Klesha
Klesha (Sanskrit: क्लेश kleśa m. "Leiden") Qual, Plage, Schmerz
Es gibt fünf kleśas: avidya (Nichtwissen, Unwissenheit), asmita (Identifizierung, Ego, Ich-Gefühl), raga (Mögen, Zuneigung), dvesha (Nichtmögen, Abneigung), abhinivesha (Anhaften am Leben, Todesfurcht). Im Yoga werden die fünf kleśas als Hauptursachen jedwedes menschlichen Leidens betrachtet. Das Nichtwissen (avidya) ist die Wurzel der übrigen kleśas.
Raja Yoga Sutras von Patanjali
अविद्यास्मितारागद्वेषाभिनिवेशाः क्लेशाः ||2.3||
avidyāsmitā-rāga-dveṣābhiniveśāḥ kleśāḥ ||2.3||
Unwissenheit, Egoismus, Anziehung und Abneigung sowie Furcht vor dem Tod sind die Leiden, die Schmerz verursachen.
क्लेशमूलः कर्माशयो दृष्टादृष्टजन्मवेदनीयः ||2.12||
kleśa-mūlaḥ karmāśayo dṛṣṭādṛṣṭa-janma-vedanīyaḥ ||2.12||
Die Ansammlung von Handlungsresten (karma ashaya), deren Wurzel (mula) die leidvollen Spannungen (kleśa) sind, wird in den sichtbaren (drishta d.h. gegenwärtigen) und unsichtbaren (adrishta d.h. vergangenen oder zufünftigen) Existenzen (janma) erfahren.
Business Class und die Kleshas
Artikel von Hella Naura aus der Vierteljahresschrift „Yoga und ganzheitliche Gesundheit“, [www.yoga-zeitschrift.de]
SIE kam aus China. Sie sah viel jünger aus als ihre 39 Jahre und war äußerst gepflegt. Nun war sie für zwei Monate nach Indien gekommen, um mehr über Yoga zu erfahren. Ihr Weg führte sie auch an das Bombayer The Yoga Institute. Ob sie anderthalb Stunden Unterricht bekommen könne? Das Gespräch zwischen ihr und der herbei gerufenen Lehrerin floss schnell. Sie hätte Karriere gemacht. Sie stiege auf ihren Geschäftsreisen nur in 5-Star-Hotels ab und flöge nur Business Class. Wie ihr das gefiele? Sehr gut.
„Was interessiert Sie an Yoga?“
„Ich mache schon seit über einem Jahr Yoga. Ich muss unbedingt fit bleiben.“
„Was tun Sie in Ihrem Yoga-Unterricht?“
„Work-outs, fordernde, schwierige Übungen.“
„Machen Sie auch Entspannung? Wird über Yoga gesprochen?“
„Nein, das nicht. Wir machen nur Körperübungen.“
„Und möchten Sie jetzt mehr als nur Körperübungen?“
„Yoga kommt schließlich aus Indien. Ich habe mir Adressen aus dem Internet geholt. Wie gesagt, ich muss fit bleiben. Ich darf nicht krank werden. Ich will jung bleiben. Ich tue alles, was dafür nötig ist. Ich nehme alle Zusatzstoffe zum Essen. Ich trainiere hart.“
„Aber trotz aller Bemühungen kann man doch krank werden.“
„Ich darf nicht krank werden. Ich war vor anderthalb Jahren im Krankenhaus. Es war entsetzlich. Ich lag drei Wochen lang völlig allein und habe kein Wort gesprochen. Ich muss gesund bleiben.“
„Sie wollen Unmögliches! Alle Menschen altern. Meiner Ansicht nach kann man zwar das Altern durch richtiges Tun verlangsamen, aber man kann es nicht aus der Welt schaffen. Eines Tages wird man alt sein und dem entsprechend aussehen. Vieles bringen wir schon bei der Geburt mit. Das kann auch die Anlage zu Krankheiten bedeuten. Man kann in einen Unfall verwickelt werden. Das liegt nicht in unserer Hand. Aber ich denke, es läge in Ihrer Hand, Ihr Leben so zu verändern, dass Sie bei einem nächsten eventuellen Krankenhausaufenthalt Besuch von Freunden bekämen. Nehmen Sie Ihre Mitmenschen wahr?“
„Ich traue keinem. In der Firma tun alle freundlich. Aber jeder will dem Nächsthöheren nur den Job wegnehmen.“
„Haben Sie Verwandtschaft?“
„Meine Eltern sind tot. Zu meiner Schwester habe ich kaum Kontakt.“
„Es gibt auch Menschen außerhalb Ihrer Firma. Suchen Sie da.“
„Dazu lässt mir mein Job keine Zeit. Ich hatte ab und zu Beziehungen zu Männern. Aber keine hat länger als drei Wochen gedauert. Ich will, dass alles ganz genau so ist, wie ich es will. Eine Sache muss an genau dem Platz stehen, an dem ich es will.“
„Könnte man sagen, dass Sie unter Zwängen leiden?“
„Früher war ich anders.“
„Vielleicht war das, bevor Sie so viel zu verlieren hatten und vor so vielem Angst hatten? Meiner Meinung nach brauchen Sie Entspannung mehr als alles andere. Sie sind voller ‚Ich-muss-ich-muss’.
Dann zeigt die Lehrerin Kapalarandhradhouti, die Stirnmassage, die die Frau jedoch sofort als zu einfach ablehnt. So eine minimale Sache könne doch nicht Yoga sein. Dann wird Savasana gezeigt, die Leichenhaltung, und Bhadrasana, die Thronhaltung, im Liegen mit auf dem Bauch verschränkten Händen. Würde ihr das gut tun? Nein, sie merke nichts. Nach einigem Strecken und Dehnen durch Talasana, die Palmenhaltung, und Yastikasana, die Stangenhaltung, wird Yogendra-Nishpanda-Bhava, das passive Lauschen, erklärt.
„Wie war das für Sie?“
„Da waren einige Sekunden, wo ich mich anders gefühlt habe, gut.“
„Dann wäre es doch schön, das weiter zu üben.“
„Aber was soll das denn nützen? Ich muss doch in der Realität leben.“
„Welche Realität meinen Sie? Die Realität ist doch, dass wir um die Sonne kreisen, dass Tag auf Nacht folgt, dass wir essen, trinken und atmen müssen und uns wohl in unserer Haut fühlen möchten. Natürlich gehören dazu auch die Lebensnotwendigkeiten. Die Realität, an die Sie denken, ist von Menschen geschaffen und variiert von einer Kultur zur anderen und von einer Gesellschaftsschicht zur anderen.“
„Ich habe eine sehr erfolgreiche Kollegin. Zu ihrem Geburtstag hat ihr Mann ihr eine Armbanduhr zu 90 000 Dollar geschenkt. Das ist die Realität.“
Sie hatte sehr gute Eigenschaften. Sie konnte hart arbeiten und sprach fast akzentfreies Englisch. Sie war selbstbeherrscht, zielstrebig, diszipliniert und tüchtig. Sie hatte eine Karriere mit hohem Gehalt geschafft. Sie konnte sich teilweise objektiv sehen und deutlich artikulieren. Trotz ihres erklärten Misstrauens gegen andere Menschen hatte sie der Lehrerin gegenüber frei über sich sprechen können.
Doch sie war die Gefangene ihrer eigenen Vorstellungen, Ambitionen und Werte. Sie war zwanghaft und unglücklich und konnte nicht davon lassen, das Unmögliche zu wollen. Nun hatte sie den weiten Weg in eine andere Kultur angetreten auf der Suche nach einer Lösung für ihre Probleme. Doch was diese Kultur ihr gerade angeboten hatte – ein paar Sekunden tiefer innerer Ruhe – konnte sie nicht annehmen. Ein paar Sekunden eines neuen Gefühls hatten ihr schon Angst eingejagt, aus ihrer „Realität“ heraus zu fallen.
Abhinivesa, Angst vor Verlust, ist der letzte der fünf Klesas, d.h. der fünf Strukturen, die der menschlichen Psyche angeboren sind und letztlich Leid erzeugen. Angst vor Verlust beinhaltet auch die Angst vor dem Verlust des Status quo. Selbst wenn man sich nicht wohl fühlt mit seinen Umständen, hält man meist an ihnen fest, weil die Angst vor dem Unbekannten zu groß ist. Vieles soll zwar besser werden, aber doch nicht radikal anders. Sie hatte ihrem Gefühl nach so viel zu verlieren: ihre berufliche Stellung, die ihr andere streitig machen wollten; ihre relative Jugend, ihr Aussehen, ihre Gesundheit und mehr.
Eng verbunden mit Angst vor Verlust sind die beiden Klesas Raga und Dvesah, d.h. starke Vorlieben und Abneigungen und entsprechendes Haften an beidem. Sie hing stark an ihren Privilegien beim Reisen, an dem Gefühl, bewundert oder beneidet zu werden, an ihrem Aussehen, an teuren Dingen und Statussymbolen, und entsprechend groß war ihre Abneigung gegen alles, was diese Dinge zu bedrohen schien, so z.B. ihre Abneigung gegen Kollegen, die sie nur als bekämpfenswerte Rivalen sehen konnte.
Und all dies erwächst aus dem zweiten Klesa, Asmita, d.h. dem Ego, dem Ich-Gefühl. Das Ego will sich selbst gegen alles und alle anderen behaupten. Es sorgt für das Gefühl der Trennung, das sich im ungünstigsten Fall zur äußersten Isolation steigern kann, so wie sie es bei ihrem einsamen Krankenhausaufenthalt erlebt hatte.
Und weiter sagt uns das Yoga Sutra des Patanjali, dass alle diese vier Klesas aus dem ersten Klesa, nämlich Avidya erwachsen. Avidya bedeutet Unwissenheit in Hinblick auf die wahre Natur der Dinge sowie falsches – eingebildetes, verwirrtes, verzerrtes – Wissen. Und laut dem Yoga Sutra ist Avidya der Nährboden, aus dem alle anderen Klesas erwachsen.
Das Grundproblem dieser erfolgreichen und doch unglücklichen Frau waren also ihre ausschließlich materialistischen Werte, an denen sie stark festhielt. Ein paar Sekunden eines bis dahin unbekannten Gefühls hatten sie schon verschreckt. Obwohl diese Sekunden gut gewesen waren, hatten sie Angst in ihr erweckt, die „Realität“ zu verlieren.
Solche Fehlschlüsse und Ängste können Außenstehende meist viel leichter erkennen als die Betroffenen selbst. Das ist auch nicht verwunderlich. Erstaunlicherweise – oder auch nicht – kommt Karl Marx, der so missverstandene Autor des berühmten Buches „Das Kapital“, aus einem ganz anderen Blickwinkel zu einer ähnlichen Erkenntnis. In einem Brief schreibt er, wenn subjektive Wünsche mit den Einsichten der Vernunft zusammen stießen, dann entstünde „Gewissensangst“.
Die subjektiven Wünsche dieser Frau waren stark. Ihre Vernunft hätte ihr sagen können, dass es ihr schlecht ging und sie nach Indien gekommen war, um eine Lösung zu suchen, damit es ihr besser ginge. Und für ein paar Sekunden hatte sie sich auch tatsächlich besser gefühlt. Deshalb wäre es nur vernünftig gewesen, in dieser Richtung weiter zu machen. Doch das schien sich nicht mit ihren stark ausgeprägten Wünschen zu vertragen. Und daraus war tatsächlich Angst entstanden, Angst aus der ihr bis dahin einzig denkbaren Realität heraus in ein Nichts zu fallen.
Bei einer solchen Sachlage helfen Work-outs nichts; im Gegenteil können sie den Gefühlspanzer um das Ego herum noch verstärken. Helfen könnte Entspannung, so dass man loslassen kann, loslassen auch von dem Drang, alles kontrollieren zu müssen. Dieser Drang will Unmögliches, denn es gibt Mächte, die stärker sind als der menschliche Wille. Je nach Mentalität kann man sich diese Mächte als die Zeit, die Natur, Gott oder den „Höheren Prozess“ vorstellen.
Arbeiten wir an uns, aber sorgen wir auch für Entspannung, Erholung und Freuden! Und beugen wir uns größeren Gesetzen!
Ich schrieb an die Tür meines Herzens: „Bitte nicht eintreten.“ Liebe trat lächelnd ein und sagte: „Leider kann ich nicht lesen.“ (Quelle unbekannt)
(Aus der Vierteljahresschrift „Yoga und ganzheitliche Gesundheit“, Jahresabo 20,- Euro. Mehr unter www.yoga-zeitschrift.de)