Erfahrung

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Wirkliches Erleben und leibliche Erfahrung

Dialog zwischen einem Schüler und seinem Meister Ramana Maharshi aus einer Nacherzählung von Heinrich Zimmer aus seinem Buch "Der Weg zum Selbst" 1944 erschienen im Rascher Verlag Zürich

Der Schüler: Worin besteht denn der Unterschied zwischen dem Erlösten (mukta) und dem Gebundenen (baddha) ?
Der Meister: Vom »Herzen«, der Stätte des Selbst, führt eine feine Ader zur Stätte der Shakti (shakti-sthâna), dem tausend-blättrigen Lotos im Hirn (sahasrâra). Das Weltkind lebt in seinem Hirn und gewahrt nicht sich selbst im »Herzen«, Der in Erkenntnis Vollendete (jnâna-siddha) lebt im »Herzen«. Geht er umher und befaßt sich mit Menschen und Dingen, so weiß er: was er sieht, ist nicht verschieden von der einen Höchsten Wirklichkeit, dem Brahman, das er in seinem Herzen als sein eigen Selbst, als seine Wirklichkeit erfährt.
Der Schüler: Und das Weltkind ...?
Der Meister: Ich sagte eben: es empfindet die Dinge als außer sich selbst. Es ist gesondert von der Welt und von seiner eigenen, tieferen Wirklichkeit, von der Wahrheit, die es trägt und die alles trägt, was es rings um sich gewahrt. Wer die höchste Wahrheit seines eigenen Daseins erlebt hat, erlebt, daß sie die eine höchste Wirklichkeit ist, die hinter ihm selbst und hinter der Welt steckt. Er ist des Einen gewiß als des Wirklichen, des Selbst in allen Selbsten und in allen Dingen, des Ewigen Unwandelbaren in allem Vergänglichen und Wandelbaren.
Der Schüler: Du sprichst da in höchsten Tönen des Wissens, — ich aber ging vom Leibe aus: hat der Wissende (jnânin) ein anderes Gefühl von seinem Leibe als der Nichtwissende (ajnânin)?
Der Meister: Allerdings. Wie könnte das anders sein! Das habe ich oft gesagt.
Der Schüler: Dann ist das Wissen (jnâna), von dem die Vedântalehre handelt, vielleicht verschieden von dem, was geübt und erfahren wird. Du sagst oft: der wahre Sinn des »Ich« ist im »Herzen«.
Der Meister: Ja, — wenn du tiefer dringst, verlierst du dich gewissermaßen in den abgründigen Tiefen; dann ergreift dich die Wirklichkeit des Atman, die allzeit hinter dir stand. Es ist ein unablässiges Blitzen des Ichbewußtseins; du kannst es gewahren, fühlen, hören, sozusagen spüren, — das nenne ich das »Sprühen des Ich« (aham-sphûrti),
Der Schüler: Du sagtest, der Atman sei unwandelbar, in sich selbst strahlend, und zugleich sprachst du von dem unablässigen Blitzen des Ichbewußtseins (aham-sphûrti): das schließt doch aber Bewegung in sich, und Bewegung kann doch nicht das vollkommene Erlebnis bedeuten, das in sich Stille ist?
Der Meister: Was meinst du mit »vollkommenem Erlebnis«? Meinst du: zu Stein werden, zu toter Masse? — Das Sichregen und Sichgebaren des Ich (ahamvritti) ist etwas anderes als das »Sprühen des Ich« (aham-sphûrti), es ist die Tätigkeit des persön¬lichen Ego; das muß sich selber verloren gehen und dem »Sprühen des Ich« das Feld räumen, das eine ewige Ausdrucksform des Selbst ist. Das »Sprühen des Ich« heißt in der Vedântalehre »Erkennen als Vorgang« (vritti-jnâna), Erleben und Erkennen (jnâna) ist immer ein Vorgang (vritti) : das ist der Unterschied zwischen Erkenntnis als Vorgang (vritti-jnâna) oder Erleben einerseits und dem Wirklichen anderseits in seinem Eigenwesen (svarûpa). Das Eigenwesen (svarûpa) ist das Wissen (jnâna) selbst, es ist Bewusstsein. Dieses »Eigenwesen« ist »Sein und Geist« (sat-chit), ist allgegenwärtig, ist immer da und im Besitz seines selbst. Wenn du es erlebst, so heißt das Erleben »Erkennen als Vorgang« (vritti jnâna), Nur in bezug auf dein eigenes Dasein kannst du von Erleben oder Erkennen (jnâna) sprechen, Wenn wir darum von »Erkennen« oder »Wissen« (jnâna) sprechen, meinen wir immer »Erkennen als Vorgang« (vritti-jnâna), denn »Wissen in seinem Eigenwesen« ist immer »Erkenntnis« (jnâna) und Bewußtsein schlechthin,
Der Schüler: Das kann ich verstehen, — aber was ist's mit dem Leibe? Wie kann ich »Erkennen als Vorgang« im Leibe fühlen?
Der Meister: Du kannst dich eins fühlen mit dem Einen, das allein wirklich ist: dein ganzer Leib wird reine Kraft, wird zu einem Kraftstrom, Dein Leben wird zu einer Magnetnadel, die ein gewaltiger Magnet an sich zieht, und wie du tiefer und tiefer dringst, wirst du rein eine Mitte, und dann bist du nicht einmal mehr das, denn du wirst reines Bewußtsein, da gibt es keine Gedanken und Bedenken mehr, — die sind schon an der Schwelle zerstoben, — es ist eine Ueberflutung, du bist nur mehr ein Strohhalm und wirst lebendig verschlungen, aber das ist höchste Lust, denn dabei wirst du eben das, was dich verschlingt. Das ist die Vereinigung von Jîva und Brahman: das Ich verliert sich im wahren Selbst, der Trug endet, die wahre Wirklichkeit ist erreicht.

Literatur

  • Der Weg Zum Selbst von Heinrich Zimmer, Rascher Verlag Zürich, 1944, 1. Auflage

Siehe auch