Klassische Upanishaden - Aitareya-Upanishad
Quelle:
Klassische Upanishaden
- Die Weisheit des Yoga -
Auszüge aus dem Werk
„Sechzig Upanishads des Veda“
von Paul Deussen
Originalausgabe F.A. Brockhaus, Leipzig, 1897
Neuauflage B. Kleine Verlag GmbH, Bielefeld, 1980
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Erster Adhyaya
Erster Khanda
1. Zu Anfang war diese Welt allein Atman; es war nichts andres da, die Augen aufzuschlagen.
Er erwog: „Ich will Welten schaffen!“
2. Da schuf er diese Welten: die Flut, die Lichträume, das Tote, die Wasser.
Jenes ist die Flut, jenseits des Himmels; der Himmel ist ihr Boden. – Die Lichträume sind der Luftraum. – Das Tote ist die Erde. – Was unter ihr, das sind die Wasser.
3. Er erwog: „Das sind nun die Welten; ich will jetzt Weltenhüter schaffen!“ Da holte er aus den Wassern einen Purusha (Mann) hervor und formte ihn.
4. Den bebrütete er; da er ihn bebrütete, spaltete sich sein Mund wie ein Ei, aus dem Munde entsprang die Rede, aus der Rede Agni;
die Nase spaltete sich, aus der Nase entsprang der Prana (Einhauch), aus dem Prana Vayu;
die Augen spalteten sich, aus den Augen entsprang das Gesicht, aus dem Gesicht Aditya;
die Ohren spalteten sich, aus den Ohren entsprang das Gehör, aus dem Gehör die Dishs (Himmelsgegenden);
die Haut spaltete sich, aus der Haut entsprangen die Haare, aus den Haaren Kräuter und Bäume;
das Herz spaltete sich, aus dem Herzen entsprang das Manas, aus dem Manas der Mond;
der Nabel spaltete sich, aus dem Nabel entsprang der Apana (Aushauch), aus dem Apana Mrityu (der Tod);
das Zeugungsglied spaltete sich, aus dem Zeugungsgliede entsprang der Same, aus dem Samen die Wasser.
Zweiter Kandha
1. Diese Gottheiten, nachdem sie geschaffen, stürzten in diesen großen Ozean herab; den gab er dem Hunger und dem Durste preis. Da sprachen jene zu ihm: „Ersieh uns einen Standort, in dem wir feststehen und Speise essen mögen!“
2. Da führte er ihnen eine Kuh vor; sie aber sprachen: „Diese genügt uns nicht.“ – Da führte er ihnen ein Pferd vor; sie aber sprachen: „Dieses genügt uns nicht.“
3. Da führte er ihnen einen Menschen vor. Da sprachen sie: „Ei, das ist wohlgelungen!“ Denn der Mensch ist wohlgelungen. Er sprach zu ihnen: „So fahrt in ihn je nach eurem Standorte hinein!“
4. Da geschah es, dass
Agni als Rede in seinen Mund einging,
Vayu als Prana in seine Nase einging,
Aditya als Gesicht in seine Augen einging,
die Dishs als Gehör in seine Ohren eingingen,
Kräuter und Bäume als Haare in seine Haut eingingen,
Der Mond als Manas in sein Herz einging,
Mrityu als Apana in seinen Nabel einging,
Die Wasser als Samen in sein Zeugungsglied eingingen.
5. Da sprachen Hunger und Durst zu ihm: „Ersieh auch für uns einen Standort!“ Und er sprach: „In diesen Gottheiten lasse ich euch mitgenießen, in diesen Gottheiten mache ich euch zu Teilnehmern.“ – Daher kommt es, dass, für welche Gottheit immer die Opferspeise beschafft wird, in der sind der Hunger und Durst Teilnehmer daran.
Dritter Kandha
1. Er erwog: „Da sind nun die Welten und Weltenhüter; ich will jetzt für sie Nahrung schaffen!“
2. Und er bebrütete die Wasser; aus ihnen, da sie bebrütet wurden, entstand eine Gestalt. Die Gestalt, die da entstand, das ist die Nahrung.
3. Diese, da sie geschaffen war (abhisrishtam sat), suchte ihm wegzulaufen; da suchte er sie zu greifen mit der Rede, aber er konnte sie mit der Rede nicht greifen; hätte er sie mit der Rede gegriffen, so würde man durch bloßes Aussprechen der Nahrung satt werden;
4. da suchte er sie zu greifen mit dem Einhauche, aber er konnte sie mit dem Einhauche nicht greifen; hätte er sie mit dem Einhauche gegriffen, so würde man durch bloßes Einhauchen (Beriechen) der Nahrung satt werden;
5. da suchte er sie zu greifen mit dem Auge, aber er konnte sie mit dem Auge nicht greifen; hätte er sie mit dem Auge gegriffen, so würde man durch bloßes Sehen der Nahrung satt werden;
6. da suchte er sie zu greifen mit dem Ohre, aber er konnte sie mit dem Ohre nicht greifen; hätte er sie mit dem Ohre gegriffen, so würde man durch bloßes Hören der Nahrung satt werden;
7. da suchte er’s sie zu greifen mit der Haut, aber er konnte sie mit der Haut nicht greifen; hätte er sie mit der Haut gegriffen, so würde man durch bloßes Betasten der Nahrung satt werden;
8. da suchte er sie zu greifen mit dem Manas, aber er konnte sie mit dem Manas nicht greifen; hätte er sie mit dem Manas gegriffen, so würde man durch bloßes Denken an die Nahrung satt werden;
9. da suchte er sie zu greifen mit dem Zeugungsgliede, aber er konnte sie mit dem Zeugungsgliede nicht greifen; hätte er sie mit dem Zeugungsgliede gegriffen, so würde man durch bloßes Ergießen der Nahrung satt werden;
10. da suchte er sie zu greifen mit dem Aushauche (Apana, hier wohl Prinzip der Verdauung): da verschlang er sie. Darum, was der Wind ist, das ist der Nahrungsüberwinder (Wortspiel zwischen avayat und Vayu), was der Wind ist, das ist der Nahrungsgewinner (Wortspiel zwischen Vayu und annayu).
11. Er erwog: Wie könnte dieses (Menschengefüge) ohne mich bestehen?“ Und er erwog: „Auf welchem Wege soll ich in dasselbe eingehen?“ Und er erwog: „Wenn durch die Rede gesprochen, durch den Prana eingehaucht, durch das Auge gesehen, durch das Ohr gehört, durch die Haut gefühlt, durch das Manas gedacht, durch den Apana ausgehaucht, durch das Zeugungsglied ergossen wird, – wer bin denn ich?“
12. Da spaltete er hier den Scheitel und ging durch diese Pforte hinein. Diese Pforte heißt Vidriti (Kopfnaht, wörtlich „Spalt“), und selbige ist der Seligkeit Stätte. Drei Wohnstätten hat er und drei Traumstände (Wachen, Traum, Tiefschlaf); er wohnt hier (im Auge, beim Wachen), und wohnt hier (im Manas , beim Träumen), und wohnt hier (im Äther des Herzens beim Tiefschlafe).
13. Nachdem er geboren, überschaute er die Wesen, – und er sprach: „Was wollte sich hier für einen (von mir) Verschiedenen erklären?“ – Aber doch erkannte er diesen Menschen als das Brahmandurchdrungenste. Und er sprach: „Dieses habe ich ersehen“ (idam adarsham).
14. Darum heißt er Idandra; denn wirklich heißt er Idandra; aber ihn, der Idandra heißt, nennen sie Indra auf geheimnisvolle Weise; denn die Götter lieben gleichsam das Geheimnisvolle, – die Götter lieben gleichsam das Geheimnisvolle.
Zweiter Adhyaya
1. Im Manne fürwahr liegt dieser (Atman) zu Anfang als Keim, denn was sein Same ist, das ist seine aus allen Gliedern zusammengebrachte Kraft; in sich selbst trägt er dann das Selbst; und ergießt er ihn in das Weib, so macht er ihn geboren werden; das ist seine (des Atman des Kindes) erste Geburt.
2. Dann geht er ein in die Selbstwesenheit des Weibes, gleich als ein Glied von ihr; daher kommt es, dass er ihr keinen Schaden tut. Sie aber, nachdem dieser sein Atman in sie gelangt ist, so pflegt sie ihn.
3. Weil sie ihn pflegt, darum ist sie zu pflegen. Und das Weib trägt ihn als Leibesfrucht. Er aber bildet den Knaben vorher und von der Geburt an weiterhin aus; indem er den Knaben von Geburt an weiterhin ausbildet, so bildet er sein eigenes Selbst aus, zur Fortspinnung dieser Welten; denn so werden diese Welten fortgesponnen; das ist seine (des Atman des Kindes) zweite Geburt.
4. Dann wird dieser als sein (des Vaters) Atman für ihn eingesetzt, die heiligen Werke zu vollbringen; aber jener, sein andrer Atman, nachdem er vollbracht, was zu tun, und alt geworden, scheidet dahin; dieser wird, von hier abscheidend, abermals geboren; das ist seine (des Atmans des Vaters) dritte Geburt. – Darum sagt der Rishi:
„Im Mutterleibe noch verweilend, hab’ ich
Erkannt alle Geburten dieser Götter;
Mich hielten hundert eiserne Burgfesten,
Doch, wie ein Falke schnellen Flugs, entfloh ich.“
Also hat, da er noch in dieser Weise im Mutterleibe lag, Vamadeva gesprochen.
5. Und er, weil er solches erkannte, ist nach dieser Trennung von seinem Leibe emporgestiegen, hat in jener Himmelswelt alle Wünsche erlangt und ist unsterblich geworden, – unsterblich geworden.
Dritter Adhyaya
1. Wer ist dieser (den Vamadeva erkannte)? Als Atman verehren wir ihn. – Welcher von beiden (der individuelle oder der höchste) ist dieser Atman? –
Ist es etwa der, durch den man die Gestalt sieht, oder der, durch den man den Ton hört, oder der, durch den man die Gerüche riecht, oder der, durch den man die Rede äußert, oder der, durch den man Süßes oder Nichtsüßes unterscheidet?
2. Was dieses Herz und Manas ist, das Überdenken, Ausdenken, Bedenken, Erdenken, Verstand, Einsicht, Entschluss, Absicht, Verlangen, Leidenschaft, Erinnerung, Vorstellung, Kraft, Leben, Liebe, Wille, – diese alle sind Namen des Bewusstseins.
3. Dieses ist Brahman, dieses ist Indra , dieses ist Prajapati, dieses ist alle Götter,
ist die fünf Elemente, Erde, Wind, Äther, Wasser, Lichter,
ist die Kleinlebewesen und was ihnen etwa ähnlich,
ist die Samen der einen und andern Art,
ist Eigebornes, Mutterschoßgebornes, Schweißgebornes, Sprossgebornes,
ist Rosse, Rinder, Menschen, Elefanten,
ist alles, was lebt, was da geht und fliegt und was bewegungslos, –
alles dieses ist vom Bewusstsein gelenkt, im Bewusstsein gegründet; vom Bewusstsein gelenkt ist die Welt, das Bewusstsein ist ihr Grund, das Bewusstsein ist Brahman!
4. Mittels dieses bewussten Selbstes aus dieser Welt emporsteigend, hat er (Vamadeva) in jener Himmelswelt alle Wünsche erlangt und ist unsterblich geworden, – unsterblich geworden. Om! ja, so ist es.