Entfremdung

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Entfremdung:

" dass der Zustand der Nicht-Entfremdung als einer (..) der wechselseitigen Anerkennung zu verstehen ist: Wir fühlen uns wohl, wir fühlen uns ‚zu Hause‘, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die uns achten, lieben und wertschätzen, wir fühlen uns dagegen entfremdet, wenn wir uns in sozialen Sphären bewegen, in denen wir Missachtung erfahren. (...und sich) an einem Ort oder angesichts neuer Aufgaben und Arbeitsverhältnisse, ja vielleicht auch angesichts dauernd wechselnder Arbeitskollegen entfremdet fühlen, ohne dass mich jemand missachtet. Oder (..)von religiösen Überzeugungen entfremden, ohne Anerkennungsdefizit (..) vom Körper entfremden; (... ist) in der modernen Welt häufig nicht Missachtung, sondern Indifferenz das Problem zu sein: Wir bewegen uns mithin in einer Welt, die uns gegenüber als stumm, kalt, gleichgültig erscheint, wir werden durch diese Welt nicht bewegt und können in ihr nichts bewegen. (..)

Umgekehrt aber, und das ist mein zweites Argument gegen eine anerkennungstheoretische Engführung, erfahren wir Momente gelingenden Lebens und streben wir nach Momenten und Erfahrungen, die nicht auf Anerkennungsbeziehungen reduziert werden können. Wenn wir uns fragen, in welchen Momenten wir uns am wenigsten entfremdet fühlen oder gefühlt haben, wo wir den Eindruck haben, ganz bei uns selbst und doch offen für die Welt zu sein, dann kommen uns sehr häufig ästhetische Momente und Erfahrungen in den Sinn. Viele Menschen kennen beispielsweise überwältigende Momente des Musikerlebens, die so tief und schön sind, dass wir zu Tränen bewegt werden. (..) Resonanzerfahrungen: Das wundersame an der Musik ist ja, dass wir nicht genau sagen können, ob sie innen oder außen ist, und die Resonanzmetapher ist nicht zufällig ein musikalischer Begriff. (..)Es ist ganz sicher kein Zufall, dass wir immer wieder in die Berge und ans Meer fahren und uns Berg- und Meereskalender aufhängen. Sie symbolisieren für uns eine Weltbeziehung, ein Weltverhältnis, bei dem die Dinge da draußen für uns nicht nur eine instrumentelle oder kausale Bedeutung haben, nicht nur Werkzeuge oder Einflussfaktoren sind, sondern mit uns in einer tieferen, Resonanzverbindung stehen. Solche Resonanzerfahrungen machen moderne Menschen darüber hinaus, wenn sie denn gläubig sind, manchmal aber auch, wenn sie das nicht sind, in religiösen Kontexten, etwa beim Gebet oder beim Abendmahl. Wenn es so etwas wie ein Comeback der Religion gibt, wie manche Soziologen behaupten, wenn die Religion auch für moderne Menschen noch attraktiv ist, dann ist sie das meines Erachtens nicht deshalb, weil sie eine besonders überzeugende oder vernünftige Welterklärung anzubieten hätte, sondern weil sie ein überwältigendes Resonanzversprechen gibt: Das Gebet lebt von der Idee, ja es besteht in der Idee, dass der Kosmos da draußen eben nicht stumm und gleichgültig oder gar feindlich ist, sondern dass in ihm und hinter ihm ein antwortender, liebender Gott waltet, dass wir also von Anbeginn der Zeit an und in der tiefsten Tiefe unserer Existenz in eine umfassende Antwortbeziehung eingebettet sind. Natürlich suchen und finden allerdings die meisten Menschen heute Resonanzbeziehungen in zwischenmenschlichen Begegnungen; die Liebe, vor allem in Form ihrer romantischen Idealisierung, ist der reinste oder paradigmatische Fall einer zwischenmenschlichen Resonanzerfahrung, bei der das eigene und das fremde Wesen so sehr verschmelzen, dass wir beim und im anderen ganz bei uns selbst sein können. Resonanzen entstehen aber manchmal auch in Diskussionsrunden oder vielleicht sogar bei Radiovorträgen, wenn sich momenthaft so etwas wie eine Resonanzachse zwischen Sprecher und Hörer bildet, die bewirkt, dass beide berührt und gewissermaßen verwandelt aus der Begegnung hervorgehen. Es gehört nun aber zum unwandelbaren Wesen solcher konstitutiver Resonanzmomente, dass sie sich nicht mechanisch reproduzieren oder wiederholen lassen: Man kann sein Lieblingslied hören, den schönsten Punkt am Meer aufsuchen, das innigste Gebet sprechen und die besten Freunde um sich scharen und es passiert überhaupt nichts: Wir werden nicht berührt und nicht bewegt, die Resonanzachsen bleiben stumm, es schleicht sich das Gefühl der Entfremdung zwischen uns und die anderen oder die Welt. Auf die Dauer kann ein solches Verstummen er Resonanzachsen zu pathologischen Störungen führen. Von vielen archaischen Gesellschaften ist das Phänomen oder die Praxis des sogenannten ‚Sozialen Todes‘ bekannt, bei dem verstoßene Klan-Mitglieder dadurch buchstäblich umgebracht werden, dass sie keinerlei soziale Resonanzen mehr erhalten: Sie werden nicht mehr gegrüßt und nicht mehr angelächelt, man verzieht nicht das Gesicht, wenn sie Schmerzen haben, lacht nicht, wenn ihnen etwas lustiges widerfährt, man sieht sie gar nicht. Die interessante Frage ist, ob wir in unserer heutigen, modernen Gesellschaften ähnliche Kontexte des völligen Resonanzverlustes kennen und vielleicht sogar systematisch

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