Das Antlitz der Glorie

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Der nachfolgende Text ist dem Buch "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen" des Indologen Heinrich Zimmer entnommen (Originaltitel "Myths and Symbols in Indian Art and Civilization", Bollingen Foundation Inc., New York). Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann, Eugen Diederichs Verlag, München 1981, 5. Aufl. 1993

Indische Mythen und Symbole - Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken

Teil 6: Das Antlitz der Glorie

Es war einmal ein groBer Titanenkönig, Jalandhara genannt. Durch das Verdienst außerordentlicher Entsagungen hatte er un¬widerstehliche Kräfte in sich angehäuft. Mit diesen ausgerüstet hatte er die Götter aller geschaffenen Sphären angegriffen, sie entthront und seine neue Ordnung eingesetzt. Seine demütigende Herrschaft war tyrannisch, verschwenderisch, ohne Rücksicht auf die überlieferten Gesetze des Alls, böse und durch und durch egoistisch. In einem fürchterlichen letzten Übermaß von Stolz sandte Jalandhara einen Botendämon aus, um den höchsten Gott selbst, Shiva, den Schöpfer, Erhalter und Zerstörer der Welt, herauszufordern und zu demütigen. Der Bote Jalandharas war Rahu, ein Ungeheuer, dessen Auf¬gabe in der Verfinsterung des Mondes besteht 60. Der Mond ist ein Repräsentant des lebensgebenden Prinzips. Dieses sanfte Licht der Nacht gießt die kühle Milch aus, in welche sich die Welten 6° [Es handelt sich hier um ein sehr kompliziertes Thema. Siehe z. B. Willy Hartner, sThe Pseudoplanetary Nodes of the Moon's Orbit in Hindu and Islamic Iconographies< in Ars Islamica V, 1938; und meine Yak8as, II, Washington, 1931, Kap. 4. The Makara. Kirttimukha als das schreckliche Antlitz Gottes, der als Sonne und als Tod seine Kinder sowohl gebiert wie verschlingt, entspricht dem griechischen Gorgoneion und dem chinesischen T'ao t'ieh, dem »Vielfraßc. — AKC.] 195

der Pflanzen und Tiere erfrischen, nachdem ihre Lebensfluiden am Tag von der verzehrenden Sonne aufgetrocknet sind. Es ist die strahlende Schale, aus der die Götter Amrita, das Unsterblichkeits¬elixier, trinken. Rähus Beziehung zu dem segenspendenden Him¬melskörpers entstand in den entferntesten Epochen der Vorzeit, als die Götter und Titanen in den ersten Welttagen das kosmische Milchmeer quirlten, um aus ihm das Amrita zu gewinnen. Râhu naschte ein erstes Schlückchen von der Flüssigkeit, worauf ihn ein Schlag Vishnus sofort enthauptete. Weil aber der Trunk schon durch seinen Mund und durch seinen Hals gegangen war, waren diese unsterblich geworden, während der Körper den Mächten der Verwesung verfiel. Der Kopf, heißhungrig nach einem anderen Schluck, verfolgt seitdem dauernd den Mond, die Schale, in der das Elixier aufbewahrt ist. Wenn er sie erreicht und verschluckt, kommt eine Mondfinsternis. Aber da kein Magen mehr vorhanden ist, es zurückzuhalten, gleitet das Gefäß nur durch Mund und Hals, um sofort wieder zu erscheinen, worauf die Jagd sogleich von neuem beginnt. Dieser Rähu also war der von Jalandhara zur Demütigung des Höchsten Gottes ausgesandte Dämon. Zu jener Zeit war Shiva gerade im Begriff, sein entrücktes und selbstbetrachtendes Leben aufzugeben, um zu heiraten. Nach einer Epoche der Trennung von ihm war die »Göttin«, seine unsterbliche Shakti, soeben unter Gestalt und Namen Pi3rvatis, der wunderschönen, mondgleichen Tochter des Bergkönigs Himalaya wiedergeboren worden. Schön-gesichtig, mit langgezogenen Lotosaugen, mit schmaler Taille, doch ausladenden Hüften und mit vollkommen runden Brüsten, die sich gegeneinander drängten ( »wie ein schwerbeladener Frucht¬baum war sie vom Gewicht der Zwillingssphären ihrer Brüste niedergebeugt«), hatte die Göttin des Alls sich dieser mensch¬lichen Geburt unterzogen, um sich mit der Person des Gottes, ihres ewigen Gatten, wiederzuvereinen und in die geschaffene Welt einen Sohn zu gebären, Skanda, der bestimmt war, der Gott des Krieges zu werden. Die von dem Boten Rähu überbrachte Heraus 196

forderung bestand darin, daß Shiva dieses leuchtende Juwel einer Braut, »die schönste Maid aller Welten«, aufgeben und sie ohne weiteres Getue dem neuen Herrn des Daseins, dem titanischen Tyrannen Jalandhara, überlassen solle. Vom Standpunkt des brahmanischen Theologen, der diese Erzählung niederschrieb und sie weitergab, scheint diese un¬verschämte Forderung das Zeichen dämonischer Blindheit und schieren Größenwahns. Wie sollte es auch dem orthodoxen Gläu¬bigen anders erscheinen: weiß er doch, daß während der dämo¬nische Titan nur eine mächtige Kreatur darstellt, nicht höher im Rang als jene nachgesetzten Gottheiten, die einen Teil von Mayäs Gewebe bilden und nur gesonderte Modulationen der Energien des Weltorganismus wiedergeben, Shiva tisvara ist, »der Herr«, die Personifikation des Absoluten. Vom anderen Gesichtspunkt aus jedoch, und zwar dem, der durch die große Tradition des heroi¬schen Mythos und heroischer Tat sanktioniert ist, erscheint die Forderung Jalandharas, des »Usurpators« (der tatsächlich der zeitweise Herr des Màyäbereiches ist), als streng legitim, ja selbst durchaus notwendig und als etwas ganz Selbstverständliches vor¬auszusehen. Denn was für einen Nutzen brächte die Eroberung des Alls, wenn das Kronjuwel, die Frau, nicht mitgewonnen würde 6'? Eroberte Städte und Länder werden geplündert, und der ge¬schätzteste Beutegegenstand dabei sind »Frauen und Gold«. Ohne Besitz von den Repräsentantinnen des weiblichen Prinzips in dem ni [Tatsächlich wird aus diesem Zusammenhang heraus Indra selbst oft als Verführer des Gandharva-Weibes Väc dargestellt, auf dessen Besitz der Sieg ruht und um. das die Götter und Titanen deshalb stets im Streit liegen. Sie repräsentiert das Königtum, die Macht und den Ruhm. Aber ihre Verfüh¬rung ist eine Gewalttat; und wie es in sehr bekannten Hymnen des Rig Veda und Atharva Veda nachdrücklich betont wird, muß »das Brahmanenweib wiedergegeben werden«, nämlich vom »Regnum« an das »Sacerdotium«, von der weltlichen Herrschaft an das Spirituelle. Gefordert ist ein Unterwerfungs¬akt, aus dem hervorgeht, daß der König sein »fiat« rechtmäßig nur als Werk¬zeug und Vizekönig des Sacerdotium verkünden kann. Wie Prof. Zimmer er¬wähnt, ist Jalandharas Ausspruch der eines Tyrannen. Als dieser Möchte¬gern-Tyrann ist Jalandhara mit seiner satanischen Forderung nach der Herr¬schaft über das All von vornherein verurteilt — nicht als König. — AKC.] 197

eroberten Bereich zu nehmen — dem Prinzip, das die Mutter Erde, die Fruchtbarkeit des eroberten Bodens selbst verkörpert —würde der Sieger sich kaum als solcher fühlen. Er muß sakra-mental den Schoß des gewonnenen Bodens besamen; erst dieser Akt besiegelt im mythischen Denken die militärische Eroberung. So heiratete, als der letzte der Achämeniden besiegt und Persien von Alexander dem Großen unterworfen war, der junge Eroberer die Gemahlinnen und Töchter des besiegten Königs, während die Großen seines Gefolges und Heeres Töchter des Adels zu Frauen nahmen. Die irdische Noch-Einmal-Darstellung der mythischen Formel bekräftigte den Sieg. Als Ödipus unwissentlich den ält¬lichen, untüchtigen König von Theben, seinen Vater Lajos, er¬schlagen und dann die Stadt vom Übel des Sphinxungeheuers be¬freit hatte, gelangte er durch seine Heirat mit der Königinwitwe Jokaste, die zugleich seine Mutter war, zur Herrschaft. Und dies geschah als etwas ganz Selbstverständliches, sozusagen in Aus¬führung eines bestehenden Rituals. Da war keine Rede von einer Liebesgeschichte und keine Notwendigkeit für all die leidenschaft¬lichen oder zarten Verwicklungen, in welche die Freudianer un¬aufhörlich vernarrt sind. Ödipus würde einfach nicht wirklich Herr über Theben geworden sein, wenn er nicht von dem könig¬lichen Weib, das Boden und Reich personifizierte, vollen Besitz genommen hätte. Genau so konnte Jalandhara nicht der wirkliche Oberherr des Alls sein, ohne »das schönste Weib der drei Welten« (tripura-sundari) erobert, geheiratet und bemeistert zu haben. Ihr, der kosmischen Shakti, der lebenden Verkörperung der Schönheit und ewigen Jugend, Besitz ist das letzte Streben, der höchste Gewinn. Sie ist's, die in dem sich endlos drehenden Streit der Dämonen-Giganten und der Götter um die Weltherrschaft immer wieder begehrt, gewonnen und verloren wird 52. Doch die Mythen der Puränas sind uns nur in der Formung 52 Vgl. in der Edda und bei Richard Wagner den Streit der Götter und Riesen um den Besitz Freyas, der holdesten Maid der Welt, der Blüte der Jugend, der Wächterin der goldenen Lebensäpfel. 198

durch ein entschieden nach-heroisches, anti-tragisches Zeitalter indischer Religion und Philosophie erhalten. Die Legenden selbst sind von unermeßlichem Alter; bevor sie ihre gegenwärtige Ge¬stalt erhielten, wurden die wunderbaren Abenteuer durch viele Jahrhunderte erzählt und wiedererzählt. Die indische Zivilisation schritt inzwischen durch ungeheure Umformungen: durch heroi¬sche Perioden des Feudalismus, Epochen kraftvollen spirituellen Suchens, goldene Zeitalter fürstlichen Mäzenatentums und raffi¬niertester Artistik, Invasionskatastrophen — die Hunnen, die Krieger des Islams, die Heere des Westens — durch Zerstückelun¬gen und Wiederzusammenfügungen der alterslosen, lebenszähen Urerbschaft des reichen Landes. Die neueren Epochen, das heißt jene, die uns den Hauptteil unseres Materials übergeben und da¬mit gleichsam als Zensoren und Redakteure der großen Hinter¬lassenschaft gewirkt haben, sind durch eine fromme und ent¬schieden antiheroische Seelenbeschaffenheit ausgezeichnet. Die alten Geschichten sind von sektiererischen Theologen und zeloti¬schen Verehrern nicht so sehr des »Allgegenwärtigen Unbekann¬ten«, als dieser oder jener göttlichen Personifikation des Absolu¬ten — Vishnus, Shivas, »der Göttin« herausgegeben, kommentiert und revidiert worden. Diese Gläubigen nun waren nicht nur in Sorge um das Prestige ihres Sondergottes, sondern grundsätzlich mißtrauisch gegen die Freuden und Leiden des unwiedergebore-nen, weltlichen Menschen. Ihre Versionen der alten Erzählungen verweilen trüb und lang auf der Blindheit und Selbstüberschät¬zung der von den aktiven und schreckenerregenden Lebenskräften besessenen Dämonen-Tyrannen, die sich in ihrem Kriegerstreben nach »Frauen und Gold« abmühten und scheiterten. Abenteuer, die in der Mythologie und im Drama der Griechen und nordischer Völker als Tragödien aufgefaßt worden wären (und die auch in ihren früheren indischen Formen wenigstens von einem Funken tragischen Mitleids und tragischen Schreckens belebt gewesen sein müssen), erscheinen nun durch diese frommen Hände in sek¬tiererische Mysterienspiele »zur höheren Ehre Gottes«, »ad majo 199

rem dei gloriama verwandelt. Der tragische Held erscheint hier, im kosmischen Maßstab, als der gigantische Dummkopf 63. Man erwartet also wenig Sympathie von uns, nur kosmische Geringschätzung, für den welterobernden Dämon-Tyrannen Jaland-hara, wenn er seine Ansprüche auf die höchste Trophäe des Da¬seins vorbringt. Wir sollen diesen Anspruch nicht als Entsprechung unserer eigenen höchsten menschlichen Hoffnungen und Anstren¬gung erfahren. Im Gegenteil, da wir die Gläubigen, die Kinder und die Wohltatenempfänger Gottes sind, dürfen wir in dem Anspruch des Tyrannen durchaus nur Unverschämtheit, Brutalität und Gotteslästerung — im ganzen eine lächerliche Selbstvergröße¬rung erblicken. Die nächste Wendung der Geschichte soll uns in dieser gesunden, wenn auch nicht sehr unternehmungslustigen Haltung bestärken. Außerdem empfiehlt sie uns einen mächtigen Talisman oder Kultgegenstand, »Das Antlitz der Glorie« (kirtti-mukha), dem göttlicherseits gewährt wurde, alle wahren Gläu¬bigen, unsere Heime und unsere Herzen, gegen die Tyrannenkräfte der gefräßigen Welt zu verteidigen. In demselben Augenblick noch, als Rähu Jalandharas Verlangen überbrachte, daß die Göttin ihm überliefert und die Shakti des Alls die Hauptkönigin des Tyrannen werden sollte, erwiderte Shiva die kolossale Herausforderung. Zwischen seinen beiden Augenbrauen — »Der Lotos des Befehls« (âjnâ-cakra) genannten Stelle, wo der Mittelpunkt der Erleuchtung lokalisiert ist und sich das spi¬rituelle Auge des vorgeschrittenen Sehers öffnet — ließ der Gott einen schrecklichen Ausbruch seiner Macht hervorgehen, welche 53 Was uns zu der Beobachtung führt, daß Theologen höchst selten erst¬klassige Dichtung oder Kunst hervorbringen. Ihr Ausblick auf des Lebens vieldeutige und vielwertige Bezüge wird von ihrem Dogmatismus eingeengt. Auf Grund ihre Erziehung fehlt ihnen jener Zynismus und jene gefährliche, aufrichtige und kindliche Unschuld, die erste Erfordernisse für jeden sich mit dem Mythos Beschäftigenden sind. Sie ermangeln (was ihre Tugend und Pflicht ist) jenes Hauches von »Amoralität«, der wenigstens ein Teilchen der eigenen intellektuellen und intuitiven Struktur bilden muß, wenn man nicht Voreingenommenheiten zur Beute fallen und von gewissen lebenswichtigen, hochironischen und verwirrenden Einsichten ausgeschlossen bleiben will. 200

Explosion sofort die physische Form eines schrecklichen löwen¬köpfigen Dämonen annahm. Der entsetzenerregende Leib des Ungeheuers war mager und ausgemergelt, einen unersättlichen Hunger ankündigend, aber seine schwingende Stärke offenbar unwiderstehlich. Aus der Erscheinung Kehle brüllte es donner¬gleich; die Augen brannten wie Feuer; die schüttelnde Mähne dehnte sich weit in den Raum 64. Rähu stand entsetzt. Doch Rähu, der Bote, war bewandert in der Technik über¬natürlicher Machtpolitik. Als der inkarnierte Zornausbruch einen Satz auf ihn zu machte, antwortete er mit dem einzig möglichen Zug, der ihm übrig blieb: er nahm Zuflucht zu der allbeschützen¬den Vaterheit und Gnade des Allmächtigen, Shivas selbst. Dies schuf eine neue und sehr schwierige Situation. Denn der Gott be¬fahl sofort dem Ungeheuer, den Flehenden zu verschonen, und der Halblöwe stand mit einem quälenden Hunger, doch ohne passende Nahrung ihn zu befriedigen. Das Geschöpf bat darum den Gott, ihm zur Stillung jenes Dranges irgendeine Beute anzuweisen. Von den Veden abwärts wird in der indischen Mythologie dieses Kraft-Prinzip beständig wiederholt: wann immer ein Dämon auf Befehl eines Gottes aus dem einen oder anderen Grund gezwungen wird, seine rechtmäßige Beute fahren zu lassen, muß ein Ersatz beigebracht werden. Ein neues Opfer ist anzubieten, um die ver¬schlingende Gewalt des neuen, in die Welt freigesetzten Macht¬leibes zu besänftigen. Im vorliegenden Fall erwies sich Shiva als der Situation gewachsen. Er schlug vor, daß sich das Ungeheuer vom Fleisch seiner eigenen Füße und Hände ernähren sollte. Sogleich begann diese unwahrscheinliche Inkarnation blinden Ver-schlingungswillens das nicht weniger unwahrscheinliche Gastmahl. Aber nachdem es nicht nur seine Füsse und Hände, sondern auch 66 In der Mythologie Vishnus gibt es ein ähnliches Ereignis. Ein gewisser Dämonenkönig, »Goldkleidc mit Namen (hiranya-kasipu) fordert die Macht des Gottes heraus. Vishnu entstürmt einem Pfeiler in des Königs eigenem Palast in einer »Halb-Mensch, Halb-Löwec-Manifestation (narasimha, vierte Inkarnation oder Avatar Vishnus) und der gotteslästernde Atheist wird im Nu zu Petzen zerrissen. 201

seine Arme und Beine verzehrt hatte, war es immer noch nicht imstande, aufzuhören. Die Zähne senkten sich in einen eigenen Bauch, die Brust und den Hals — bis nur das Gesicht übrig blieb. In dem Ungeheuer war der Zorn des Höchsten Wesens ver¬körpert, die zerstörende Kraft des Allgottes, Shiva-Rudras (rudra, »Der Heuler«, »der Brüller«, war der vedische Name Shivas und bezieht sich auf seinen weltvernichtenden Aspekt). In seiner Ge¬stalt als Shiva-Rudra zerstört Shiva periodisch das geschaffene Universum; in jenem Ungeheuer verleiblicht sich die Wut und der Hunger des kosmischen Feuers, das an der Welt Ende alles zu Asche niederlegt und dann selbst vom stürzenden Regen aus¬gelöscht wird. Darum war das phantastische Schauspiel dem Gott angenehm zu schauen; er befand sich in innerlicher Übereinstim¬mung damit. »Du bist mein lieber Sohn«, könnte er mit Be¬friedigung erklärt haben, »an dem ich Wohlgefallen habe.« Er beobachtete schweigend, doch mit höchstem Entzücken, den blut-gerinnenmachenden, alpdruckmäßigen Vorgang, um dann, zuf rie-den mit der lebhaften Manifestation der selbstverzehrenden Kraft seiner eigenen Substanz, auf das Geschöpf seines Zornes, das seinen eigenen Leib Glied für Glied bis zum Nichts eines bloßen Gesichtes vernichtet hatte, herabzulächeln und gnädig zu erklä¬ren: »Antlitz der Glorie« (kirttimukha) sollst du hinfort genannt sein, und ich befehle, daß du für immer über meinen Toren wohnst. Wer auch immer dich zu verehren vergißt, soll niemals meine Gnade gewinnen 55.« Kirttimukha war zunächst nur ein besonderes Emblem Shi-vas selbst und ein charakteristischer Bestandteil der Türstürze an Shivatempeln. (In unserer Erläuterung von Art 38756 lenkten wir die Aufmerksamkeit auf das »Antlitz der Glorie« am oberen Rand der Komposition.) Später begann das »Antlitz« dann ohne Unterscheidung auf verschiedenen Teilen von Hinduschreinen als 55 Skânda-Puräna, Bd. II, Visnukända, KArttikam5.sa Mahâtmya, Kap. 17. Vgl. Riipam I (Calcutta, Jan. 1920), pp. 11-19. 55 Vgl. pp. 152-154. 202

glückverheißendes Symbol zur Abwehr des Übels verwendet zu werden. Gewöhnlich ist es in dekorative Friese eingearbeitet. Kirt-timukha erscheint auch in Shivas geflochtener Haarkrone, ver¬mutlich in Übereinstimmung mit einer anderen Version der Le¬gende, wo das Ungeheuer durch Aufnahme in Shivas Locken be¬lohnt wurde. An diesem Platz entwickelte es sich zu einem orna¬mentalen Endstück für die obere Dekoration von Bildwerken, und gelangte so dazu, auf der höchsten Spitze der Aureole (präbha-mandala), am sogenannten »Tor des Glanzes« (prabhä-torana) im Rücken der Bildwerke zu figurieren. Immer wiederholt wurde Kirttimukha endlich zu einer Konvention und schließlich mit einem Paar von Seeungeheuern (makara) kombiniert, die gewöhn¬lich die gleiche Funktion wie er zu erfüllen haben. Wie das Gorgo-haupt in der griechischen Tradition (doch wie wir sahen, mit einem völlig verschiedenen mythischen Hintergrund) dient K-irt-timukha zunächst als apotropäische Dämonenmaske, als grausen-erregender, furchteinflößender »Wächter der Schwelle«. Der Verehrer dagegen, der orthodoxe Gläubige, grüßt das »Antlitz« mit Vertrauen und Zuversicht. Weiß er doch, daß Kirttimukha ein aktiver Teil von der Substanz der Gottheit selbst ist, ein Zei¬chen und Werkzeug seines beschützenden und das Böse zerstören¬den Zorns. Vor allem in der Kunst Javas tritt das »Antlitz der Glorie« hervor. Hier figuriert es Seite an Seite mit anderen grotesken und drohenden Geschöpfen aus Shivas Gefolge, Dämonen, die mit Keulen, der primitivsten Waffe und zugleich dem phallischen Symbol, bewaffnet sind, oder Dämonen, die wie ihr Meister Schlangen als Armbänder und anstelle des sogenannten »heiligen Fadenas? tragen. Der ursprüngliche Charakter der Javaner, 37 Der heilige Faden (upavita) wird von allen höheren Hindukasten ge¬tragen. Er ist ein Baumwollfaden aus drei Strähnen, der von der linken Schul¬ter über den Leib zur rechten Hüfte läuft. Er wird dem jungen Menschen zuerst von seinem Guru bei der Zeremonie seiner Initiation angelegt, die ge¬wöhnlich im Alter von acht bis zwölf Jahren stattfindet. [Wie in der Jâbäla Upanishad erklärt wird, ist der »heilige Fadenc das 203

die erst im Mittelalter zum Hinduismus bekehrt wurden, be¬geistert sich an diesen Figuren, die gleichzeitig furchteinflößend und humorvoll sind. Gottheiten und Bildwerke dieses Genres gestatten eine Art scherzhafter Intimität mit den Mächten der Zerstörung. Sie stellen die »andere Seite«, den zornigen Aspekt (ghora-mûrti) der wohlbekannten und geliebten göttlichen Mächte dar. Auf die geeignete Weise günstig gestimmt, helfen diese dämo¬nischen Erscheinungen dem Leben und treiben die Kräfte der Krankheit und des Todes fort. Diese doppelsinnige und weise Art der Darstellung ist für die ganze Ausdehnung des shivaitischen Pantheons charakteristisch. In seinen Gestalten waltet ein wundervoller, lebenswirklicher Humor. Man betrachte zum Beispiel den beleibten und ungemein volkstümlichen Ganesha, den »Herrn der Scharen«, Shivas und der Höchsten Göttin eleganten Sohn und Anführer von der Gottheit munterem Gefolge. Seine typische Darstellung in Indien (nicht in Java) sieht so aus: In den oberen Winkeln fliegen zwei Ver¬treter des Gefolges (gana)68 und am Piedestal schmiegt sich das Tragtier (vâhana) der Gottheit, die Ratte. Wie die Ratte durch alle Hindernisse hindurch ihren Weg in die Gewißheit des Getreidespeichers nimmt, um dort den Reisvorrat der Dörf¬ler zu verzehren, und wie der Elefant mächtig durch den Dschun¬gel dringt, die in seinem Weg stehende Vegetation niedertre¬tend und ausreißend, so bricht Ganesha, »Der Herr der Hin¬dernisse« (vighna-i4vara), einen Pfad für den Gläubigen. Am Beginn von Unternehmungen jeder Art wird er zunächst ange¬rufen. In seiner linken Hand trägt er eine Schale, entweder mit Reis gefüllt, von dem er sich nährt, oder mit Juwelen, Perlen und Korallen, mit denen er seine Gläubigen überschüttet. Dickbeleibt äußere und sichtbare Symbol des Süträtman, des Geistfadens, an dem all die individuellen Existenzen des Alls wie Perlen aufgereiht sind und durch den sie alle untrennbar mit ihrem Ursprung verbunden sind. — AKC.] m Der Name ganeSa, »Herr der Scharen«, ist aus gang (Scharen) und Ha (Herr) zusammengesetzt. Im Sanskrit ergeben a und i verschmolzen e. 204

und wohlhabend blickend ist er der Gewährer irdischen Wohl¬stands und Wohlbefindens. Gesegnet der, der diesen dickbäuchigen, unwiderstehlichen Sohn der Göttin von vorn erblickt, doch wehe jenem, dem die Gott¬heit den Rücken kehrt. Art B 12 a zeigt die Rückseite einer java¬nischen Ganesha-Figur aus dem 13. Jahrhundert n. Chr. Während der glückverheißende, segnende Aspekt (sundara-mùrti), der den sich von vorn nähernden Verehrenden begrüßt, voller Humor und behaglichen Wohlwollens ist, besteht die Rückseite der Medaille, die schreckensvoll zerstörende Phase (ghora-miiirti), nur jenen bekannt, für die die Wege des Lebens geschlossen sind, aus einem schreckenerregenden, verschlingenden Ungeheuer mit bleckenden Fleischfresserzähnen. Dieses Ungeheuer ist Kirttimukha, »Das Antlitz der Glorie«, dem Heiligen ein Schutz, doch für den Un-frommen ebenso ein Zeichen des Zornes wie für Rähu. Kirttimukha wird Vanaspati B9 genannt, »Herrschergeist der Wälder, Schutzherr der Wildnis, König der Vegetation«. Der Forst enthält alle Arten von Gefahren und Dämonen, Feinden und Krankheiten im Gegensatz zu den Sicherheitszonen von Dorf und Haus, die unter dem Schutz der Haus- und Dorfgötter stehen. Auf javanischen Tempeln ist Kirttimukha ein volkstümliches Ornament. Dort dient er als abschreckendes und beschützendes Symbol. Dieses Ungeheuer wird mit jedem Übel fertig. Wenn das Grundsätzliche, das sich in seiner beredsamen Tat versinn¬bildlicht, erst einmal vom Geist erfaßt und von den Fähigkeiten der Seele assimiliert ist, vermag es in den tiefsten Finsternissen des Erdendschungels sowohl vor spirituellem wie vor physischem Unglück zu behüten. Kirttimukha vertritt die Gegenwart des Herrn im Augenblick des Unheils; seine Bereitwilligkeit, selbst diejenigen, die seine Feinde waren, in sich aufzunehmen und mit seinem Schutz zu erquicken; das Paradox des im Tode verborgenen Lebens und die Weisheit der Selbsthingabe an den Herrn. se [Ursprünglich und eigentlich ein Name Agnis, mit dessen verschlingen¬dem Vârunya-Aspekt der Kirttimukhas gleichgesetzt werden kann. — AKC.]

Siehe auch

Weiterlesen im Buch von Heinrich Zimmer?

  • Heinrich Zimmer, "Indische Mythen und Symbole - Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen"
Kapitel 1: Ewigkeit und Zeit
1.1 Die Parade der Ameisen
1.2 Das Rad der Wiedergeburten
1.3 Die Weisheit des Lebens
Kapitel 2: Die Mythologie Vishnus
2.1 Vishnus Maya
2.2 Die Wasser des Daseins
2.3 Die Wasser des Nichtseins
2.4 Maya in der indischen Kunst
Kapitel 3: Die Wächter des Lebens
3.1 Die Schlange, Trägerin Vishnus und des Buddha
3.2 Gottheiten und ihre Träger
3.3 Schlange und Vogel
3.4 Vishnu als Besieger der Schlange
3.5 Der Lotos
3.6 Der Elefant
3.7 Heilige Flüsse
Kapitel 4: Shivas kosmisches Entzücken
4.1 Fundamentale Gestalt und spielende Manifestationen
4.2 Das Phänomen der expandierenden Gestalt
4.3 Shiva-Shakti
4.4 Der große Oberherr
4.5 Shivas Tanz
4.6 Das Antlitz der Glorie

Literatur

Seminar

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