Pratyahara Möglichkeiten und Vergleiche zum anthroposophischen Schulungsweg

Aus Yogawiki

Pratyahara Möglichkeiten und Vergleiche zum anthroposophischen Schulungsweg - Artikel von Heinz Grill, Spiritueller Lehrer und Buchautor.

Das Porträt von Sivananda offenbart eine Grundstimmung von pratyahara: Der Gedanke bleibt ruhig gegründet, während die emotionalen, willentlichen und intellektualistischen Ströme aus den Augen zurückweichen. Die Stirn erscheint daher klar und hell.

Sivananda erwähnt die Notwendigkeit von pratyahara für jede Meditation, da ohne diese Disziplin, die übersetzt „Rückzug der Sinne“ heißt, der Meditierende in Irrtümer verfällt und zuletzt ein Spielball von weltlichen Leidenschaften wird. Das allgemeine Verständnis von Meditation ist ein so genanntes „nach innen zu Geist und Seele ausgerichtet sein“, während die sinnliche Tätigkeit eine zur Welt nach außen gerichtete Aktivität ist. Sie unterliegt den körperlichen Bedingungen. Pratyahara ist deshalb wie eine Türe, welche die Perspektive nach innen öffnet und das äußere unruhige Treiben der Welt zurücklässt.

Mit dem Begriff pratyahara stellt sich aber die philosophische Frage, ob dieser Rückzug der Sinne nur für die Meditation und deren Praxis gilt, oder ob man grundsätzlich im allgemeinen Leben ebenfalls eine exakte Kontrolle der Sinnesbewegungen praktizieren sollte. In asketischen Yogabewegungen dürfte diese Rückzugsneigung generell eine zwingende Gültigkeit besitzen. Will man jedoch mit den Yogabemühungen weniger einen Weltenrückzug leben, als vielmehr eine Art Synthese zwischen Welt und Geist fördern, so wird die Pforte von pratyahara noch einmal ganz wesentlich und verdient eine weitere differenzierte Betrachtung. Weder Weltverhaftung noch Weltentfremdung können dauerhafte Ziele eines im Westen praktizierten Yoga darstellen. Der Yogaübende wird wohl auf natürliche Weise eine persönliche Stabilität im irdischen Leben, das heißt in den körperlichen Umständen, bei gleichzeitig wachsender Universalität in seinem Selbstverständnis und Selbsterleben erstreben. Die gelungene Praxis von pratyahara eröffnet die Türe sowohl nach innen als auch im vernünftigen Maße nach außen.

Pratyahara im Yoga Sutra

Der klassische Vers über pratyahara lautet:

svavisaya – asamprayoge cittasya svarupa-anukara iva indriyanam pratyaharah
(54, Teil II im raja yoga)
Wenn sich die Sinne von ihren Objekten zurückziehen und in die innere Natur des Geistes (oder ihres Geistes) eingehen, so heißt dieser Zustand pratyahara.

Das sutra beginnt mit dem Sanskritbegriff svavisaya, beziehungsweise allgemein visaya. Das Wort sva bezieht sich mehr auf das individuelle Thema, während visaya allgemein „das Thema“ bezeichnet. Jedes Objekt oder Thema, das in der Welt auffindbar oder ansprechbar ist, besitzt eine äußere Bedeutung, ein Erscheinungsbild im Irdischen, das sich im Sinnesschein den gewöhnlichen fünf Sinnen zugänglich erweist und es besitzt darüber hinaus eine verborgene Wirklichkeit, eine den Sinnen nicht mehr zugängliche Dimension, die man als das Mysterium der Sache benennt.

Ein Beispiel für den Umgang mit pratyahara entwickelt sich, wenn der Übende ein Mantra oder eine Art Gottesbild für seine Meditation erwählt. Das Bild eines Shiva oder eines Ganesha, eines Christus oder eines Franz von Assisi lässt sich in einer ersten Phase sinnlich begreifen. In einer inneren Bedeutung tragen diese Bilder große innere Weisheiten, die dem äußeren Sinnesschein nicht mehr zugänglich sind. Visaya besitzt deshalb immer diese beiden Dimensionen, die äußere und die innere.

Im Allgemeinen sucht die yogische Meditation eine objektbezogene konzentrierte Aktivität, die so viel heißt, wie dass der Übende sich einem zunächst greifbaren Thema oder Inhalt hinwendet, um in oder über dieses die universale und die über die körperlich materielle Dimension hinausgehende geistige Wirklichkeit zu erfahren. Der Gegensatz zu dieser Art von Meditation wäre die sogenannte „nicht gegenständliche“, die in der Regel ein sofortiges Eintauchen in eine Art Leere erstrebt.

Einige Beispiele offenbaren auf anschauliche Weise, wie pratyahara innerhalb der Übung seine Anwendung finden kann und wie der Übende sich einerseits in der Welt stabilisiert, und sich auf der anderen Seite in einer universalen Dimension des Geistes gründet. Er nimmt sich die Beobachtung des Atems als Objekt zur Meditation vor, während er sogleich andere Sinneseindrücke zurückweist. Dieser Atem ist für die feinen Sinne spürbar, und beschreibt zunächst mit dem einfließenden und ausfließenden Luftströmungen eine sinnliche Wirklichkeit.

Swami Sivanandas Beschreibung von Pratyahara

Sivananda beschreibt pratyahara sinngemäß und sehr humorvoll:

Einige Aspiranten ziehen die Sinne sehr vehement zurück. Das ist manchmal der Grund für die Erfahrung von leichten Kopfschmerzen.

Man könnte meinen, dass Sivananda scherzt, aber dem ist in aller Realität nicht so. Der erwähnte Kopfschmerz steht bildhaft für eine Art einseitige Überforderung, denn der Übende kann sich ohne Beachtung einer logischen Reihenfolge in der Sinneskontrolle nicht in einer Selbststabilität halten. Er kann bei falscher Praxis tatsächlich körperliche Symptome bekommen.

Das Thema visaya beginnt mit der Aufmerksamkeit der Sinne im Äußeren und entwickelt sich über eine logische Abfolge bis hin zur Aufmerksamkeit auf das Nicht-Sinnliche und innere Mysterium. Indem der Übende beispielsweise im Stillen seiner Seele bei der Meditation die Frage zum Atem stellt: „Welche Dimension liegt im Atem?“, entwickelt er langsam eine Sicht darüber, dass dieser Atem eine verbindende, energetische und bewegende Kraft für die Seele enthält und er wird sogar langsam das Mysterium des Atems erfassen.

Anthroposophie und Pratyahara

In der Anthroposophie richtet sich der Übende mit den Sinnen gezielt und meist etwas länger anhaltend nach außen und betrachtet beispielsweise ein Naturphänomen, wie eine Pflanze im Blühen. Indem der anthroposophische Geistschüler die blühende Pflanze betrachtet, bemüht er sich auf intensive Weise die Welt mit ihren Phänomenen begreifbar zu machen, aber er bleibt im Verlauf der Übung nicht am äußeren Objekt der sinnlichen Beobachtung haften. Schlussendlich sucht er doch den Beobachtungsvorgang gedanklich und empfindungsvoll weiter in das Erlebnis der Seele zu lenken. Der Weg der anthroposophischen Schulung richtet sich in einem ersten und recht umfangreichen Streben nach außen und kehrt schließlich zurück nach innen. Er öffnet die Türe zum Naturgeschehen nach außen, schließt diese Pforte jedoch ab einem bestimmten Moment und ergründet in der Fortsetzung seine eigenen, mit dem Objekt verwandten Seelentiefen.

Die Kritik von anthroposophischer Seite gegenüber dem Yoga lautet, dass die Praktizierenden sich für die äußeren Phänomene der Welt zu wenig interessieren und frühzeitig in eine Selbstverwirklichung und in einen inneren kosmischen Seinsgrund eintauchen wollen. Die Kritik vom Yoga zur anthroposophischen Seite hält häufig vor, dass diese zu wenig spirituell orientiert sei und tiefe Meditationen fehlen. Die Anthroposophen suchen eine Bejahung der Welt bei gleichzeitigem Erforschen der geistigen Grundprinzipien, die der Welt zugrunde liegen. Der Yoga sucht vor allem das Ziel der Selbstverwirklichung und nimmt sich manchmal etwas weniger Zeit, um die Phänomene der Welt philosophisch und tiefgründig zu durchdringen. Grundsätzlich können sich jedoch die verschiedenen Meditationsformen ergänzen, denn sie orientieren sich an den Objekten, die zunächst sichtbar dem Auge entgegenkommen und suchen ihren inneren tieferen Seinsgrund. Die Suche nach dem Selbst dürfte im Allgemeinen nichts anderes darstellen, als die Suche nach der mysteriösen Essenz im eigenen Daseinsurgund und weitet sich auf die verschiedensten Offenbarungen aus, die die Welt bietet.

Ergänzende Sichtweisen Anthroposophie und Yoga zu Pratyahara

Die verschiedenen Meditationsformen können sich, mit etwas offener Dialogbereitschaft, von anthroposophischer Seite mit dem Yoga begegnen und sinnvoll ergänzen.

Wer den Sinnesprozess als einen eigenständigen Daseinsprozess des Lebens intensiv analysiert, für den entwickelt sich pratyahara mit Sicherheit auf eine sehr sensible Stufe. Nicht eine Weltenflucht mit Weltenverneinung kann pratyahara bedeuten, sondern es entwickelt sich bald ein Zurückziehen des übergreifenden Willens und der Emotionen, die sich in den Sinnen befinden, sodass das Objekt der Außenwelt oder das Thema des Selbst klarer erfasst werden kann. Praktisch gesehen, betrachtet der Übende einen Begriff oder einen Gegenstand, nimmt ihn nach dem sinnlich möglichen Erfassen oder Vorstellbaren wahr und bildet sich schließlich über diesen gleichen Gegenstand einen Gedanken. Die Augen bleiben in der Regel bei einer Betrachtungsübung, die schließlich zur Meditation werden kann, in der ersten Phase offen. Ab einem bestimmten Moment jedoch, nachdem die äußere Betrachtung ausreichend und beziehungsvoll geschehen ist, kann der Übende die Augen schließen und richtet seine Aufmerksamkeit auf den Gedanken, den er mit dem Objekt der Betrachtung verbindet. Bei guter Konzentration kann jedoch der Übende die Augen beständig offen lassen, aber er lässt die Sinne nicht an beliebige Orte schweifen. Die Sinne weichen gegenüber dem „reiner werdenden Gedanken“ zurück. Es sollte des weiteren alles Intellektualisieren, jede Art von Emotion und ein willentliches Ergreifen eines vorschnellen Ergebnisses, das man mit der Übung erreichen möchte, ebenfalls zurückweichen. Ein Gedanke bleibt jedoch in der Betrachtung - und das ist das Geheimnis-, während alles gefühlsmäßige Wollen und wollensgemäße Emotionalisieren zu kontrollieren und aus dem Gemüt zurückzuweisen ist. Das Innen bildet nicht eine leere organische Körperlichkeit, sondern es wird das Innere doch konkret, denn es orientiert sich am Licht des Gedankens, der in der Kontemplation verbleibt. Im Gegensatz zum unruhigen Wollen, intellektualistischen Spekulieren und den so häufig aufsteigenden Emotionen, bildet der Gedanke einen geistigen Ruhepol.

Pratyahara als Aufmerksamkeitslenkung

Die Disziplin Pratyahara muß nicht nur ein Schließen der Augen und Ohren beschreiben. Nachdem der Übende die Aufmerksamkeit zu lenken beginnt, muss er die willentlichen schnellfertigen Übergriffe auf den Gedanken oder auf das Ideal, das er kontemplativ in sich erstrebt, aus den Sinnen und sogar mit der Zeit aus den seelischen Strömen zurückziehen und kontrollieren. Diese willentlichen Übergriffe sind die vom Körper kommenden Eigentendenzen, die manchmal sehr unbedacht und unbewusst sind. Die Meditation führt ein gewähltes Thema in die Mitte. Mit pratyahara kontrolliert der Übende der Reihe nach alle unerwünschten äußeren Sinnesablenkungen, sodann die mehr organischen inneren Sinnesreaktionen, indem emotionale, willentliche und spekulative Ausschweifungen kontrolliert werden. Der Gedanke, der in der Kontemplation verbleibt, bewirkt eine Ruhe und mit etwas Übung erlebt der Schüler mehr die lichte Form des Gedankens und dies im Sinne eines denkenden Schweigens.

Der Gedanke ist nicht mit dem sogenannten „gewohnheitsmäßigen Denken“ zu verwechseln, denn der Gedanke ist in Wirklichkeit eine Seinsexistenz, ein Lichtbürger oder anders ausgedrückt, ein sat, während das gewöhnlich verlaufende Denken den Gedanken nicht wahrnimmt, sondern diesen sogar mit allerlei Tücke an den Körper bindet. Die Bewegung, die der Mensch im intellektualistisch orientierten Denken täglich ausübt, ist nahezu immer von einem willentlichen Begehren geleitet, welches das Objekt der Betrachtung verschleiert und gar nicht in die wirkliche innere Bedeutung kommen lässt. Durch die Disziplin pratyahara wird deshalb nicht der Gedanke als solcher eliminiert, sondern das sinnliche Wesen eines jeglichen Ausschweifens und schließlich sogar des inneren Zugriffes, damit für die weiteren Stufen der Konzentration dharana und der Meditation dyana die innere tiefere Bedeutung, die hinter der sinnlichen Erscheinung liegt, die als Mysterium verborgen in Pflanzen, Tieren und Menschen und in allen Themen, visaya, existiert, zum Tragen kommt.

Würde ein Übender nur die Augen schließen und versuchsweise in einer Art inneren Einheit aufgehen, würde er sich keinen Gegenstand und kein Thema wählen, so kann leicht die Gefahr einer Täuschung erfolgen und er könnte das Aufgehen in einer Alleinheit mit einem nicht erkannten leibinneren Begehren verwechseln. Indem sich jedoch der Übende ein Thema vornimmt, kann er an diesem Thema alle sinnesablenkenden Manöver analysieren, diese sogleich zurückweisen und schließlich den Bedeutungsinhalt für die nächsten Stufen der Meditation mehr in die Mitte rücken.

Sivananda betrachtete die Arbeit zur Selbstverwirklichung als eine große psychologische Studie, die eine stufenweise Form der Askese voraussetzt. Die Kontrolle der Sinnesbewegungen erfordert tatsächlich eine Art psychologische Analyse der verschiedensten willentlichen, emotionalen und mentalen Ströme.

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