Puschan, ein alter Gott der Wege und Herden, in Namen und Wesen der indische Bruder des griechischen Pan, ward angeblich erst zahnlos, weil Shiva ihm die Zähne ausschlug, als er sich am Mahl des Opfers wohl sein ließ.


Aber der Grausame ist auch Rächer gestörter Ordnung, der Erbarmungslose kann vollbringen, wovor den übrigen Göt¬tern schaudert: der »Herr der Ausgeburten«, der Ältervater und Schöpfer aller Wesen, verführt im vedischen Mythos die eigene Tochter, das Mädchen Morgenröte; da rufen die Götter Shiva, den Frevel des Inzests zu strafen, und er trifft den Vater aller mit seinem Pfeil. Die Rolle des »Herrn der Ausgeburten« fällt im späteren Mythos verschiedenen Ge¬stalten zu, vor allem Brahma und Vishnu, und die Shiva¬mythen erzählen gern, wie beide, von Shivas Maya verblen¬det, sich wahrhaftig für den Ursprung aller Welt nehmen und miteinander streiten. Um seine Erhabenheit über alle Welt kundzutun, treibt Brahma über seine vier Gesichter, die in alle Weltrichtungen blicken, ein fünftes, überweltliches her¬vor: der große Demiurg und innerweltliche Walter maßt sich selbstbefangen Jenseitigkeit von der Maya an, deren reinste Kraft er ist. Aber wie einst am »Herrn der Ausgeburten« ahndet Shiva mit einem blutigen Streiche seinen Frevel an der ewigen Ordnung. Damit ist der Abseitige unter den Göt-tern der größte Verbrecher; er schlägt Brahma das Haupt ab: er verwundet den Brahmanen unter den Göttern und lädt die Blutschuld auf sich, die unter Menschen und Göttern als schwerste, unsühnbare gilt: das Blut eines Brahmanen zu ver¬gießen.
Aber der Grausame ist auch Rächer gestörter Ordnung, der Erbarmungslose kann vollbringen, wovor den übrigen Göttern schaudert: der »Herr der Ausgeburten«, der Ältervater und Schöpfer aller Wesen, verführt im vedischen Mythos die eigene Tochter, das Mädchen Morgenröte; da rufen die Götter Shiva, den Frevel des Inzests zu strafen, und er trifft den Vater aller mit seinem Pfeil. Die Rolle des »Herrn der Ausgeburten« fällt im späteren Mythos verschiedenen Gestalten zu, vor allem Brahma und Vishnu, und die Shivamythen erzählen gern, wie beide, von Shivas Maya verblendet, sich wahrhaftig für den Ursprung aller Welt nehmen und miteinander streiten. Um seine Erhabenheit über alle Welt kundzutun, treibt Brahma über seine vier Gesichter, die in alle Weltrichtungen blicken, ein fünftes, überweltliches hervor: Der große Demiurg und innerweltliche Walter maßt sich selbstbefangen Jenseitigkeit von der Maya an, deren reinste Kraft er ist. Aber wie einst am »Herrn der Ausgeburten« ahndet Shiva mit einem blutigen Streiche seinen Frevel an der ewigen Ordnung. Damit ist der Abseitige unter den Göttern der größte Verbrecher; er schlägt Brahma das Haupt ab: er verwundet den Brahmanen unter den Göttern und lädt die Blutschuld auf sich, die unter Menschen und Göttern als schwerste, unsühnbare gilt: Das Blut eines Brahmanen zu vergießen.


==Siehe auch==
==Siehe auch==

Version vom 8. Oktober 2013, 10:39 Uhr

Shivalinga (Sanskrit: शिवलिङ्ग śivaliṅga n.) Phallus als Symbol des Gottes Shiva, welches seine Schöpferkraft symbolisiert. Shiva bedeutet schlicht der „Gütige“, der „Freundliche“ oder der „Gnadenvolle“. In den Augen seiner Anhänger, der Shaivas, ist Shiva das Universum und das Selbst, das in allen Dingenist. Seiner Meditation entspringen die Welten, die wir Wirklichkeit nennen.

Shiva mit Shivalingam

Die Feuersäule

Das erste Mal wurde das Shivalinga verehrt, bevor es überhaupt eine Schöpfung gab. Vishnu war gerade aus dem Weltenschlaf erwacht und leuchtete mit dem ihm entsprungenen Licht von hunderttausend Sonnen in die Finsternis des endlosen Chaos. Noch nichts war da, außer der Herrlichkeit seines Wesens. Plötzlich nahm er einen unbeschreiblichen Glanz war. Er sah eine goldfarbene Gottheit daherschweben – es war Brahma -, die ebenfalls wie hunderttausend Sonnen leuchtete und aus deren Mitte die Veden ertönten. Es dauerte nicht lange, da stritten sich die beiden mächtigen Urgötter, wer nun der erste und mächtigste sei. Als ihr Zanken immer heftiger wurde, schoss eine Feuersäule (Jyotirlinga) mit betäubendem Knall zwischen sie. Die mit der Helligkeit von Millionen Sonnen leuchtende Säule wuchs nach oben, wo sie die Himmel durchbrach, und gleichzeitig nach unten in die Erdtiefen reichte.

Vishnu und Brahma beschlossen, dass derjenige der größte von ihnen sei, der zuerst ein Ende der Feuersäule fände. Vishnu nahm die Gestalt eines Ebers an und wühlte sich hinab in die Tiefe. Brahma nahm die Gestalt eines Gänserichs an und flog in die Höhe. Vishnu grub und grub viele Jahrtausende. Er konnte weder den Anfang noch das Ende der Feuersäule finden. In der Tiefe begegnete ihm die Urschlange Shesha, die Endlose. Er fragte den weisen König der Schlangen, was es mit der Säule auf sich habe. Shesha antwortete, es sei die Erscheinung Mahadevs (Shiva), die weder Wurzel noch Krone hat. Geschlagen begab sich Vishnu wieder aufwärts.

Inzwischen war Brahma ebenfalls viele Äonen hindurch auf seinem Gänserich nach oben geflogen, ohne je ein Ende der Säule zu erblicken. Auf dem Weg traf er die Urkuh Surabhi (Kamadhenu). Sie erklärte dem Gott, dass er nie die Spitze des Flammenlinga erreichen könne. Der redegewandte Brahma, der unbedingt die Wette gewinnen wollte, überredete jedoch die dumme Kuh, als Zeuge mitzukommen und zu behaupten, er habe die Spitze tatsächlich gefunden.

Als sich Vishnu und Brahma in der Mitte wieder trafen, prahlte Brahma mit seinem Erfolg. Plötzlich trat Shiva-Mahadev aus dem Feuerlinga hervor und macht dem Theater ein Ende. Da du die Wahrheit sagtest, wirst du ebenso verehrt werden wie ich, sagte er zu Vishnu. Dir aber, Brahma, wird man keine Tempel bauen, und man wird dich nicht verehren, weil du gelogen hast.

Es gibt nur einen einzigen Tempel in ganz Indien, in dem Brahma verehrt wird. Ansonsten hat er keine Tempel, wird nicht verehrt und empfängt keine Opfergaben.

Shiva Linga

Ein Symbol, das auf einen Rückschluss hindeutet

Unter Ausländern ist der Glaube weit verbreitet, dass der Shiva Linga einen Phallus oder männliches Glied darstellt, das Sinnbild der Zeugungskraft oder des Zeugungsprinzips in der Natur. Das ist nicht nur ein ernst zu nehmender Irrtum, sondern sogar ein grober Fehler. In der nachvedischen Zeit wurde der Linga zu einem Symbol für Shivas Schöpferkraft. Der Linga ist das differenzierende Symbol. Doch sicher nicht ein geschlechtliches Symbol. In der Linga Purana ist zu lesen:

Pradhanam Prakritim Tatcha Yadahur-lingamuttamam Gandhavarnarasairhinam Sabda-sparsadi-varjitam.

Der höchste und erste, ursprüngliche Linga, der frei ist von Geruch, Farbe, Geschmack, von Hören und Fühlen usw., wird Prakriti, die (Ur-) Natur, genannt. Linga bedeutet in Sanskrit Zeichen, Kennzeichen, Symbol. Es ist ein Symbol, das auf einen Rückschluss hindeutet. Sehen wir, dass ein Fluss viel Wasser führt, dann schließen wir daraus, dass es am vorhergehenden Tag stark geregnet hat. Sehen wir Rauch, dann folgern wir, dass es irgendwo ein Feuer geben muss. Die weite Welt mit ihren zahllosen Erscheinungsformen ist ein Linga des allmächtigen Gottes. Der Shiva Linga ist ein Symbol für Shiva. Betrachtet man den Linga, dann wird der Geist sogleich erhoben und man beginnt an Gott zu denken. Tatsächlich ist Shiva formlos. Er hat keine eigene Gestalt und doch sind alle Formen und Gestalten Seine Formen und Gestalten. Alle Formen werden von Shiva durchdrungen. Jede Form ist die Gestalt oder der Linga von Shiva.

Eine kraftvolle Konzentrationshilfe

Im Linga liegt eine geheimnisvolle Kraft oder unbeschreibliche Shakti, die den Geist zur Konzentration führt. So wie der Geist sich leicht in die Betrachtung eines Kristalls versenken kann, so erreicht er auch Fokussiertheit bei der Betrachtung des Linga. Daher haben die alten indischen Rishis vorgeschrieben, dass es in den Shiva-Tempeln einen Linga geben soll.

Der Linga ist ein Symbol für den formlosen Shiva

Der Shiva Linga spricht zu Dir in einer unverkennbaren Sprache der Stille: „Ich bin Eins ohne ein Zweites. Ich bin ohne Form.“ Nur reine, fromme Seelen können diese Sprache verstehen. Ein neugieriger, leidenschaftlicher, unreiner Fremder mit geringem Verständnis und beschränkter Intelligenz sagt sarkastisch: „Ach! Die Hindus beten den Phallus oder das Geschlechtsorgan an. Sie sind unwissende Menschen. Sie haben keine Philosophie.“ Wenn ein Fremder versucht, Tamil oder Hindi zu lernen, dann versucht er zunächst einmal, ein paar vulgäre Worte herauszufinden. Diese Neugier liegt in seiner Natur. Und dann versucht der neugierige Fremde, Schwachstellen bei der Anbetung von Symbolen ausfindig zu machen. Der Linga ist das einzige äußerliche Symbol des formlosen göttlichen Seins, Shiva, der unteilbaren, alles durchdringenden, ewigen, Glück verheißenden, ewig reinen, unsterblichen Essenz dieses weiten Universums, der unsterblichen Seele, die in den Kammern deines Herzens wohnt, des innersten Selbst oder Atman, das gleichzusetzen ist mit dem Höchsten Brahman.

Sphatikalinga – Ein Symbol für Nirguna Brahman

Auch Sphatikalinga ist ein Symbol für Shiva. Es ist vorgeschrieben für Aradhana oder die Anbetung von Shiva. Es wird aus Bergkristall gefertigt. Es hat keine eigene Farbe, nimmt jedoch die Farben der Substanzen an, die mit ihm in Berührung kommen. Es symbolisiert Nirguna Brahman oder das eigenschaftslose Höchste Selbst, oder den formlosen und eigenschaftslosen Shiva.

Die mystische Shakti in einem Steinblock

Für einen aufrichtigen Gläubigen ist ein Linga kein Steinblock. Er ist strahlendes Tejas oder Chaitanya. Der Linga spricht zu ihm, lässt ihn Ströme von Tränen vergießen, lässt ihn erschauern und bringt das Herz zum schmelzen, erhebt ihn über das Körperbewusstsein and hilft ihm, mit Gott Zwiesprache zu halten und Nirvikalpa Samadhi zu erreichen. Rama verehrte den Shivalinga in Ranesvar. Ravana, ein gelehrter Schüler, verehrte den goldenen Linga. Wieviel mystische Shakti ist nicht in einem Linga verborgen! Mögt ihr alle den gestaltlosen Shiva durch die Anbetung des Linga erreichen, des Symbols Gottes, das die Konzentration stärkt und dem Geist als Pfeiler dient, auf den sich vor allem ein Meditationsanfänger stützen kann.

Heinrich Zimmer über Shivalinga

Aus dem Buch „Maya“ von Heinrich Zimmer

Im etruskischen Museum zu Volterra befindet sich eine merkwürdige Kleinbronze aus den Gräberfunden der alten Stadt; sie hält den Blick fest, wenn sie ihn einmal gefangen hat. Es ist eine Figur von übertriebener Länge und Schlankheit; ein Traumgebilde: unwahrscheinlich und nicht fremd. Sie über¬ragt die anderen Gegenstände, die der Wandschrank in Regalen schichtet, Spiegel und Kleinbronzen, alle um ein Vielfaches, sie überschneidet Regal um Regal; wie eine schlanke Rauchfahne hebt sich ihre unsinnliche Nacktheit aus schmalsten Füßen in einem Wachsen, das nicht enden will. — »L'ombra dell'uomo nella sera«, antwortet der grauhaarige kleine Kustode auf den fragenden Blick — »Der Schatten des Menschen am Abend«. Der Schatten des Menschen ist seine Seele; am Abend seines Lebenstages, wenn die Sonne ihm sinkt und alle Schatten länger fallen, erhebt sich sein Schatten überlang aus ihm und wächst immer weiter in die Dämmerung hinaus, die Dämmerung umwächst ihn, überwächst ihn, und, mit ihr verschwimmend, verschmilzt er in die Nacht des Todes, aus der er einst in seinen Lebensmorgen trat: Die Mütterliche nimmt den Dunklen heim in ihren dunklen Schoß.

Mit Krischnas Hingang wachsen die Schatten der Dämmerung über den Himmel des indischen Mythos; Shiva, der Asket mit der Schädelschale als Trinkgefäß, im Knochenschmuck, den nackten Leib mit der Asche von Scheiterhaufen bepudert, beherrscht das End-Weltalter: Der Friedebringer und Erlöser mit den Zeichen des Todes. In seinem vieldeutigen Zwielicht wächst der Mythos aus seiner gestaltigen Kraft ins konturlos Verblassende, er verschwimmt im Dunkel, das ihn riesenhaft überwächst — das er, im Riesenhaften ermattend, ergreifen will, und als dessen Grenzenlosigkeit er sich begreift.

Die Entstehung des Linga

Der erhabene Vishnu sprach: »Es war ein All-eines Meer, furchtbar und unzerteilt, aus Dunkel gebildet. Mitten darin lag ich, das ewige Wesen, mit meinen Waffen in Händen, mit tausend Köpfen und Augen, tausend Füßen und Armen. Da sah ich in der Ferne gewaltig leuchtend, wie Myriaden Sonnen strahlend, den Gott, den die Veden als Herrn preisen: Brahma, von großem Yoga voll, mit vier Gesichtern: die gestaltende Ursache der Welt. In einem Nu war er bei mir, der Höchste der Yogakundigen sagte voll großen Glanzes lächelnd zu mir: „Wer bist du? Woher bist du? Was weilst du hier? Das sag mir, denn ich bin der Schöpfer der Welten, der Ältervater, der aus sich selbst entstanden ist.“

Als Brahma so zu mir sprach, sagte ich: „Ich bin der Schöpfer der Welten und ihr Vernichter Mal um Mal“ — so breitete sich Hader zwischen uns beiden dank der Maya des Allerhöchsten. Um uns beide zur Erkenntnis zu wecken, erschien ein unvergleichliches Linga: Shiva ist sein Wesen. Es sah wie das Feuer des Weltuntergangs aus und lohte rings von Flammenkränzen, es ward nicht kleiner und nicht größer, es hatte keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende. Da sprach Brahma zu mir: „Geh du geschwind abwärts, ich will aufwärts gehen, wir wollen herausfinden, wo sein Ende ist“ — so sprach der Ungeborene, und so wurden wir schnell einig und gingen: der eine aufwärts, der andere abwärts. Aber wir konnten beide ein Ende nicht herausfinden, und so trafen wir uns wieder. Wundern überfiel uns, und wir fürchteten uns vor Shiva. Von seiner Maya verblendet, sammelten wir uns in innere Schau auf den Herrn, den All, und riefen feierlich den großen Ruf, die Silbe OM, das höchste Wort, legten unsere Hände betend zusammen und priesen den Höchsten, den Friedebringer: „Anbetung dem Friedebringer, dem Arzt für das Leiden des kreisend sich immer erneuernden Lebens, des Wurzel ohne Anfang ist: Shiva dem Friedevollen, dem Brahman, dessen Gestalt das Linga ist! Anbetung ihm, der im Meere der Weltauflösung weilt, der das Entstehen der Auflösung bewirkt, der einem Flammenkranze gleicht und die Gestalt einer Feuersäule hat. Anbetung ihm, der ohne Anfang, Mitte und Ende ist, fleckenloser Glanz, stoffliches Urwesen der Welt, dessen Gestalt der unendliche Raum ist. Anbetung dem Wandellosen, Wahren voll unvergleichlicher strahlender Kraft, dessen Gestalt die Zeit ist: Shiva, dem Friedevollen dem Brahman, dessen Gestalt das Linga ist!«

Als wir den Großen Herrn priesen, offenbarte er sich, der große Yogin strahlte, er leuchtete wie Myriaden Sonnen, es war, als schlänge er den Himmelsraum mit seinen Myriaden Mündern. Er hatte tausend Hände und Füße, Sonne und Mond waren seine beiden Augen; ins Antilopenfell, den Schurz des Yogin gewandet, hielt der Erhabene den Bogen in Händen und führte den Dreizack, eine Schlange war die Opferschnur, die ihm um Schulter und Hüte lief, und seine Stimme war wie Wolkenpauken. Er sprach: „Ich bin erfreut, ihr beiden Besten der Götter! Schaut mich, den Großen Gott, an und lasst alle Furcht fahren! Vorzeiten seid ihr aus meinen Gliedern erzeugt worden, ihr Ewigen: Brahma, der Ältervater der Welten, in meiner rechten Seite, und in meiner linken Vishnu, der Erhalter, in meinem Herzen aber Hara, der die Welt vernichtend zusammenrafft. Ich freue mich wahrhaft an euch beiden und schenke euch, was ihr euch wünscht.“

So sprach der Große Gott, und Shiva selbst umarmte mich und Brahma, und war voll großer Gnade. Da fielen Vishnu und Brahma frohen Sinnes vor ihm nieder und sprachen, in sein Antlitz blickend: „Wenn du uns eine Gabe schenken willst, so wollen wir ewig dir, dem Großen Gott, ergeben sein.“ — Da lachte der erhabene Herr auf und sprach freundlich zu mir: „Du, Herr der Erde, vollziehst Auflösung, Bestand und Entfaltung der Welten — Kind, Kind, Hari, schirme alles umher, was geht und steht. Ich bin zweimal gespalten durch die unterschiedlichen Kräfte der Weltentfaltung, Welterhaltung und Weltauflösung unter die Namen Brahma, Vishnu und Hara, und bin dabei doch unterschiedslos, aller schminkenden Färbung bar. Lass fahren deinen Wahn, o Vishnu, und gewähre dem Altervater Brahma deinen Schutz, denn er wird dein ewiger Sohn sein, und ich werde, Gestalt eines Gottes tragend, zu Weltalters Beginn aus deinem Munde geboren werden. Mit dem Spieß in Händen werde ich, aus deinem Zorn geboren, dein Sohn sein.“

So sprach der Große Gott und bezeigte Brahma und mir seine Güte und verschwand daselbst. Seit jener Zeit ist die Verehrung des Linga in allen Welten wohlbegründet. Das Linga ist das Brahman, ist höchster Leib des Brahman, das eben ist das göttlich-große Wunderwesen am Linga, davon wissen yogakundige Götter und Dämonen nichts. Denn das ist die höchste Erkenntnis, unentfaltet, nach Shiva benannt; mit ihr schaut, wer das Auge der Erkenntnis besitzt, das unwahrnehmbar Feinste, das Unausdenkbare.«

Sulpiz Boisserée erzählt, wie Goethe ihm auf ihrer gemeinsamen Reise 1815 in Darmstadt, als er ihn mittags zu Hofe begleitete, im Gehen die »Entstehung des Lingam« erzählte: Es sei unendlicher Geist und Weisheit in den indischen Sagen, er verehre sie sehr hoch. — Aus seiner Abneigung gegen die indische Kunst fügte er freilich hinzu: Aber nur müsste er ihre Bilder nicht dabei sehen, die verdürben gleich die Phantasie bis zum Verfluchen! Die Erscheinung des kosmischen Linga ist ein geläufiges Thema südindischer Plastik, und diese macht die erstaunliche Selbstoffenbarung Shivas in dem riesigen Gebilde, das unergründlich aus der Tiefe ins Grenzenlose aufwächst, anschaulicher, als der etwas kahle Bericht des Mythos: Als eine flammenumkränzte Säule ragt es mächtig auf, indes die beiden Götter sich vergeblich tummeln, seine Wurzel in der Tiefe des Weltmeers drunten, sein Ende droben im Weltraum auszufinden: Brahma schwingt sich als Schwan in die Höhe, während Vishnu als Eber sich in die vertraute Tiefe stürzt — umsonst, sie erreichen die Enden nicht. Indessen birst die Haut des gewaltigen Dinges, und Shiva offenbart sich als sein Kern.

Der handgreiflichste Zweck dieses Mythos ist die Einführung des Lingakultes aus vorarisch-alter Tradition in die brahma¬nisch-hinduistische Überlieferung: Vishnu selbst wird bestellt, was die Veden und ganze Zeitalter nach ihnen bekämpften, endlich heiligzusprechen und das Linga als geheimnisvoll¬ster Offenbarung des höchsten Gottes zu lehren. Das Linga »ist das Brahman«, es ist sein »höchster Leib«. Das ist das »göttlich-große Wunderwesen« am Linga, davon wissen freilich selbst yogakundige Götter nichts: Vishnu und Brahma selbst sind der Offenbarung bedürftig. Die phallische Erscheinung in kosmischer Größe und reiner Materialität ist der höchste Leib der stofflos lautersten Kraft, des Brahman, die als Inbrunst und Ziel alles Aufschwungs nach Erkenntnis des Innersten erfahren wird. Es ist das All-in-Eins der Kräfte, die im Weltspiel weben, der entfaltenden, erhaltenden und wegraffenden Dreiheit Brahma, Vishnu und Shiva als Hara, der »Wegraffer«. Am Weltriesen Vishnu war Brahma in der Lotosblüte seines Nabels die demiurgische Gebärde und Shiva die furchtbare Maske, unter der er die müdgewordene Welt in sich zurücknahm — jetzt offenbart sich Shiva als der Allumgreifende: Brahma entsprang seiner einen, Vishnu der anderen Seite, aber sein Herz, seine Mitte, ist der wegraffende Tod. Das Wissen des letzten Weltalters ist: Entstehen und Bestand sind Facetten des Todes; das Zeichen aber, unter dem sich die Einheit der drei offenbart, ist das Symbol der Zeugung.

Die weltentfaltende und die welterhaltende Kraft begegnen sich im Urmeer und prahlen gegeneinander, wer die höhere, die frühere Kraft sei; trunken von der eigenen strahlenden Herrlichkeit wähnt jede aus sich selbst zu stammen und in sich selbst zu beruhen — das eben ist ihr Verfallensein an die eigene Mayanatur; da wächst jählings das Ungeheuerliche herauf, aus dem Unergründlichen in die grenzenlose Weltnacht, es loht umkränzt vom Flammenfeuer der Vernichtung, es trägt die Gestalt des Zeugenden und ist die Offenbarung des Wegraffend-Tödlichen. Die zerreißende Einheit zwischen Zeugen und darin Versterben, jenes Münden in eine allerfüllende Auflösung, ein Zerspringen der Maya von Ich und Du jenseits des Gegensatzpaares von Lust und Schmerz, aus dem alle Maya der Empfindungssphäre gewoben ist, dieses blitzende In-Eins der Gegensätze, aus denen der Ring des Lebens zusammenschießt: Schlichtes Erlebnis der Liebenden, aber in Indien dröhnend und feierlich als Mysterium geformt, ist der naturhaft-weltweite Grund dieses Symbols; es nimmt seine dunkel vielsagende Tönung aus dem Erlebnis, wie Tod ins Lebendige des Lebens verschlungen ist, wenn sich das Leben des Lebens wahrhaft begibt: Wie er als leidlos tiefer Atemzug aus dem elementarsten Rausche des Leben haucht.

Die religions- und kultgeschichtliche Leistung des Mythos: dass er neue Rangordnungen unter Göttern wirkt, ihre Plätze vertauscht und neue oder uralte Erscheinungen und Kulte heiligspricht, die auf Anerkennung harren, ist in den Shivamythen besonders greifbar. Es hat augenscheinlich eines langen Ringens bedurft, all die unheimliche Substanz, die sich von je an Shiva hängt, erträglich, ja heilbringend notwendig zu empfinden und mit ihm in die gültigheilige Welt des Brahmanismus hineinzunehmen. Was die arischen Veden mit ihm aus dem inneren Bezirk ihres Göttlichen ausgrenzten, konnte erst nach vielen wechselnden Zeitläufen sich mählich Duldung und Geltung, schließlich Macht und Vorherrschaft erringen.

Shiva im Linga

Shiva trägt die blauschwarze Farbe der Verwesung und die rote des vergossenen Blutes, sein Gefolge sind Geister, Gespenster und Leichendämonen, die sich auf Schlachtfeldern und Richtstätten und, wo die Toten verbrannt werden, am Blut und Fett der Leichen mästen, ihr Fleisch fressen und ihnen das Mark aus den Knochen saugen. Seit alters ist er der wilde Jäger des Dschungels, er führt den festen Bogen und die schnellen Pfeile, er sendet das Fieber und tötet Mensch und Tier, er heißt der »Herr der Tiere« und ist der dämonische Herrscher der Wildnis und ihrer Geschöpfe. Die springende Gazelle auf der Linken ist ein Zeichen seiner Kultfiguren, verknotete Schlangen bilden seine Opferschnur um Schulter und Hüfte, er hat das Tigerfell zu Schurz und Sitz als göttliches Vorbild den irdischen Asketen gegeben: es bezeichnet ihn als Bezwinger des furchtbarsten Tiers des Dschungels. Er ist die göttlich verkörperte Wildnis mit all ihren Schrecken, wie sie, in sich selbst versteckt, rings die den freundlichen Göttern unterstellte Dorfflur der Menschen unheimlich belauert und umstellt. Sein alter Name ist »Rudra«, der »Brüller«, er wird »Shiva« der »Gütige« genannt, weil er so schrecklich ist — begütigend wendet man sich an seine Gnade.

Die vedisch-brahmanische Religion gewährt ihm keinen ebenbürtigen Platz im Kulte Seite an Seite mit den anderen Göttern; an der Grenze ihres Schutzbereiches, außen an der Dorfmark, wird ihm geopfert: Der Unheimliche wird nicht hineingelassen ins götterbeschirmte Menschendorf, geschweige denn feierlich herbeigerufen und eingeladen wie die anderen Götter, im Opferbezirk unsichtbar Platz zu nehmen. Draußen an der Schwelle wird er abgefunden wie ein nicht geheurer Fremdling, ein unwillkommener Bettler, den man nicht ins Haus lässt, nicht zum Mahle bittet.

Der Mythos erzählt — über die Zeiten hin in wechselnder Form —, wie er vom eigentlichen Götteropfer ausgeschlossen, gewaltsam in die Feier einbrach: er verfolgte das Opfer, das in Gazellengestalt vor dem Jäger floh, und der Schütze traf es mit seinem Pfeil; der vedische Gott Savitar soll seine goldenen Hände, mit denen er unvergänglich alle Welt an¬treibt, ihre Bahnen zu ziehen, nicht, wie es eigentlich gemeint war, als Zeichen seiner alterslosen Kraft besitzen, vielmehr: Shiva hieb dem Bevorzugten, zum Opferfest Geladenen die Hände ab, als er ins Opfer einbrach, darum trägt Savitar goldgefertigte zum Ersatz. Der zahnlose Puschan, ein alter Gott der Wege und Herden, in Namen und Wesen der indische Bruder des griechischen Pan, ward angeblich erst zahnlos, weil Shiva ihm die Zähne ausschlug, als er sich am Mahl des Opfers wohl sein ließ.

Aber der Grausame ist auch Rächer gestörter Ordnung, der Erbarmungslose kann vollbringen, wovor den übrigen Göttern schaudert: der »Herr der Ausgeburten«, der Ältervater und Schöpfer aller Wesen, verführt im vedischen Mythos die eigene Tochter, das Mädchen Morgenröte; da rufen die Götter Shiva, den Frevel des Inzests zu strafen, und er trifft den Vater aller mit seinem Pfeil. Die Rolle des »Herrn der Ausgeburten« fällt im späteren Mythos verschiedenen Gestalten zu, vor allem Brahma und Vishnu, und die Shivamythen erzählen gern, wie beide, von Shivas Maya verblendet, sich wahrhaftig für den Ursprung aller Welt nehmen und miteinander streiten. Um seine Erhabenheit über alle Welt kundzutun, treibt Brahma über seine vier Gesichter, die in alle Weltrichtungen blicken, ein fünftes, überweltliches hervor: Der große Demiurg und innerweltliche Walter maßt sich selbstbefangen Jenseitigkeit von der Maya an, deren reinste Kraft er ist. Aber wie einst am »Herrn der Ausgeburten« ahndet Shiva mit einem blutigen Streiche seinen Frevel an der ewigen Ordnung. Damit ist der Abseitige unter den Göttern der größte Verbrecher; er schlägt Brahma das Haupt ab: er verwundet den Brahmanen unter den Göttern und lädt die Blutschuld auf sich, die unter Menschen und Göttern als schwerste, unsühnbare gilt: Das Blut eines Brahmanen zu vergießen.

Siehe auch


Literatur

Weblinks