Shivas Tanz
Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993
Indische Mythen und Symbole - Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
Teil 5: Shivas Tanz
Shiva, der Herr des Lingam, der Gemahl Shakti-Devis, ist auch Nataraja, »König der Tänzer«.
Tanzen ist eine alte Form der Magie. Der Tänzer wird zu einem mit übernormalen Kräften begabten Wesen erweitert; seine Persönlichkeit ist verwandelt. Wie Yoga führt der Tanz einen Trancezustand herbei: Ekstase, Erlebnis des Göttlichen, Realisierung der eigenen verborgenen Natur und endlich Verschmelzung mit dem göttlichen Sein. Folgerichtig hat darum in Indien der Tanz Seite an Seite mit den fürchterlichen Schroffheiten der Asketenhaine gelebt, dem Fasten, der Atemdisziplin, der rücksichtslosen Wendung nach Innen. Um Magie wirken und andere verzaubern zu können, hat man zuerst sich selbst zu verzaubern, und dies kann ebenso gut durch den Tanz wie durch Fasten, Gebet und Meditation erreicht werden. Darum ist Shiva, der Erz-Yogi unter den Göttern, notwendigerweise auch der Meister des Tanzes.
Der pantomimische Tanz soll den Tänzer in den Dämon, Gott oder das irdische Wesen verwandeln, die er gerade darstellt. Der Kriegstanz zum Beispiel läßt die Männer, die ihn anführen, zu Kriegern werden, erregt ihre kriegerischen Tugenden und verwandelt sie in furchtlose Helden. Die Jagd — Tanz — Pantomime wiederum, welche die Erfolge des Jagdzuges vorausnimmt und als sicher erscheinen läßt, macht aus den Teilnehmern unfehlbare Jäger. Um die über die Fruchtbarkeit wachenden Naturkräfte aus dem Schlummer zu rufen, mimen die Tänzer die Götter der Vegetation, der Geschlechtlichkeit und des Regens.