Veden
Einiges über den Veda
Artikel aus dem Buch „Das System des Vedanta“ von Paul Deussen, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906.
Zur Orientierung
Der große, noch nicht völlig zu übersehende Schriftenkomplex, welcher den Namen Veda, d.h. "das (theologische) Wissen" führt, und dessen Umfang den der Bibel wohl mehr als sechs Mal übertreffen mag, gliedert sich zunächst in vier Abteilungen, den Rigveda, Samaveda, Yajurveda und Atharvaveda; bei jedem dieser vier Veden haben wir drei nach Inhalt, Darstellungsform und Zeitalter verschiedene Schriftgattungen zu unterscheiden: 1) die Samhita, 2) das Brahmanam, 3) das Sutram; endlich sind die meisten dieser zwölf Abteilungen, je nach den Schulen, denen sie zum Studium dienten, in verschiedenen, mehr oder weniger abweichenden Redaktionen vorhanden, welche man gewöhnlich als die Shakhas, d. h. als "die Zweige" des Vedabaumes bezeichnet.
Zum Verständnisse dieser komplizierten Verhältnisse wird es förderlich sein, zu unterscheiden zwischen der Gestalt, in welcher der Veda gegenwärtig vorliegt, und dem historischen Entwicklungsgange, durch welchen er zu dieser Gestalt erwachsen ist.
Der literarische Bestand des Veda
Zunächst nun sind die vier Veden in der Form, wie sie uns entgegentreten, nichts anderes als die Manuale der brahmanischen Priester (Ritvij), welche diesen das zum Opferkultus erforderliche Material an Hymnen und Sprüchen an die Hand geben, sowie den rechten Gebrauch desselben lehren sollen. Zu einer vollständigen Opferhandlung nämlich gehören vier, ihrem Studiengange und Amte nach verschiedene Hauptpriester: 1) der Hotar, welcher die Verse (Ric) der Hymnen rezitiert, um dadurch die Götter zum Genusse des Soma oder sonstigen Opfers einzuladen, 2) der Udgatar, der die Bereitung und Darbringung des Soma mit seinem Gesange (Saman) begleitet, 3) der Adhvaryu, welcher die heilige Handlung vollzieht, während er die entsprechenden Verse und Opfersprüche (Yajus) hermurmelt, 4) der Brahman, dem die Beaufsichtigung und Leitung des Ganzen obliegt.
Das kanonische Buch für den Hotar ist der Rigveda (wiewohl die Rigveda Samhita schon von Haus aus eine weiter greifende, nicht bloß rituelle, sondern literarische Bedeutung hat), das für den Udgatar der Samaveda, das für den Adhvaryu der Yajurveda, während hingegen der Atharvaveda mit dem Brahman, der alle drei Veden kennen muss, eigentlich nichts zu tun hat und sich nur zum Scheine in Beziehung zu demselben setzt, um seiner Erhebung zur Dignität eines vierten Veda, die ihm lange Zeit verweigert wurde, Vorschub zu leisten. Praktische Verwendung findet derselbe einerseits beim häuslichen Kultus (Geburt, Hochzeit, Totenbestattung, Krankheiten, Erntesegen, Viehbesprechungen usw.), andererseits bei gewissen Staatsaktionen (Königsweihe, Schlachtsegen, Verwünschung der Feinde usw.); in letzterer Hinsicht ist er der Veda der Kshatriya Kaste, wie die drei anderen Veden die der Brahmanen sind, und mag in einem ähnlichen Verhältnisse zum Purohita (Hauspriester des Fürsten) gestanden haben, wie jene zu den Ritvijs (vgl. Yajnavalkya 1,312).
Jeder der genannten Priester bedarf bei seinen Verrichtungen zweierlei, eine Sammlung von Gebetsformeln (Mantra) und eine Anweisung zur richtigen liturgischen und rituellen Verwendung derselben (Brahmanam). Beide finden wir, mit Ausnahme des schwarzen Yajurveda, mehr oder weniger streng voneinander gesondert und in zwei verschiedene Abteilungen verwiesen.
I. Die Samhita jedes Veda ist, wie der Name besagt, eine „Sammlung" der ihm zugehörigen Mantras, welche entweder Verse (Ric) oder Gesänge (Saman) oder Opfersprüche (Yajus) sind. So besteht die Rigveda Samhita aus 1017 Hymnen in 10580 Versen, aus welchen der Hotar den für den jedesmaligen Zweck erforderlichen Preisruf (Shastram) zusammenzustellen hat; die Samaveda Samhita enthält eine, wenn nicht aus der Rigveda Samhita, so doch aus dem dieser zugrunde liegenden Materiale getroffene Auswahl von 1549 (oder mit den Wiederholungen 1810) Versen, welche bis auf 78 sämtlich auch im Rigveda sich vorfinden und zum Zwecke des Gesanges (Saman) weiterhin in mannigfacher Weise moduliert werden. Die Samhita des weißen Yajurveda enthält teils Opfersprüche (Yajus) in Prosa, teils Verse, welche letztere ebenfalls größtenteils aus dem Materiale der Rigveda Samhita, entnommen sind. Hingegen besteht die Atharvaveda Samhita wiederum aus 760 Hymnen, von denen nur etwa ein Sechstel ihr mit dem Rigveda gemeinsam ist, während die übrigen eine selbständige, in vieler Hinsicht ganz eigentümliche Stellung in dem Ganzen der vedischen Mantra-Literatur einnehmen. Jede dieser vier Samhitas ist, je nach den Shakhas oder Schulen, in denen sie studiert wurde, in verschiedenen Rezensionen vorhanden, welche jedoch in der Regel nicht erheblich voneinander abweichen. Anders ist es, wie sogleich zu zeigen, mit der zweiten Abteilung der vedischen Literatur.
II. Das Brahmanam, dessen nächste Bestimmung im allgemeinen die ist, den praktischen Gebrauch des in der Samhita vorliegenden Materiales zu lehren, geht in seiner meist sehr breiten Anlage weit über diesen unmittelbaren Zweck hinaus und zieht mancherlei in seinen Bereich, was man (mit Madhusudana) unter den drei Kategorien Vidhi, Arthavada und Vedanta unterbringen kann.
- 1) Als Vidhi (d. h. Vorschrift) befiehlt das Brahmanam die Zeremonie, erörtert ihre Veranlassung sowie die Mittel zu ihrer Ausführung und schildert endlich den Gang der heiligen Handlung selbst.
- 2) Hieran schließen sich unter dem Namen Arthaveda (d. h. Erklärung) die mannigfachsten Erörterungen, welche den Inhalt der Vorschrift exegetisch, polemisch, mythologisch, dogmatisch usw. begründen sollen. 3) Hierbei erhebt sich nun die Betrachtung zu Gedanken philosophischer Art, welche, weil sie meist gegen Ende der Brahmanas vorkommen, Vednnta (d. h. Veda-Ende) heißen. Sie sind der wesentliche Inhalt der Nachträge zu den Brahmanas, welche Aranyakas heißen, und deren ursprüngliche (wiewohl nicht streng durchgeführte) Bestimmung gewesen zu sein scheint, für das Leben im Walde (Aranyam), welchem der Brahmane im Greisenalter obliegen soll, einen Ersatz für den, wenn nicht ganz wegfallenden, so doch wesentlich beschränkten Kultus zu bieten. Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass wir in ihnen vielfach eine wundersame Vergeistigung des Opferkultus antreffen: An die Stelle der praktischen Ausführung der Zeremonie tritt die Meditation über dieselbe und mit ihr eine symbolische Umdeutung, welche dann weiter zu den erhabensten Gedanken hinüberleitet.
Die wichtigsten Stücke dieser Aranyakas hob man später unter dem Namen Upanishad aus ihnen heraus und fasste sie aus den verschiedenen veden zu einem Ganzen zusammen: Ursprünglich aber hat, wie wir annehmen müssen, jede Vedaschule ihr besonderes rituelles und daneben ein mehr oder weniger reiches dogmatisches Textbuch gehabt, und wenn wirklich, wie die Muktika Upanishad (Ind. St. III, 324) behauptet, 21 + 1000 + 109 + 50 = 1180 Shakhas bestanden hätten, so müsste es auch, wie sie daraus folgert, 1180 Upanishads gegeben haben. In Wirklichkeit stellt sich jedoch die Sache viel einfacher dar, sofern die Anzahl der Shakhas, die wir wirklich kennen, sich für jeden Veda auf einige wenige beschränkt, deren Textbücher den gemeinsamen rituellen und dogmatischen Stoff in verschiedener Anordnung, Bearbeitung und Ausführung darbieten. So sind uns zum Rigveda nur zwei Chakas näher bekannt, die der Aitareyins und die der Kaushitakins, deren jede ein Brathmanam und ein Aranyakam besitzt, welches letztere die Upanishad der Schule einschließt. — Zum Samaveda kennen wir für die Brahmana-Abteilung bis jetzt genau und vollständig nur eine Chakha, die der Tandins, auf welche folgende Schriften zurückgehen:
- a) das Paucavinca Brahmanam,
- b) das Shadvinsha Brahmanam, welches sich schon durch den Namen als einen Nachtrag dazu zu erkennen gibt,
- c) auch das noch nicht näher bekannte Chandogya Brahmanam dürfen wir wohl der Schule der Tandins zuweisen, sofern Shankara, p. 892,9, unter ihrem Namen eine Stelle zitiert, welche nach Rajendralala Mitra (The Chandogya-Upanishad, Introduction, p. 17 N.) den Anfang des Chandogya Brhmanam bildet,
- d) endlich zitiert Shankara wiederholt die Chandogya Upanishad als die der Tandins; so Chandogya 3,1(3 (zitiert p. 889,10. 890,8) 8,13,1 (p. 899,3. 907,7. 908,5) 6,8,7 (p. 923,8).
Ein zweites selbständiges Ritualbuch zum Samaveda ist möglicherweise das Talavakara Brahmanam der Jaiminiya Chakha (vgl. die Mitteilungen Shankaras zur Kena Upanishad, p. 28, und Burnells bei Müller, Upanishads I, p. XC), nach Burnell in fünf Adhyayas, deren vorletzter die bekannte kleine Kena Upanishad enthält (zitiert p. 70,1.4.10. 163,3. 808,10), während der letzte aus dem Arsheya Brahmanam besteht (zitiert p. 301,8). Die vier übrigen Brahmanass des Samaveda (Samavidhana, Vansha, Deratadhyaya, Samhitopanishad) können auf den Namen selbständiger Textbücher von Schulen keinen Anspruch machen. — Beim Yajurveda haben wir zwei Formen zu unterscheiden, den schwarzen (d. h. ungeordneten) und den weißen (geordneten) Yajurveda. Jener enthält den Brahmana-artigen Stoff mit den Mantras verbunden bereits in der Samhita. In solcher Form haben uns den Yajurveda die Schulen der Taittiriyakas (deren Brahmanam und Aranyakam bloße Fortsetzungen der Samhita sind), der Kathas und der Maitrayaniyas überliefert.
Das Taittiriya Aranyakam enthält am Schluss zwei Upanishaden, die Taittiriya- (Buch VII. VIII. IX) und die Narayaniya Upanishad (Buch X). Zur Schule der Kathass gehört die Kathaka Upanishad, die heute nur noch in einer Atharva Rezension vorhanden ist, während sie zu Shankaras Zeit noch mit den übrigen Texten der Kathas ein Ganzes gebildet zu haben scheint, worüber später; unter dem Namen Maitri Upanishad ist uns ein spätes Produkt von sehr apokryphem Charakter erhalten; den Namen einer vierten Shaka des schwarzen Yajurveda, der Shvetâshvataras, trägt eine metrisch abgefasste Upanishad sekundären Ursprungs, welche jedoch vielfach von Shankara als „Shvetashvataranam Mantropanishad" (p. 110,5, vgl. 416,1. 920,4) und dem Anscheine nach auch schon von Badarayana (1,1,11. 1,4,8. 2,3,22) zitiert wird.
Im Gegensatze zu den Chakhas des schwarzen Yajurveda haben die 1 âjasaneyin's, die Hauptschule des weifsen Yajurveda, 6 Ç'ankara zitiert dieselbe nirgendwo (Maitre!i-hrâhmanam p. 385,8. 1006,5 bedeutet den Abschnitt Brih. 2,4 = 4,5); auch der Terminus S'ushumnâ Maitr. 6,21) kommt im Kommentar zu den Brabmastitra's noch nicht vor. nach Art der übrigen Veden Mantra's und Bràhmana's geson¬dert; erstere sind in der Vàjasaneyi-samhitù zusammengefafst, letztere bilden den Inhalt des C'alapatlta -breihtnananr, dessen letzter Teil (B. XIV) die grüfste und schönste aller Upanishad's, das Brihad-ârallyakain enthält. Ein ihr nahe verwandtes Stück ist (wohl nur wegen seiner metrischen Form) der Vàjasaneyi-samhità als Buch XI, angehängt worden und heifst, nach dem Anfangsworte, die t;•â-?Tanishad; im Kanon des Anquetil Duperron werden noch vier andere Stücke derselben Sam-hitâ, Çatarvdriyam (B. XVI), Purttshas'itktuni (XXXI), Tader,a (XXXII), und Çiva.saipkalpa (XXXIV, Anfang) als Upa¬nishad's auf'gefiihrt. — Neben den Vù jasaneyin's zitiert (, an-kara dreizehnmal eine andere Schule des weifsen Yajurveda, die Jdhâla's; neun dieser Zitate (p. 222,8. 223,1. 417,11. 988,$ — 991,4. 999,4i. 1000,1.3. 1025,8) finden sich, mit erheblichen Varianten, in der heute den Atharva-Upanishad's eingereihten Jdhâ1a-Upanishcrd wieder, vier andere (924,7 _ 1059,1. 931,4 033,4) hingegen nicht, so dafs, wie es scheint, dem kara ein vollständigeres Werk dieser Schule vorgelegen hat. Ob Bàdaràyana dieselbe (1,2, 2. 4,1,3 ) zitiert, bleibt unge-wifs.9 — Zum Atliarvaveda gehört das Gopatlua-/,ri manrttu, ein Werk von vorwiegend kompilatorischem Charakter und ohne nähere Beziehungen zur Atharva-samhitù. Bei t,'ankara finden wir kein Zitat aus demselben; vielmehr läfst sich viel¬leicht aus dem Imstande, dafs er zu :3,3,24, p. 889 fg., nicht auch Gopatha-hr. II, 5,4 berücksichtigt, wahrscheinlich machen, dal's er dieses \Verk nicht kannte oder nicht anerkannte. Endlich haben sich an den Atlrarvaveda, der wohl nicht in dem Grade wie die andern Veden durch zünftige Uher-wachung vor neuen Eindringlingen geschützt sein mochte, eine lange Reihe meist kurzer Upanishad's angeschlossen, von denen viele einen ganz apokryphen Charakter haben und nichts anderes als die Textbücher späterer indischer Sekten sind.
Literatur
Paul Deussen: Das System des Vedanta, Elibron Classics, 2. Auflage, 1906.