Marionette

Aus Yogawiki

Marionetten sind Puppen, die von einem Marionettenspieler durch an ihren Gliedmaßen befestigte Fäden bewegt werden. Der nachfolgende Text von Swami Venkatesananda zeigt, welche Marionetten in unserem Leben aktiv werden.

Swami Venkatesananda mit Swami Sivananda

Das Marionettenspiel

Artikel von Sri Swami Venkatesananda

Die Hauptursache für die Ruhelosigkeit des Geistes liegt darin, dass in jeder gegenwärtigen Situation eine Antwort von unserem Bewusstsein verlangt wird, und zwar in der Form eines kleinen Bildes. Wenn ein Bild aufflimmert, fühlen sich die anderen auch dazu genötigt, sich zu zeigen. Dann herrscht Verwirrung. Ich mag jemanden und möchte auf ihn zugehen, ihn umarmen, aber etwas hält mich zurück, hemmt mich, schüchtert mich ein, bedroht mich und so weiter. Jede Situation wird vollkommen von diesen Marionetten gespielt. Aus diesem Grund scheint der Geist unendlich ruhelos zu sein und diese Ruhelosigkeit ist der Geist. Die mentale Ruhelosigkeit wird auch Vasana genannt. Die Beiden bilden keine Ursache-Wirkungskette, sondern sind zwei Seiten derselben Medaille. Wenn du eine ausmerzt, ist die andere verschwunden.

Vasana ist ein liebevolles, unzählige Male in den Schriften erwähntes Wort, dennoch ist es beinahe unmöglich, es zu übersetzen. Trotz alldem wurde es mit „psychologische Neigung“, „psychologische Prädisposition“ übersetzt. Was bedeuten sie? Wir verwenden all diese liebevollen Worte, ohne überhaupt etwas von ihnen zu verstehen. Psychologische Prädisposition bedeutet schlicht das Hochspringen einer dieser Marionetten. „Ich bin dazu bestimmt, dies zu tun“ bedeutet lediglich, dass es kein „ich“ gibt, weil all diese Marionetten zusammengesetzt das ergeben, was ich meine Persönlichkeit nenne oder mein „ich“. So ist gewissermaßen keine psychologische Prädisposition in mir, sie ist „ich“. Wenn ich alle diese Bilder, eins nach dem anderen, ausschalte, bleibt kein „ich“ übrig. Was auch immer dich dazu bewegt, auf deine Art und Weise zu reagieren – das nennt man Vasana.

Wunsch, Verlangen, Angst und Sorge machen das Leben komplizierter, sonst nichts. Trotzdem wäre unser Leben kaum statisch, wenn wir uns von Verlangen, Angst und Sorgen verabschiedeten; genau so wenig können wir es mit Verlangen, Angst und Sorge aufmischen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Es ist Winter, fünf Uhr früh morgens, noch dunkel. Aufgeregt erzählst du jedem um dich herum: “Ach, ich wünsche mir so sehr, dass die Sonne aufgeht, das wäre herrlich.“ Du kannst diesen Satz wie ein Mantra zweihundert Mal wiederholen, aber die Sonne wird nicht aufgehen. Ein anderes Beispiel: Du wartest aufgeregt, dass die Sonne aufgeht und wenn sie aufgeht, sagst du: „Aha, hier ist sie ja!“ Die Sonne ging völlig ohne Rücksicht auf deine Aufregung auf, da du aber aufgeregt dieses Ereignis erwartet hattest, hat dich das Ereignis noch aufgeregter gemacht. Die antizipierte Aufregung überträgt sich auf die erfahrene und der Geist verknüpft sich damit. Egal, ob du aufgeregt bist oder nicht, die Sonne geht auf. Wenn du aufgeregt bist, ist das immer noch nach Sonnenaufgang der Fall. Wenn du stattdessen ruhig bist, bist du nach dem Sonnenaufgang immer noch ruhig.

Das Gleiche passiert nachts. Manche Leute fürchten die Dunkelheit. Die Sonne geht unter, egal, ob sie sich davor fürchten oder sich darüber freuen. Das Untergehen der Sonne hat nichts mit privaten Launen und Wehwehchen zu tun. Da sich diese Leute jedoch in ihre Furcht hineinsteigern, brechen sie zusammen, wenn die Sonne untergeht. Was immer auch in dieser Welt passiert, was immer im Leben auch geschieht, es passiert weiter und nichts hält es auf.

Alle unsere Einbildungen (und Launen), Fantasien und Neurosen beziehen wir in diesen Traum des Lebens mit ein. Nachdem wir unsere Einbildungen mit einbezogen haben, erfahren wir sie so, als ob sie mit uns irgendwie verknüpft wären, sodass sogar das Aufkommen oder das Aufhören eines Ereignisses von unserem Antrieb abhängig erscheint. Das hat jedoch nichts mit uns oder unseren Ängsten zu tun. Jemand, der das realisiert, sieht, dass das Leben oder die Ereignisse in dieser Welt völlig unabhängig von seinen Begierden, Wünschen oder sonstigem sind.

Die Begierden beeinflussen nur mich. Sie sind nicht mit dem ganzen Geschehen verwandt. Mein Wunsch oder meine Angst materialisieren sich nicht. Sie materialisieren sich später einzig als meine eigenen Erfahrungen. Das Leben geht völlig ungeachtet meiner privaten Reaktionen weiter. Wenn ich verstehe, dass es weder meine Aufregung ist, die diese Situation steigert, noch meine Angst, die die Situation dämpft, bin ich zu der Beobachtung dessen fähig, was in mir passiert, ohne es mit externen Phänomenen komplizierter zu machen. Wenn eine Pistole an deinem Gürtel baumelt, habe ich vielleicht Angst, solange ich aber meine Angst daran hafte, bin ich nicht dazu in der Lage, diese Angst zu beobachten. Wenn du zum Beispiel mein Bodyguard wärst, dann wäre ich ziemlich glücklich, die Pistole an deinem Gürtel hängen zu sehen! Deswegen ist meine Angst vollkommen unverwandt mit dem externen Ereignis. Wenn ich das erkenne, bin ich in der Lage, das zu beobachten, was in mir vorgeht, und ich sehe, dass dies schlicht ein paar dieser Marionetten in Reaktion sind. Das ist die Schönheit von Vichara oder Beobachtung.

Hiermit verwandt ist das gesamte Konzept der Schöpfung und Zerstörung. Wie treten sie alle in Erscheinung und wie lösen sie sich auf? Das grundlegende philosophische Konzept, das besagt, dass, was auch immer im Mikrokosmos ist, auch im Makrokosmos enthalten ist, ist dir bereits bekannt. Was auch immer für das Individuum gilt, gilt auch für den Kosmos und was für den Kosmos gilt, gilt auch für das Individuum. Die beiden sind nicht voneinander zu unterscheiden, sie sind unsichtbar miteinander vereint. In der Yoga Vasishtha ist es wunderschön zu erkennen, dass, wenn es so ausschaut, als spräche der Autor über die individuelle Schöpfung, er plötzlich eine Änderung vornimmt und die Sache so erscheinen lässt, als spräche er über die kosmische Schöpfung, beinahe, als ob er sagen wollte: „Warum einen Unterschied machen?“

Was ist der Vorgang der Involution und was ist der Vorgang der Evolution? Oder, was sind die Schritte der Ignoranz der Selbsterkenntnis und was sind die Schritte zur Erleuchtung oder Selbsterkenntnis? Es gibt eine sehr schöne Beschreibung und ich werde euch die Schritte nahebringen. Dann werden wir sehen, wie sie auf unser gesamtes Leben angewandt werden können und sogar auf unser alltägliches Leben und die Geburt und Zerstörung des Kosmos.

Das materielle Universum kommt ins Sein, existiert für eine gewisse Zeit, macht dabei einige Veränderungen durch und wird aufgelöst. Du und ich, wir kommen in diese Welt, wir werden geboren, wir fahren fort mit dem Leben, Streben, verfallen und verschwinden. Das Gleiche gilt für unser alltägliches Leben: Jeden Morgen werden wir geboren, wir wachsen und gehen – am Abend, wenn wir schon ein bisschen gekrümmt sind und anstatt ins Grab ins Bett gehen! Eins ist nicht grundlegend verschieden vom anderen.

Ich beziehe das alles auf unser alltägliches Leben, sodass wir sehen können, wie ausgesprochen minutiös die Yogis dieses alltägliche Leben beobachtet haben. Das erste Stadium in dem Prozess der Involution, Bija Jagrat genannt, ereignet sich kurz bevor wir wirklich wach werden, jedoch ist es nicht immer so, dass wir uns dieses Stadiums bewusst werden. Bija heißt Samen und Jagrat heißt Wachheit. Ich bin im Bett und schlafe, dann scheint der Schlaf zu enden und ich bin kurz davor aufzuwachen. Ich fühle die Bettdecke und ich fühle das Bett, aber es ist nicht so wie „Ich schlafe in diesem Bett“; nichts scheint wirklich zu sein, nichts scheint unwirklich zu sein; es gibt noch nicht einmal einen Unterschied zwischen wirklich und unwirklich. Es ist jedoch nicht Selbsterkenntnis, es ist nicht Gottesverwirklichung, es schwebt nicht im Raum, weil ich im Begriff bin, aufzuwachen. Das heißt, dass aller Unfug, zu dem ich fähig bin, in einem Samenstadium ist.

Das nächste Stadium wird Jagrat oder Wachheit genannt, und in dieser Periode erfahre ich: „Ah, ich bin hier und dies ist mein Bett,“ Ich bin gerade dabei, aufzuwachen: „Dies ist mein Haus, ich schlafe in meinem Haus, ich schlafe in meinem Zimmer, das bin ich.“ Die Person, die zu diesem Zeitpunkt dabei ist, aufzuwachen, ist sich der ganzen Welt nicht bewusst, stattdessen ist sie sich dieser beiden Konzepte bewusst: „Das bin ich“ und „dies ist mein Bett, dies ist mein Zimmer, das ist mein Haus“.

Das nächste Stadium ist Maha Jagrat; maha bedeutet groß. Dieselbe Wachheit hat sich großartig ausgedehnt und „das bin ich“ und „das gehört mir“ haben sich auch ausgedehnt. Anstatt bloß zu sagen: „Das bin ich“, bin ich jetzt aufgewacht, mit dem Gefühl, dass sich das „ich“ aus einer enormen Anzahl von Qualifikationen zusammensetzt: „Ich bin ein Arzt“, „Ich bin ein Yogi“, „Ich bin dies“, „Ich bin das“ – all diese wachen auf. Das ist lediglich eine Ausdehnung der ersten Wachsamkeit: Die ganze Welt tritt in Erscheinung.

Dann kommt ein sehr subtiles und schönes Stadium: eine „das bin ich und das ist die Welt“–Beziehung beginnt in diesem Bewusstsein aufzudämmern. Der Meister nennt es Jagrat Svapna; Jagrat bedeutet wach und Svapna bedeutet Traum. All unsere wundervollen Beziehungen mit all diesen verschiedenen Wesen im Universum, mit denen wir innerhalb unserer eigenen Vorstellung verbunden sind, sind nichts weiteres als ein Wachtraum. Du denkst „du bist“, ich denke „ich bin“ „ich“ denke „du bist“ und so stelle ich mir eine Art von Beziehung mit dir vor. Es ist nichts weiteres als einen „wachen Traum“. Da unser gesamtes Leben scheinbar nur darauf basiert, nennt der Meister das ganze Leben einen langen Traum, nichts mehr als das. Nur eine Sache ist erwacht: das Gefühl „ich bin“, und das hat unzählige Projekte, mit denen wir in bestimmte Beziehungen eintreten, projiziert, die doch nur Träume sind.

Die grundlegende Wachheit von „ich bin“ ist die einzige Sache, die in diesem Weltspiel real zu sein scheint. Der Rest ist Traum. Wir treten in diese Beziehungen ein und wir denken, dass sie alle real, tatsächlich, unerschütterlich, unzweifelhaft sind, bis wir beginnen, das zu hinterfragen. Wir haben uns so oft verändert, dass wir noch nicht einmal realisieren, wenn wir in dem nächsten Traum sind. Wir realisieren nicht: „Ich bin in so oft in diese Illusion gegangen und so oft wurde ich desillusioniert. Warum muss ich mich wieder dahinein begeben?“ Das passiert uns nicht, weil wir in diesem Traum verwickelt sind, der real zu sein scheint. Das ist die Tragödie.

Es gibt einen weiteren Aspekt: Während das Leben so weitergeht – „Das bin ich, das ist mein“, „Er ist mein Bruder und sie ist meine Schwester“, „Das ist meine Ehefrau und das ist mein Ehemann, Vater, Mutter, Kinder, etc.,“ – scheinen diese Dinge bis zu einem gewissen Grad eine Qualität der Wahrheit zu teilen. Warum? Weil sie alle mit mir verwandt sind, und das „ich“ scheint ein stabiler Faktor zu sein.

Im wachen Traum gibt es eine Art Mixtur von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, aber wir alle sind zu dem fähig, was Svapna, purer Traum ist. Nachdem wir all das gehört haben, gehen wir und setzen uns in den Meditationsraum oder an den Strand und wir beginnen: „Oh, ist das fabelhaft, ich werde in den nächsten Tagen erleuchtet sein, was für eine wundervolle Sache – ein Fuß hier und ein Fuß auf dem Mars...“ Die ganze Sache ist eine Vorstellung und diese Art von Tagträumen wird Svapna genannt. Wir denken, dass wir wach sind, aber wir sind es nicht. Wir sind vollständig von unserer Wirklichkeit abgeschnitten; es ist eine Art von Halluzination, Tagträumen. Das ist auch ein Teil unseres täglichen Lebens.

Dann gibt es Svapna Jagrata was Svapna, Traum, und Jagrata, Wachen, bedeutet. Hier gibt es wieder eine Mischunng aus etwas, was nicht ist und etwas, das ist. Wir erleben die Erinnerungen vergangener Erfahrungen, als ob sie jetzt geschähen. Wir sind alle dazu fähig – schlicht und einfach mit einem lebhaften Gedächtnis. Wenn wir zu Weisheit erwacht wären, hätten bei dem Geschehen selbst die vergangenen Erfahrungen einen anderen Charakter – wir würden damit weder Freude noch Leid erfahren. Aber wir lassen die Erinnerung jetzt aufleben und erfahren sie so, als ob sie jetzt passierten. Das ist ein weiterer Zustand des Geistes, der uns jeden Tag wiederfährt. Schließlich, wenn wir von all dem müde werden, gehen wir schlafen und vergessen alles. Das ist die Geschichte einer ganz alltäglichen Person.

Dies ist die Geschichte unserer gesamten Lebensspanne. Wir werden geboren – ein kleines Baby, in dem all die Samen potentieller Täuschung schlafend liegen. Dann wacht das Baby mit dem Gefühl auf: „ich bin so und so, das ist mein Vater, das ist meine Mutter.“ Später wächst das Baby ein bisschen weiter und seine Welt scheint sich auszudehnen. Kannst du dir das bildlich vorstellen? Wenn wir aufwachsen – drei, vier, fünf Jahre alt – scheint sich unsere Welt viel weiter als unser Haus, zu unseren Nachbarn, zu unseren Freunden, zu unseren Schulfreunden auszudehnen. Die Welt scheint ins Maha Jagrat zu wachsen.

Als nächstes bilden wir Beziehungen, die nicht existieren: „Er ist mein Freund und er ist mein Feind; er ist mein Rivale und er ist mein Mitstreiter“ und so weiter. Wir mögen diese Beziehungen als Träume abstempeln, aber sie kommen als Seile zurück, fesseln uns an alle Arten von Situationen. Gefangen in diesem von uns selbst geknüpftem Netz, träumen wir von Befreiung und Freiheit, wir träumen von Vergnügen und Glück. Doch das sind nur als Träume.

Dann kommen wir in das Stadium, in dem das Einzige, das uns verbleibt, das Gedächtnis ist. All diese guten Dinge sind Vergangenheit und wir gehen in den Wald und denken an all die schönen Dinge, die geschehen sind, erfahren sie, als ob sie jetzt geschähen! Das geht für einige Zeit so weiter und dann scheinen wir müde von all diesem Erfahren und Wiederaufleben von Erinnerungen und Halluzinationen zu werden und schlafen ein und wachen nicht auf. (Wir wachen in einem andern Körper auf!) Also was für unser tägliches Leben gilt, gilt auch für die gesamte Lebensspanne.

Es ist auch möglich, dass der gesamte Kosmos oder das Universum (oder das was, wir unser Sonnensystem nennen – das Universum, dessen wir uns bewusst sind) auch dieselben Stadien durchläuft. In diesem kleinen Körper gibt es Billionen von Zellen, jede von ihnen funktioniert in einer dualen Beziehung. Das heißt, jede Zelle scheint unabhängig von der anderen zu sein und dennoch sind alle Zellen untereinander verbunden. Jede Zelle scheint ihre Funktion zu wissen und leistet nur ihre Funktion, scheinbar unabhängig von den anderen. Sie kann sogar mit anderen Zellen desselben Lebewesens kämpfen, so dass, wenn dieses Wesen stirbt, alle Zellen sterben. Jede Zelle scheint bis zu diesem Punkt unabhängig zu funktionieren aber das stimmt nicht ganz.

Ist es möglich, dass sogar jetzt all die Hunderte und Tausende von Sternen, die wir nachts sehen, ähnliche Zellen in einem riesigen Körper von einem „Herrn so-und-so“ sind (es muss nicht „Gott“ sein) und dass wir alle kleine mikroskopische Wesenheiten in diesem riesigen Körper sind? Es ist durchaus möglich. Und all die Dinge, die wir Schöpfung nennen, Erhaltung und Zerstörung, geschehen in diesem riesigen Körper. Das kosmische Wesen durchschreitet ebenfalls diese vielen Stadien der Involution.

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