Sanskrit Kurs Lektion 107

Aus Yogawiki

Dieser Sanskrit Kurs führt anhand einfacher Beispielsätze und -verse in die Grammatik des Sanskrit ein. Einen ausführlichen Überblick über das Sanskrit findest Du im Artikel Sanskrit. Hinweise zur indischen Schrift, der wissenschaftlichen Umschrift (Transliteration) sowie der korrekten Aussprache gibt der Artikel Devanagari. Stichwörter, nach denen Du in der Yoga Vidya Wiki suchen kannst, sind in vereinfachter Schreibweise (Transkription) wiedergegeben.

Die Wohllautregeln des Sandhi (7): Visarga

In der Lektion 101 haben wir begonnen, die Regeln des Sandhi etwas systematischer zu betrachten. Diese behandeln alle lautlichen Veränderungen, die beim Aufeinandertreffen von Wörtern (Shabda) oder Wortbestandteilen mit den beteiligten Lauten (Varna) nach genau beschriebenen Gesetzmäßigkeiten vor sich gehen. In dieser Lektion setzen wir die Betrachtung der Regeln für die verschiedenen Realisierungen von Visarga in Schrift und Aussprache fort und veranschaulichen dies an einem Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika. Dann gibt es die Auflösung des Formen-Rätsels aus Lektion 106 sowie ein neues Formen-Rätsel.

Überblick

Beim Aufeinandertreffen von Wörtern oder Wortbestandteilen gibt es grundsätzlich vier mögliche Fälle. Es treffen aufeinander:

  1. ein Vokal (Selbstlaut, Svara) und ein Konsonant (Mitlaut, Vyanjana) (V + K, s. Lektion 101)
  2. ein Konsonant und ein Vokal (K + V, s. Lektion 101)
  3. zwei Vokale (V + V, s. Lektion 102)
  4. zwei Konsonanten (K + K, s. Lektion 103) einschließl. Anusvara (s. Lektion 104-105) und Visarga ( Lektion 106)

Visarga (Wiederholung)

Visarga bezeichnet den in der Devanagarischrift durch einen Doppelpunkt ( : ) dargestellten, in der Transliteration durch gekennzeichneten Hauchlaut, der im Alphabet als अः aḥ wiedergegeben wird.

Visarga () darf nicht mit dem Konsonanten ha (Devanagari: ) - dem letzten Buchstaben des Sanskrit Alphabets - verwechselt werden, der dem deutschen Laut h entspricht.

Visarga steht nur am Wort- bzw. Satzende und in einigen zusammengesetzten Substantiven (Kompositum, Samasa). Die Aussprache von Visarga richtet sich, ähnlich wie die Aussprache von Anusvara, nach der jeweiligen lautlichen Umgebung. Grundsätzlich kann vor Visarga immer nur ein Vokal stehen. Nach Visarga kommt entweder nichts (bzw. eine Pause), ein Konsonant oder ein Vokal. Visarga steht somit entweder:

  1. im absoluten Auslaut ( Lektion 106)
  2. vor einem Konsonanten ( Lektion 106)
  3. vor einem Vokal

Visarga vor einem Vokal

Vor einem unmittelbar nachfolgenden Vokal verhält sich Visarga so wie vor einem stimmhaften Konsonanten, d.h. es fällt entweder ganz aus, wird in ein r umgewandelt oder ergibt zusammen mit einem vorausgehenden kurzen a ein o, nach welchem ein anlautendes a wiederum ausfällt:

1. Nach langem ā fällt Visarga aus:

  • पादा अश्वस्य pādā aśvasya "die Füße (Pada, Nom. Pl. m.) des Pferdes (Ashva, Gen. Sg. m.)" aus pādāḥ + aśvasya


2. Nach kurzem a fällt Visarga aus, wenn ein anderer Vokal als ein kurzes a folgt:

  • बान्धव आगतः bāndhava āgataḥ "der Freund (Bandhava, Nom. Sg. m.) ist gekommen (Agata, Nom. Sg. m.)" aus bāndhavaḥ + āgataḥ
  • सूर्य उष्णः sūrya uṣṇaḥ "die Sonne (Surya, Nom. Sg. m.) ist heiß (Ushna, Nom. Sg. m.)" aus sūryaḥ + uṣṇaḥ


3. Ein kurzes a wird zusammen mit folgendem Visarga (bzw. ursprünglichem s) zu o, wenn ein kurzes a folgt, welches wiederum in der Aussprache ausfällt (Elision) und graphisch durch Avagraha bzw. Apostroph ( ' ) dargestellt wird:

  • नमो ऽस्तु ते namo 'stu te "Verehrung (Namas, Nom. Sg. n.) sei (Astu, 3. Pers. Sg. Imperativ von as) dir (Tvad, Dat. Sg.)" aus namas + astu + te


4. Nach i, ī, u, ū, e, ai, o und au wird Visarga in ein r umgewandelt:

  • प्रवृत्तिरुत्पन्ना pravṛttir utpannā "eine Handlung (Pravritti, Nom. Sg. f.), die entstanden (Utpanna, Nom. Sg. f.) ist" aus pravṛttiḥ utpannā
  • गुरुरागतः gurur āgataḥ "der Meister (Guru, Nom. Sg. m.) ist gekommen (Agata, Nom. Sg. m.)" aus guruḥ + āgataḥ
  • सिद्धैरुक्तम् siddhair uktam "von Vollkommenen (Siddha, Instr. Pl. m.) gesagt (Ukta, Nom. Sg. n.)" aus siddhaiḥ + uktam

Beispielvers aus der Hatha Yoga Pradipika

Die gesamte Hatha Yoga Pradipika besteht aus Versen, deren häufigstes Versmaß (Chhandas) der Shloka (Anushtubh) ist. Hier folgt ein im Versmaß Indravajra abgefasster Vers aus dem vierten Kapitel (Upadesha), das der Praxis der Meditation und Versenkung (Samadhi) gewidmet ist. Der 25. Vers beschreibt den engen Zusammenhang zwischen der Kontrolle über den Atem (Marut bzw. Maruta) und der Kontrolle über das Denken (Manas bzw. Manasa):


तत्रैकनाशादपरस्य नाश एकप्रवृत्तेरपरप्रवृत्तिः |
अध्वस्तयोश्चेन्द्रियवर्गवृत्तिः प्रध्वस्तयोर्मोक्षपदस्य सिद्धिः || ४.२५ ||


  • wissenschaftliche Transliteration:
tatraika-nāśād aparasya nāśa eka-pravṛtter apara-pravṛttiḥ |
adhvastayoś cendriya-varga-vṛttiḥ pradhvastayor mokṣa-padasya siddhiḥ || 4.25 ||


  • vereinfachte Transkription:
tatraika-nashad aparasya nasha eka-pravritter apara-pravrittih |
adhvastayosh chendriya-varga-vrittih pradhvastayor moksha-padasya siddhih || 4.25 ||


  • Wort-für-Wort-Übersetzung:
tatra : unter diesen ("dabei, dort", Tatra, adv.)
eka-nāśāt : aufgrund des Verschwindens (Nasha, Abl. Sg. m.) eines (der beiden, Eka)
aparasya : des (jeweils) anderen (Apara, Gen. Sg. n.)
nāśaḥ : (erfolgt) das Verschwinden (Nasha, Nom. Sg. m.)
eka-pravṛtteḥ : aufgrund der Aktivität, Wirksamkeit (Pravritti, Abl. Sg. f.) eines (der beiden)
apara-pravṛttiḥ : (erfolgt) die Aktivität, Wirksamkeit (Pravritti, Nom. Sg. f.) des (jeweils) anderen (Apara)
adhvastayoḥ : (wenn beide) nicht verschwunden sind (Adhvasta, Abl. Dual. n.)
ca : und (Cha, Partikel)
indriya-varga-vṛttiḥ : (dann erfolgt) die Aktivität (Vritti, Nom. Sg. f.) der Gruppe (Varga) der Sinne(sorgane, Indriya)
pradhvastayoḥ : (wenn beide) verschwunden sind (Pradhvasta, Abl. Dual. n.)
mokṣa-padasya : des (Bewusstseins-)Zustandes ("Ortes", Pada, Gen. Sg. n.) der Befreiung, Erlösung (Moksha)
siddhiḥ : (dann erfolgt) das Erreichen ("an's Ziel Gelangen", Siddhi, Nom. Sg. f.)


  • Übersetzung:
Aufgrund des Verschwindens eines (dieser beiden - Geist und Atem - erfolgt) das Verschwinden des jeweils anderen.
Aufgrund der Aktivität eines (dieser beiden erfolgt) die Aktivität des jeweils anderen.
Und wenn beide nicht verschwunden sind, (dann erfolgt) die Aktivität der Gruppe der Sinne(sorgane).
Wenn beide verschwunden sind, (dann erfolgt) das Erreichen des (Bewusstseins-)Zustandes der Erlösung.

Erläuterungen

  • Syntax: Dieser Vers besteht aus vier kurzen Sätzen (Vakya), die sich jeweils über ein Versviertel (Pada) erstrecken. Jeder Satz ist ein Nominalsatz, d.h. er besteht nur aus Nomen. Das Verb asti "ist", hier im Sinne von "entsteht, erfolgt, ergibt sich", wird dem Kontext gemäß mitverstanden. Die Ablative bezeichnen jeweils eine Ursache bzw. Voraussetzung für eine Folge bzw. ein Ergebnis, das durch den Nominativ ausgedrückt wird. Alle Komposita (Samasa) dieses Verses gehören zum Typ Tatpurusha.
  • Das Adverb tatra "dort, unter diesen" bezieht sich auf den Atem (Prana) und das Denken, die im vorangehenden Vers (HYP 4.24) als Marut(a) ("Wind") und Manas(a) erscheinen.
  • Der Ablativ (Panchami) eka-nāśāt bezeichnet hier eine Ursache bzw. Voraussetzung.
  • Der Genitiv (Shashthi) aparasya bezieht sich auf den Nominativ nāśaḥ: "das Verschwinden des (jeweils) anderen".
  • Der Nominativ (Prathama) nāśaḥ ist das logische Subjekt (Agens, Kartri) der nicht explizit ausgedrückten Verbalhandlung asti "ist", die hier im Sinne von "entsteht, erfolgt, ergibt sich" übersetzt werden kann.
  • Der Ablativ eka-pravṛtteḥ bezeichnet eine Ursache bzw. Voraussetzung.
  • Der Nominativ apara-pravṛttiḥ ist das logische Subjekt des zweiten Nominalsatzes.
  • Der Ablativ Dual adhvastayoḥ wörtl.: "aufgrund der beiden nicht verschwundenen" bezeichnet eine weitere Ursache bzw. Voraussetzung.
  • Die Verbindungspartikel ca "und" steht nie am Satzanfang und wird dem Wort, auf das sie sich bezieht, nachgestellt.
  • Der Nominativ indriya-varga-vṛttiḥ ist das logische Subjekt des dritten Nominalsatzes.
  • Der Ablativ Dual pradhvastayoḥ wörtl.: "aufgrund der beiden verschwundenen" bezeichnet eine weitere Ursache bzw. Voraussetzung.
  • Der Genitiv mokṣa-padasya bezieht sich auf den Nominativ siddhiḥ: "das Erreichen des (Bewusstseins-)Zustandes der Erlösung".
  • Der Nominativ siddhiḥ ist das logische Subjekt des vierten Nominalsatzes.
  • Sandhi: Ein auslautendes a verschmilzt mit anlautendem e zu ai: tatraika° (tatra + eka°). Ein auslautendes a verschmilzt mit anlautendem i zu e: cendriya° (ca + indriya°). Das auslautende stimmlose t von eka-nāśāt wird vor anlautenden Vokalen (hier: a) zu stimmhaftem d. Die übrigen Sandhis beziehen sich auf Visarga:
  1. Nach kurzem a fällt Visarga aus, wenn ein anderer Vokal als ein kurzes a folgt: nāśa eka-pravṛtter aus nāśaḥ + eka-pravṛtter.
  2. Nach i, ī, u, ū, e, ai, o und au wird Visarga vor nachfolgendem Vokal in ein r umgewandelt: eka-pravṛtter apara-pravṛttiḥ aus eka-pravṛtteḥ + apara-pravṛttiḥ;
  3. desgleichen nach i, ī, u, ū, e, ai, o und au vor stimmhaftem Konsonant (hier: m): pradhvastayor mokṣa° aus pradhvastayoḥ + mokṣa°.
  4. Vor stimmlosem Palatal (hier: c) geht Visarga in den entsprechenden Sibilanten (Zischlaut, Ushman) über: adhvastayoś ca aus adhvastayoḥ + ca.

Metrische Analyse des 1. und 2. Pada

Unser Beispielvers hat das Versmaß Indravajra, das aus 4 identischen Versvierteln (Pada) zu je 11 Silben (Akshara) besteht und damit zu den unter die Trishtubh zählenden Versmaße gehört. Zwischen der 5. und 6. Silbe wird eine Pause bzw. Zäsur (Yati) gemacht.

  • υ bedeutet: prosodisch kurz (Hrasva) bzw. leicht (Laghu), auch: ल la
  • – bedeutet: prosodisch lang (Dirgha) bzw. schwer (Guru), auch: ग ga


1 2 3 4 5 - 6 7 8 9 10 11
υ υ υ υ – (Pada a)
υ υ υ υ – (Pada b)
υ υ υ υ – (Pada c)
υ υ υ υ – (Pada d)


Betrachten wir das erste (Prathama) und zweite (Dvitiya) Versviertel (Pada) dieser Indravajra noch einmal hinsichtlich der Längen (Dirgha) und Kürzen (Hrasva) der einzelnen Silben (Akshara). Lange Silben enden auf langen Vokal, oder auf einen kurzen Vokal (Svara), der von zwei Konsonanten (Vyanjana) gefolgt wird (inklusive Anusvara und Visarga). Dies nennt man Positionslänge*. Kurze Silben enden auf kurzen Vokal:


Silbe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Devanagari त्रै ना शा स्य ना प्र वृ त्ते प्र वृ त्तिः
Transliteration ta trai ka śā da pa ra sya śa e ka pra vṛ tte ra pa ra pra vṛ ttiḥ
Silbenlänge lang* lang kurz lang lang kurz kurz lang* kurz lang lang× lang lang* kurz lang* lang kurz kurz lang* kurz lang* lang
Symbol υ υ υ υ × υ υ υ υ ×


Hinweise zur Aussprache: Alle elf Silben jedes Pada werden in einem Zuge, also ohne Pause, ausgesprochen. Zwischen den Versvierteln (also nach jeder elften Silbe) wird eine kurze Pause (Yati) eingehalten, so dass die letzte Silbe eines Pada stets als lang gilt, unabhängig von ihrer tatsächlichen Kürze oder Länge (× "Anceps"): die Silbe śa des 1. Pada ist, für sich genommen, kurz, gilt hier aber als lang. Die Positionslänge der 1. und 8. Silbe des 1. Pada bzw. der 2., 4. 8. und 10. Silbe des 2. Pada ergibt sich durch die Aufteilung in tat-rai und ras-ya bzw. kap-ra, vṛt-te , rap-ra und vṛt-tiḥ.

Fragen und Feedback

Für Fragen und Feedback zum Sanskrit Kurs wendet Euch gerne an Dr. phil. Oliver Hahn. Er ist Indologe und Autor für Yoga Wiki, Seminarleiter, Yogalehrer, Übersetzer und Lektor.

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